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Beppe der Sternseher.

(1877)

In einer Stadt der Lombardei, deren Name hier nicht genannt werden soll, weil die Geschichte, die wir erzählen, erst vor nicht langer Zeit sich darin zugetragen, lebte ein Ehepaar mit einer einzigen Tochter in solcher Zurückgezogenheit, daß man den Mann, der Weib und Kind in seinem ungastlichen Hause so menschenfeindlich verschlossen und allen noch so unschuldigen Festen fern hielt, als einen tyrannischen Sonderling verschrie und die beiden Opfer seiner eigensinnigen Laune allgemein bemitleidete. Er war als der Sohn eines reichen und angesehenen Bürgers dieser Stadt, der ihn sorgfältig erzogen und nach seinem Wunsch die Rechte studiren lassen, früh zu einer vielbeneideten Selbständigkeit gelangt, hatte die Advokatur des Vaters nach dessen Tode übernommen und, erst vierundzwanzig Jahre alt, das schönste Mädchen der Stadt, eine prachtvolle, lebensfrohe Blondine Namens Gioconda, heimgeführt. Eine gewisse Stille und Gemessenheit, die ihm schon als Jüngling eigen gewesen war und in den Augen der reifen Männer ihm mehr zum Vortheil gereichte, als bei der lebens- und lachlustigen Jugend, hatte sich auch während des Brautstandes nicht verloren. Freunde und Nachbarn schoben diese fast an Trübsinn grenzende Nachdenklichkeit des jungen Mannes auf seinen Hang zu astronomischen Studien, die er in einem kleinen Observatorium unter dem Dache seines väterlichen Hauses betrieb. Sie versprachen sich eine günstige Umwandlung seiner Gemüthsart, wenn er erst mit einer schönen jungen Frau zusammen hause, deren glänzende Augen ihn wohl heiterer anblicken und seine Tage und Nächte fröhlicher machen würden, als die fernen, stummen und räthselhaften Lichter am gestirnten Himmel.

Das junge Paar war gleich nach der Hochzeit, die wegen der Trauer um den Vater in großer Stille gefeiert werden mußte, auf Reisen gegangen, hatte sich zum Erstaunen aller Bekannten in Paris so wohlgefallen, daß es sogar eine Weile schien, als ob der junge Advokat dorthin überzusiedeln gedächte, war aber dennoch nach anderthalb Jahren in die Heimat zurückgekehrt, mit einem allerliebsten kleinen Geschöpf, das schon ganz munter und klug aus den Augen zu blicken anfing.

Aber die leichtere Luft von Frankreich und seiner Hauptstadt hatte ihren Zauber an beiden Vermählten schlecht bewährt. Doctor Giuseppe oder Beppe, wie der Name in der vertraulichen Abkürzung lautet, betrat sein Haus mit derselben stillen Miene, wie er es verlassen, nur noch um einen Hauch bleicher das Gesicht und dunkler der Schatten über der Stirn. Und was die junge Mutter betraf, so schien von den Weissagungen der Freunde, daß sie das Haus aufhellen und den Gatten mit ihrer fröhlichen Jugend seinen einsamen Studien abtrünnig machen würde, Nichts sich erfüllen zu wollen. Sie selbst zeigte sich völlig verwandelt, immer noch ein sehr schönes Wesen und in den Augen Vieler noch reizvoller, seit sie ein Kind an der Brust nährte. Aber man hörte auch sie weder lachen noch scherzen, und wenn das kleine Gesicht ihrer Beppina – die den Namen des Vaters trug – sie mit der unwiderstehlichen Holdseligkeit der werdenden Seele anlächelte, konnte man wohl statt des erwiedernden strahlenden Mutterblicks ihre Augen sich trüben und überquellen sehen. Man erfuhr, daß Doctor Beppe gleich nach der Rückkehr eine strenge Tagesordnung eingeführt und seine lange vernachlässigte Praxis mit Eifer wieder aufgenommen habe. Im Erdgeschoß lag sein Arbeitszimmer, wo er die Clienten empfing, sein Bureau und das Gemach für die Schreiber. Im ersten Stock war das Wohn-, Speise- und Empfangszimmer, letzteres freilich nur zu einem leeren und freudlosen Prunk mit allerlei schmuckem Geräth, Pariser Möbeln und verschiedenen Kunstwerken ausgestattet, da nie eine heitere Gesellschaft diese Schwelle betrat. Den zweiten Stock bewohnte die junge Frau mit ihrem Kindchen, der Magd und dem alten Diener, der schon bei dem seligen Papa in Treu' und Ehren grau geworden war. Und über diesen Räumen, welche der Herr des Hauses nie betrat, außer um täglich einen Blick auf die Wiege zu werfen, befand sich der Mansardenraum, der zu astronomischen Zwecken eingerichtet worden war und auch jetzt, wie zu den ledigen Zeiten des Doctors, seine dürftige eiserne Bettstelle, den Arbeitstisch und die Bibliothek beherbergte.

Hatte nun die Stunde des Pranzo geschlagen, welches erst um Sechs, nach Schluß der Bureauzeit, stattfand, so stieg der Advokat in den ersten Stock hinauf und setzte sich mit seiner schönen Frau zu Tische, von dem alten Aristide bedient, der die Speisen aus der Küche im zweiten Stock zu holen hatte. Das Mahl war immer reichlich und mit einem gewissen Behagen und Sinn für Zierlichkeit hergerichtet; doch dauerte es nie über eine kleine halbe Stunde, während deren die beiden Gatten ein gleichgültiges Gespräch führten, an welchem dann und wann der alte Diener sich betheiligen durfte. Der Hausherr erhob sich zuerst, grüßte seine Frau mit einer leichten Handbewegung und ließ sie für den Rest des Abends allein, um in einem Café Zeitungen zu lesen und mit Männern eine Stunde zu verplaudern. Dies war die Zeit, wo auch Frau Gioconda Besuch empfing, immer nur weiblichen, wie es die Sitte mit sich brachte, und auch diesen von Jahr zu Jahr spärlicher, da sie wenig Interesse an den Klatschgeschichtchen der Nachbarschaft und anderen kleinstädtischen Begebenheiten zeigte und die Besuche nicht fleißig und pünktlich genug erwiederte. Ein geladener Gast erschien niemals an ihrem Tische, und sie selbst folgten keiner Einladung in ein befreundetes Haus, wobei die junge Frau ihre Gesundheit als Grund anführte, obwohl Alle wußten, daß das eine Wochenbett ihre erste und letzte Krankheit gewesen war. Vertrautere wagten sie dann zu necken, daß sie dies nur vorschütze, um den wahren Grund nicht zu verrathen: ihren Eifer, an der Sternseherei ihres Mannes Theil zu nehmen, da man wohl wisse, daß oft die ganze Nacht hindurch im Observatorium das Licht nicht erlösche und der Doctor stets so pünktlich aus dem Café nach Hause komme, um ja keine wichtige Constellation zu versäumen.

Auf solche Reden verstummte die schöne Frau, und ihre Farbe wechselte zwischen Purpur und Todtenblässe. Sie hatte keine Freundin, der sie sich näher anvertraut hätte; ihre Mutter war mehrere Jahre vor ihrer Verlobung gestorben, und nur eine einzige Schwester lebte ihr noch, die aber Nonne in einem ziemlich ferngelegenen Kloster war und trotz der leichteren Observanz ihres Ordens nur selten einmal Urlaub zum Besuch ihrer Vaterstadt erhielt. So gewöhnte sich Frau Gioconda nach und nach in die schweigsame Luft hinein, die im Hause ihres Gatten wehte, und wenn man sie fragte, ob ihr nichts fehle und wie sie mit dem Ehestande zufrieden sei, antwortete sie regelmäßig, sie wünsche sich nichts Anderes, als zu behalten, was sie besitze, ihren Mann so glücklich machen zu können, wie er es verdiene, ihr Kind so heranblühen zu sehen, wie sie es alle Nacht von ihrem Schöpfer erflehe.

Das sagte sie Anfangs mit einem Seufzer, den sie vergebens zu unterdrücken suchte. Mit der Zeit aber wurde auch der Seufzer nicht mehr vernommen.

——————

Denn ihr mütterliches Gebet schien in der That erhört zu werden. Die kleine Beppina wuchs so lieblich und kräftig heran, daß sie ihren Eltern nie eine Sorge machte und auch die fremdesten Menschen, schon da sie noch auf dem Arm getragen wurde, sich an ihren blitzenden Augen und dem lachenden Mündchen nicht satt sehen konnten. Wie sie sechzehn Jahre alt war, erschien sie schon als ein fertiges Frauenzimmer, wohl dazu geschaffen, jungen Männern die Köpfe zu verrücken. Sie war nicht so groß und stattlich von Wuchs, wie ihre schöne Mutter, der sie auch sonst nicht sonderlich glich, außer an Temperament und Gemüthsart. Denn auch Frau Gioconda war als junges Mädchen wegen ihres frischen Lachens und ihrer etwas phantastischen Laune bekannt gewesen, so wenig von Beidem in der stillen Frau noch zu spüren war. Die Tochter hatte auch nicht das weiche, blonde Haar ihrer Mutter, sondern eine Fülle schwerer brauner Flechten, die sie in ihrer natürlichen Schönheit ohne alle Verunstaltung durch hohe Frisuren und plumpe Wülste ums Haupt trug, obwohl diese Unsitte damals die neueste Mode war. Die Farbe des Gesichtchens war in ihren ersten Jahren ein wenig zu braun gewesen, obwohl die schönen schwarzen Augen und die Röthe der Lippen und das leicht in die Wangen schießende Blut dafür sorgten, daß Licht und Feuer genug aus dem Kinde herausglänzte. Mit der Zeit wurde die Haut bleicher, von dem zartesten Elfenbeinglanz überhaucht, und dazu schimmerte das bläuliche Weiß, in welchem ihre Augen schwammen, noch ganz so feucht, wie in ihrer Kinderzeit, und an dem kleinen Ohr, das wie aus Wachs geformt schien, hing ein rother Korallentropfen in einem Goldreif, als ob ein Maler die Farben recht sorgsam zusammengestimmt hätte, um dies junge Mädchenbild zu einem kleinen Meisterstück zu machen. Sie wußte auch sehr wohl, wie gut sie sich ausnahm, und schien keinen größeren Kummer zu haben, als daß die Gelegenheiten, sich bewundern zu lassen, so selten waren. Wenn sie mit ihrer Mutter zur Messe ging oder einen Einkauf zu machen, ließ sie ihre raschen Blicke manchmal fast wie flehend herumschweifen, ob denn kein Engel des Himmels sich erbarmen und sie aus der Enge und Trübe ihres Hauses und den einförmigen Gassen der Stadt in die lustige weite Welt entführen wolle. Ihr Gang verrieth, daß sie am liebsten gelaufen und geflogen wäre; ihre Geberden sprachen von mühsam verhaltener Lebenslust und Jugendübermuth, und selbst in der Kirche, wenn sie auf ihrem Schemelchen kniete, hielt sie den Kopf nicht fünf Secunden ruhig auf ihr Büchlein gesenkt, sondern schaute bald nach den Pfeilern, bald nach dem hohen Gewölbe, als ob sie die Kirchenschwalben beneide, die lautlos um die steinernen Gesimse und Bogenrippen hin und her schossen.

Es war freilich dem guten Kinde nicht zu verdenken, wenn es sich nach etwas mehr Freude und Freiheit sehnte, als unter dem elterlichen Dach ihm zu Theil wurde. Nichts Junges betrat jemals die fast klösterlich stillen Räume, außer einigen Nachbarstöchtern, die auch immer nur in Gegenwart der Mutter von vergnüglichen Dingen mit der Beppina schwatzen durften. An Sonn- und Feiertagen, wenn das Wetter hinauslockte, führte Signor Beppe seine Frau vor die Stadt ins Grüne, und die Tochter durfte an der Seite der Magd, der alten Cassandra, hinterdreingehen. Zuweilen auch wurde eine Loge im Theater genommen, wenn eine Oper gegeben wurde. Dann saß das schöne junge Ding, das gern seine dunklen Augen im Schein der vielen Gasflammen hätte leuchten lassen, auf einem Rückplatz im Schatten und vergoß manchmal heimliche Thränen des Kummers und Neides, wenn sie in anderen Logen ihre Freundinnen sah, die, von geputzten jungen Herren umringt, lächelten, äugelten und ein sehr beredtes Fächerspiel übten.

Sie hatte sich hie und da, wenn die Mutter sie einmal in einem jähen Anfall von leidenschaftlicher Schwermuth überraschte, das Herz erleichtert durch Klagen, daß sie strenger gehalten werde, als all ihre Bekanntinnen. Die Mutter hatte sie dann sanft in die Arme genommen, ihr die Thränen weggeküßt und sie damit zu beschwichtigen gesucht: der Vater wünsche es so, und was er wolle, sei immer das Beste für sie; auch werde sie ja nicht ewig bei ihnen bleiben. Dann könne sie ihr Leben führen, wie es ihr lieb und recht scheine. – Dergleichen hatte Frau Gioconda nie ohne stille Seufzer zu sagen vermocht und zuletzt ihre eignen Thränen mit denen des Kindes vermischt. Dadurch aber war in der Seele des Mädchens das heimliche Gefühl eines dunklen Grolls gegen den Vater nur noch bestärkt worden. Sie fühlte, daß auch der Mutter etwas zu ihrem Glücke fehle, da der Vater, obwohl er nie ein ungutes Wort an sie richtete, doch auch kein warmes und zärtliches, wenigstens in Gegenwart der Tochter, seiner treuen und tugendhaften Lebensgefährtin gönnte und eben so wenig es ihr zu danken schien, daß sie ihm ein so reizendes Kind geboren hatte. Auch gegen dieses, obwohl es sein einziges war und blieb, zeigte er wenig Vaterschwäche; ihre artigsten Einfälle belohnte kaum ein Lächeln, ihre kleinen Künste, Gesang und Klavierspiel, wurden nur mäßig aufgemuntert, und wenn sie Abends vorm Schlafengehen dem Vater Gutenacht sagte, berührte er mit seinen ernsten Lippen so zerstreut und kühl ihre Stirn, daß es sie manchmal bis in die Fußspitzen durchfröstelte.

Er hatte für sie die besten Lehrer gewählt, und den Fortgang ihrer Studien zu überwachen war ihm eine ernste Angelegenheit. Auch beschenkte er sie bei jedem Anlaß mit einer Menge hübscher Sachen, und ihr Stübchen im zweiten Stock neben dem Schlafzimmer, das sie mit der Mutter theilte, war der Neid all ihrer Freundinnen, die immer behaupteten, die Prinzessin Margherita könne keine eleganteren Möbel und zierlichere Einrichtung haben. Sie aber kam sich darin wie ein Vogel im vergoldeten Käfich vor und war dem Vater nur um so heftiger gram, weil diese seine Güte und Großmuth es ihr als schwarzen Undank aufs Gewissen legte, daß sie trotzdem nicht zufrieden war und den Urheber ihrer verstohlenen Unseligkeit von Tag zu Tage weniger lieben konnte.

Dieser Zustand währte bis in ihr sechzehntes Jahr und nahm zur wachsenden Betrübniß der Mutter so sichtbar zu, daß es dem Mädchen oft nicht mehr gelang, dem Vater gegenüber gute Miene zu machen und ihren zehrenden Unmuth zu verbergen. Der ernste, in sich gekehrte und vielbeschäftigte Mann schien dies leise Aufzucken eines stürmischen Inneren, das dumpfe Grollen eines leidenschaftlichen Temperaments völlig zu übersehen. Er ging ruhig wie sonst seinen Weg und wich auch geflissentlich einer Auseinandersetzung mit seiner Gattin aus, die mehr als einmal sich das Herz gefaßt hatte, von der Beppina und der Pflicht, sich nach einer passenden Verbindung für sie umzusehen, mit dem Vater zu reden.

Da trat plötzlich ohne ihr Zuthun eine Veränderung in der Stimmung des jungen Gemüthes ein, die freilich der Mutter noch bedenklicher vorkam, als der frühere verbitterte Trübsinn.

Man hörte das Mädchen, das in der letzten Zeit kaum einen Ton von sich gegeben, auf einmal wieder ihre Lieblingslieder singen, auch wenn sie nicht am Klavier, sondern mit einer Handarbeit in ihrem einsamen Stübchen saß. Zuweilen unter sechs Augen am Frühstücks- oder Mittagstisch lachte sie plötzlich vor sich hin und zog sich, um den Grund befragt, mit einer ganz nichtigen Erklärung aus der Verlegenheit. Die Blumen, die sie auf ihrem Balcon gezogen und nur allzu oft vernachlässigt hatte, wurden nun aufs Sorgsamste gepflegt, und sie brachte manche Stunde zwischen ihnen zu, auf einem Schaukelstühlchen sich wiegend, ein Buch zwischen den kleinen Händen, das freilich nur zum Vorwand für eine gedankenvolle Träumerei diente. Das Haus lag in einem einsamen Theil der Stadt, unter alten ausgestorbenen Herrenhäusern, einem Palazzo gegenüber, der seit Jahren unbewohnt war. Die jungen Stutzer fanden den Weg zu weit, um einzig und allein zweier schwarzer Augen wegen sich bis hierher zu bemühen, zumal die Tochter des Doctor Beppe für fast so unnahbar galt, wie ihre Tante, die Nonne. Also hatten die Eltern zuerst kein Arg, daß der Balcon jetzt wieder in Flor kam und der Lieblingsplatz ihrer Tochter wurde. Aber die Augen einer Mutter sind nicht leicht zu betrügen. Frau Gioconda war um so fester überzeugt, daß ihrem Kinde etwas begegnet sei, was einem sechzehnjährigen Herzen von der Natur unfehlbar verhängt ist, als sie bei einigen der letzten Ausgänge einen Jüngling bemerkt hatte, der seine feurigen Blicke mit einem ganz besonderen Ausdruck auf ihrer Beppina haften ließ und die Stunde sich notirt zu haben schien, wann sie in die Messe gingen oder am Sonntag selbviert das Haus zu verlassen pflegten.

An einem solchen Nachmittage mußte auch dem Vater die Erscheinung des jungen Menschen, der offenbar ein Fremder war, aufgefallen sein. Frau Gioconda fühlte an einer Bewegung seines Armes, daß ihr Mann von einem peinlichen Gedanken erschüttert wurde, und da sie selbst jedesmal bei Begegnung mit dem Jüngling allerlei schmerzliche Erinnerungen wieder aufleben fühlte, brachte sie kein Wort über die Lippen, ihre früheren Beobachtungen dem Gatten mitzutheilen. Sie warf einen raschen Blick auf Beppina zurück, die mit strahlendem Gesicht wie in einer Verklärung dahinschritt. Als aber der junge Fremde, scheinbar ohne auf sie zu achten, am Arm eines Anderen vorüberging, überlegte sie, daß sie leicht das Uebel ärger machen würde, wenn sie die Tochter geradezu veranlaßte, ihr ein Gefühl zu beichten, über das ihr junges Herz vielleicht sich selbst noch keine Rechenschaft gegeben habe.

So verging auch die folgende Woche, ohne daß es zu etwas Weiterem kam, die regelmäßigen Begegnungen beim Kirchgange ausgenommen. Als am nächsten Sonntag der Vater erklärte, daß heute ihr Spaziergang unterbleiben müsse, da ein wichtiger Prozeß ihm nicht erlaube, den Feiertag zu heiligen, warf die Frau einen forschenden Blick nach der Tochter, in deren Mienen aber statt der unmuthigen Enttäuschung, die sie gefürchtet, eine völlig sonnige Heiterkeit sich aussprach. Das sorgenvolle Herz der Mutter beruhigte sich bei der Hoffnung, sie habe sich doch am Ende getäuscht, und diese neue Wolke über ihrem ohnehin nicht hellen Leben werde unschädlich vorüberziehen. Schwester Perpetua, die Klosterfrau, war gerade zum Besuch bei ihnen und hatte am Mahle Theil genommen. Mit dieser zog sich Frau Gioconda in ihr Wohnzimmer zurück, um allerlei Familienangelegenheiten vertraulich zu besprechen. Der Vater ging zu seinen Acten hinunter, Cassandra hielt ihre Siesta in der Küche, Aristide räumte den Tisch ab und Beppina flog, eine Barcarole singend, in ihr Zimmerchen hinauf, um auf dem Balcon zwischen ihren Blumen die schwüle Stunde zu verdämmern.

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Die Straße war noch stiller und öder als sonst. Der graue Palazzo sah mit seinen geschlossenen Jalousieen spukhaft wie eine verwünschte Geisterherberge herüber; eine weiße Katze lag auf einem Fenstersims am Hause daneben, und die Luft war so ausgestorben, daß man das Thier in langen Pausen schnarchen zu hören glaubte. Weiter unten an der Straßenecke vor dem kleinen Café sah man den einzigen Gast, einen uralten Mann, über einer Zeitung eingenickt seiner Mittagsruhe pflegen, und ihm gegenüber den kleinen Kellner auf einem schiefen Rohrstuhl schlafen, während die Sonne durch die handbreiten Löcher der tief herabgelassenen Marquise drang und zahllose Fliegen in ihren Strahlen sich tummelten. Die wenigen Kaufläden in dieser Gegend waren geschlossen, nicht wegen der Sonntagsfeier, die hier unbekannt war, sondern weil es ganz hoffnungslos schien, daß heut und zu dieser Stunde ein Kunde sich hieher verirren könne.

Aber trotz der herzbeklemmenden Oede und Einsamkeit, die rings um das Haus des Advokaten ihren gespenstischen Hauch verbreitete, konnte man auf dem Balcon des dritten Stockwerkes das junge Gesicht zwischen den Gitterstäben hervorblühen sehen, röther als die Nelken und Granaten, die in den Töpfen umher wuchsen. Das Haus hatte nur die Morgensonne. Zur Siesta gab es keinen kühleren Platz, als da oben vor dem Prinzessinnenstübchen der Beppina. Sie lag in ihrem Schaukelstuhl, eine Nelke, die sie eben gepflückt, vor das schlanke Näschen haltend, dessen zierliche blasse Flügel leise zitterten, während sie den Duft einschlürfte. Auf ihrem Schooße hielt sie mit der anderen Hand eine kleine Mappe von rothem Leder, darin hatte sie schon von früh an ihre geheimen Papiere bewahrt, deren ja auch das bestgehütete Mädchen zu besitzen pflegt. Sie trug den kleinen Schlüssel dazu beständig auf ihrer Brust neben einer vom heiligen Vater geweihten Medaille mit dem Bilde der unbefleckten Mutter Gottes. Heute aber hatte sie den Inhalt ihres verstohlenen Archivs sorglos im Schooße ausgebreitet; denn als sie ihr Zimmer betrat, verschloß sie die Thüre hinter sich, und war auch ohnedies, da beide Eltern zu thun hatten, vor jedem Ueberfall sicher. Von Zeit zu Zeit ließ sie ihre raschen, blitzenden Blicke auf einem der beschriebenen Blättchen ruhen, aber nicht um zu lesen, was dort mit einer schönen, flüchtigen Hand geschrieben stand. Sie wußte ja jedes Wort auswendig; es war nur, um sich zu versichern, daß sie diese Schätze in Wirklichkeit besaß, nicht etwa nur davon geträumt habe. Jedesmal, wenn sie eines der kleinen Blättchen in die Hand nahm, wurde das Roth in ihren Wangen noch dunkler, und die Lippen bebten mit einem reizenden Ausdruck zwischen Lächeln und Beklommenheit, daß man die ganze Reihe ihrer festen kleinen Zähne sah, wie wenn sie sich eben rüsteten, in eine lockende Frucht einzubeißen. Sie sah dann aber bald wieder gespannt durch das Balcongitter in die lange leere Straße hinab, die Spitze ihres Fußes bewegte sich ungeduldig auf und ab, ein Schatten von Angst und Unmuth verdunkelte ihre lachenden Augen, – im nächsten Augenblick war's, als durchzucke die ganze Gestalt ein leiser Schlag, und der Stuhl gerieth ins Schwanken, als ob er das Gleichgewicht verlieren wollte. Aber sie nahm sich rasch zusammen. Sie drückte sich sogar tiefer in das Polster zurück und duckte den Kopf, um ja von unten nicht bemerkt werden zu können. Denn dort, noch ganz in der Ferne, kam Derjenige daher, der ihr das junge Blut rascher vom Herzen in die Wangen trieb. Er konnte sie, hinter den Blumenstöcken und rings von ihrem luftigen Käfich umgeben, noch nicht entdeckt haben, obwohl er schon von Weitem einen falkenhellen Blick an dem alten Hause hinaufschickte. Sie aber sah ihn deutlich, sein hübsches, ein wenig übermüthiges und selbstgefälliges Gesicht mit dem schwarzen Stutzbärtchen, den weißen Hals, den eine helle, seidene Cravatte nur lose umschloß, jede Falte an seinem stutzerhaften Anzug. Den Strohhut trug er in der Hand, daß sein krauses Haar desto schwärzer gegen die bleiche Stirn abstach; in der andern Hand hielt er ein Stöckchen, mit dem er ab und zu gegen das Pflaster klopfte, den Tact einer Verdi'schen Melodie angebend, die er nachlässig vor sich hinsummte. Alles in Allem genommen machte er eine anziehende Figur, wenn auch wohl mehr in den Augen der Töchter, als der Mütter, die schon wissen, daß der Text, der im Buch des Schicksals steht, sich nicht immer einem Opernritornell unterlegen läßt.

Als er das Haus erreicht hatte, blieb er stehen und spähte nun dringender, ja fast mit herausforderndem Trotz nach dem Balcon hinauf. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er noch immer nicht entdecken konnte, was er suchte. Er hustete ein paar Mal; es regte sich aber Nichts hinter den Eisenstäben des schwebenden Gartens. Da ergriff er den Klopfer an der verschlossenen Thür, hielt ihn noch eine Weile zaudernd in der Hand und ließ ihn endlich mit einem raschen Entschluß dreimal an die metallene Platte anschlagen.

In diesem Augenblick fiel eine rothe Nelke von der Höhe herab ihm gerade vor die Füße, und ein gedämpftes süßes Mädchenlachen klang durch die stille Luft zu ihm nieder. Ein leiser antwortender Ausruf entfuhr ihm, er bückte sich nach der Blume, hatte aber nur eben Zeit, sie aufzuheben und in seiner Brusttasche zu verbergen, als die Thür sich öffnete und das hagere Gesicht des alten Aristide an der Schwelle erschien, um zu fragen, zu wem der Herr wünsche.

Die Thür schloß sich dann wieder hinter dem Besucher, und die Straße, durch den kurzen Zwischenfall in ihrer Sonntagsruhe gestört, versank in die alte brütende Stille.

——————

Aber oben auf dem Balcon war es um alle Ruhe geschehen. Das einsame Kind hatte sich nur einen Augenblick wieder auf ihren Stuhl gekauert, da sie die Stimme des Dieners hörte, als könne er sie von der Schwelle des Hausthores aus erspähen und den Verdacht fassen, sie selbst möchte bei diesem Besuch mit im Spiele sein. Dann aber schnellte sie so geschmeidig wie eine junge Katze in die Höhe, raffte die Blätter zusammen, die bei dem Hinabwerfen der Blume aus der Mappe geglitten waren, trug den ganzen Schatz, nachdem sie ihn sorglich wieder eingeschlossen, ins Zimmer zurück und verbarg ihn in einem Fach ihres Schrankes, das sie für ein geheimes hielt, weil sie einen großen Carton mit Bändern und Spitzen davorzustellen pflegte. Es litt sie aber an keinem Ort, sie ging von ihrem Schreibtischchen zum Spiegel, von da zu einer kleinen Bibliothek, die an der Wand hing und lauter Bücher enthielt, in welche sie nie einen Blick warf; der Vater hatte sie ihr selbst ausgesucht, es war kein Roman darunter; dann streichelte sie das Fell eines ausgestopften Schooßhündchens, den sie als ein junges Kind abgöttisch geliebt und mit tausend Thränen beweint hatte, dessen blinde Glasaugen aber, wie sie jetzt hineinblickte, ihr zum ersten Mal unheimlich dünkten.

Sie trat endlich wieder auf den Balcon hinaus und lehnte sich, die Arme übereinandergelegt, an die Brüstung. Doch war Alles an ihr wie von einem inneren Gewitter bewegt, jede Faser zitterte, die Härchen in ihrem Nacken schauerten, obwohl die Luft noch immer völlig regungslos war, ihre Zähne nagten an den vollen Lippen, die Füßchen stampften mechanisch den Steinboden des Balcons, und ihre Brust athmete so rasch, daß der Granatstrauch, an dem sie stand, hin und her wankte, wie wenn ein Scirocco seine Zweige erschütterte. Sie horchte dann wieder ins Haus hinein durch die verschlossene Thür. Aber was konnte sie zu erlauschen hoffen, da der Besuch dem Vater gegolten hatte. Freilich, wenn Alles kam, wie sie wünschte und erwartete, mußte die Stille unten bald ein Ende nehmen, Schritte die Treppe hinauf sich ihrer Schwelle nähern, der gemessene des Vaters – oder gar, wenn die Madonna besonders gnädig war, ein stürmischer jüngerer, der drei Stufen auf einmal übersprang.

Und immer noch blieb Alles lautlos.

Sie huschte endlich von der Thüre weg, wieder zu den Blumen hinaus. Und ihre Ahnung hatte sie diesmal nicht getäuscht. Kaum lehnte sie wieder an der Brüstung, da ging unten die Hausthür auf und fiel sofort wieder ins Schloß. Der aber hinausgetreten war, stand unbeweglich. In welcher Verfassung er sich befand, konnte sie nicht sogleich erkennen, da der Balcon gerade über der Hausschwelle und dem breiteren Balcon des ersten Stockwerkes vorsprang. Nun regte sich endlich die Gestalt da unten, that einige Schritte die Straße hinunter, blieb wieder stehen und ballte die Faust.

Zanetto! flüsterte es aus der Höhe. Der Jüngling wandte hastig den Kopf und blickte nach dem Balcon hinauf. Sein Gesicht trug die Spuren einer heftigen Erregung, der Schweiß perlte ihm auf der Stirn, die Lippen waren blaß und verzogen. Der Reiz seiner frischen, verwegenen Jugend war plötzlich von ihm gewichen.

Zanetto! wiederholte die Stimme vom Balcon. Es war, wie um einen Schlafenden aufzuwecken, da sein Blick so seltsam unstät herumflackerte, als wisse er nicht wo er sei.

Gute Nacht! rief er endlich mit gepreßtem Ton. Addio, Beppina! Geh in ein Kloster. Die Madonna sei mit dir!

Dazu eine Geberde, die andeutete, daß Alles aus und jede Hoffnung verloren sei. Aber im nächsten Augenblick schien ein leichtfertiger Trotz sich der Seele des jungen Menschen zu bemächtigen. Er lüftete den Hut, schwenkte ihn ein paar Mal in der Luft und setzte ihn dann schief wieder auf. Darauf griff er in die Tasche, holte die rothe Nelke hervor, küßte sie dreimal mit komödienhaftem Pathos und zerpflückte sie, indem er die Blätter nach den vier Wänden von sich warf.

In diesem Augenblick kam ein Mann mit brennender Cigarre des Weges. Zanetto trat an ihn heran, bat, an den Hut fassend, um Feuer und verließ dann, den blauen Dampf seiner Cigarrette vor sich hin blasend, mit langsamem, recht augenfällig gleichgültigem Schritt das Haus, ohne nur noch ein einziges Mal den Blick nach dem Balcon zurückzuschicken, auf welchem ein junges Gesicht in rathloser Verzweiflung ihm nachstarrte.

Was war geschehen? Was hatten sie miteinander geredet? War das derselbe Himmel noch, der vor einer halben Stunde in diese stille Straße hinabgesehen? dieselben Blumen, hinter denen sie ihr Erröthen, ihre Ungeduld, ihre schalkhafte Seligkeit, dem Geliebten unsichtbar nahe zu sein, verborgen hatte? Hatte er wirklich sagen wollen, daß Alles aus sei, ganz und für immer? Und daß ihm nicht viel mehr daran liege, als an den Ueberresten einer zerpflückten Blume und der verwehten Asche seiner Cigarrette? Aber das war ja unmöglich! – das konnte doch nicht das Ende sein eines Glückes, von dem sie selbst seit Wochen gelebt hatte wie von dem Einzigen, was sie in dieser öden Traumwelt für wahr und wirklich hielt, und von dessen Unvergänglichkeit jeder Tag sie mehr überzeugt hatte!

Ihr armer junger Kopf drohte zu springen, ihr noch ärmeres junges Herz lag plötzlich wie gelähmt, schwer wie ein fühlloser todter Körper in ihrer Brust; sein Schlag schien still zu stehen; die Augen brannten, ohne durch eine Thräne gekühlt zu werden, ihre Zähne klapperten leise auf einander. So ließ sie sich wie eine Ohnmächtige, doch mit völlig wachem Bewußtsein in ihren Sessel sinken, drückte die Hände gegen das Gesicht und lag in jammervoller Betäubung, ohne einen klaren Gedanken, ohne ein deutliches Gefühl, als nur das eine: er hat nicht einmal nach dir umgeblickt! –

——————

Da hörte sie klopfen an ihrer Thür und fuhr in die Höhe. Sie konnte Niemand ins Gesicht sehen. Wenn die Mutter zu ihr wollte, sollte sie sich nur gedulden und denken, das Kind sei in der schwülen Nachmittagsluft eingeschlafen. Aber da klopfte es wieder, und jetzt hörte sie die Stimme ihres Vaters: Beppina, mach auf! – des Vaters, dem sie von allen Menschen jetzt am wenigsten gegenübertreten mochte. Sie stand an die offene Balconthür gedrückt mit verhaltenem Athem, ob er nicht wieder gehen würde, wenn Alles still bliebe. Aber er pochte wieder. Ich weiß, daß du drinnen bist! Oeffne! – mit seinem gewöhnlichen ruhig festen Ton, dem Niemand widerstehen konnte. Da preßte sie ihre kleine Hand gegen das Herz; ihr Gesicht wurde finster, fast feindselig, sie athmete tief auf, wie Jemand, der einen schweren Entschluß gefaßt hat, und ging dann langsam den Riegel zurückzuschieben.

Sie sah den Vater aber nicht an, als er eintrat, so trotzig sie es sich vorgenommen, ihm die Stirn zu bieten. Wenn er zornig hereingestürmt wäre, sie mit Vorwürfen zu überhäufen, hätte sie vielleicht den Muth gefunden, sich offen zur Wehre zu setzen gegen seinen tyrannischen Willen, der sie unglücklich machte. Aber er trat ganz gelassen ein, wie er zu thun pflegte, wenn er einmal nach ihren Studien sich erkundigen oder ihr ein neues Buch bringen wollte. Sein Gesicht, das sie freilich nicht sah, war ein wenig bleicher und trauriger als sonst. Man hätte sogar glauben können, daß er geweint habe; aber vom vielen Lesen und der nächtlichen Himmelsschau waren seine Augen in der letzten Zeit überhaupt angegriffen und leicht geröthet.

Er ging ein paar Mal das Zimmerchen auf und ab, während sie, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Hände auf den Tisch gestützt, dastand, als ob sie ganz einsam vor sich hin träume. Sein Gesicht blieb ihr abgewendet, er fuhr sich mit der Hand durch die buschigen Haare, die an den Spitzen schon grau zu werden anfingen, während der schwarze Bart, der das nicht schöne, aber kluge und gute Gesicht noch blasser erscheinen ließ, keine Spur des Alters zeigte.

Beppina, sagte er endlich, indem er vor der Balconthüre stehen blieb, du weißt ohne Zweifel, weßhalb ich zu dir gekommen bin. Es war Jemand bei mir, mit dem ich heute das erste Wort gesprochen habe, das erste und letzte. Er wird nie wieder dieses Haus betreten, so lange ich darin wohne. Aber da er Mittel gefunden hat, hinter meinem Rücken sich meiner Tochter zu nähern, Briefe mit ihr auszutauschen, vielleicht mehr als das –

Er hielt inne und sah sie an. Sie schüttelte heftig aber kaum merklich den Kopf und blieb dann auf derselben Stelle wie angekettet stehen.

Ich werde dir keine Vorwürfe machen, fuhr der Vater fort. Was geschehen ist, betrübt mich, weil es dir Schmerzen machen muß, die ich dir gern erspart hätte, die aber vielleicht so heilsam wie unvermeidlich waren. Wenn du mehr Vertrauen zu deinem Vater gehabt hättest –

Sie zitterte über den ganzen Leib vor innerer Erregung, aber ihre Lippen preßten sich nur fester auf einander.

– oder zu deiner Mutter – so hättest du bei der ersten dieser heimlichen Botschaften uns dein Herz geöffnet, und wir hätten dir gesagt, daß du keinen zweiten Brief annehmen dürfest, keine Wünsche und Hoffnungen nähren, die nie in Erfüllung gehen könnten.

Das Mädchen machte eine gewaltsame Anstrengung, den Bann zu durchbrechen, den die Nähe des Vaters ihr auferlegte.

Warum nicht? brach es kaum hörbar von ihren Lippen.

Weil – weil es unmöglich ist! Beppina – mein armes Kind – so schwer es dich ankommen mag, glaube, daß es deinem Vater nicht leicht geworden ist, dir weh zu thun. Wenn er es hat thun müssen, so hat er sehr ernste und unerbittliche Gründe, die er dir freilich nicht mittheilen kann. Ich weiß, daß du im Stillen manchmal mit mir gegrollt hast, in der Meinung, ich versagte dir dies und das, worauf du ein Anrecht zu haben glaubtest, oder was dir lieb gewesen wäre. Vielleicht, weil ich nicht sehr ergiebig bin an Worten und Liebkosungen, hast du an meinem Herzen gezweifelt. Es ist Manches über mich gekommen, mein Kind, was mich düster und still gemacht hat. Ich weiß, daß es Väter giebt, mit denen ihre Töchter mehr zufrieden sind, als du mit dem deinen, die mit ihnen lachen und scherzen und ihnen allen Willen lassen. Ich schelte darum Niemand, wenn ich auch für mich selbst thue, wie ich muß und kann. Vielleicht siehst du noch einmal ein, daß es zu deinem Besten war, wenn ich dir weniger Freiheit ließ, als Andere haben. Ich kenne deine Art und Weise; du bist wie ein rasch aufgesprossenes Bäumchen in einem fetten Boden, das sicher behütet und an einen festen Stab gebunden werden muß, wenn es nicht über Nacht von einem jähen Windstoß geknickt werden soll. Noch ein paar Jahre, und ich kann hoffen, dich ohne Gefahr dir selbst überlassen zu dürfen. Willst du mir noch ein wenig vertrauen, Kind, daß ich es gut mit dir meine?

Keine Antwort kam von dem ganz in sich versunkenen Mädchen, das die Augen starr zu Boden gesenkt hatte und auch die Hand zu übersehen schien, die der Vater nach ihr ausstreckte.

Er that wieder ein paar Schritte, wie um ihr Bedenkzeit zu lassen. Als sie hartnäckig schwieg, sagte er mit etwas nachdrücklicherem Ton:

Ueber deine Gedanken und Gefühle habe ich leider keine Macht; es ist nicht erst seit heute, daß ich daran verzweifeln muß, dein Herz zu lenken, und vielleicht liegt ein Theil der Schuld an mir, da mir die Gabe fehlt, dir Vertrauen abzugewinnen. Aber über deine Handlungen, Beppina, über dein Thun und Lassen ist mir Gewalt gegeben, und auf die werde ich nicht verzichten. Es darf von einem Verkehr zwischen dir und diesem Jüngling fernerhin keine Rede sein. Ich weiß nicht, wie gewissenhaft er sein Wort halten und dir nicht nur mit seiner Person, sondern auch mit Briefen und mündlichen Botschaften fern bleiben wird. Cassandra verläßt heute noch das Haus, wenn es sich herausstellt, was ich vermuthe, daß sie die Vermittlerin war. Du aber mußt mir versprechen, Kind, daß du diesem – Zanetto, wenn du ihn auch nicht gleich aus deinen Gedanken verbannen kannst, nie mehr ein geschriebenes oder gesprochenes Wort willst zukommen lassen, nie mehr die Gelegenheit suchen, ihn zu sehen, und, wenn der Zufall es dennoch fügt, die Blicke von ihm abzuwenden, wie von einem ewig Fremden. Willst du mir das versprechen, meine arme Tochter?

Sie wandte plötzlich ihr Gesicht nach dem Vater um, der eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, wie wenn sie sich gegen ein Joch aufbäumte. Einen Augenblick sah sie ihm gerade in die Augen, ihre Brust hob sich mühsam, ihre entfärbten Lippen zitterten.

Nein! stieß sie halblaut hervor. Tödtet mich! werft mich in einen finstern Kerker! Nie, nie werde ich ihm entsagen! Ich – ich könnte nicht, auch wenn ich wollte!

Dann sank ihr Blick wieder zu Boden, eine dunkle Röthe stieg ihr in die Wangen, schwere Tropfen stürzten aus ihren Wimpern; sie tastete, wie wenn sie alle Gewalt über ihre Sinne verloren hätte, nach einem Halt und stürzte laut aufschluchzend auf das niedere kleine Sopha, das mitten im Zimmer stand.

Der Vater stand regungslos und sah eine ganze Weile auf das junge Wesen herab, dessen schlanker Leib wie von den heftigsten Krämpfen durchtobt auf dem Ruhebette lag.

Armes Herz! sagte er endlich. Armes junges Leben! Aber es ist umsonst. Kein Wort kann diesen Sturm besprechen. Höre nur das Eine, wenn du mich noch hören kannst: was ich dir anthun muß, werde ich vor meinem Schöpfer und Richter dereinst zu verantworten haben und keiner Schuld daran geziehen werden. Du hast deinen Vater nicht lieben lernen, Beppina; doch kennst du ihn genug, um zu wissen, daß er unerschütterlich thut, was er für recht hält. Du wirst dies Haus nicht verlassen, ehe ich es wieder gestatten kann. Diese Thür verschließe ich und öffne sie erst wieder, wenn ich aus deinem Munde die Versicherung erhalte, daß du mein gehorsames Kind sein willst, wenn du auch nicht mein liebendes sein kannst. Komm zu dir, meine arme Tochter! Dieser fessellose Jammer –

Die Thür ging geräuschlos auf, und die Mutter trat herein. Sie warf einen Blick der innigsten Bestürzung auf die Schluchzende und das düstere Gesicht ihres Gatten. Um Gottes willen –! wollte sie zu fragen anfangen. Aber eine Geberde des Mannes machte sie verstummen.

Ich habe ihr gesagt, was ich durfte, sagte er leise. Siehe, wie du sie wieder beruhigen kannst. – Es ist, wie wir gefürchtet hatten, setzte er noch gedämpfter hinzu. Die Aehnlichkeit hat uns nicht betrogen. Armes Kind!

Damit ging er aus der Thür, der Frau einen Blick zuwerfend, der ein tiefes Leiden aussprach, aber keinen Schatten eines Vorwurfs.

Sie hörte ihn die Treppe hinabgehen. Sie selbst aber stand wie ein lebloses Bild mitten im Zimmer, die Stirne mit beiden Händen haltend, als wäre ein betäubender Schlag geschehen, der ihr einen Augenblick die Besinnung geraubt hätte.

Doch besann sie sich rasch; die Töne, die von dem Ruhebett an ihr Ohr drangen, weckten sie zum Bewußtsein ihrer mütterlichen Pflicht. Als sie sich aber dem unglückseligen Kinde näherte, auf den Teppich neben ihr niederkniete und zärtlich ihren Namen rufend den Arm um ihre zuckende Gestalt schlang, erschrak sie vor der Heftigkeit, mit der die Weinende auffuhr und sie zurückstieß.

Was willst du von mir, Mutter? rief sie wie außer sich. Willst du mich auch quälen, mir gute Worte geben, während du mir Böses thust? mich dein armes Kind nennen und mir dabei das Herz aus der Brust reißen? Geh, geh zu ihm, mit dem du dich verschworen hast, mich ins Grab zu bringen, eh' ich noch erfahren, was leben heißt! Von ihm wundert es mich nicht und schmerzt mich nicht. Er kann nicht lachen und will kein frohes Gesicht sehen; er denkt an seine Sterne und vergißt die armen Geschöpfe, die auf der Erde sind und von ihm abhängen. Er weiß es auch, daß er mich unglücklich macht, und will es nicht anders, denn er kennt nichts, als seine einsamen Gedanken; er ist nie jung gewesen und hat nie gewünscht und gehofft, geliebt und gelitten. O Mutter, wie hast du ihn nur lieben können! Wie hat dein Herz sich nicht vor ihm gefürchtet, dein junges Blut nicht geschaudert vor seiner Kälte? Ich – ich hasse ihn, ich habe ihn immer gehaßt, aber lange geglaubt, es sei nur Ehrfurcht oder Furcht, was mich von ihm zurückscheuchte. Und jetzt, wie er mir mein Todesurtheil verkündigte, mit so sanfter Stimme, als ob er mir die Gnade des Himmels brächte, jetzt sah ich erst klar in mein Herz und begriff, daß ich ihn von Kind an gehaßt habe. Mutter, ich sterbe an diesem Haß, und das soll meine Rache sein. Der Vater soll erleben, daß die Verzweiflung, das Grauen vor ihm seiner Tochter das Leben vernichtet hat. Dann, Mutter, dann magst du ihm sagen, daß er nicht mehr nach den Sternen schauen soll, weil dort eine arme Seele wohnt, die ihren Jammer und Haß mit in die Ewigkeit hinübergenommen hat. Wenn er dann noch das Herz hat –

Mein geliebtes, einziges Kind! unterbrach sie die Mutter, indem sie ihr mit sanfter Gewalt die streichelnde Hand auf die Lippen drückte, versündige dich nicht so schwer, gieb deine arme Seele nicht so gottlosen und thörichten Gedanken preis, die du schwer bereuen wirst, wenn dieser Sturm sich erst gelegt hat. Hassen! – deinen Vater, der nichts als Liebevolles dir je angethan, der schwerer, als du ahnst, dein Glück und deinen Frieden erkauft, und auch wo du seine Handlungen nicht verstehst, sich nur deine Liebe und Ehrfurcht und ewigen Dank verdient hat, – und du, unseliges Herz, du kannst so feindlich dich gegen ihn sträuben, kannst auch nur im Stillen, geschweige mit so wahnwitzigen Worten ihn anklagen? Und Alles um ein Glück, das du dir nur geträumt, das vielleicht –

Nichts gegen ihn, Mutter, wenn du mich nicht wirklich zum Wahnsinn treiben willst! rief die Weinende. O Mutter, du kennst ihn nicht, du weißt nicht, wie dieser Traum von ihm, den du mir schmähen willst, meine ganze Seele erfüllt hat. Ich bin gefangen gewesen sechzehn Jahre lang, und soll Den nicht für einen Himmelsboten halten, der mich in die Freiheit führen will, der endlich kam, mir das Glück zu erobern, Luft und Licht und Liebe – Alles, was ein armer Mensch braucht – und nun abgewiesen, für immer mir aus den Augen – und ich soll verzichten auf meine Rettung – soll stille halten, daß ich wieder an Händen und Füßen gebunden werde, nicht einmal mit den Augen soll ich ihm sagen, wie ich um ihn leide, – nein, Mutter, nie werde ich darein willigen! Ich bin keine Heilige, wie du, o Mutter! Ein Leben, wie du es die langen Jahre ertragen hast, wäre mir bitterer, als der Tod, und das magst du glauben: wenn ihr mich mit Gewalt zu zwingen denkt – der Balcon ist, Gott sei Dank, hoch genug, um mit einem Sprung hinaus aller Qual und Knechtschaft ein Ende zu machen!

Es war eine Weile ganz still auf diese Worte. Das Mädchen lag, erschöpft von ihren Schmerzen, auf dem Sopha, das Gesicht in ihr nasses Tuch gedrückt, ohne ein einziges Mal die Mutter anzusehen, die immer noch neben ihr auf dem Teppich kniete. Da hörte sie plötzlich die bebende Stimme dicht an ihrem Ohr:

Bleibe nur liegen, Kind – so! weine dich nur aus. Was du erlebt hast, ist traurig, aber noch viel trauriger, was deine Mutter dir jetzt sagen muß. Ich hoffte, du würdest es nie zu hören brauchen, obwohl es mir mehr als einmal auf der Zunge war, wenn ich sah, wie dein Herz sich gegen den Vater auflehnte. Du kennst ihn nicht, Kind, wie deine arme Mutter ihn nun seit siebzehn Jahren kennen gelernt hat. Es gab eine Zeit, wo auch ich ihn nicht kannte. Deine Mutter war auch einmal ein lustiges junges Ding und der Vater schon damals ein ernster Mensch, der nur lachte, wo es der Mühe werth war, nicht bloß um zu lachen, wie die thörichte Jugend. Und deine Mutter – aber nein, nein! Ich kann nicht! Es ist zu bitter, seinem eigenen Fleisch und Blut –

Sie verstummte und drückte die Augen, die ihr plötzlich übergingen, gegen die Schulter des Mädchens. Das Kind richtete sich langsam auf und schlang den Arm um die Weinende, indem ihre eigenen Thränen auf einmal versiegten.

Sage mir nur Alles, Mama, flüsterte sie von Schluchzen unterbrochen. Es ändert ja doch nichts. Aber wie oft, wenn ich dich so still und ohne Klage herumgehen sah, – und ich habe wohl sehen können, wie du dich zusammennahmst, dem Vater zuzulächeln, und er – er veränderte keine Miene –! O Mutter, wie hundertmal war ich drauf und dran, dir um den Hals zu fallen und dich zu beschwören: Sage mir, warum du traurig bist, warum du nicht wie andere Frauen mit ihm sprichst, ihm erklärst, daß er dich unglücklich macht, dich und deine Tochter – und immer, wenn du dann lächeltest wie eine Heilige –

Still, still, Kind! wehrte Frau Gioconda ihr ab. Du weißt nicht, was du sprichst. Und nun muß es wohl sein. Ich bin es ihm schuldig und dir, mag kommen, was kommen will. Aber ich will mich setzen, und du setze dich auf meinen Schooß, wie ich dich so oft als kleines Mädchen gehalten habe, wenn ich dir Märchen erzählte, um dich zu trösten über ein zerbrochenes Spielzeug. O mein Kind, hätte ich eine Mutter gehabt, vielleicht wäre das traurige Märchen meines Lebens anders ausgegangen. Aber der Vater hatte keine Gewalt über mich, er vergötterte mich, weil ich sehr hübsch war und alle Leute ihm mein blondes Haar und meine blitzenden Augen priesen und die munteren Reden wiedererzählten, die ich so im Uebermuth hinauswarf. Und ich selbst war stolz darauf, daß mir Niemand etwas zu sagen hatte, daß ich den ganzen Tag mich putzen, lachen und singen konnte und kein junger Mensch in der Stadt war, den ich nicht mit einem Wort und Wink zu Allem hätte bringen können, was ich nur wollte. Dazu waren wir wohlhabend und ich besaß Alles, was mein Herz begehrte, schöne Kleider, Schmuck und eine Wohnung, die noch viel zierlicher und reicher war, als dies dein Stübchen, Kind. Und doch dacht' ich, es sei eben nur Alles in der Ordnung; für ein so schönes Bild sei der kostbarste Rahmen gerade gut genug, hielt mich auch viel zu gut und theuer, um irgend einen von meinen vielen Bewerbern meiner werth zu finden, obwohl ich auch keinen ganz frei gab. Denn es schmeichelte mir, einen so großen Hofstaat zu haben.

Und siehst du, damals kam dein Vater als junger Doctor der Rechte von Padua zurück. Ich hatte ihn vor Jahren wohl gekannt, wir wohnten eine Zeit lang in einem der Nachbarhäuser, bis mir die Straße zu einsam und das Haus zu verfallen vorkam und ich den Vater bewog, ein viel schöneres Haus zu kaufen, das am Corso lag. Damals aber hatten wir zusammen gespielt wie Nachbarskinder, und ich war schon als blutjunges Ding stolz darauf gewesen, daß der kleine Beppe, der immer der Stillste war, mir auf den Wink folgte und sich geduldig von mir mißhandeln ließ. Als er dann wiederkam, fertiger junger Mann, suchte er uns gleich wieder auf. Er mißfiel mir aber. Ich fand ihn weder hübsch noch artig, er war der Einzige, der mir nicht schmeichelte und, wenn ich es allzu ausgelassen trieb, wohl gar die Achseln zuckte und sich stillschweigend entfernte. Das aber reizte mich eben. Ich bot all meine Künste auf, ihn zu erobern, und es brauchte gar nicht vieler Mühe und List, er war heimlich viel närrischer in seine Jugendgespielin verliebt, als irgend ein anderer meiner Verehrer. Wie ich das merkte, fühlte ich gar kein Mitleid, nur einen kaltherzigen, schadenfrohen Triumph, und behandelte ihn gleichgültiger als irgend wen. Er aber änderte sein Wesen darum keinen Augenblick. Er lächelte nur so eigen vor sich hin, wenn ich ihn mit seinem Spitznamen »Beppe der Sternseher« nannte und ihn höhnte: wer am Himmel zu gut Bescheid wisse, werde auf Erden sich nicht zurecht finden. Er kam trotz alles Spottes, den ich über ihn ausgoß, fast einen um den andern Tag zu meinem Vater, der schon mit dem seinigen allerlei Rechtshändel zu berathen gepflegt hatte, und das übertrug sich nun auf den Sohn. Mein Vater war Consul eines fremden Staates und hatte verwickelte Banquiergeschäfte. In alle dem stand der junge Advocat ihm bei. Mag er immerhin allerlei unnütze mathematische Zahlen schreiben, um eine Sternenbahn zu berechnen, sagte der Vater, – er weiß darum auch im Courszettel und in den Paragraphen seiner Rechtsbücher die Wege und Stege zu finden. Du solltest ihm nicht ein so kaltes Gesicht machen, Gioconda. – Ich bin kein Sternbild, sagte ich schnippisch. In der Sonne aber nimmt er sich nicht gut aus. Sieh nur, wie schwarz er ist. Es ist, als ob er das Lachen begraben hätte und Trauer darum trüge.

So wich ich meinem Vater beständig aus und ihm auch, wenn er mich allein zu treffen wußte. Denn heimlich hatte ich sogar Furcht vor ihm, die im Grunde nichts Anderes war, als eine Art Scham, daß ich ihn doch nicht übersehen konnte.

Einmal aber, als er mich im Garten traf und ich aus einem heimlichen Grauen vor ihm, da ich glaubte, er durchschaue mich bis ins innerste Herz, ihn mit den unholdesten Neckereien überschüttete, sah ich, wie sein gelassenes Gesicht plötzlich einen sehr schmerzlichen Ausdruck annahm. Ich bedaure Euch, Gioconda, sagte er. Ihr entstellt Euch zu sehr. Aber mich kann das nicht an Euch irre machen. Ihr werdet nie einen treueren Freund haben, als mich.

Da hörte ich plötzlich auf zu lachen, aber diese seine guten Worte reizten mein kindisches Gemüth nur noch mehr. Ich brauchte keinen Freund, und am wenigsten einen, der davon sprach, daß irgend Etwas, was ich that, mich entstellen könne.

Ich war so zornig über ihn und ärgerlich über mich selbst, weil ich ihm keine schnöde Antwort zu geben wußte, – die Thränen traten mir in die Augen. Denselben Abend fing ich an, mit dem Vater von ihm zu reden, daß ich ihn nicht mehr sehen möge, weil er sich nicht höflich genug betrage, und wenn er ihm das Haus nicht verbieten könne, solle er ihm wenigstens erklären, daß mir seine Gegenwart verhaßt und alle Mühe, mich etwa bessern und ihm gefügig machen zu wollen, umsonst sei.

Aber der Vater gab mir nicht, wie sonst immer, bereitwillig Recht, noch eh' ich mit meiner Rede ganz zu Ende war. Er sah ernst aus, blieb eine Weile stumm und eröffnete mir dann, daß ich sehr Unrecht thäte, den Doctor Beppe zurückzuweisen. Er sei der Einzige in der Stadt, der von seiner geschäftlichen Lage genau Bescheid wisse, der allein sich noch anstrenge, den Fall unseres Hauses aufzuhalten, und dennoch habe er eben heut am Morgen in aller Form um meine Hand geworben und sie zugesagt erhalten, falls er meine Einwilligung erlangen könne.

Es war, als öffne sich die Erde dicht vor meinen Füßen und ein plötzlicher Schwindel wolle mich in den Abgrund hinunterstürzen.

Ich erwiderte keine Silbe, ich trug aber ein verzweifeltes Herz in mein einsames Zimmer zurück und schloß die ganze Nacht kein Auge. Allem entsagen, was bisher mein Dasein ausgefüllt hatte, als ein armes, bedauertes, vielleicht gar verhöhntes Mädchen weiterleben und meine Neiderinnen frohlocken hören, oder mich auf ewig unter die Gewalt dieses finsteren, einsilbigen, strengen »Freundes« ducken, nur um den Schein des Glückes zu retten, mein wahres Glück, das ich mir nur lachend denken konnte, ewig verscherzen – –

Das Mädchen, das ihr Gesicht an die Brust der Mutter geschmiegt hatte, drückte sie fester an sich; ein Seufzer erschütterte die junge Gestalt, die ganz regungslos auf dem Schooß der Frau gesessen hatte. O Mutter, sagte sie, was mußt du gelitten haben!

Was ich verdient hatte! seufzte die Frau und berührte leise mit ihren Lippen das dunkle Haar des Kindes. Aber ich war noch nicht gedemüthigt genug. Ich wollte noch nicht daran glauben, daß keine andere Rettung sei. Wie der Doctor Beppe am andern Morgen kam, verschloß ich mich in meinem Zimmer. Er hatte ein langes Gespräch mit dem Vater. Dann ließ er mich bitten, ihm auf zehn Minuten Gehör zu schenken. Ich trat ihm gegenüber, kälter und abweisender als je. Wenn ich verkauft würde, wollte ich doch mit keiner Miene in meine eigene Erniedrigung willigen. Aber er schien das Alles zu übersehen. Er wisse, sagte er, daß mein Herz sich ihm noch verschlossen halte. Er habe, so lange ich eine reiche Mitgift zu erwarten gehabt, nicht gewagt, sich mir anzutragen. Auch jetzt solle ich nicht übereilt mich entschließen. Uneigennützigkeit sei ja das geringste Verdienst, das ein redlicher Freund sich zuschreiben dürfe; und in seinem Falle könne nicht einmal davon die Rede sein. Seine alte tiefe Neigung zu mir lasse ihm meinen Besitz als einen Schatz erscheinen, den er mit allen Millionen, wenn er sie besäße, nicht aufwiegen könnte. Aber eine ächte und unwandelbare Liebe eines Ehrenmannes sei auch ein werthvoller Besitz, und er könne die Hoffnung nicht aufgeben, daß ich den eines Tages würdigen lernen und manche andere Gaben, die ihm fehlten, dagegen geringschätzen würde.

Er bot mir dann die Hand, in die ich ohne ein Wort, weder der Zustimmung noch der Abwehr, nur wie man einen gleichgültigen Besuch verabschiedet, meine kalte Hand legte.

Von diesem Morgen an war es um meinen Frieden und meine Fröhlichkeit geschehen. Er kam nun täglich, ohne mir je von Liebe zu sprechen. Auch der Vater drängte mich nicht. Ich wußte aber, daß mich Beide als eine verlobte Braut betrachteten, und wenn ich das Wort vor mich hin sprach, überrieselte mich ein kalter Schauer.

Da kam eines Tages –

Sie stockte. Die Tochter fühlte, wie das Herz der Mutter heftiger zu klopfen anfing und ihr die Kniee zitterten; ein paar Minuten vergingen, ehe sie die Kraft fand, weiter zu sprechen.

Kind, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, ich gäbe den Rest meines Lebens hin, wenn es mir erspart würde, dir, meinem Liebling, dies Traurige berichten zu müssen, das noch jetzt, da es lange gebüßt ist, mich vor mir selbst so tief beschämt. Aber deine Ruhe hängt daran; und nicht wahr? du wirst es deine Mutter nie entgelten lassen, daß sie dir, um deines eigenen Glückes willen, bekannt hat, wie schwach sie war! –

Eine leidenschaftliche Umarmung wehrte ihr, weiter zu reden. Das Kind drückte dabei sein Gesicht so fest an die Brust der Mutter, daß ihre Augen sich nicht begegneten.

Ein junger Venezianer kam eines Tages zu meinem Vater – der Sohn eines reichen Juweliers. Er hatte einen Creditbrief auf unser Haus, das damals nach außen hin noch im alten Flor stand. Es war ein schöner Jüngling, mit ziemlich freien, selbstbewußten Manieren, in Allem erfahren, was eitlen Mädchen gefallen konnte. Als er mich zuerst auf der Straße sah, blieb er mit einer Geberde der ehrerbietigsten Bewunderung stehen, als ob er einem himmlischen Wesen begegnete. Ich fühlte, was ich noch nie gefühlt, eine große Gefahr, und einen Rausch von Wonne, den ich nur mühsam hinter meinem Fächer verbarg. Doch traf ich noch denselben Abend im Hause meines Vaters mit dem Fremden wieder zusammen. Es dauerte nicht drei Tage, so hatte er mir sein Herz zu Füßen gelegt und ich ihm gestanden, daß er meine erste Liebe sei.

Der Vater war nicht im Geheimniß. Aber ich zweifle nicht, daß er den Zustand, in dem sich mein armes eitles Herz befand, durchschaute und durchaus nicht mit dieser Wendung der Dinge unzufrieden war. Er hatte Nichts dagegen gehabt, die Hülfe Beppe's anzunehmen, um den Preis meines Lebensglückes. Aber wenn sich's glücklicher traf, wenn er aus seinen mißlichen Verhältnissen befreit wurde durch einen Schwiegersohn nach dem Herzen seiner Tochter, war er sehr bereit, Geschehenes ungeschehen zu machen und dem älteren Freunde sein Wort aufzukündigen. Nur, als vorsichtiger Geschäftsmann, wollte er Nichts übereilen und reif werden lassen, was im Rath des Himmels beschlossen wäre.

Seine unglückliche Tochter – war minder klug und vorsichtig. Als ihr heimlich Geliebter nach sechs wie im Traum verflogenen Wochen Abschied nahm, um, wie er sagte, erst die Zustimmung seines Vaters zu erlangen und dann auf Flügeln der Sehnsucht zu seiner Braut zurückzueilen, blieb ich, obwohl ich noch nicht mein ganzes Elend ahnte, wie eine für ewig Verlorene zurück; ich schloß mich Tag für Tag in meinem Zimmer ein, selbst dem Vater getraute ich mich nicht ins Gesicht zu sehen, als stünde mir meine Schuld und mein Unglück an der Stirn geschrieben, und wenn ich den Schritt des Doctor Beppe im Hause hörte, durchbebte mich eine Angst, wie wenn mein Richter komme, mit einem erbarmungslosen Blick mich zu vernichten. – –

Sie verstummte wieder. Das Kind auf ihrem Schooß saß ohne einen Laut von sich zu geben, mit verhaltenem Athem. Nur ihre Arme drückten die Mutter fester an sich.

Ich muß es zu Ende bringen, fuhr diese endlich fort. Es ist ja nun auch zu Ende. Ich schrieb ihm täglich. Daß er nicht sogleich antwortete, schmerzte mich, aber ich hatte noch keine Sorge. Er wird die gute Stunde abwarten, wo er es seinem Vater mittheilen kann, dacht' ich. So vergingen zwei tödtlich lange Wochen. Endlich kam ein Brief aus Venedig. Er hatte nicht einmal so viel Erbarmen mit mir, daß er mir das Furchtbare nach und nach eröffnete. Ganz gelassen schrieb er, die schönen Tage, die wir mit einander verlebt, seien leider zu kurz gewesen und sollten nicht wiederkehren. Er müsse im Auftrage seines Vaters eine weite Reise machen, es sei völlig ungewiß, wann er zurückkehre, ich solle nicht so thöricht sein, darauf zu warten, sondern die Bewerbung des wackeren Doctors – er hatte Beppe flüchtig kennen gelernt – in Gottes Namen annehmen und vergessen, daß es einen Menschen auf der Welt gebe, der mich vielleicht glücklicher hätte machen können, – wenn es in den Sternen geschrieben gewesen wäre.

Das hatte er mir zu sagen das Herz, obwohl ich ihm in meinem letzten Brief mit tausend Thränen gebeichtet hatte, – wie es um mich stand! –

Die Tage, die nun folgten, – die verwachten, verweinten Nächte – o mein einziges Kind, wie schwer hab' ich dich erkaufen müssen!

Und damals glaubte ich den Tag nicht überleben zu können, wo ich dir zuerst in die Augen sehen und meine Schmach, meinen Jammer darin lesen würde! – Als ich es wußte, daß ich verloren war, um Den verloren, an den ich Alles, was ich besaß, so besinnungslos verschwendet hatte, kam eine eisige Ruhe über mich. Ich konnte sogar dem Vater gegenübertreten, ein Wort mit meinem jetzt so gefürchteten Jugendfreunde wechseln, ohne mich zu verrathen. Ich hatte die Kraft, meine Rolle durchzuführen, damit auch von meinem Namen der Schimpf fern bliebe, wenn er mich selbst nicht mehr treffen könne. Denn daß ich aus der Welt gehen müsse, stand mir von der ersten Stunde an unerschütterlich fest.

Ich weiß aber nicht, wie lange ich noch gezaudert hätte. Ich war so jung, und hatte einst das Leben so lieb gehabt.

Aber eine Stunde kam, die mein Schicksal entschied.

Es war Nachmittag, im Spätsommer, die Tage wurden schon kurz. Beppe hatte bei uns gegessen, nur wir drei an einem kleinen Tisch. Er galt in der Stadt für meinen Verlobten, obwohl Nichts öffentlich bekannt gemacht war. Wie ich in das Eßzimmer getreten, hatte er mich mit einem Blick betrachtet, der mir das Herz im Leibe zittern machte. Zum ersten Mal wagte ich nicht, ihn offen anzusehen; aber ich fühlte über den ganzen Mittag seine Augen auf mir ruhen, und der Bissen, den ich hinunterbrachte, war mir bittrer als Gift.

Ich eilte, mich auf mein Zimmer zu flüchten, und brach in Thränen aus. So überhörte ich, daß Jemand an meine Thüre kam und ohne anzuklopfen hereintrat. Beppe stand vor mir. Ich konnte durch meine Thränen hindurch seine Züge nicht sehen, winkte ihm nur hastig, mich allein zu lassen, mir sei nicht wohl. Aber er blieb und schwieg eine ganze Zeit.

Gioconda, sagte er endlich, habt Ihr mir nichts zu vertrauen? Wißt Ihr nicht, daß Ihr keinen besseren Freund habt, keinen, der so bereit wäre, Alles für Euch zu thun, was zu Eurem Glück nothwendig ist? – Alles – Alles –! wiederholte er zweimal mit einer Stimme, die mir durch Mark und Bein ging.

Ich schüttelte nur heftig den Kopf.

Ueberlegt es, Gioconda; die Nacht bringt oft guten Rath, fuhr er fort; Euch – und mir. Glaubt mir nur, man findet sich nur desto besser auf der Erde zurecht, wenn man unter den Sternen Bescheid weiß.

So sprach er noch eine Weile, dann verließ er mich – elender als zuvor. Ich hatte zum ersten Mal die volle Empfindung, welch ein Mensch er war, und wie blind und wahnsinnig ich das ächte Gold weggeworfen hatte um eine blanke Glasscherbe, die mir nun das Leben zerschnitt.

Aber um so weniger ertrug ich den Gedanken, daß ich ihm etwas danken sollte, den ich so schwer gekränkt. Ich wartete, bis es dunkel geworden, dann ging ich, nur einen Schleier übergeworfen, durch unsern Garten – wir wohnten damals in der Villa vor der Stadt – und dann, wie ich schon manchen Abend gethan, weiter und weiter zwischen den Mauern hin, bis ich ganz ins Freie kam. Es war eine tiefe Windstille rings umher, man hörte den Fluß von Ferne rauschen, – der ruft mich! dacht' ich und wandte mich durch die Felder, wo die Maulbeerbäume Schatten gaben, so daß ich glaubte, ich sei ganz unbemerkt. Einmal war mir's freilich, als ginge mir Jemand nach. Als ich stillstand und mich umsah, war Alles wieder stumm. So kam ich an den Fluß. Ich sah lange hinein, bis die ersten Sterne aus der dunklen Flut heraufschimmerten. Mein ganzes unseliges Leben zog an mir vorüber wie dieses Wasser; als ich die falschen Augen mich wieder anblicken sah und das Geflüster der Stimme hörte, die mich betrogen, drang mir ein solcher Ekel vor diesem entehrten Dasein gegen das Herz, daß es mir wie eine himmlische Wohlthat erschien, all die Besudelung abzuspülen von Leib und Seele durch ein tiefes Bad, aus dem ich nie wieder auftauchen sollte. Ich hatte gar keinen Schauder mehr zu überwinden; gute Nacht! sagte ich laut vor mich hin, dann zog ich den Schleier dicht übers Gesicht, um rasch und blind die kurze Strecke zwischen dem Schilf hinunterzuschreiten.

Auf einmal fühlte ich eine Hand an meinem Arm. Ich schrie auf, wie wenn ein Mörder mich angefallen hätte. Ich wußte aber sofort, wer es war, noch ehe ich mich umgesehen.

Komm mit mir, Gioconda, hört' ich Beppe's Stimme – es war das erste Mal, daß er du zu mir sagte. Du bist von Sinnen; ein Glück, daß ich zufällig vorüberkam. Wir wollen nach Hause gehen.

Er hielt mich immer noch am Arme fest, ich fühlte, daß ich keinen Willen mehr hatte, daß er der Stärkere war. So ging ich ohne mich zu sträuben, wohin er mich führte. Er hatte meinen Arm losgelassen, wir Beide sprachen kein Wort. Erst als wir die Villa wieder über die Gärten herüberblicken sahen, warf er so verloren hin: Er hat dir versprochen, daß er dich zur Frau nehmen werde?

Ich konnte nur mit einem Nicken antworten. Darauf blieb er wieder stumm, bis wir unsern Garten erreicht hatten. Da stand er still und sagte: Noch Eins, Gioconda! Ich gehe nicht von dir, ehe du mir bei deiner Seligkeit gelobt hast, daß du diesen Weg oder einen ähnlichen nicht wieder gehen willst, bis ich über drei Tage zurückgekommen bin. Ich habe ein Geschäft in Venedig. Versprichst du mir, meine Rückkehr abzuwarten? Hernach magst du die Herrin deines Willens sein.

Ich konnte nichts thun, als die Augen zum Himmel aufheben und ein Ja! flüstern.

Es ist gut, sagte er, ich glaube dir. Gute Nacht!

So verließ er mich.

Ich war wie gelähmt, all meine Seelenkräfte waren vernichtet, nicht einmal Schmerz empfand ich, weder Furcht noch Hoffnung; es war förmlich, als wäre ich nun doch nicht mehr auf dieser Welt, er hätte nur meinen Leib von dem Sturz in die Tiefe zurückgehalten, die Seele aber sei versunken.

Drei Tage vergingen in diesem Zustande. Ich schützte ein Unwohlsein vor, um auf meinem Zimmer zu bleiben, da ich selbst die Nähe des Vaters nicht ertrug. Ich lag vom Morgen bis an den Abend angekleidet auf dem Bett und kam mir vor wie eine Leiche, die nur auf das Begräbniß wartet.

Am Abend des vierten Tages fuhr ich aus einem leichten Schlummer auf, der mich befallen hatte, da ich Nachts nie ein Auge schloß, sondern wie eine zum Tode Verurtheilte ruhelos hin und her wanderte. – Beppe stand an meinem Bett.

Du hast Wort gehalten, sagte er. Verzeih, daß ich nicht früher gekommen bin. Er hat eine Weile mit mir Versteckens gespielt, endlich habe ich ihn dennoch zu fassen bekommen.

Ihr habt ihn –? rief ich schaudernd.

Nein, ich habe ihn geschont, so hart es mich ankam. Wahrlich nicht seinethalb. Aber der Erbärmliche – er hat ein junges Weib und einen Knaben von vier Jahren! Das Elend einer Wittwe und einer Waise durft' ich nicht auf meine Seele laden.

Wir schwiegen darauf wohl eine Viertelstunde. Ich lag, die Lippen zusammenpressend, um nicht aufzuschreien, während mir glühende Thränen in den Augen brannten. Er hatte sich an das Fenster gestellt und schien ganz in die Betrachtung des sternenklaren Himmels vertieft.

Dann wandte er sich endlich wieder zu mir um.

Du bist nun Herrin deines Willens, sagte er. Ich weiß nicht, was du wollen wirst. Aber ich bin Derselbe, der ich war, und würde mich für einen Feigling halten, wenn ich das Schwere, was du zu tragen hast, dich allein tragen ließe, da ich dir einmal meine Treue gelobt habe. Auch du darfst nicht feige sein und dich aus dem Unglück in eine Sünde flüchten, bloß um dir selbst zu entfliehen. Du mußt leben, Gioconda, für dich und ein anderes Leben. Nicht für meines, verstehe mich wohl. Ich hoffe auf kein Glück mehr von dir. Aber wenn du auch mein nicht mehr sein kannst, wie ich es geträumt hatte, ich bin noch Dein. Du sollst den Namen meiner Frau tragen und dein Kind mein Kind heißen. Im Uebrigen – werden wir wie zwei fremde Menschen neben einander hingehen. Dies ist es, was ich in den Sternen gelesen habe. Ich lasse dir diese Nacht, es zu überlegen. Morgen früh komme ich zu deinem Vater, um ihn zu fragen, ob er einwilligt, die Hochzeit zu beschleunigen. Er wird dann deine Meinung erforschen, und wenn du Ja sagst, sind wir in acht Tagen vermählt und unterwegs. Nie wird ein Wort oder Blick dich daran erinnern, daß ich einst gehofft hatte, dir mehr zu sein, als ein Bruder, der seiner Schwester durchs Leben hilft, in guten und bösen Tagen! – –

——————

Die Stimme der Frau war immer leiser geworden, jetzt erstarb sie ganz. Im Zimmer webte schon eine falbe Dämmerung, der Abendwind kam zur offenen Balconthür herein und wehte um die heißen, verweinten Gesichter von Mutter und Tochter, die sich dicht an einander schmiegten.

Nun weißt du Alles! hauchte die Mutter, indem sie einen langen Kuß auf die Stirn ihres Mädchens drückte. Aber nein, noch Eines nicht, das Traurigste, was dich mehr als Alles angeht. Die Sünde der Mutter wird an der Tochter gerochen: Der, dem du dein Herz geschenkt, ist der Sohn jenes falschen Mannes – –

Ein halb erstickter Schrei des Mädchens unterbrach sie. Sie sprang vom Schooße der Mutter auf und fiel im nächsten Augenblick, wie wenn eine Kugel sie durchs Herz getroffen hätte, auf den Teppich hin.

Entsetzt stürzte die Mutter zu ihr und bemühte sich, sie aufzuheben, sie mit tausend Liebkosungen wieder an ihr Herz zu ziehen. Das Mädchen aber wehrte sie so leidenschaftlich ab, deutete mit so herzbewegenden Geberden und halben Worten ihr Verlangen an, allein zu bleiben, daß Frau Gioconda endlich, um sie zu beruhigen, nachgab und sich in das Nebenzimmer zurückzog, wo Beppina's Bett neben dem ihrigen stand. Die Balconthür hatte sie geschlossen, die Thür zwischen den beiden Zimmern nur angelehnt, eine heimliche Angst ging ihr nach, das arme junge Wesen möchte seine Drohung wahr machen und irgend etwas Verzweifeltes thun, um nur dem Sturm so vieler unglückseliger Gefühle zu entrinnen.

Sie saß auf ihrem Bette nieder und marterte sich mit dem Zweifel ab, ob sie auch wohlgethan habe, dem Kinde die Augen zu öffnen über die dunklen Schicksale, an denen sie bisher so arglos vorbeigegangen war. Aber ehe sie noch zur Klarheit darüber kam, öffnete sich die Thür und Beppina stand auf der Schwelle.

Mutter, sagte sie mit ganz gefaßtem Ton, ich bitte dich, sei ganz ruhig. Ich – ich will nur einmal zum Vater hinunter. Ich komme dann gleich wieder herauf. Erst aber –

Sie sprang nach dem Bette hin, warf die Arme um den Hals der Mutter und küßte sie so heftig auf die Lippen, als ob sie jede Frage darauf ersticken wollte.

Im nächsten Augenblick war sie aus dem Zimmer. –

Unten in seinem Bureau zu ebener Erde saß der Advocat vor einem Pult, das ganz mit Actenbündeln und Schriftstücken bedeckt war. Eine Lampe hing von der Decke herab und beleuchtete die stillen Züge des einsamen Mannes, der aber nichts weniger als in seine Arbeiten versunken schien. Er saß zurückgelehnt in einem kleinen Ledersessel, ein Aktenstück in der Hand, die Augen mit der anderen zugedrückt, wie von Schlaf oder wachen Traumbildern übermannt.

Da klopfte es leise an seiner Thür. Er glaubte, Frau Gioconda komme, das Ereigniß dieses Tages mit ihm zu besprechen. Wie er aber aufstand, ihr entgegenzugehen, stutzte er unwillkürlich. Beppina war eingetreten und in der demüthigsten Geberde nahe an der Schwelle stehen geblieben.

Vater, sagte sie, ich störe Euch, ich werde Euch nicht lange aufhalten, nur bis ich – bis Ihr mir gesagt habt, daß Ihr – mir die Sünde verziehen habt, die ich jahrelang gegen Euch begangen.

Sie hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, als sie schon zu seinen Füßen lag, in so heftiges Schluchzen aufgelös't, daß von Allem, was sie noch hinausstammelte, nicht ein Wort zu verstehen war.

Der Vater beugte sich zu ihr hinab und hob sie wie ein kleines Kind in seinen Armen auf.

Wirst du nun endlich zur Vernunft kommen, sagte er mit bewegter Stimme. Wie soll ich dir denn verzeihen, wenn ich nicht weiß, was du verbrochen hast? Daß du ohne mich zu fragen dein Herz hast verschenken können – mußt du das nicht so schwer büßen, daß dein Vater nicht mehr zürnen, nur dich bedauern kann? Und sonst –

Er wollte sie an sich drücken, sie auf die Stirn zu küssen. Aber sie entglitt ihm wie eine Schlange und lag, eh' er es hindern konnte, wieder zu seinen Füßen.

Nein, rief sie, es ist viel und schwer zu beichten und zu büßen, und wenn Ihr es wißt, werdet Ihr mich nie wieder an Euer Herz drücken. O Vater, ich habe dich gehaßt! – seit ich zuerst Verstand bekam und vergleichen konnte und überlegen, habe ich dich gehaßt, weil du nicht warst wie Andere. Wenn ich dich hätte sterben sehen, hätte ich nur gedacht: wir sind erlös't und befreit; nun werden wir zu leben anfangen! Und du – du – den ich für einen harten und lieblosen Mann hielt, der seine Frau unglücklich machen und seine Tochter als eine Gefangene halten konnte – du bist ein Heiliger gewesen, du hast – o Gott – wenn ich reden könnte – wenn ich die Worte fände – ich bin nicht werth, hier im Staub vor dir –

Bist du toll, Beppina? rief der Vater mit sehr ernstem Ton. Sofort stehst du auf und nimmst deine Besinnung zusammen und sagst mir, was diese überspannten Reden bedeuten. Du weißt, ich bin kein Freund von Declamationen, und was deine Worte meinen, verstehe ich nicht von fern. Wirst du mir gehorchen? Ich bin hart, ich weiß es, aber wenn ich es gegen dich war, so habe ich gute Gründe gehabt. Du hast zu rasches und leichtes Blut in den Adern, das will früh gezähmt werden, wenn es nicht Unheil stiften soll. Darum habe ich dich kurz halten müssen, und da ich als Vater für deine unmündige Seele verantwortlich bin, mußte ich es mir auch gefallen lassen, wenn du mich heimlich einen Tyrannen gescholten hast. Was du aber vom Hassen sprichst, ist Thorheit, Kind. Du sollst erst leben lernen, erst Gut und Böse kennen lernen. Dann erst wirst du erfahren, daß ein rechter Mensch nur das Böse haßt und daß er das Gute, wenn er es auch nicht gleich begreift, doch im Grunde seines Herzens lieben muß. Und damit laß es gut sein für heut. Du weißt, daß ich zu thun habe.

Das Mädchen hatte sich aufgerichtet, ihre Thränen waren versiegt, aber das blasse junge Gesicht schimmerte ganz feucht, wie sie jetzt in bescheidener Haltung dem strengen Manne gegenüber stand.

Verzeiht, sagte sie, als er schwieg; ich gehe schon. Ich habe es nun vom Herzen, Ihr mögt davon glauben so viel Ihr wollt. Was früher war – ich werde suchen, ob ich es vergessen und mir selber vergeben kann. Von heute an aber lebt kein Mensch auf der Welt, den ich so heiß und innig liebe, wie Euch, mein Vater. Ich werde keinen Gedanken haben, als wie ich Euch vergelten kann, was Ihr an mir gethan habt, keinen andern Willen, als den Euren. Und eine Bitte hätte ich noch auf dem Herzen, – es wäre Euch leicht, sie zu erfüllen.

Eine Bitte, Kind?

Daß Ihr mich eine Zeit lang der Tante Perpetua übergeben möchtet. Ich habe es Noth, ganz mit mir allein zu sein und mir Alles zurechtzulegen, was ich erlebt und erfahren habe. Ihr wißt mich ja im Kloster gut aufgehoben, – und wenn es Zeit ist, komme ich wieder.

Weiß die Mutter um deinen Wunsch? Ist sie damit einverstanden?

Ich habe ihr nichts davon sagen wollen, ehe ich wußte, ob Ihr es erlauben würdet.

Es ist gut, Kind. Gehe zur Mutter zurück und frage sie. Ich willige in Alles, was ihr recht und gut scheint. Und schlage dir diese wunderlichen Gedanken aus dem Sinn. Du mich hassen! Es ist fast so abenteuerlich, als ob ich dich hassen wollte! Gute Nacht, meine arme Beppina!

Er zog sie an sich und drückte sie an seine Brust, indem sein Mund ihre Stirn streifte. Gute Nacht! sagte er noch einmal, mit der Hand winkend. Dann sah er das stille, ganz entgeisterte Gesicht sich abwenden und ohne ein Wort zu erwidern durch die Thüre verschwinden. –

——————

Er blieb dann noch eine Stunde zu Haus, aber ohne seine Arbeit wieder vorzunehmen. Es war, als warte er auf Jemand; denn während er in ruhelosen Gedanken hin und her schritt, stand er zuweilen still und horchte ins Haus hinein. Er täuschte sich aber immer; Niemand näherte sich seiner Thür, nicht das Mädchen, nicht die Mutter. Dann überflog ein schmerzlicher Zug sein Gesicht, und er setzte seine Wanderung in dem engen Raume fort.

Als die gewohnte Stunde schlug, verließ er das Haus, um in das Café zu gehen. Er sprach dort mit Niemand, setzte sich in eine stille Ecke und vertiefte sich in die »Perseveranza«. Um zehn Uhr stand er auf, grüßte mit einem Kopfnicken die Bekannten und ging nach Hause.

Als er die Treppe hinaufstieg nach seinem einsamen Observatorium im obersten Stock, hörte ihn das Mädchen, das in ihrem Bette wach und verweint neben der Mutter lag. Sie hatte das Licht erst gelöscht, als sie den Schritt des Vaters unten in der Straße hörte. Schläfst du, Mutter? fragte das Kind flüsternd. O Mutter, so ist er achtzehn Jahre lang nach Hause gekommen! –

Keine Antwort kam auf diese Worte. Die Beiden hatten auch den Rest des Tages ziemlich stumm neben einander verbracht. Auf Beppina's Bitte, sie zur Tante zu lassen, hatte Frau Gioconda nur zustimmend genickt. Es schien ihr das Heilsamste für ihr armes Kind, wenn es jetzt eine Zeit lang das Haus verließe, in welchem Alles sie so verwandelt anblicken mußte. Und auch vor einem Wiederbegegnen mit Dem, den sie nie wieder anlächeln durfte, war sie dort geborgen.

Am andern Tage betrieb sie daher schon in der Frühe die Zurüstungen zur Abreise des Mädchens. Der Koffer war bald gepackt, der kleine Wagen, der den Advocaten zuweilen aufs Land zu seinen dörflichen Clienten brachte, stand Punkt elf Uhr vor dem Hause, Aristide saß auf dem Bock und die Tante Perpetua auf dem weichen Lederpolster. Als das Mädchen sich schon aus den Armen der Mutter gerissen und den Kuß des Vaters auf ihre Stirn empfangen hatte, wandte sie sich noch einmal zurück und flüsterte Frau Gioconda hastig ein paar Worte zu. Dann sprang sie in das Wägelchen, zog den Schleier vors Gesicht und weinte so heftig, daß Vorübergehende der Meinung sein mußten, hier werde ein Kind widerstrebend aus dem Elternhause entführt, um sein junges Herz dem Himmel zum Opfer zu bringen.

Sie hat dich noch an etwas erinnert, was du mir sagen solltest; ich hörte es deutlich. Um was handelt sich's? fragte der Vater, der mit Mühe seine Bewegung bezwingend der Fortrollenden nachsah.

Daß du es Cassandra nicht entgelten lassen sollst, sagte die Frau schüchtern, indem sie sich ins Haus zurückwandte, um den Nachbarn nicht länger ein Schauspiel zu sein.

Thue mit ihr, wie du willst, erwiderte der Advocat, ihr über die Schwelle folgend. Du weißt, du bist die Herrin im Haus. Es wäre ja auch kein Verbrechen gewesen, – wenn nicht das alte Schicksal –

Er verstummte und ging, seine Frau mit einer stillen Geberde grüßend, in sein Arbeitszimmer.

Der Tag verstrich, wie wenn Nichts geschehen wäre, nur ein Platz am Tische war leer, und statt des alten Dieners trug Cassandra die Schüsseln aus der Küche herein, mit so rothen geschwollenen Augen, daß man wohl sehen konnte, trotz aller Güte der Herrin war ihre Schuld ihr zum Bewußtsein gekommen, und sie rechnete die Entfernung des Mädchens sich selber an.

Als es dämmerte, kam Aristide mit dem Wagen zurück, das Kloster lag nur wenige Meilen von der Stadt entfernt. Er brachte Grüße von der ehrwürdigen Schwester und der Signorina an Alle im Hause; an den Herrn einen Brief, den dieser mit in sein Studium nahm und dort erst öffnete und las.

Er ging dann auch heute in das Café, obwohl Frau Gioconda diesen ersten Abend so mutterseelenallein verbringen mußte. Aber er blieb nur fünf Minuten dort, um Jemand zu sprechen, der ihn erwartet hatte. Dann schützte er eine andere Verabredung vor und verließ den hellen, von lauten Gesprächen wiederhallenden Raum, um gleichfalls einsam die ödesten Straßen der Stadt zu durchwandern. Er sah dabei entweder auf den Boden oder zu den Sternen hinauf, unter denen er so gut Bescheid wußte. Ohne es zu wollen, sah er sich am Rande der Stadt, ging dann noch eine Strecke in die stille, nächtliche Landschaft hinaus, und wie er an ein Bänkchen kam, das vor einer Gartenthür stand, setzte er sich nieder, lehnte den Kopf gegen die Mauer zurück und überließ sich seiner Himmelsschau, so lange und ernst, als ob er alles Irdische darüber vergessen wollte.

Doch blieben seine Sinne wach, und als er es von dem nächsten Thurm Neun schlagen hörte, erhob er sich rasch und trat den Rückweg an nach der Stadt. Eine Viertelstunde später schloß er die Thür seines Hauses auf.

Die kleine Lampe im Flur, die ihn jeden Abend erwartete, schien ihn fragend anzusehen, warum er heut so früh komme. Seine Hand zitterte, als er sie vom Sims nahm, um sich die Treppe damit hinaufzuleuchten. Er ging langsamer als sonst, auf dem Absatz im ersten Stock mußte er stehen bleiben, um Athem zu schöpfen. Wie er dann das zweite Geschoß erreicht hatte, wo die Zimmer der Frau Gioconda und der Tochter lagen, stand er wieder still. Er setzte die Lampe aus der Hand, das Flämmchen flackerte zu unruhig, da ein Fenster im Flur offen stand und die Nachtluft das Treppenhaus durchstrich. So horchte er eine Weile. Dann athmete er tief auf und klopfte an die nächste Thür.

Bist du noch auf, Gioconda?

Sofort wurde die Thür geöffnet; es schien fast, man habe auch drinnen nah an der Schwelle gestanden und in den Flur hinausgehorcht.

Es ist noch so früh, sagte die Frau, die mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand, noch in ihren Kleidern. Ist dir nicht wohl, daß du das Café vor deiner gewohnten Zeit verlassen hast?

Er antwortete nicht. Seine ganze Seele schien in den Augen zu weilen, die mit einem seltsamen Ausdruck auf den schönen gesenkten Augenlidern des stillen Weibes ruhten.

Gioconda, sagte er endlich, ich – ich habe dir noch ein Wort sagen wollen, – heute noch – es ging mir schon den ganzen Tag nach – ich weiß nicht, warum ich es nicht früher über die Lippen brachte. Du hast das Uebermenschliche gethan: damit das Kind mich nicht hassen sollte, hast du ihr gesagt – was wir ewig vor ihr verbergen wollten. Sie ist ein gutes Kind, sie weiß, daß sie dich darum nur mehr lieben muß. Und doch – vielleicht wäre es besser gewesen – vielleicht hätte man auf gelindere Art –

Er verstummte; das Herz klopfte ihm so stark, daß er es bis in die Schläfen fühlte. Er hoffte, sie würde ihm zu Hülfe kommen und etwas erwidern. Aber sie stand in gleicher Beklommenheit vor ihm. Das Blut war ihr in die Wangen gestiegen und hatte den weichen Formen des schönen Gesichts, die noch nicht verwelkt waren, auch die Farbe der Jugend wiedergegeben.

Sieh, was sie mir da geschrieben hat, fuhr er fort, indem er Beppina's Brief aus der Tasche zog. Ich kenne sie ja, und du kennst sie auch, daß sie, trotz ihres munteren und zu allem Uebermuth geneigten Bluts, wenn sie einmal Etwas ernsthaft will, nicht leicht ihren Sinn ändert. Und nun schreibt sie mir Das!

Er hielt das entfaltete Blatt der Frau hin, die damit nach der Lampe ging und sich auf den Tisch herabneigend die folgenden Worte las:

»Ich habe dich dennoch getäuscht, Vater! Verzeihe es mir, es ist das Letzte, was ich dir zu Leide thun werde. Ich komme nie zu Euch zurück, ich kann das Haus nicht wieder betreten mit dem Bewußtsein, daß ich allein Schuld daran bin, wenn das Glück nicht darin wohnt. Du hättest der Mutter wohl verziehen, was sie dir zu Leide gethan, wenn mein Anblick dich nicht täglich an Trauriges erinnert hätte. Wie soll ich nun weiter leben zwischen euch? O Vater, ich liebe meine Mutter zu sehr, um ein Leben zu ertragen, das an ihrem Unglück Schuld ist. Und dich, Vater – dich, den ich vergöttere, – nein, ich kehre nicht in eure Nähe zurück. Ich werde hier im Kloster den Frieden suchen und finden, den die Welt doch nur bedroht, und eure Liebe – ob ich ihrer auch nicht werth bin« –

Das Blatt entsank den Händen der Mutter, bevor sie es zu Ende gelesen. Ihre Thränen stürzten heiß darauf nieder. Aber ehe sie sich noch fassen und wieder zu ihrem Manne wenden konnte, fühlte sie sich von zwei Armen heftig umschlungen.

Gioconda! stammelte seine erstickte Stimme, – mein Weib! Wollen wir einsam bleiben bis ans Ende und das Kind einsam lassen – und verwaisen bei lebendigem Leibe, wie wir verwittwet gewesen sind dies halbe Leben lang?

Ein Schluchzen aus der tiefsten Seele der edlen Frau war die ganze Antwort. Sie stürzte, wie vom Uebermaß des Glückes entseelt, vor ihm nieder. Er aber fing sie in seinen Armen auf und drückte sie ans Herz, um sie nicht wieder frei zu geben.

——————

Es war wieder Sommer geworden. Vor der Pforte des alten Klosters hielt das Wägelchen des Doctor Beppe, zu welchem die ehrwürdigen Schwestern, voran Tante Perpetua, soeben ihren jungen Gast, die Beppina begleitet hatten, mit vielem Bedauern, daß es nun doch nicht Ernst werden sollte mit der Nonnenschaft des Weltkindes, trotz aller himmlischen Gnade, die zu Anfang ihren Sinn zu erleuchten schien.

Das Gesicht des Mädchens war in diesem Probejahr ernster und reifer geworden, aber ihre Augen leuchteten klar und ohne Thränen, so viel Gutes sie auch bei den frommen Schwestern genossen hatte. Als sie den Abschied endlich überstanden und der wackere Aristide die Peitsche knallen ließ, um den Braunen zu einem munteren Trabe anzufeuern, war ihre erste Frage, wie es den Eltern gehe?

Ihr werdet den Papa gar nicht wiedererkennen, Signorina, sagte der Alte schmunzelnd, indem er sich halb zu dem Fräulein zurückbeugte. Alle Leute sagen, er sei um ein Dutzend Jahre jünger geworden, seit das Wunder geschehen und Euch noch ein Schwesterchen beschert worden ist. Nun, die Mama ist ja noch eine junge Dame, und ich, der ich sie so gut kenne, kann sagen, sie hat noch all ihr schönes blondes Haar und man würde sie leicht für zehn Jahre jünger halten können, so auf der Straße, wenn sie einmal einen raschen Gang zu machen hat. Die kleine Giocondina aber – Cospetto! ein Dingelchen wie gedrechselt, und lacht schon so vernünftig, als wäre es drei Wochen alt, statt drei Tage, und nun den Herrn Doctor lachen zu sehen, wenn er das kleine Geschöpf auf dem Arm herumträgt – Ihr werdet Augen machen, Signorina! Das ganze Haus ist verwandelt. Nur Eins wird Euch vielleicht unlieb sein; Ihr sollt oben schlafen in dem Zimmerchen des Papa's. Soll die Signorina auch das Sterngucken lernen? hab' ich mir zu fragen erlaubt, denn jetzt kann man schon einen Scherz bei dem Herrn riskiren. Und er: ich glaube, sie wird nichts dagegen haben. Sie weiß, daß einem Manches, was auf der Erde dunkel scheint, klar wird, wenn man da oben Bescheid weiß. Ist das denn wirklich wahr, Signorina?

 

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Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.

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