Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unheilbar.

(1862)

 

Meran, den 6. October 186*.

Seit acht Tagen, die ich nun hier bin, keine Zeile geschrieben! Ich war zu erschöpft und aufgeregt von der langen Reise. Wenn ich mich niedersetzte und auf die weißen Blätter starrte, war mir's, als blickte ich in eine Camera obscura. Alle Bilder, die mir unterwegs entgegen geflogen waren, tauchten ganz deutlich und farbig wieder auf und jagten sich wie im Fiebertraume, bis mir die Augen übergingen. Unterwegs fühlte ich auch mehr als einmal, daß mir die Thränen nahe waren; aber ich war nicht allein, und von den fremden Herren, die mitfuhren, bemitleidet und ausgefragt zu werden, hatte ich wahrlich keine Lust. Hier ist's anders; ich bin einsam und frei; ich habe es schon erfahren, daß nur die Einsamen frei sein können. Warum schäme ich mich denn auch jetzt noch, zu weinen? Ist es denn nicht traurig genug, daß ich erst einen Blick in alle Schönheiten dieser Welt thun durfte, seit ich weiß, daß es ein Abschiedsblick ist? –

Es wäre wohl besser, ich verschlösse dieses Heft und ließe die Blätter leer. Womit kann ich sie füllen, als mit unfruchtbaren Klagen? Ich hatte es mir schön und tröstlich gedacht, alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Winter, den ich noch zu leben habe, durch den Sinn gehen würde. Ich wollte meinem geliebten Bruder, meinem kleinen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Leben und den Tod zu verstehen, an diesem Hefte ein Vermächtniß hinterlassen, das ihm theuer wäre, wenn er später einmal nach seiner Schwester fragte und Niemand da wäre, der ihm antworten könnte. Aber ich sehe wohl, es war ein thörichter Gedanke. Möchte man denn in der Erinnerung eines theuren Menschen fortleben unter dem Bilde der letzten Krankheit? Er soll mich lieber vergessen, als sich diese blassen Züge einprägen, die mich selber erschrecken, so oft ich in den Spiegel sehe.

 

Abends. Schwüle, bedeckte Luft.

Ich habe ein paar Stunden lang am Fenster gesessen. Man sieht da weit in das schöne Etschland hinaus, über die Stadtmauer, die Allee mit den breitästigen Pappeln, die auf dem Steindamme längs der rauschenden Passer stehen, in die Niederung hinein, wo die Heerden zwischen den hundert kleinen Bächen weiden, bis zu den fernen Bergen. Die Luft war ganz still; ich konnte sogar einzelne Stimmen von den Spaziergängern auf der Wassermauer unterscheiden; oder schien mir's nur so? Die Kinder meines Wirths, des Schneiders, sahen neugierig zur Thür herein, bis ich ihnen das Letzte von meiner Reise-Chocolade gab. Wie glücklich sie damit zur Mutter hinausliefen! Ich bin dann ganz heiter und still geworden und habe mir's überlegt, daß ich Unrecht thäte, mich vor meinen Selbstgesprächen zu fürchten. Mögen diese Blätter doch immerhin ein Testament sein – müssen sie darum schon Trauer tragen? Bin ich nicht von Hause, wo ich wie mit hundert Banden eingeschnürt war, mit herzhaftem Entschlusse fortgegangen, noch einmal des Lebens und der Freiheit froh zu werden, und sollte mir jetzt das Zeugniß geben, daß ich nicht verdiente, frei zu sein? Freilich, ich weiß, es ist ein kurzes Glück. Aber um so fester muß ich es halten und mir's nicht durch Schwäche und Versinken in Selbstbemitleidung verkümmern. – –

Die Wirthin hat mir erzählt, daß heute früh ein Meraner Bürger in den besten Jahren, der nie eine Krankheit gehabt, plötzlich gestorben sei. Alle hätten ihm immer ein langes Leben zugetraut, und er selbst sich wohl auch. Bin ich nicht zu beneiden, wenn ich mich mit ihm vergleiche? Er wird eben auch, wie die meisten Menschen, in Mühe und Arbeit hingelebt und gedacht haben, die Zeit, um auszuruhen und sein bischen Leben auch zu genießen, werde endlich einmal kommen, wenn er genug geschafft und erworben hätte. Er hat sein Ziel nicht gekannt; ich kenne das meinige; das ist der Unterschied. Ist er nicht zu meinen Gunsten? Ist es nicht noch lange genug bis zum Frühling, und würde ich diese Gnadenfrist auskosten, wie ich jetzt thue, wenn ich sie nicht kennte? O es ist in Wahrheit eine Gnade, vom Tode nicht überrascht und überfallen zu werden, ihn langsam kommen zu sehen, daß man, Auge in Auge mit ihm, erst noch leben lernen kann! Ich kann es unserm Arzt, meinem lieben, väterlichen Freunde, nie genug danken, daß er mir die Wahrheit nicht verschwieg. Er hat dadurch das Wort, das er meiner sterbenden Mutter gab, mir immer ein Freund zu sein, reichlich eingelös't.

Die Nacht ist nun hereingebrochen; ich kann kaum mehr sehen, was ich schreibe. Habe ich mein Leben lang jemals einen so tiefen Frieden, um mich und in mir, genossen, wie hier in diesem schönen, blühenden, rebenbekränzten Vorhof des Grabes? Nur einen Hauch davon in deine gepreßte, kummervolle Seele, mein armer Vater! Gute Nacht! Und gute Nacht, mein kleiner Ernst! Wer wird dich heute zu Bette gebracht und dich mit Märchen in Schlaf geplaudert haben?

 

Am 6. Nachmittags.

Meine Frau Meisterin hat heute, als sie mir das Essen brachte, mir eifrig zugeredet, nicht immer im Zimmer zu sitzen, es sei so schön auf der Wassermauer, man sehe da so viele Leute, ich müsse mich doch zerstreuen. Ich konnte der guten Seele nicht begreiflich machen, daß es mir lieber sei, mich zu sammeln, als mich zu zerstreuen, daß ich nach fremden Menschen gar kein Verlangen trüge.

Nur daß ich noch zu schwach und müde sei von der Reise und die zwei steilen Treppen mir beschwerlich fallen, hat ihr endlich eingeleuchtet.

Nun sitz' ich wieder und schreibe. Die Stickerei habe ich weglegen müssen; sie greift mir jetzt die Brust an; auch das kleine Töchterchen des Wirthes, dem ich täglich Unterricht in Handarbeiten geben will, mußte ich wieder wegschicken. Es liegt mir auch ein Zweifel im Sinn, der mich erst heute beim Aufwachen, da aber ganz heftig und heiß überlief, und mit dem ich erst ins Reine kommen muß.

Seltsam, daß er mir nicht früher begegnet ist. Ich war so völlig überzeugt, das Rechte zu thun. Ich wußte so deutlich, daß ich Niemand zu Hause fehlen würde, daß mein Vater jeden ungütigen Stiefmutterblick, der mir galt, schwer empfand, daß ich auch für Ernst überflüssig war, seit die Mutter darauf bestanden hat, ihn trotz seiner Jugend in die Pension zu thun, nur um ihn nicht mehr zu sehen und für ihn sorgen zu müssen. Der Vater weinte, als er mich zum letzten Mal an sich drückte. Aber es erleichterte ihm doch das Herz, mich fortreisen zu sehen. Er gönnt mir das Beste; und was kann er für mich thun? – Nun ist es mir dennoch auf einmal nahe getreten, ob ich nicht noch andere Pflichten zurückgelassen habe, ob ein Mensch, so lange er nicht ganz unfähig ist, die Hände in den Schooß legen und einen winterlangen Feierabend genießen darf? – Erst seit ich mich glücklich fühle, seit aller Staub und Druck des kahlen kleinstädtischen Alltagslebens von mir abgefallen ist, frag' ich mich, welch ein Recht ich habe, glücklicher zu sein, als die Tausende, die dem Tode nicht ferner sind, als ich, und doch bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen müssen! Und ich schließe hier einen selbstsüchtigen Waffenstillstand mit dem Feinde und feiere ein Fest, als hatte ich den größten Sieg davon getragen? –

 

Am 8. October.

Die Antwort, die ich mir damals schuldig blieb, weil mein armer Kopf sich nicht Raths wußte, ist mir nun zu Theil geworden. Ich bin von meinem ersten Ausgange so zerbrochen und ausgelöscht nach Hause gekommen, als hätte ich einen harten Arbeitstag in Ketten hinter mir. Nein, ich tauge nur noch für das Gnadenbrod, und wenn es mir süßer schmeckt, als Manchem, wird mir's ja wohl kein Vorwurf sein. Ich bin auch genügsamer als Mancher.

Und wenn ich Niemand mehr nütze, wem falle ich denn zur Last? Mein kleines mütterliches Erbe, auch wenn ich es nicht angriffe, um es für Ernst aufzuheben, könnte es ihm die Pflicht ersparen, sich mit eigener Arbeit durchs Leben zu helfen? Es wird auch noch davon übrig bleiben, denn wie ich heute erfahren habe, ist der Rest meiner Kräfte armseliger, als ich dachte. Wer weiß, wie kurz mein Winter im Süden sein wird!

Ich werde nicht oft unter die Pappeln hinausgehen. Es war mir nicht wohl unter den armen, schleichenden, hüstelnden, geputzten Menschen, die mit ihren Traubenkörbchen am Arm herumschwankten und mit jeder Beere begierig einen Tropfen Hoffnung einsogen. Die aber, denen die Hoffnungslosigkeit auf dem Gesichte stand, fühlte ich mir noch fremder. Es mag wohlthuend sein, mit Leidensgefährten zu verkehren. Aber wenn das gleiche Schicksal ungleiche Gesinnungen erzeugt, so trennt das, was vereinen sollte, und man fühlt den Abstand der Gemüther um so deutlicher. Keinen habe ich gesehen, dem ich mich getraut hätte von meiner festlichen und dankbaren Stimmung ein Wort zu sagen. Sie hätten mich für eine Ueberspannte, vom Fieber Verstörte, oder für eine Heuchlerin gehalten.

Und kann ich es ihnen übel nehmen? Es ist möglich, daß auch ich den Tod mehr fürchtete, wenn ich das Leben mehr liebte. Warum war das meine nicht liebenswürdiger?

Es können sich auch wohl nur Wenige vorstellen, in welch erhabener Größe und Stille diese Natur auf eine arme Seele wirkt, die zweiundzwanzig Jahre nicht den Fuß aus den Mauern einer kahlen, engen, spießbürgerlichen kleinen Stadt gesetzt hat. Man reist so viel heutzutage. Auch ich wäre wohl früher aus unserer traurigen Einöde herausgekommen, ohne die lange Krankheit der Mutter und dann, als sie gestorben war, meine Mutterpflichten gegen den Kleinen. Nun ist mir dieses wundervolle Thal schon wie ein Jenseits, ein wahrer Garten Gottes, und die ersten Athemzüge darin waren so berauschend, als trügen schon Flügel meine Seele über den Boden hin. Daß sie meinem Körper nicht besser halfen, als ich wieder die enge, steile Treppe hinaufschlich, war freilich schlimm. Aber ich habe ja auch unten nichts zu suchen. Jeder Blick aus dem Fenster ist schon wie ein Ausflug ins Paradies.

Meine Wirthe sind sehr arm, der Mann arbeitet bis in die Nacht hinein, die Frau hat alle Hände voll mit den vielen Kindern zu thun, im Hause sieht es düster und unfreundlich aus. Wie ich zuerst mit dem Hôtel-Diener, der mir diese Wohnung nachwies – wahrscheinlich weil er aus meinem einfachen Anzuge auf meine Kasse schloß – die langen, dunklen Gänge und trüben Höfe durchschritt und die baufällige Stiege hinaufkletterte, über die Flure, auf denen verstaubter Hausrath: alte Spinnräder, Bettstücke, Geschirr und Mais-Vorräthe, bunt durch einander liegt und die Spinnen jahrelang ungestört ihre dichten Gewebe wirken, wurde mir die Brust zugeschnürt, und das Herz klopfte mir so stark, daß ich auf jeder dritten Stufe still stehen mußte. Aber der erste Blick in mein niedriges Zimmerchen, und vollends aus dem Fenster, versöhnte mich rasch mit dem Gedanken, daß dieses meine letzte Wohnung auf Erden sein sollte. Der altmodische Schreib-Secretair mit den Messinggriffen sieht ganz so aus, als wäre er ein Zwillingsbruder von jenem, der im Zimmer meiner lieben Mutter stand, und der Lehnstuhl ist gerade so braun und hoch und schwer, wie der ihre war. Ein paar schlechte Bilder, die mich störten, habe ich gleich weggenommen, und die der Eltern dafür hingehängt. Nun ist mir's, als wäre ich schon jahrelang hier zu Hause.

In der Ecke, auf einer Console von schwarzem Holz, ist ein Crucifix angebracht. Es giebt mir oft zu denken, obwohl ich nicht damit groß geworden bin. – –

Nun habe ich auch meine Bücher bekommen, die mir der Vater nachgeschickt hat, nun fehlt mir nichts mehr. Er hat auch dazu geschrieben, ganz wie ich's erwartete. Den Zug, sich ins Unabänderliche zu fügen, ohne sich zu sperren, habe ich von ihm. Von Ernst sechs Zeilen, er ist höchst vergnügt in der Pension mit seinen neuen Kameraden. Von der Mutter auch einen Gruß; wenigstens steht er im Brief. Der Vater wird ihn wohl ohne zu fragen hinzugefügt haben.

Nun will ich nach Hause schreiben; wie viel lieber thät' ich es, wenn ich wüßte, daß die Briefe nur in Vaters Hände kämen!

 

Am 10. Abends.

Was es doch für seltsame Menschen giebt! Vor einer Stunde, als ich lesend und an nichts Arges denkend am Fenster sitze und mich an der milden Abendluft erquicke – denn die Sonne geht schon um 5 Uhr hinter den hohen Marlinger Berg, und dann ist es noch viele Stunden sommerlich warm, und die örtlichen Berghäupter stehen noch lange im Lichte – klopft es an meiner Thür, was mich immer erschreckt, da es so selten geschieht, und eine kleine, corpulente, mir völlig unbekannte Dame tritt herein, die sich ganz unbefangen mir vorstellt und aufs Herzlichste ihr Verlangen, mich kennen zu lernen, an den Tag legt. Sie habe mich auf der Wassermauer, die ich seit jenem ersten Male noch nicht wieder betreten, gesehen und ein großes tendre für mich gefaßt, da ich offenbar sehr krank und so allein in der Welt zu stehen schiene, und sich gleich vorgenommen, das nächste Mal mich anzureden, in der Hoffnung, mir vielleicht in irgend etwas nützlich zu sein. »Denn wissen Sie, liebes Kind,« sagte sie, »ich selbst, wie Sie mich da sehen, bin nun neunundfünfzig Jahre alt, aber nie einen Tag lang krank gewesen, außer im Kindbett. Meine zwei Söhne und drei Töchter sind auch alle, Gott sei Dank, kerngesunde Menschen, alle schon versorgt und verheirathet. Nun aber habe ich von früh an eine wahre Passion gehabt, armen Menschen, die nicht so gut daran sind, wie ich, zu helfen, Kranke zu pflegen, Sterbenden die letzten Liebesdienste zu erweisen. Mein seliger Mann nannte mich immer die privilegirte Lebensretterin; denn eine bessere Wärterin können Sie sich nicht denken. Ich bin noch aus einer Generation, wo man gar nicht wußte, was Nerven sind; da verschlägt es mir gar nichts, zehn Nächte hinter einander kein Auge zuzuthun; selbst Operationen kann ich mit ansehen, ohne jede Anwandlung von Schwäche. Eben jetzt habe ich eine Freundin hierher begleitet, die es schwerlich lange mehr machen wird. Wenn die Aermste erlös't sein wird, habe ich noch mehr freie Zeit, als jetzt, wo sie mich auch schon immer mit Gewalt nöthigt, sie allein zu lassen, um mir Bewegung zu machen. Sollten Sie also irgend eine Stütze, einen Rath, eine Hülfe bedürfen, mein liebes Kind, so wenden Sie sich an Niemand anders, als an mich, das müssen Sie mir gleich aufs Feierlichste versprechen. Daß ich im Uebrigen nicht zugeben werde, daß Sie ihre Tage so wie bisher mutterseelenallein hinbringen, versteht sich von selbst. Ich werde oft kommen, ich mache keine Umstände mit meinen Freunden, und Sie müssen mir's schon zu Gute halten, wenn ich Sie etwas tyrannisire, es geschieht Alles zu Ihrem Besten. Denn auf Nervenleiden verstehe ich mich, wie der beste Arzt; die wollen Zerstreuung, Luft, Anregung. Apropos, wen von den hiesigen Aerzten haben Sie consultirt?«

Ich erwiederte, daß ich mich an keinen Arzt gewendet hätte, es auch nicht Willens sei, da ich genau wisse, daß ich unheilbar sei. Als sie ungläubig den Kopf schüttelte, holte ich das Blatt Papier aus meiner Mappe, auf dem unser Arzt mir wie auf einer Landkarte aufgezeichnet hat, wie weit die Zerstörung in meiner Lunge schon um sich gegriffen habe. Sie betrachtete es ganz sachverständig. Liebes Kind, sagte sie, das ist Alles dummes Zeug; ich kenne die Aerzte, je mehr sie sagen, je weniger wissen sie. Ich möchte eine Wette machen, daß es ganz anders in Ihnen aussieht, als auf diesem Stück Papier.

Ich sagte ihr, daß ich ja alle Hoffnung habe, hierüber klar zu werden, wenn ich auch für die Wette danken müsse, da ich sie doch leider nicht bei lebendigem Leibe gewinnen könne. Sie hörte nur halb zu, wenn ich sprach, fuhr aber eifrig fort, mit einer so kraftvollen Stimme, daß sie mir durch Mark und Bein drang, mir alle möglichen Krankheits-Geschichten, die sie erlebt und die gegen die Unfehlbarkeit der Aerzte zeugen sollten, mit Details zu erzählen, von denen mir endlich wirklich übel ward. Ich hatte noch so viel Muth und Besinnung, sie um Schonung zu bitten. Da stand sie endlich auf, machte beim Abschiede eine Bewegung, als wenn sie mich küssen wollte, schien offenbar befremdet, als ich steif und förmlich ihr nur die Fingerspitzen gab, und rauschte mit stürmischer Eile und der Versicherung, bald wiederzukommen, zur Thür hinaus.

Ich mußte eine halbe Stunde die Augen schließen und still mein Blut wieder ebben lassen, als sie fort war. Aber ein scharfer Geruch von Essig-Aether, der sie umgab und den sie mir als sehr nervenstillend angepriesen hatte, ist noch jetzt im Zimmer, und immer muß ich die kalt zutraulichen Augen und die resolute unbewegliche Miene der Menschenfreundlichkeit in dem großen runden Gesichte vor mir sehen, und nur der Gedanke, daß ich wenigstens heute vor einem neuen Ueberfall sicher bin, ist mir ein Trost. Aber um das Tête-à-tête mit meinem Schicksale, das mir diesen Ort so heimlich machte, bin ich gebracht; ich müßte denn noch deutlicher werden, was ich selbst im Falle einer Nothwehr kaum übers Herz brächte.

Was ist doch der Antheil der Menschen! Die Wenigen, die uns lieben, thun uns, wenn wir leiden, mit ihrem Mitgefühl weh, weil wir sehen, daß wir sie traurig machen; die uns nicht lieben, können die uns mit irgend etwas wohl thun? »Nur Bettler wissen, wie Bettlern zu Muthe ist,« habe ich einmal im Lessing gelesen. Aber können Bettler einander Almosen geben?

 

Am anderen Morgen.

Schlecht geschlafen! Ich bin des Gesprächs mit Menschen so entwöhnt, daß ich immer die harte, helle Stimme der barmherzigen Dame hören und mich im Traum aufs Heftigste mit ihr zanken mußte, bis sie mir zuletzt sogar ihre blonde Haartour mit den drei dünnen Löckchen auf jeder Seite ins Gesicht warf, daß ich ganz entsetzt und in Schweiß gebadet aufwachte. Nun muß ich freilich darüber lachen. Was habe ich ihr für unhöfliche Dinge gesagt, unter Anderem sogar, daß ich ihr meine Lunge in Spiritus vermachen würde! Ist man doch ungezogen im Traume!

Nun bin ich eilig in die Kleider gefahren und habe die größte Angst, daß sie mich wieder überfallen möchte. Mein armes, friedliches, kleines Sterbewinkelchen, daß es mir so verstört werden mußte, daß ich auch hier keine Ruhe haben soll! Ich muß wirklich ausgehen, um zu sehen, ob ich draußen irgendwo einen sichern Versteck ausfindig machen kann.

 

Am Nachmittage.

Ich habe große Dinge hinter mir, einen hohen Berg, ein Abenteuer mit einem wilden Mann, einen berauschenden Trunk Natur und Einsamkeit. Obwohl ich nun so müde bin, daß ich den Arm jedesmal, wenn ich die Feder eintauche, mit einem besonderen Anlaufe meines Willens aufheben muß, bin ich doch innerlich neu gestärkt und habe die schlechte Nacht verwunden und getraute mir jetzt, es mit einer ganzen Kaffee-Gesellschaft barmherziger Schwestern in blonden Haartouren aufzunehmen.

Wie schön mein Grab ist, wie wunderbare Sonnenstrahlen darauf herniederfließen, habe ich längst zu wissen gemeint, und erst heute sind mir die Schuppen recht von den Augen gefallen. Ich glaube im Ernst, was wir im Norden Sonnenschein nennen, ist nur eine Imitation, eine billigere Mischung von Licht und Luft, so eine Art Goldbronze im Vergleich mit dem echten, soliden, unbezahlbaren Golde, das hier verschwendet wird.

Ganz langsam bin ich durch die steinerne, kühle und düstere Laubengasse geschlichen, wo mich immer fröstelt und eine seltsame Angst mir den Athem einschnürt. Dann kommt man auf den kleinen Platz an der schönen alten Kirche. Er war ganz schwarz und roth von den Landleuten aus der Umgegend und Passeier, in ihren kurzen Jacken mit dem rothen Vorstoß, den breiten Hüten und dem ganzen schmucken Sonntagsanzug. Auch sind die meisten schöne, stattliche Leute, die Männer aber viel ansehnlicher, als die Frauen, unter denen ich bis jetzt erst zwei sauberen und regelmäßigen Gesichtern begegnet bin. Weil es einer der vielen Bauern-Feiertage war, standen nach der Kirche Alle in dichten Haufen beisammen. Keiner nahm auch nur die geringste Notiz davon, daß ein fremdes krankes Frauenzimmer sich an seinem groben Ellenbogen vorbeistahl. Und über dem ganzen Platz lag eine dichte Wolke von scharfem Tabaksrauch, daß ich stark husten mußte und lieber hinter der Kirche herum ging, als durch das Gedränge. Alte Grabsteine sind da zwischen den Strebepfeilern eingemauert. Auf einem las ich eine Inschrift, die mich mit ihrer sanften Resignation sehr rührte. Eine Ludovica ist da begraben, schon seit dem Jahre 1836. Die Inschrift, die ich auswendig behalten habe, muß ich noch hier niederschreiben:

Die getrennt und einsam lebten,
Vater, Mutter und die Tochter,
Jetzt hat sie der Tod verbunden.
Wie sie selig sich gefunden,
Wird sie ewig nichts mehr scheiden,
Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden.

Der stille, innige Klang dieser Verse begleitete mich noch viele Stunden. Ich ging dann die engen Gäßchen entlang bis zu dem alten Thore, das unter einem verwitterten und von Franzosen-Kugeln genarbten Thurme ins Passeierthal hinausführt. Wie aber da sich Nähe und Ferne vor Einem aufthut, das ist zum Erschrecken schön und groß und fremdartig. Ich saß wohl eine halbe Stunde auf einem Stein dicht neben dem Thor, wo der steile Pfad gerade hinaufführt auf den Küchelberg und zu dem alten Pulverthurme droben, der jetzt ganz friedlich, wie ein ausgedienter Invalide, die Reben-Gärten bewacht. Da sah ich mir gegenüber auf einem Felsen-Vorsprunge, der aus dem Küchelberg ins Thal der Passer hinaustritt, die Trümmer der Zenoburg und überlegte, ob ich wohl die Kraft hätte, mich die breite, aber sehr vernachlässigte Straße bis hinauf zu schleppen, oder mich begnügen sollte, über die steinerne Brücke ans andere Ufer zu kommen, wo man das freundliche Obermais herüberwinken sieht. Eine Frau kam gegangen, die Pfirsiche und Weintrauben im Korb auf dem Kopfe trug. Der kaufte ich einige ab, aß und fühlte mich sehr gestärkt. So machte ich mich auf den Weg, stand alle drei Schritt und sah zur Passer hinab, die so blau und dann wieder mit weißem Schaum tief unter den Brückenbogen durchfließt. Wie kühn und traulich zugleich hangen die Weingeländer an dem schroffen Ufer-Felsen, wilde Feigenbäume mit zahllosen schwarzen Früchten dazwischen, das lebendige Wasser, in Rinnen herabgeleitet, kühlt das Laub und treibt hie und da im Vorbeigehen ein Rad, von der Tiefe herauf heben sich die hohen Stämme der Nußbäume und edlen Kastanien, eine unerschöpfliche Triebkraft und Freudigkeit der Natur, wohin man blicken mag! Besonders auch weidete ich die Augen recht an der kräftigen, bald tiefbräunlichen, bald silbergrauen Farbe des Felsens; und wie malerisch es sich ausnahm, die Menschen in ihrer schönen Tracht den schroffen Küchelberg heruntersteigen oder einen Wagen, vielmehr eine zweirädrige Schleife, mit starken weißgrauen Ochsen bespannt und mit Rebenlaub beladen, von der Zenoburg herabfahren zu sehen, das Alles unter einem Himmel, den ich bisher immer nur für eine schöne Fabel der Maler und Dichter gehalten hatte!

Ich sagte mir im Gehen und Schauen: Dieses ist mein, dies genieße ich und Niemand kann es mir wieder nehmen. Hat die Zeit etwas damit zu schaffen? Wenn ich es, statt eines Augenblicks, ein Jahrhundert lang sähe, würde es darum mehr mein eigen? Warum soll ich also traurig sein, wenn ich einen zweiten Herbst, der nach mir diese Trauben reifen wird, nicht mehr erlebe? Wer weiß, ob nicht an der Freude ihre Flüchtigkeit das Beste ist! Wie könnten sonst die Glücklichen sich langweilen?

Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden.

Ich war wohl zu hastig gegangen, als ich Dies und Manches noch bei mir bedachte, und auf der Höhe, vor einem hübschen Hause, mußte ich auf einer Bank Rast machen, wobei mir unwillkürlich die Augen zufielen; denn es war ganz still umher und die Meraner Glocken, die mich unten immer betäuben, klangen gedämpft und einlullend herauf. Es träumt sich gut in der Mittagssonne, wenn das Licht durch die geschlossenen Augenlider dringt und man drinnen die wundersamen Farben und Strahlen durch einander kreisen steht, die nichts Irdisch-Sichtbarem gleichen. So saß ich ein Weilchen und mochte wohl zuletzt eingeschlafen sein, als mich plötzlich etwas Kühles und Feuchtes, das mir die Hand berührte, aufschreckte. Es war nichts Schlimmeres als die Nase eines großen Hundes, der neben seinem Herrn neugierig vor mir stand. Die Erscheinung dieses Letzteren aber war mir in allem Ernste so furchtbar, daß ich gern geglaubt hätte, es sei ein Traum, den ich durch Anrufen und Aufstehen los werden könnte. Es war ein hochgewachsener, bärtiger Mensch, über dessen Alter ich nicht klar werden konnte; die Haare hingen ihm über Stirn und Schultern, er stützte sich auf einen langen Spieß oder Hellebarde, und ein unförmlicher, schwerer Hut, auf dem eine Wildniß von Hahnenfedern, Fuchsschwänzen und wunderlichem Pelzwerk wucherte, saß ihm quer über der Stirn und gab seinen Augen, die, wie ich nachher bemerkte, ganz kindlich in die Welt sahen, einen drohenden Schatten. Ich muß mein Entsetzen wohl sehr lebhaft verrathen haben, denn das räthselhafte Gespenst, das wie aus einem mittelalterlichen Grabe der Zenoburg auferstanden schien, fing gutmüthig an zu lachen, wobei zwei Reihen derber weißer Zähne eine ganz kleine Tabakspfeife behaglich festhielten, und sagte mit höflicher Manier, daß ich mich nicht zu fürchten brauche, er sei nur ein »Saltner«, der in den Weinbergen die Wache halte, und da ich in sein Revier gekommen, bitte er sich einen Kreuzer zu Tabak von mir aus. Ich gab ihm in meiner Bestürzung einen halben Silbergulden, stand eilig auf und wollte mich entfernen, da es mir doch in der Nähe des blanken Spießes nicht geheuer war. Aber das Silberstück, das hier so rar ist, oder auch eine Feiertags-Laune machte den Riesen so zahm und zuthulich, daß er ohne Umstände an meiner Seite blieb, und da er merkte, wie mir das Steigen sauer wurde, meinen Arm mit seiner großen Tatze nachdrücklich unterstützte. Ich mußte wohl gute Miene dazu machen, und zuletzt war es mir ordentlich lieb, denn allein wäre ich die letzte Anhöhe, auf der die Burgtrümmer stehen, schwerlich mehr hinaufgeklommen. Es fiel mir auf, wie zurückhaltend er war in seinen Fragen und wie mittheilsam in allem, was ihm selbst betraf. Wenn ich diesen barmherzigen Bruder im Stillen mit der unbarmherzigen Schwester verglich, die mich gestern heimgesucht hatte, wie hoch stand der natürliche Tact dieses Bauern über der zudringlichen Bildung der sogenannten guten Gesellschaft!

Droben war es nun wundervoll; nur die kleine Kirche und ein einzelner Thurm sind noch erhalten, von den übrigen Gebäuden der Burg stehen hie und da einzelne Mauertrümmer, dicht mit Epheu bekleidet, dazwischen wächst das üppige Gras, die Eidechsen rascheln in ganzen Familien über die sonnigen Steinhaufen, Gestrüpp aller Art hängt vom Rande des Gemäuers herab, und tief unten, so daß ein fallender Stein senkrecht in die Wellen stürzt, fließt die wilde Passer in hohlen Felsengängen um den Fuß des Berges. Mein Waffenträger wies mir auf den Höhen gegenüber und nach Süden zu im Etschthale die vielen alten Schlösser, die kleinen Weinbauern-Dörfer, die einzelnen Bergspitzen mit ihren Namen, während ich bequem im hohen Grase saß und der Hund neben mir lag. Dann läutete es Mittag von allen Kirchthürmen; da schwieg er, nahm den dreieckigen Hut vom Kopfe und die Pfeife aus dem Munde, betete still für sich und schlug andächtig das Kreuz. Erst als die Glocken ausgeklungen hatten, bedeckte er wieder das Haupt, that ein paar kurze Züge aus dem Pfeischen und fragte mich dann, ob ich nicht Hunger hätte. Ich mußte es bejahen und war doch noch zu erschöpft, um schon den Rückweg anzutreten. Ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit seinen gewaltigen Schritten den Burgberg hinab und verschwand.

Zehn Minuten darauf kam ein kleines Mädchen mit einer Schüssel Milch, einem Brod und einem Stück Feiertags-Braten eilfertig herauf, spähete überall um nach mir und brachte mir endlich, schüchtern und ohne ein Wort zu sprechen, die sehr willkommene Labung. Ich konnte nur mit Mühe aus dem Kinde herausfragen, daß der Saltner Alles im Hause unten für mich verlangt habe; er habe aber in den Weingütern zu schaffen und könne nicht wiederkommen. Damit lief das Kind wieder hinunter und ließ mich droben in der herrlichen Einsamkeit tafeln. Niemals habe ich einen köstlicheren Schmaus gehalten; ich schämte mich ordentlich, daß ich Alles rein aufaß und hernach nur die leeren Schüsseln den guten Leuten wiederzubringen hatte. Es kostete einige Mühe, ihnen Geld aufzunöthigen, möglich, daß der Saltner es ihnen untersagt hatte. Ich habe mich aber auf dem Rückwege vergebens nach ihm umgesehen. Nicht einmal seinen Namen weiß ich.

Ist das nicht ein vollständiges Abenteuer? Und muß ich nicht diesen Tag roth anstreichen?

 

Am 12. October, Morgens.

Ich habe mir heute früh beim Aufwachen überlegt, wie seltsam es doch ist, daß die verschiedenen Stände einander gegenseitig um eine Freiheit beneiden, die in keinem zu finden ist, wo überhaupt noch ein Standesgefühl bewahrt wird. Vielleicht in derselben Stunde, wo ich sehnsüchtige Blicke in das Leben dieser einfachen Menschen that, die unter Reben, Maisfeldern und Maulbeerbäumen ihre Tage so paradiesisch hinleben und von den hundert engen, eingemauerten, kleinstädtischen Rücksichten der sogenannten Gebildeten nichts wissen, wie der Seidenwurm nicht ahnt, wie viel glänzendes Elend sein Gespinnst vielleicht verschleiern wird – in derselben Minute vielleicht schien ihnen die Freiheit einer Städterin, auf eigene Gefahr ihren Tag mit Spazierengehen zu verbringen, wie ein ganz übermenschliches Glück, da sie Stunde um Stunde ihrem harten Tagewerk schuldig sind, und wenn sie Sonntags feiern, sich von der schwerfälligen Sitte, die auch ihre Ruhe einschränkt, so wenig losmachen können, wie sie in der Sommerhitze ihren hundertfaltigen schwarzen Rock mit einem leichteren vertauschen dürften. Die Gebildeten haben freilich den Vorzug, daß sie frei sein können, wenn sie wollen. Aber wird es ihnen denn weniger von Ihresgleichen verdacht, als etwa einem Bauer, der in der Erndte auf die Jagd ginge? Und überhaupt . . . .

 

Mittags.

Nein, ich ertrage es nicht wieder, und sollte ich der ganzen Welt einen offenen Fehdebrief schreiben; ein Sterbender braucht nicht zu lügen, braucht sich nicht mißhandeln zu lassen und dankbar dazu zu lächeln. Ich bin so zerknickt, zerrieben, in allen Nerven empört, daß ich am liebsten von meinem Fenster aus durch ein Sprachrohr der ganzen Gesellschaft meine feierliche Absage zuriefe, wenn sie jetzt nicht gerade alle bei Tische wären, meine Peiniger! Aber es geschieht noch, so oder so, das seh' ich kommen. Ich lasse mir einen eisernen Riegel vor die Thür machen, der einen Centner wiegen soll, eine eiserne Maske, die ich vorbinde, wenn ich den Fuß über meine Schwelle setze.

Die Wirthin hat mir das Essen gebracht; es mag ruhig kalt werden, ich habe gar keinen Appetit, das Herz klopft mir vor Zorn und Aerger, mir ist todesübel von all dem Geschwätz, das mir drei Stunden lang vor den Ohren gebraust hat, unaufhaltsamer als der Bach, der die Mühle neben der Brücke treibt und doch seinen Lärm wenigstens mit seiner nützlichen Geschäftigkeit legitimiren kann.

Ich habe vergessen, unter allem Guten, was ich dem gestrigen Tage nachzusagen hatte, auch den verfehlten Besuch der »Lebensretterin« anzuführen. Nun hat sie hoffentlich gemerkt, dachte ich, daß ich nicht auf sie warte, wenn ich Luft schöpfen will, und wird das Licht ihrer Barmherzigkeit über dankbareren Geschöpfen leuchten lassen. Ich kannte sie noch nicht! Mitten im Schreiben höre ich ihren Schritt auf der Treppe, werfe das Tagebuch rasch bei Seite und ziehe einen angefangenen Brief aus der Mappe, hinter dem ich mich verschanzen und bis auf den letzten Tropfen im Tintenfasse vertheidigen wollte. Aber sie rannte im Sturm meine armselige Macht über den Haufen. Was Briefschreiben! Was Müdigkeit! Ich sei der Gesundheit wegen hier und Nerven brauchten Ruhe und Zerstreuung – das in Einem Athem! – und wenn ich gestern wie ein unvernünftiges Kind den Küchelberg hinaufgelaufen sei, so sei sie heute gekommen, um der Wiederholung eines solchen Selbstmordes vorzubeugen und mir zu zeigen, was es heiße, curgemäß Luft zu schöpfen. Ja, ja, sie habe mich wohl durchschaut; ich sei gar nicht damit zufrieden, daß sie schon wieder nachfrage. Aber ein junges Mädchen, das allein stehe, dürfe man ja nicht verwahrlosen lassen, und ich solle mich nur einstweilen der Gewalt fügen, ich würde es ihr doch noch einmal danken.

Da setzte ich stumm und in Alles ergeben meinen Strohhut auf und konnte doch auch dem Tone von täppischer Gutmüthigkeit nicht völlig gram sein, obwohl er mir körperlich weh that. Sie schleppte mich unter beständigem Reden nach der sogenannten Winter-Anlage, dem windstillsten Theile der Wassermauer, wo das alte Nonnen-Kloster mit seiner hohen Gartenmauer den Luftzug vom Jaufen her abwehrt und einige Lauben und immergrüne Büsche in der Sonne brüten, auch die Rosenbäume noch über und über in Blüthe stehen. Es war schon sehr voll, die Musik spielte, die ganze Cur-Gesellschaft ging und saß herum, und meine Vormünderin schien es eigens darauf angelegt zu haben, mich »einzuführen«. Ich mußte förmlich Spießruthen laufen durch ein mir ganz gleichgültiges, neugieriges Gewühl von Herren und Damen. Nicht Ein Gesicht, zu dem ich mich hingezogen gefühlt hätte! Nicht Ein Wort, das mir ans Herz gegangen wäre! Dazu die Schwüle unter den Lauben, die zudringlich laute Hornmusik und meine immer wachsende innerliche Auflehnung gegen diese zärtliche Tyrannei – ich gerieth außer mir. Noch empörender als die stumpfe Fühllosigkeit der Gesunden, war mir das Betragen so vieler meiner Leidensgefährten. Da saß eine junge Frau, die, wie ich hörte, sich von Mann und Kindern hatte trennen müssen, um jeder Aufregung aus dem Wege zu gehen. Und doch hatte sie noch Gedanken übrig, meinen einfachen und vielleicht etwas unmodernen Anzug von oben bis unten zu mustern und sich vornehm in ihren weißen Kaschmir-Burnus zu wickeln, als ich mich neben sie auf die Bank setzte. Und jenes junge Mädchen, das mich sogleich wie eine alte Bekannte anredete, um mich in den ersten fünf Minuten die ganze Läster-Schule Merans durchmachen zu lassen, während ihr der Tod aus den Augen sah und ihr Husten mir durchs Herz schnitt! Sind das auch Menschen, oder Wachsfiguren und Automaten, die ihre Künste machen, bis die Feder abgelaufen ist und sie wieder im Kasten liegen müssen?

Es war mir wie eine Erlösung, als aus dem Wirthshause zur Post die Tischglocke läutete und die Meisten aufbrachen, auch meine Beschützerin zu ihrer Kranken zurück mußte. Ich nahm kaum Abschied von ihr, ich konnte nicht mehr sprechen und sprechen hören. So hat sie es denn glücklich erreicht mit ihrer Cur; ich bin so gelähmt, daß ich weder Leib noch Seele mehr lebendig fühle; das ist freilich eine Art Genesung!

 

Am 13., Abends.

Ich habe es durchgesetzt und bin so froh darüber, wie ich nicht sagen kann. Ich bin heute früh, da ich mir überlegte, daß ich meiner Freiheit auch etwas Muth und Entschiedenheit schuldig sei, mit meinem Buche bewaffnet wieder in den Wintergarten gegangen und habe mich dreist, ohne irgend Jemanden wiederzuerkennen, mitten unter die übrige Gesellschaft gesetzt und Stunden lang nicht aufgeblickt. Die Lebensretterin kam natürlich auch wieder zum Vorschein und ging gleich auf mich zu. Als ich ihr aber kaltblütig sagte, daß mir das Sprechen beschwerlich sei, und daß ich deshalb lesen wollte, stutzte sie denn doch ein wenig, zuckte die Achseln und ließ mich in Frieden. Ich merkte wohl, daß sie es mir höchlich übel nahm. Um so besser!

Nun will ich es alle Tage, wenn ich sonst nichts Besseres weiß, genau wieder so machen. Es ist sogar eine heimliche Genugthuung dabei. Während ich da unter all den Lästigen so still und unangefochten saß, triumphirte in mir mein tapferes und siegreiches Herz, daß es sich nicht hatte unterkriegen lassen. Freilich, ohne einiges schnellere Klopfen war die Schlacht nicht gewonnen worden. Aber auch der Muth will ja gelernt sein.

Und dann ist es so doppelt erquicklich, ernste und schöne Gedanken unserer großen Dichter zu lesen, während rings umher einzelne Worte aus fremden Gesprächen verraten, mit wie dürftiger Speise man sich in der guten Gesellschaft bewirthet.

Ist das nun sehr stolz oder gar eitel gedacht? Ein wenig Stolz wird ein einsamer Mensch sich wohl verzeihen dürfen. Denn es ist ja schon überhaupt eine Anmaßung, sich zurückzuziehen und mit sich allein zufrieden sein. Aber wer sich zum Sterben rüstet, muss der nicht vor Allem an seine Seele denken, und ist das möglich unter dem gedanken- und seelenlosen Geräusch, das man Conversation nennt?

 

Am 15. October.

Sie lassen es mich schon empfinden, daß ich gar nicht nach ihrem Sinne bin. Als ich heute wieder mit meinem Buch auf die Wassermauer kam, etwas spät, da ich den ganzen Morgen an Vater und Ernst geschrieben hatte, waren schon alle Bänke besetzt, bis auf eine einzige, wo ein sehr bleicher und trauriger junger Mann saß, der täglich von seinem Bedienten nach dem sonnigsten Platz der Winter-Anlage halb begleitet, halb geführt wird und die Füße dann immer tief in einen kostbaren Pelz-Fußsack vergräbt. Die Damen, die plaudernd und stickend unter den Lauben saßen, hätten nur ein wenig zusammenrücken dürfen, so war noch Platz genug für meine dünne Person, deren Crinoline noch nie einem Nebenmenschen lästig geworden ist. Aber ich sah deutlich, daß sie sich vornahmen, mich recht in Verlegenheit zu setzen. Ach, wie bitterböse, wie häßlich kalt und unmenschlich können wir aussehen, wenn wir uns verschwören, einem armen Menschenkinde zu zeigen, daß wir es nicht lieben! Ich erschrak ordentlich vor den steinernen Larven mit den gespannten Augenbrauen und den verzogenen Lippen. Auch wäre ich am liebsten wieder weggegangen; aber ich schämte mich, feige zu sein und es zu zeigen, that vielmehr, als hätte ich gar kein Arg über ihre feindseligen Mienen, und setzte mich ruhig auf die Bank, wo der Kranke saß; es blieb noch immer Raum zwischen uns, selbst für die weite Robe der Frau Gräfin. Da vertiefte ich mich in mein Buch, und obwohl ich gar nicht aufsah, wußte ich ganz genau, mit was für Augen man nach mir blickte, und hätte die liebevollen Anmerkungen niederschreiben können, die unter den Lauben geflüstert wurden. Der Kranke bewegte sich kaum, nur dann und wann seufzte er so verloren vor sich hin. Er dauerte mich recht. Er scheint einer der Kränksten hier zu sein und seine Leiden am schwersten zu tragen. Reich muß er wohl auch sein; ich habe einen sehr schönen Ring an seinem Finger bemerkt. – Wie wir nun so stundenlang neben einander saßen, ertappte ich mich mehrmals darüber, daß mir eine Bemerkung, die ich im Lesen machte, beinahe entschlüpft wäre, nur um einmal das tiefmelancholische Hinbrüten zu unterbrechen, das ihm das Gemüth zu bedrücken schien. Es wäre auch nichts Unrechtes dabei gewesen; aber man hat ja heutzutage dafür gesorgt, daß wir uns so mancher natürlichen Regung schämen. Also schwieg ich und las für mich fort. Da sah ich, daß er einen silbernen Stift fallen ließ, mit dem er etwas in sein Taschenbuch schreiben wollte, und wie er sich mit sichtbarer Anstrengung und schwer athmend danach bückte, kam ich ihm ohne Bedenken zuvor und hob die zierliche Bleifeder auf. Er dankte etwas verwundert; ich fühlte, daß ich über und über erröthete, und als ich in demselben Augenblicke ein verhaltenes spöttisches Kichern aus der Damenlaube hörte, war es vollends für einige Minuten um meine Ruhe geschehen. Alles, was man über das große Verbrechen, daß ein Mädchen einem kranken jungen Mann einen kleinen Dienst geleistet, sagen konnte, kam mir mit grausamer Klarheit in den Sinn. Und was mochte er selbst denken? Ich hatte ihn flüchtig angesehen und wenigstens kein Lächeln auf seinem schwermüthigen Gesichte wahrgenommen. Und wenn er nach diesem Beweise von geringer Weitläufigkeit mich für eine Kleinstädterin hält, kann ich's ihm übel nehmen, da ich es mir doch nicht übel nehme, nichts Besseres und nichts Schlimmeres zu sein?

Er grüßte mich sehr artig, als ich eine halbe Stunde nachher aufstand und nach Hause ging. Ich war schon wieder so im Reinen mit mir, daß ich den Gruß ohne Verlegenheit erwiederte und mir auch durch die Blicke meiner menschenfreundlichen Vormünderin, die nach mir gekommen und sogleich von den Damen in Beschlag genommen war, durchaus nicht den Appetit zu Mittag verderben ließ. Eben kommt die Suppe. Sie ist leider noch blonder als die Löckchen der guten Dame. Ueberhaupt das Essen – es ist recht schade, daß bei einem Sterbenden die Zunge nicht zuerst das Zeitliche segnet. Nur einmal wieder ein Gericht aus der väterlichen Küche!

Abends. Zum ersten Male herbstlicher Wind,
der den Pappeln einige Blätter kostet.

Ein Brief von unserm lieben alten Doctor, meinem besten Freunde. Er will Nachrichten von mir haben, wie ich lebe, mich fühle, das Klima vertrage. Er macht sich in Einem Athem Vorwürfe, daß er mir die hoffnungslose Wahrheit nicht verschwiegen, und lobt mich doch wieder über meine standhafte und mannhafte Natur; auch sucht er nicht etwa nachträglich seinen Ausspruch zu drehen und zu deuteln. Er weiß, daß es verlorene Mühe wäre. Nur zuletzt schreibt er: »Vergessen Sie nicht, liebe Marie, daß täglich und stündlich Wunder geschehen, und daß Wissenschaft und Erfahrung uns arme Menschen im besten Falle so weit bringen, uns über Alles oder über nichts zu verwundern.«

Er weiß schon, daß es keines anderen Trostes für mich bedarf, als die Wahrheit zu hören und in der Wahrheit leben zu dürfen, so lange ich noch zu leben habe.

Ein paar Tage später. Das Datum ist mir abhanden
gekommen. Prachtvoller Herbstabend.

Es war zu viel Wind den ganzen Vormittag, ich habe zu Hause bleiben müssen und war fleißig mit allerlei Schneiderarbeit, denn meine Kleider drücken mich, meine Brust wird immer empfindlicher. Nach Tische ward die Luft stiller; ich ging hinaus, die breite Straße hinunter, die der Rennweg heißt. Eine Menge Kühe und Ziegen wurden hindurchgetrieben, keine Annehmlichkeit der hiesigen Wege. Denn ich zittere jedesmal von Kopf bis Fuß, wenn so ein schwerfälliges gehörntes Haupt mir langsam entgegenkommt, obwohl ich weiß, daß die guten Thiere nicht so dumm sind, wie sie aussehen, und lange nicht so viel Vorurtheil gegen ein alleinstehendes Frauenzimmer haben, als die gescheiten Menschen. Es ist das körperliche Gefühl der Schwäche, die sich hier im Nothfall nicht hinter ein muthiges Herz flüchten könnte, sondern ganz wehrlos dastünde. – Also stahl ich mich an den Häusern hin und kam glücklich durch das westliche Thor, wo die Straße ins schöne, sonnige Vintschgau hinausführt. Ein Seitenweg läuft am Fuß des Küchelberges durch die Weingärten hin; da ging ich langsam fort und freute mich über die schweren blauen Trauben, die oben an den Gittern hingen, über die gewaltigen gelben Kürbisse, die reifen Maisstauden, all den Segen eines südlichen Herbstes. Hie und da arbeiteten die Leute, gefüllte Kufen, hochaufgeschichtete Wagen voll Rebenlaub wurden vorbeigefahren; aber es befremdete mich, daß Alles so still, ohne Sang und Klang geschah. Ich hatte mir die Weinerndte als das rauschendste und glänzendste aller ländlichen Feste gedacht. Doch haben die Menschen hier einen beschaulichen und trägen Sinn; nirgends hört man sie bei der Arbeit singen, und wo es geschieht, sind es Wälsche, die man auf den ersten Blick auch an ihren rascheren Geberden unterscheidet.

Hundert Schritt vom Thore entfernt, an den Berg angelehnt, steht ein einzelnes Gehöft; meine Wirthin hatte mir gesagt, daß man dort Milch frisch von der Kuh bekomme. Da ich nicht sehr gut zu Fuß war, trat ich in das offene Gärtchen und bestellte mir Milch und Brod. Es waren nur wenige Gäste dort, aber dicht neben der Thür unter einem großen Orangenbaum saß der kranke junge Mann, während sein Diener etwas abseits sich ein Glas Wein schmecken ließ. Er selbst hatte seine Milch noch unberührt vor sich stehen, und da ich vorüber wollte, stand er auf, grüßte höflich und bot mir den Sitz an seinem Tische an, weil es dort ganz windstill sei. Zum ersten Male hörte ich ihn ein paar Sätze hinter einander sprechen mit einer tiefen, schwermüthigen Stimme, die sehr wohlklingend war. Ich nahm das Anerbieten dankbar an und konnte auch die Milch nicht ausschlagen, ohne ihn zu beleidigen, da er versicherte, daß er durchaus nicht durstig sei.

Wir kamen dann in eine Art Gespräch, das freilich lange Pausen hatte, während deren er immer wieder in sein unglückliches Brüten versank. Nur einmal sah ich ihn flüchtig lächeln; es sah noch trauriger aus, wie die blassen Lippen sich ein wenig öffneten und die weißen Zähne matt vorschimmerten. Wir hatten vom täglichen öden Einerlei der Kranken-Existenz gesprochen, von dem trübseligen Spazierensitzen in der Winter-Anlage. Ich sagte, daß mir dabei immer der Glaskasten meines kleinen Bruders einfalle, in dem er seine Raupen sich verpuppen ließ; die krochen auch so träge und beklommen zwischen ihrem Futter herum, erwarben sich die Zufriedenheit ihres Kerkermeisters, wenn sie eifrig fraßen, besahen sich neugierig, da sie auch so ganz zufällig hier zusammengekommen waren, und spannen sich immer träger ein zu ihrem Winterschlaf, wenn sie nicht etwa die Luft zu drückend fanden und zu Grunde gingen. – Da lachte er traurig auf. Ihr Bild ist viel zu schmeichelhaft, sagte er. Glauben Sie, daß viele von unseren Nebenraupen sich jemals wieder so leicht und frei wie Schmetterlinge fühlen werden, es müßte denn in einer andern Luft sein, als dieser irdischen? – Es kommt darauf an, sagte ich, ob sie, wenn sie wirklich heil und unversehrt aus der Puppe geschlüpft sind, den Glaskasten offen finden, oder ob dann die Hand des Schicksals ihrer wartet, sie nur schlimmer zu martern. Die Meisten können sich ihrer Flügel doch nicht lange erfreuen; sie werden wieder eingefangen und zappeln an der Nadel, und ihre bunten Farben müssen verbleichen und verstäuben.

Darauf erwiederte er nichts, und es that mir fast leid, daß das Gespräch eine so seltsame Wendung genommen hatte. Um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, erzählte ich ihm allerlei von den närrischen engen und steifen Verhältnissen meiner kleinen Vaterstadt, wo man sich noch im Stil der sogenannten guten alten Zeit das Leben recht freundnachbarlich und gevatterhaft sauer macht, und sagte ihm, wie erlöst und befreit ich mich fühle, seit ich wisse, daß ich unheilbar sei und mir, wie einem zum Tode Verurtheilten, während der letzten Gnadenfrist die Ketten abgenommen worden seien. Er hörte theilnehmend, aber fast ungläubig zu. Als ich dann schwieg und –

 

Am andern Morgen.

Auf eine unwillkommnere Art hätte ich gestern nicht unterbrochen werden können. Meine Thür ging auf, und die barmherzige Schwester, die Lebensretterin, die Dame ohne Nerven stürmte mir geradewegs ins Zimmer mit einem besonders ernsten und feierlichen Gesicht, das nichts Gutes weissagte. Sie nahm sich kaum Zeit, von den steilen Treppen wieder zu Athem zu kommen, setzte sich breit auf das Sopha und fing ohne Umschweife an, mir eine Rede zu halten. Sie mag, wo es sich um leibliche Pflege handelt, hie und da treffliche Dienste leisten; zur Seelsorge hat sie wahrlich keinen Beruf. Denn eine plumpere Art, zarte Dinge anzugreifen, ist mir nicht vorgekommen, und ich bin doch gewiß nicht verwöhnt worden. Ich erfuhr, daß ich große Sünden begangen habe, die nur durch ernstliche Buße und innere Zerknirschung gesühnt werden könnten. Die hochfahrende Art, wie ich das freundliche Entgegenkommen so vieler würdiger Damen abgewiesen und mich recht geflissentlich von der Gesellschaft zurückgezogen habe, sei allenfalls mit der Unzurechnungsfähigkeit einer kranken Laune zu entschuldigen. Daß ich aber mich nicht gescheut hätte, einem fremden jungen Mann mich offen vor Aller Augen zu nähern, ihm unaufgefordert kleine Gefälligkeiten zu erweisen und mich endlich sogar von ihm mit Milch bewirthen zu lassen, ja, seine Begleitung nach Hause anzunehmen, wie gestern geschehen, das sei unerhört, das müsse selbst einem Mädchen ohne alle Erziehung ihr gesundes Gefühl, ihr Sinn für Schicklichkeit und die Rücksicht auf ihren Ruf ein für alle Mal verbieten. Sie würde auch nach diesen Vorfällen keinen Schritt mehr über meine Schwelle gesetzt haben, wenn ihre Gutmüthigkeit es ihr nicht dennoch zu einer Gewissenspflicht gemacht hätte, mich zu warnen, da ich allein stünde und Niemand hätte, mich von einer Verirrung zurückzubringen. Jener junge Mann habe durchaus keinen guten Ruf. Sein Leiden sei die Frucht eines verschwenderischen, leichtsinnigen Lebens, das er mit einem frühen Tode büßen müsse. Wenn er nun, schon mit einem Fuß im Grabe, noch gewissenlos genug sei, ein junges Wesen zu compromittiren, so müßten alle sittlichen Naturen ein solches Betragen aufs Tiefste verdammen und wenigstens das Ihrige thun, ihm sein Opfer zu entreißen.

Ich saß zuerst bei diesen Reden wie versteinert, und das Herz klopfte mir so heftig, daß ich nicht das leiseste Wort hervorbringen konnte. Als sie nun schwieg und mich mit ihren scharfen Blicken wie eine überführte Sünderin strafend ansah, sammelte ich so gut es ging meine Lebensgeister und antwortete, daß ich ihr für ihre Sorge um mich sehr dankbar sei und an der guten Absicht nicht zweifle, übrigens aber mir durchaus keiner Unschicklichkeit oder gar Verirrung bewußt sei und auch meinen Ruf nicht in Gefahr glaube. Ich wisse ganz wohl, was ich zu thun und zu lassen habe und verantworten könne; ich sei nicht der Meinung, daß man, wenn man selber schon mit einem Fuß im Grabe stehe, über jeden unschuldigen freien Athemzug der Welt Rechenschaft schuldig sei, vor deren böswilligem Urtheil man sich ja überhaupt nicht schützen könne. Ich bin nicht nach Meran gekommen, sagt' ich, um mich hier bei einem mir völlig fremden Kreise beliebt zu machen, sondern um meine letzten Tage so zu verleben, wie es für meine Natur wohlthätig und erquicklich ist. Und Sie müssen mir schon erlauben, gnädige Frau, daß ich mich in diesem Entschlusse durch Rücksichten, die für Andere taugen mögen, nicht irre machen lasse.

Als ich das heraus hatte, erschrak ich fast vor meiner eigenen Kühnheit, war aber doch froh darüber und dachte: das ist nun das Letzte! Es war es auch wirklich, so hoff' ich wenigstens, denn meine Gönnerin stand auf, nahm eine erhabene Miene an, die freilich ihrem breiten Gesicht und den blonden Löckchen wunderlich stand, und sagte: Leben Sie wohl, mein Kind. Sie sind so selbständig, daß jedes längere Verweilen in diesem Zimmer eine Indiscretion wäre. – Und damit rauschte sie wieder hinaus.

Ich war sie nun los, nicht aber ihre Reden und meine Gedanken. O diese traurige, kalte, kleinliche Welt! Giebt es denn wirklich nirgends einen Fleck auf Erden, wo man einem armen Menschenkinde erlaubte, »nach seiner Façon« zu sterben? Muß man auch den letzten Seufzer in der Schnürbrust aushauchen?

Nein, sie sollen es mir nicht abgewinnen, ich habe sie ja nicht lieb; warum sollt' ich sie nicht verachten dürfen oder wenigstens stehen lassen und ruhig vorbeigehn?

Es mag sein, daß ich nicht sehr besonnen bin. Aber sich besinnen kostet Zeit. Und habe ich irgend Zeit zu verlieren? Ja, wenn ich mit diesen Menschen noch bis ins Unabfehliche fortzuleben hätte, wäre es vielleicht klug, sie nicht zu reizen, mich ihnen unterzuordnen. Klug gewiß, aber doch traurig, und wär' es am Ende wirklich der Mühe werth, diese traurige Klugheit zu üben? Was könnten sie mir im schlimmsten Falle zu Leide thun? Mich allein lassen? Als ob sie mir das nicht zu Liebe thun würden!

Er soll sein Leiden selbst verschuldet haben. Ist er darum weniger beklagenswerth? Vielleicht rührt seine ganze Melancholie nur davon her, daß er sich Vorwürfe zu machen hat, wie meine Heiterkeit von meinem unverschuldeten Schicksale. Wir haben Jeder ein anderes Leben zu verlassen; ich habe nichts zu bereuen, aber auch nichts zurückzuwünschen; er vielleicht Beides. So stirbt Jeder von uns einen anderen Tod. Und nun wäre es ein Verbrechen, noch ein unbefangenes Wort mit einander zu wechseln? Leute, die eine lange Reise zusammen antreten, schließen sie nicht oft die beste Freundschaft, ja Brüderschaft, schon auf der ersten Station? Und man verdächte es ihnen, wenn sie sich freundlich anreden, ehe sie mit einander in den Wagen gestiegen sind?

 

Montag, den 21. October.

Den ganzen Montag zu Hause geblieben, geschrieben, die Jugendbriefe Mendelssohn's gelesen, die viel liebenswürdiger sind, als alle Bilder, die ich von ihm kenne. Ja wohl, man kann eine freie, volle Künstlernatur sein und doch mit ernster Zucht an sich arbeiten. Wenn ich ein Mann wäre, möchte ich nichts Anderes sein, als ein Künstler. Das klingt vielleicht recht überspannt, weil, wer ohne Talente ist, nur die äußere Ungebundenheit einer solchen Existenz, nichts von den inneren Sorgen und Mühen des Berufs sich vorstellen kann. Aber wenn ein Stück der Künstlerschaft im Charakter, in der Seele liegt, die Kraft nämlich, die Freiheit zu bedürfen und zu ertragen, der Ernst und die Helle des Gemüths, der Muth, Großes zu wagen, und die Andacht, zu dem Größten hinaufzublicken – davon wenigstens fühlt' ich genug in mir, um meinen Mann zu stehen und ein ganzes Leben lang gegenüber allen Anfechtungen der Philister mich damit durchzuschlagen. Was hilft mir's nun, da ich ein Mädchen bin und nicht leben soll? Nun, wenigstens ruhig sterben hilft es mir.

Die Briefe haben mir meine Musik wieder nahe gebracht, und es wird wohl keine zu arge Verschwendung sein, daß ich mir ein kleines Clavier gemiethet habe. Das steht nun seit heute früh in meinem Zimmer; ich habe aber so lange nicht gespielt, daß ich mich ordentlich schämte, unter Einem Dache mit Mendelssohn's Briefen seine Lieder ohne Worte so kläglich herunter zu stümpern. Ich will mir Noten zu verschaffen suchen.

Beichten muß ich doch auch, daß ich in helle Thränen ausbrach, nachdem ich die ersten Tacte angeschlagen hatte. Es ist von jenem Gespräch eine wunde Stelle in mir zurückgeblieben, die schmerzte, als ich die erste Musik seit so vielen Wochen wieder hörte. Ich ließ aber die Thränen fließen und spielte mich wieder in Ruhe.

 

Am 22.

Heute bin ich ihm wieder begegnet, was ich die Tage her vermieden hatte. So sehr ich entschlossen bin, meinen Weg zu gehen: um die erste Unbefangenheit haben sie mich glücklich gebracht. Ich traf ihn im Buchladen, als ich mir Musikalien aussuchen wollte. Er fragte mich, ob ich mich kränker gefühlt hätte, da ich nicht auf der Wassermauer erschienen wäre. Ich wurde roth, als ich erwiederte: Nein; ich war nur nicht gestimmt, auszugehen. – Dann sprachen wir über Musik, die er sehr liebt. Ich hatte auch einmal eine Stimme, sagte er lächelnd. Sie ist schon vor mir hinübergegangen. – Als wir dann aus dem Laden traten, wollte ich ihm erst Adieu sagen, um allein nach Hause zu gehen. Dann schämte ich mich dieser armseligen Feigheit und lenkte unsere Schritte geradeswegs nach dem Thore, das sich auf die Wassermauer öffnet. Es war ein prachtvoller Sonnenschein, die Leute hatten die Mäntel überm Arm und nur an einigen verwehten gelben Blättern spürte man den October. Als wir an die Passer kamen, an den Bänken vorbei, wo die gute Gesellschaft saß, freute ich mich meiner fröhlichen Stimmung. Ich machte ihn oft lachen mit allerlei Scherzen, und immer, wenn er lachte, lobte ich im Stillen meinen tapferen Muth, der sich nicht hatte beugen lassen. Ob es euch so viel Freude macht, ihr guten Leute da drüben, sagte ich zu mir selbst, eure Mienen jetzt spöttisch zu verziehen und euch in eure Tugend zu wickeln, wie es mich freut, auf diesem blassen Gesichte, über das der Tod schon seine Schatten wirft, noch einmal ein Abendroth der Heiterkeit auftauchen zu sehen?

Wohl eine Stunde sind wir zusammen auf und ab gegangen, und ich habe gar keine Müdigkeit empfunden. Ich habe mir nun auch sein Gesicht darauf angesehen. Was auch hinter ihm liegen mag, was er sich auch vorzuwerfen hat – Niedriges kann es nicht sein. Seine Züge sind weder regelmäßig, noch was man bedeutend nennt. Aber wenn er spricht, hat er etwas Feines und Sinniges, das ihm wohl steht. Er kann nicht älter sein, als sechsundzwanzig; sein Benehmen ist so leicht und frei, als hätte er immer nur in der besten Gesellschaft gelebt. Ich muß daneben mit meiner kleinstädtischen Toilette und Unweltläufigkeit einen seltsamen Contrast machen.

In der Curliste habe ich nachgesehen, wie er wohl heißen möchte. Ich weiß nur, in welcher Pension er wohnt. Da hab' ich denn herumgerathen , daß es kein Anderer sein könne, als ein Herr Morrik aus Wien, Particulier. Ein seltsamer Stand; ist wohl so viel als »unabhängig« schlechtweg. Dann bin ich auch eine Particulière, mehr als er. Denn von wie Vielem ist er noch abhängig, von seiner Schwermuth, seinem Reichthum, selbst von seinem Bedienten, der ihm den Mantel und Fußsack nachtragen muß!

 

Am 23. Morgens.

Diese Nacht hatte ich viele und lauter sehr nachdenkliche Träume; in einem kam ich mit Halding wieder zusammen, an den ich nun Jahre lang nicht mehr gedacht habe. Auch sprach ich so gleichgültig mit ihm, wie je, fragte nach Frau und Kindern und freute mich, daß sie Alle wohl waren. Dann aber mußte ich, noch immer im Traum, die Betrachtung anstellen, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich damals seine Hand nicht ausgeschlagen hätte. Ich säße jetzt drüben in Amerika, in dem schönen, glänzenden Hause, wäre viel reicher, viel gesunder – denn ich hätte dann die letzten schweren Jahre nicht mit den Eltern zugebracht – und dächte noch lange nicht ans Sterben. Das überlegte ich, als ich die rothwangige Frau sah, die ihn so bald über meine Weigerung getröstet hat. Und in demselben Augenblicke schauderte mir vor einem solchen Glück.

Auch das mag überspannt, anspruchsvoll, undankbar sein. Was hatte ich an ihm auszusetzen, als daß ich ihn nicht liebte?

Viele fanden ihn liebenswürdig. Mir schien er es nur eben zu sehr – für einen Mann. Er hätte die beste, sanfteste, tugendhafteste Frau abgegeben, und gerade darum mich unglücklich gemacht, wenn ich ihn zum Manne genommen hätte.

Es ist mir mehr als einmal begegnet, daß man mir zu verstehen gegeben hat, ich sei für ein Mädchen zu resolut. Lief doch auch die lange Bußpredigt der Lebensretterin darauf hinaus, daß es mir an weiblicher Schüchternheit und Zurückhaltung fehle. Wenn es wahr wäre, so läge die Schuld an meinen Schicksalen, die mich früh auf eigene Füße gestellt, auf mich selbst angewiesen haben. Wem das Leben schmeichelnd entgegenkommt, der mag es wohl an sich kommen lassen. Wer ihm die Stirne bieten muß, der darf mit dem bischen Gottvertrauen und Selbstvertrauen, das in ihm ist, nicht hinterm Berg halten. Aber wenn ich noch ein Zeugniß vor mir selbst bedürfte, daß ich nichts unweiblich Trotziges, nichts Herrisches in meinem Charakter habe, so gäbe mir's meine Abneigung gegen die weiblichen Männer, die eine Frau zu ihrer Stütze bedürfen, und gegen die Frauen, die nur glücklich sind, wenn sie einen Mann beherrschen.

 

Am 26.

Ein paar gleichförmig stille Tage. Ich fühlte mich matt und unlustig zu Allem, blieb zu Hause, da der Rückweg aus der heißen Sonne durch die düsteren Lauben mir jedesmal schlecht bekam, las und spielte ein paar Sonaten wieder durch und merkte wohl, daß auch die Einsamkeit ihre niederschlagenden, schweren Stunden mit sich bringt. – –

Heute bin ich denn wieder ausgegangen, und gleich der erste Mensch, dem ich begegnete, war Herr Morrik – wie er wirklich heißt; einer seiner Bekannten redete ihn mit Namen an. Wir saßen eine lange Zeit zusammen auf einer Bank zwischen den immergrünen Gebüschen der Winteranlage, denn unter den Pappeln war der Luftzug empfindlich. Die übrige Gesellschaft schien sich bereits in das Unerhörte un Unverzeihliche, zwei Todes-Candidaten mit einander plaudern zu sehen, gefunden zu haben, und störte uns durchaus nicht. Da hatten wir ein merkwürdiges Gespräch.

Es fing damit an, womit warme und lebhafte Gespräche sonst endigen, mit dem Aussprechen der innersten Gedanken, die man gewöhnlich in der Reserve behält, bis sie, wenn man lange an einander herumgesprochen, und sich immer mehr ins Feuer gestritten hat, endlich aus ihrem Hinterhalt hervorbrechen. Aber ich habe es heute nicht zum ersten Mal an mir erlebt, was man »laut denken« nennt. Zu meinem eigenen Schrecken faßt sich dann das Herz ein Herz und schüttet eine Menge verhaltener und verstohlener Bekenntnisse aus, daß ich mir selber im Sprechen zuhöre und mich wundere, wie ich nur die Kühnheit gehabt habe, dergleichen bei mir zu beherbergen und nun gar vor Fremden hören zu lassen. Es ist ordentlich, als wären zwei Wesen in mir, ein tapferes, gescheites und beredtes, das aber selten zum Vorschein kommt, und ein frauenzimmerlich verlegenes und einfältiges, das, wenn das andere das Wort ergreift, in Einem Staunen und Herzklopfen sitzt und dem anderen doch nicht ins Wort zu fallen wagt.

Was eigentlich den Anlaß gab, ist mir entfallen. Ich weiß nur noch, daß ich, ehe ich mich's versah, mitten in einer eifrigen, fast zornigen Predigt war über die Todesfurcht, die so Vielen um uns her, und auch ihm, der still und blaß neben mir saß, auf dem Gesicht geschrieben stand. Das Meiste, was ich sagte, habe ich wieder vergessen, obgleich es mir selbst, während es mir kam, ganz wohl gefiel und unwidersprechlich schien. Nur das ist mir noch erinnerlich, daß ich über den Goethe'schen Text predigte:

Denn ich bin ein Mensch gewesen,
Und das heißt ein Kämpfer sein.

Nun wohl, wenn wir alle Kämpfer sind und früher oder später bei unserer Fahne hinsinken, warum soll es nur bei denen, die berufsmäßig Waffen tragen, als eine Schande gelten, mit schlotternden Knieen ins Feuer zu gehen? Warum streitet es nicht überhaupt gegen den Corpsgeist und die Waffenehre der Menschheit, sich wehklagend und seufzend ans Leben anzuklammern, wenn die Gefahr nahe rückt? Den Soldaten, der am Vorabend der Schlacht einen Versuch macht, sich vom Heere wegzuschleichen, holt man mit Schimpf und Schande zurück und hält ihn für zu schlecht, ihn in Reihe und Glied mit den Tapferen sterben zu lassen. Und ein Sterbender, der dem Tode Tage, Stunden, Minuten abbetteln möchte, sollte uns nicht unwürdig scheinen, nicht all unsere Theilnahme verscherzen, bis auf einen Rest von achselzuckendem Mitleid mit seiner Schwäche?

Das und Aehnliches sagte ich; mir war zu Muthe, wie einem alten Haudegen, der seinem Regiment vor dem Sturm auf eine Schanze noch einmal recht ins Gewissen reden will. Ich glaube, wenn in diesem Augenblick die ganze Cur-Gesellschaft sich um mich versammelt hätte, um zuzuhören, mein Feuer wäre nur noch gewachsen. Mitten in dieser Feldpredigt that ich einen Blick in die wundervolle Landschaft, die in der Sonne vor uns lag und uns zu fragen schien: Ist es denn so sehr zu verdammen, wenn man die Augen ungern für immer zudrückt, die all das liebgewonnen haben und nicht wissen, wann sie sich wieder aufthun werden, und wie der Tausch ihnen gefallen mag? Aber diese Zwischenfrage brachte mich nicht aus der Fassung; ich hatte meine Antwort schon fertig: Wenn du es einmal genossen hast, so ist es dein für immer. Was hat denn die Zeit zu schaffen mit unserer ewigen Seele? Wenn sie ewig ist, so hört das Beste, was sie hier unten gelebt, geliebt, erkämpft und ersehnt hat, nicht auf, ihr Besitz zu sein, den sie in Ewigkeit vermehren und läutern kann. Und wie wenig reine Glücks-Empfindungen danken wir dem, was wir ein für alle Mal zurücklassen werden? Wie viel Trug mag an unseren liebsten Freuden hangen, muß an ihnen hangen, da wir mitten in ihrem Genusse unsere Unruhe, unsere ewige Bedürftigkeit empfinden! Warum also nicht mit heiterer Stirn von dieser trüben und hastigen Welt Abschied nehmen, wo gerade das stärkste Licht auch den stärksten Schatten wirft?

Ich hätte noch wer weiß wie lange so fortgesprochen, aber ein heftiger Hustenanfall schnitt mir das Wort ab. Da bedachte ich erst, wie Alles wohl auf meinen stummen, traurigen Zuhörer gewirkt haben möchte, und ob es wohlgethan war, ehe ich ihn besser kennen gelernt, mein bischen Lebens- und Todesweisheit vor ihm auszukramen. Mir war sie Arznei, das fühlte ich wohl. Aber wenn seine Natur nicht stark genug war, sie zu ertragen, was konnte ich ihm nutzen? Mußte ich ihm nicht gerade so hart und zudringlich vorkommen, wie die Dame ohne Nerven mir selbst erschienen war? Hatte ich irgend ein Recht, mich ihm hilfreich aufzudrängen?

Aber es war einmal geschehen und nicht wieder zurückzunehmen. Wohl zehn Minuten blieb er noch so in seinen Gedanken, und ich hatte Zeit, mir Vorwürfe zu machen. Dann fing er mit ernster, aber sehr herzlicher Miene an, meine Sorgen zu zerstreuen. Wort für Wort, sagte er, könne er mir zugeben, und es sei ihm tröstlich, da er großen Anteil an mir nehme, mich meinem Geschick so gerüstet und klar entgegengehen zu sehen. Aber die menschlichen Loose seien verschieden. Ich will nicht zu hoch anschlagen, sagte er, daß Sie eine Kraft, die wir mit Recht von einer Schaar gesunder, schlagfertiger Männer unter den Waffen verlangen, wohl mit Unrecht bei Kranken suchen. Ein Soldat, der im Schnee campirt und Tages seine zwölf Stunden marschiren kann, hat ein frischeres Mark und Blut einzusetzen, wenn es gilt, Leib und Leben in die Schanze zu schlagen. Ein Verwundeter, der aus dem Lazareth die Kanonen herüberdonnern hört, wird wohl nicht gerade verächtlich sein, wenn ihn dabei ein Fieberschauer überläuft. Aber es ist auch noch ein anderer Unterschied, den ein Mädchen nicht völlig verstehen kann. Ein Mann, der sich in der Welt umsieht, wird bald inne, daß sie nicht bloß zum Genießen da ist, daß er etwas zu thun habe, eine Aufgabe lösen, eine Lebenspflicht erfüllen soll. Werden Sie nicht zugeben, daß es schmerzlich ist, der Welt den Rücken zu wenden, ehe man auch nur die ersten Anstalten gemacht hat, diese Pflicht zu erfüllen? Und diesen Unterschied dürfen Sie nicht vergessen, liebes Fräulein: der Soldat erfüllt seine Pflicht, indem er stirbt; jeder andere rechte Mann, indem er lebt, falls sein Tod nicht auch ein Opfer oder ein Beispiel ist. Wie soll also derjenige, der bisher nur gelebt hat, um Pflichten zu versäumen, sein Sterben nicht wie eine neue Schuld, eine neue Pflichtvergessenheit empfinden?

Wir haben schon so viel Bekenntnisse mit einander ausgetauscht, fuhr er fort, daß es thöricht wäre, mit einem freilich sehr persönlichen, und das Ihnen ganz gleichgültig sein wird, zurückzuhalten. Sie werden, nach den Gesinnungen, die Sie geäußert, meine dumpfe, unglückliche Stimmung für die Frucht einer unmännlichen Verzweiflung Angesichts des gewissen Todes halten. Etwas günstiger darf ich hoffen Sie gegen mich zu stimmen, wenn ich sage, daß mich meine Leiden schon genug gereift haben, um mir ein Leben, wie ich es bisher gelebt, in müßigen Zerstreuungen, Niemand zur Liebe und Niemand zur Last, in der reinen Selbstsucht, nicht der Mühe werth erscheinen zu lassen, es durch ärztliche Hülfe und dieses gepriesene Klima vielleicht noch zu retten. Meine Vergangenheit ließe mich ruhig sterben; sie war nicht viel Besseres als ein Scheinleben. Aber die Zukunft, die ich mir hatte erobern wollen gerade an dem Punkte, als es zu spät war, als wohl die Erkenntniß kam, aber die Kraft sie im Stiche ließ, die nagt an meiner Ruhe und macht es mir unmöglich, so heiter Abschied zu nehmen, wie Sie. Sehen Sie, ich bin nicht eben schlimmer gewesen, als die Besseren unter Meinesgleichen. Ich habe meine jungen Jahre vertändelt, verreist, verspielt und verschleudert und mir, so lange mein Vater lebte, sogar eingebildet, das sei standesgemäß, und er selbst war dieser Meinung. Ich hatte auch allerlei sogenannte geistige Interessen, mußte jedes Debut eines neuen Schauspielers, Sängers oder Theaterdichters miterleben, sammelte schöne Bilder, spielte in Dilettanten-Quartetten meine Cellopartie gar nicht einmal so übel und galt für einen guten Gesellschafter. Nun starb mein Vater, und sein Vermögen, seine Güter, seine politischen Verbindungen und Verpflichtungen waren plötzlich verwaist. Niemand hatte ein so jähes Ende jemals geahnt. Nun war's an mir, nun war ich ins erste Glied gerückt und sollte meinen Mann stehen – und da war es aus, ehe es angefangen war. Warum es aus war, das ist eine andere Frage; wie viel oder wie wenig Schuld ich dabei trage, gehört ebenfalls nicht hierher. Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, ich sei völlig ohne Schuld und das Unglück über mich gekommen, wie ein Stein vom Dache fällt, werden Sie nicht zugeben, daß ich anders zurückblicke, als Sie, und daher auch mit anderem Herzen vorausblicken darf?

Ich war eben im Begriff, etwas darauf zu erwiedern, was, weiß ich wahrlich nicht, aber es wäre wahrscheinlich auf die Bitte hinausgelaufen, mir mein leichtes Absprechen zu vergeben, als eine alte Frau an uns herantrat, die Rosen zum Verkaufe feilbot. Er nahm einen Strauß und gab ihr einen Silbergulden, den sie fast erschrocken in der Hand hielt; denn man begegnet hier nur dem elenden, zerlumpten Rapier. Er aber winkte ihr, daß schon Alles in Ordnung sei, und legte dann den Strauß zwischen uns auf die Bank. Ein Herr trat zu ihm heran, der ihn zu sprechen wünschte. Da stand er auf, entfernte sich ohne Abschied, kam aber nicht wieder zu mir zurück. Ich bin denn auch bald weggegangen und habe den Strauß liegen lassen. Jetzt bereue ich's. Was haben die armen Rosen verbrochen, daß man ihnen nicht wenigstens noch einen kurzen Flor in einem Wasserglase gönnt?

 

Abends.

Ich bin noch einmal ausgegangen und muß es nur gestehen, einzig um die Rosen. Es kam mir wie eine Sünde gegen etwas Lebendiges vor, sie auf der Bank verdorren zu lassen. Sie lagen noch unangerührt; nun stehen sie ganz frisch und duftend vorm Fenster; die Nachtluft ist aber schon zu kühl, ich muß das Fenster schließen und das Glas mit den Blumen draußen lassen.

Ich will lesen, um meine aufgeregten Gedanken zu beschwichtigen. Der Strauß hat mir den Spruch von jenem Grabstein wieder ins Gedächtniß gerufen:

Und so ist das frühe Welken
Dieser Rose zu beneiden?

Dieses Fragezeichen ist mir aus der Feder geschlüpft; ich habe nun nicht das Herz, es auszustreichen. Wohl ist es eine Frage, ob je ein armer Mensch einen anderen armen Menschen um etwas beneiden darf, und wär' es selbst um den Tod!

 

Am 29.

Mein Geburtstag. Ich habe niemals von ihm Notiz genommen und nie danach gefragt, ob es Andere thaten. Diesem aber, weil es denn der letzte sein soll, wollte ich eine Ehre anthun und ihn zum Abschied, so gut sich's thun ließe, feiern. Ich habe mir die kleinen Mädchen meines Wirthes ganz früh schon hereingeholt und ihnen die Kleidchen geschenkt, die ich für sie genäht habe, auch jeder einen Kuchen und einen Kuß gegeben. Dann bin ich ausgegangen, obwohl es ein sonnenloser, fröstelnder Tag ist. Auf der Treppe begegnete mir Herrn Morrik's Bedienter, der sich nach meinem Befinden erkundigen sollte, da ich mehrere Tage mich auf der Wassermauer nicht hatte blicken lassen. Es freute mich, daß noch Jemand nach mir fragt; ich selbst bin mir so unliebenswürdig erschienen seit dem neulichen Gespräch, daß ich meinte, Niemand kümmere es, ob ich lebe oder sterbe. Unter den Lauben spazierte ich dann lange auf und ab; denn ein Regen strich durch die schmale Gasse, und es war draußen nicht gut sein, da sich auch ein lebhafter Nordwind, den sie hier Jaufenwind nennen, aufmachte und freilich zum guten Theil vom Küchelberg abgewehrt wurde, aber doch dann und wann um die Ecke hereinstöberte.

Ich war so müßig und gedankenlos, so unlustig, daß ich zuletzt vor Langerweile eine Menge Feigen und Pfirsiche kaufte und im Gehen aß, und als ich spürte, daß es nicht sehr gescheit gewesen war bei dem kühlen Wetter, das Uebel noch ärger machte, indem ich mich zu einer Frau unter den Lauben setzte, die Kastanien briet, und auch von denen aß, um mich zu wärmen, mir aber erst recht den Magen damit verdarb.

Das ist nun mein Feiertag. Es geschieht mir aber schon recht. Wie kommt auch ein müßiger Mensch dazu, sich noch eigens Feiertage zu machen? »Saure Wochen, frohe Feste« – das ist freilich was Anderes.

Immer klarer wird es mir, daß er Recht hat und ich Unrecht – nicht nur habe, sondern auch ihm gethan habe. Nur der Herzlose, nur der Selbstsüchtige kann es heiter mit ansehen, wenn er abgerufen wird, ehe er was Rechtes auf Erden gethan hat. Und es war schonend und gütig von ihm, aber doch nicht richtig, daß er einen Unterschied machte zwischen seiner und meiner Lage. Haben wir nicht auch Lebenspflichten? Hat meine Mutter sie nicht bis zum letzten Athemzug erfüllt? Und ich konnte mich hier meiner unnützen Einsamkeit freuen und frohlocken wie ein Kind, das hinter die Schule gegangen ist? – –

Da kommen Briefe vom Vater und meinem Ernst, Geburtstagsbriefe. Ich will sie im Freien lesen. Der Jaufenwind hat im Umsehen die Luft gereinigt, die Sonne scheint wieder so warm, daß ich die Ofenluft nicht mehr ertragen konnte und beide Fenster aufmachen mußte.

 

Nachmittags.

Der Tag ist nun doch gefeiert worden, auf eine seltsame Art, durch eine Versöhnung, die eine neue Entzweiung ist. Weil die unverhoffte Sonne alles, was lebt und webt, in den Wintergarten gelockt hatte, ging ich auf der anderen Seite der Wassermauer immer gegen Westen noch eine gute Strecke fort, bis zu der Stelle, wo die Passer sich in die Etsch ergießt. Da sah ich Herrn Morrik schon von Weitem, wie er mit seinem Bedienten in der Sonne auf einem Baumstamm saß, mich ebenfalls erkannte und aufstand, mir entgegen zu gehen. Ich ward wirklich verlegen, denn es sah fast aus, als hätte ich ihn eigens aufgesucht. Aber nun war nicht mehr umzukehren; und warum auch? War es nicht vollkommen wahr, daß es mich freute, ihm zu begegnen, ja, daß ich ihm sogar etwas zu sagen hatte? Ich war ihm ja noch die Genugthuung schuldig, daß er mich anderen Sinnes gemacht hatte, daß meine ganze todesmuthige Weisheit mir nun wie eine armselige Fieberwallung vorkam.

Ich konnte es kaum abwarten, bis sich die Gelegenheit ergeben würde, ihm diese Geständnisse zu machen, und erschrak förmlich, als er mir zuvorkam mit dem Ruf: Wie froh bin ich, Sie zu sehen, liebes Fräulein! Sie werden staunen, welche Wunder Sie an mir gewirkt haben. Ich habe freilich schon damals, während Ihrer herzhaften Standrede, gefühlt, welchen Eindruck sie auf mich machte. Aber Jeder, wenn er auch erkennt, daß er nicht Recht hat, – er möchte doch gern Recht behalten, und so hab' ich meine schlechte Sache ganz leidlich verfochten. Wir sahen uns dann nicht wieder, und seitdem ist es nachgekommen, und wenige Stunden nur, so war ich vollständig umgewandelt und hätte den höchsten Eid leisten wollen, der Fahne, die Sie so tapfer vorantragen, nie mehr untreu zu werden.

Und was werden Sie nun sagen, erwiederte ich ganz kleinlaut, wenn Sie hören, daß ich selbst fahnenflüchtig geworden bin?

Es ist unmöglich, sagte er lachend – und das war das erste Mal, daß ich ihn nicht nur lächeln, sondern ganz herzlich lachen sah, – oder wenn auch Sie einer menschlichen Schwäche zugänglich wären, so nehmen Sie sich jetzt vor mir in Acht, ich hole den Deserteur, er mag wollen oder nicht, wieder zurück, aber nicht, um ihm den Proceß zu machen, sondern um ihm die Fahne von Neuem anzuvertrauen, unter der ich zu siegen und zu sterben gelobt habe.

Das gab nun einen der spaßhaftesten Wettstreite, die wohl je zwei Menschen ausgefochten haben. Jeder vertheidigte die Sätze, die er wenige Tage vorher dem Andern aufs Heftigste abgestritten hatte, und Jeder suchte seine frühere Meinung, so schlimm er nur konnte, zu verdächtigen.

Sie müssen mir zugeben, rief er endlich, daß, wie nun auch ein weiser Daniel unsern verwickelten Streit theoretisch schlichten möchte, meine Ansicht, ich meine Ihre frühere, denn doch praktisch im Vortheile ist. Seit ich mich zu ihr bekehrt habe, bin ich so heiter, so ausgesöhnt mit Gott und der Welt, ja, mit mir Selbst, wie – nun eben, wie Sie waren, ehe Sie sich zu meiner Auffassung der Dinge verirrt haben. Es hat sich seitdem in meiner Lage, meinen Leiden und den wenigen Freuden, die mir noch geblieben sind, nicht das Mindeste geändert. Nur die Farbe, die Alles trägt, ist aus einem düsteren Grau ins schönste, lebensfrischeste Roth umgeschlagen. Ich sehe, was dahinter liegt, genau so an, wie vorher; aber wenn ich viel verloren habe, gewinne ich es zurück, wenn ich auch den noch übrigen geringen Rest verliere? Sie hatten so Recht, zu sagen: In jeder Minute kann man ein ganzes Leben erleben! Und mir bleiben noch so schöne Minuten – was sag' ich? Tage – Wochen – vielleicht Monate übrig. Die sollte ich ungelebt lassen?

Auch ist es wohl nicht so weit her, fuhr er fort, mit dem, was ich etwa hätte thun können, und die Welt kann es ruhig missen. Doch wäre es das Unersetzlichste, – ich stehe, wo ich stehe, und kann nur noch vorwärts, und wenn es auch drüben noch etwas zu thun giebt, werde ich mich besser dazu rüsten mit Muth und Zuversicht, als durch jene unfruchtbare Desperation, deren ich mich jetzt vor Ihnen schäme, noch mehr schämen würde, wenn ich Sie auch heute noch so erhaben über alle Menschlichkeiten sähe, wie Sie mir damals erschienen sind.

Ich schreibe hier so trocken nieder, was mir von seinen Worten noch im Gedächtniß geblieben ist; er spricht viel eigenthümlicher, schärfer und mit einem Witz, der wie ein belebendes Salz beim Einathmen erfrischt und gar keinen beißenden Nachgeschmack hinterläßt. Es war eine unendlich gute Stunde. Wären wir zwei Männer oder zwei Frauenzimmer gewesen, wir hätten uns, ehe wir uns trennten, die Hände geschüttelt und Brüderschaft geschlossen auf Du und Du. Wenigstens haben wir verabredet, uns täglich auf der Wassermauer wiederzufinden, da wir noch über so Vieles verschieden denken und schwerlich noch in diesem Leben damit fertig werden.

Meine Briefe von Hause sind auch erfreulich, Ernst schreibt ganz ungeduldig, daß er mich so lange nicht sehen soll, der arme Junge ahnt nicht, wie lange es dauern wird. Es ist indessen dunkel geworden. Ich will ein wenig musiciren und diesen Festtag schön ausklingen lassen.

 

Am 3. November.

Die guten Tage sind doch seltene Gäste auf Erden. Nur zweimal, seit ich zuletzt schrieb, haben wir, wie wir ausgemacht, uns in den Mittagsstunden gesehen. Als ich vorgestern, wo es neblig und unfreundlich war, in den Wintergarten kam, war er nirgends zu erblicken. Ich sah nur das schadenfroh gespannte Gesicht des kleinen Fräuleins, das sich immer möglichst dicht in unsere Nähe setzt, um etwas von unserem Gespräch zu erlauschen. Die Lebensretterin kam auch, sah mich mit einer kalten, polizeilichen Miene von oben bis unten an, und ich hörte im Vorbeigehen, wie sie zu einer der Damen, recht eigens für mich, die Worte sagte: Der arme Mensch, er muß es nun büßen, daß er so stundenlang gesprochen hat. – Ich zitterte vor Schreck, und es hätte wenig gefehlt, daß ich mich trotz allem, was vorgefallen war, bei der unbarmherzigen Schwester nach ihm erkundigt hätte. Zum Glück schickte er mir Nachmittags seinen Diener, er habe Hausarrest wegen der strengeren Luft – denn über Nacht hat es an den Bergen geschneit – und ich solle mich nur hüten, da die Uebergangszeit in den Winter die gefährlichste sei.

Trotzdem habe ich ihn gestern und heute vergebens wieder draußen gesucht. Wie rasch man sich an einander gewöhnt, wenn man gleich einsam ist unter Vielen! Auch er hat sonst keinen Umgang. Nur auf den Arzt ist er sehr gut zu sprechen. Ich hätte fast Lust, ihn auch einmal zu consultiren, nicht um etwas Neues über mich zu erfahren – da weiß ich ja nur allzu gut Bescheid – sondern um zu hören, ob auch er so unheilbar ist, wie er sich glaubt.

 

Am 5. Abends.

Der Wind ist umgesprungen, wir haben Scirocco, das ganze Etschthal ist verhangen, und ein feiner Regen schlägt weich und warm an die Fenster. Nun haben die Pappeln draußen das Laub schon so stark verloren, daß ich die Umrisse der schönen Mendelspitze ganz deutlich dahinter verfolgen kann. Die Weingärten sind abgeherbstet, die Heerden in den Ställen, es schickt sich Alles zum Winter an, und ich bin froh, warm zu sitzen. Der Vater aber schreibt gar von tiefem Schnee und strenger Kälte, während der Südwind uns noch die Luft Italiens zuträgt und in dem Gärtchen zu meinen Füßen die Rosen so lustig fortblühen, als wüßten sie es besser und glaubten nimmermehr, daß der Schnee von der Muttspitze jemals bis nach Dorf Tirol herunterwandern oder gar auf der Wassermauer sein Wesen treiben könnte.

 

Am 6. Morgens.

Die Rosen scheinen wirklich Recht behalten zu sollen. Die prachtvollste Sonne hat mich geweckt, der Ofen hat Ferien, die grünen Wiesen unter der Niederung leuchten wie im Mai, und vor einer Viertelstunde kam ein Billet von Morrik, daß er den schönen Tag gern zu einem Ausritt über die nächsten Anhöhen benutzen möchte, da ihm das Gehen noch versagt sei, und nun bei mir anfrage, ob ich seine Begleitung annähme; er wolle mich dann um zehn Uhr mit den Maulthieren abholen.

Ich habe ohne viel Besinnen ihm geschrieben, daß es mich freuen würde. Jetzt da ich mir's recht überlege – –

 

Abends.

Zum Glück wurde mir das Ueberlegen abgeschnitten, ehe ich vielleicht einen recht überflüssigen, thörichten Gedanken ausgebrütet hatte. Die Wirthin kam mit der Meldung, daß der Herr unten warte, und der Bediente folgte ihr auf dem Fuße, meine Tasche und das Plaid hinunterzutragen. Da galt es, sich tummeln. Ich fand ihn unten schon abgestiegen, um mir in den Sattel zu helfen, und die Freude, ihn nach so langer Pause heiter und ziemlich wohl wiederzusehen, das milde, klare Wetter, die Aussicht, den herrlichen Ritt zu machen, das alles half mir jeden Rest von kindischer Verlegenheit rasch überwinden. Man hat sich daran gewöhnt, uns zu Fuß mit einander plaudern und lustwandeln zu sehen, warum nicht auch zu Maulthier?

Also ritten wir ganz guter Dinge durch die Laubengasse und über die Brücke, wo freilich das liebe Publikum an die Barriere trat, uns mit Blicken und Anmerkungen noch eine Strecke weit das Geleit zu geben. Drüben stieg der Weg zur Linken sanft hinan und lenkte in die Hügelgassen des freundlichen Obermais ein, wo wir uns bald mitten unter den entblätterten Weingärten befanden und an den Häusern vorübertrabend das Stampfen der Trauben in den großen Kufen, das Einfüllen des Mostes in die Fässer, und in den langen, jetzt gelichteten Laubengängen schon wieder die Vorarbeiten für eine neue Erndte im nächsten Jahre zu sehen bekamen. Nichts ist schöner, als einen dieser hochgewachsenen Burschen mit einem Gespann der starken grauen Ochsen eine solche Weinlaube hinauf pflügen zu sehen, wenn er dann die Thiere verschnaufen läßt und sich zwischen ihnen, wie in jenem Robert'schen Erndtebilde, an die Deichsel lehnt, das alles umrahmt von dem Stangen- und Gitterwerk, das hier zu Lande in hoher Wölbung die Reben trägt. Alles hörte auf zu arbeiten, wo wir vorbeiritten, ich voran auf meinem sehr sanften Thier, das der Führer nicht von der Hand ließ, Morrik dicht hinter mir, so daß wir uns unsere Freude an allem Schönen zurufen konnten, sein Diener als Nachtrab hinterdrein. Als wir etwas höher kamen, hielt ich unwillkürlich die Zügel an. Es war zu wunderbar, um daran vorbei zu eilen. Wir hatten das Etschthal tief unter uns, der Fluß blitzte zwischen Sand- und Wiesenstrecken herauf, und die Berge schlossen sich in den reinsten Linien zusammen. Aber was ist davon zu sagen, da sich hier kaum der Pinsel eines Malers richtig auszudrücken wüßte! Wir sagten auch nicht ein Wort zu einander, wir hingen nur ganz gläubig und andächtig in unseren Sätteln und starrten und staunten. Wären die Thiere nicht ungeduldig geworden, wer weiß, ob wir nicht noch an derselben Stelle hielten. Mein sanfter Brauner, der am Ende klüger war, als er aussah, schüttelte nachdenklich den Kopf mit den ansehnlichen Ohren über die närrischen Menschen, die hier nicht vom Fleck wollten, obwohl doch nirgends eine Futterstelle zu entdecken war. Er setzte sich, in der Meinung, daß er unserm Unverstande zu Hülfe kommen müsse, langsam wieder in Bewegung, und die Anderen folgten. Ein reizendes Schloß, das in der Tiefe dicht unter dem waldigen Bergabhange liegt, ein Besitz der Grafen Trautmannsdorf, blieb zu unserer Rechten, auch das Valentins-Kirchlein, das ganz abgeschieden in einem windstillen Seitenthale steht. Unser Weg führte wieder gegen Norden über das Mittelgebirge zu Füßen des Ifingers, der sein Schneehaupt in die reine Herbstbläue erhob. Der ganze Hügelrücken ist wie besäet mit einzelnen Gehöften, dazwischen alte Herrenschlösser, in denen jetzt meist die reichen Weinbauern hausen und in den Sommermonaten kranke Gäste beherbergen. Ich habe die Namen der meisten wieder vergessen; nur der eine von Schloß Rubein hat sich mir eingeprägt. Da stehen außen vor der verwitterten Zinnenmauer schöne, schlanke Cypressen wie Wächter um einen alten Sarkophag und ragen schwarz aus der gelben und grünen Rebenwildniß hervor. Wir thaten auch einen raschen Blick in den Burghof. Wie kühl und heimlich ist es da! Die kleine Pfeiler-Galerie, die Treppchen, die steil hinaufführen, der alte, schon stark entlaubte Nußbaum in der Ecke, über und über mit schwirrenden und singenden Vögeln bevölkert, die von ihrer Weinbeeren-Erndte berauscht und übermüthig geworden sind. Ich könnte Seiten lang davon fortschwatzen, wie einzig schön es auf diesen Höhen war. Und nun weiter gegen das Passeierthal hin die sacht ansteigenden Wege unter den edlen Kastanien- und Nußbäumen, bis wo der Blick sich freier aufthut auf Meran hinunter und hinüber nach dem Küchelberg und meiner lieben Zenoburg, bis er zuletzt hängen bleibt an dem hoch vorgebauten Dorfe Schönna und seinem alten Schlösse, dem Ziel unserer Reise.

Als wir ankamen, war es gerade Mittag. Wir waren Beide müde von dem langen Ritt und hungrig und auch einsilbig. Die Fülle des Gesehenen machte uns noch zu schaffen, und hier erst recht hatten wir nicht Augen genug, zu genießen, was aus jedem Fenster in der Nähe und Ferne sich uns aufthat. Ich ging in die Gaststube und saß, während Morrik draußen mit dem Wirth plauderte, ein Weilchen tief erschöpft, glücklich und doch von einer seltsamen Beklommenheit eingeengt, in der kühlen Dämmerung still, mit geschlossenen Augen, um mich wieder zu fassen und zu finden. Das Zimmer hat eine tiefe Fensternische, eine Art Erker, in der, wie ich beim Eintreten flüchtig bemerkte, ein junger Bauer mit einem Mädchen saß bei Wein und Mittagskost. Sie schienen mich so wenig zu beachten, wie ich sie. Morrik kam dann, setzte sich zu mir an den Tisch und war sehr heiter, wenn auch bleicher, als sonst. Die Luft schien ihn angegriffen zu haben. Wir sprachen von gleichgültigen Dingen. Auf einmal steht der Bursch im Erker auf und tritt, das volle Glas in der Hand, an unsern Tisch. Mit Erlaubniß, sagte er, der Herr wird nichts dawider haben, wenn ich auf dem Fräuele ihre Gesundheit trinke. Wir sind ja alte Bekannte. – Dabei trank er, sah mich zutraulich über den Rand des Glases an und hielt mirs dann hin, daß ich auch trinken sollte. Ich nahm das Glas, sah ihn aber verdutzt an; er kam mir ganz fremd vor, dazu schon ein wenig vom Weine erhitzt und in einem muthwilligen Humor, der mich beinahe ängstigte. – Ja, ja, sagte er, als ich schwieg und auch Morrik ihn nicht gerade aufmunternd ansah, mit dem Saltnerhut und dem Dreimonats-Bart schaut der Mensch freilich ein Bissel teufelsmäßiger aus, als so im Feiertagsgewand. Aber wenn's dem Fräuele damals nicht vor mir gegraust hat, wird's ja jetzt um so weniger Gefahr haben, zumal der Herr Bruder oder Schatz da – – Naz, sagte das Mädchen, was schwätzest du da zusammen. Das Fräulein schaut nicht danach aus, als ob es sich fürchtete. Aber 's Weintrinken ist den Kranken verboten, gelt, gnäd'ge Herrschaften? Und der Ignatius meint, es könne gar kein Mensch leben ohne den Wein. O, der ist ein Wüster! Ich hab' schon eine Stunde an ihm gemahnt und gebittet, daß er fortmachen soll; wir haben's nöthig nach Meran zum Handschlag, verstehen Sie, zu unserer Verlöbniß; aber der sitzt und sitzt bis in die Nacht, wo der Wein so den rechten Schnitt hat, und was machen wir hernach für eine Figur vorm Herrn Decan? Reden Sie ihm doch zu, Gnädige!

Ei was! sagte der Bursch, den ich nun freilich allmählich wieder erkannte als meinen Freund von der Zenoburg, siehst du nicht, Liesi, daß die Herrschaften sich auch Zeit lassen? Die da fängt früh an mit dem Regieren wollen, nicht wahr, Herr? Die Weiberleut haben immer Eil, uns in ihre Gewalt zu bekommen. Aber was ein rechter Kerl ist, der macht oft Station, wenn's den letzten Gang geht und läßt sich jede ledige Halbe doppelt schmecken. Sonst hätt' ich gegen die Dirne nichts einzuwenden, sagte er mit einem lustigen und stolzen Blick zu ihr hinüber. Ihre geraden Glieder hat sie und ihre fünf Sinne richtig bei einander, und so von der Gasse aufgelesen ist sie auch nicht. Nur das Auftrumpfen und Besserwissen, das ist ein rechtes Kreuz, aber das muß sich ja der Stärkste aufladen lassen. – Wie seid denn Ihr damit angekommen? wandte er sich zu Morrik. Das Fräulein ist ja so weit ganz sauber, und ich tauschte gleich, wenn sie mich möchte, aber mit dem »Herrn im Haus spielen« wär's da wohl vollends aus. Nun, jeder hat seinen Packen zu tragen.

Ignaz, sagte ich, da Morrik noch immer schwieg und ich fast fürchtete, er möchte den vom Weine redselig Gemachten unsanft zurechtweisen, der Herr ist weder mein Bruder noch mein Schatz. Wir sind hier Beide fremd und haben nur den Weg hier herauf zusammen gemacht. Was du aber vom Regieren sagst, dazu gehört Kraft, und ein armes Frauenzimmer, das sie begraben werden, eh's wieder Frühling wird, hat weder Lust noch Athem dazu übrig. Und nun sei gescheit und geh mit der Liese nach Meran zum Herrn Pfarrer, und laß dir nicht nachsagen, daß du nicht recht bei Verstande gewesen, als du ihr dein Wort gegeben hast.

Das Mädchen, eine sehr frische, derbe Gestalt, mit einem offenen und klugen Gesicht, war nun aufgestanden und hatte den Burschen unter den Arm gefaßt. Ich dank', gnädiges Fräulein, sagte sie, daß Sie mir helfen, den da vom Fleck zu bringen. Sag den Herrschaften behüt' Gott, Nazi, und dann komm! Aber mit dem Sterben, Gnädige, überlegen Sie sich's noch anders! Ich hab' in einer Pension unten in Meran zwei Winter gedient und weiß, es stirbt Mancher nicht, der schon den Sarg bestellt hat, und Mancher denkt, er thu' den letzten Schnaufer, und steigt hernach noch auf die Muttspitz. Es weht ein viel guter Luft hier in Meran, sollt' mich nicht wundern, wenn er selbst einen Todten aufweckte. Adieu, gnädige Herrschaften! Sonst schläft mir Der noch im Stehen ein.

Es schien wirklich Gefahr vorhanden. Der Bursche stand an den Tisch gelehnt und sah wie abwesend zu Boden, nickte jetzt nur träumerisch uns zu und ließ sich gutwillig hinausführen. Ich kann nicht leugnen, daß die ganze Scene mir peinlich gewesen war. Es hatte ihn nicht gerade entstellt, aber all seine Reden, die ich nur so in der Hauptsache wiedergegeben habe, ohne seine derben Ausdrücke, verstimmten mich, ich wußte aber nicht recht, warum. Auch Morrik schien von der Begegnung nicht sehr erbaut. Die Wirthin, die uns das Essen selbst auftrug und ebenfalls allerlei neugierige Fragen stellte, verbesserte unsere Laune nicht sonderlich. Dazu war eine schwere Luft in der niedrigen Stube, zu der der Rauch von der Küche hereindrang. Da nun auch das Essen nicht sehr zu loben war, waren wir Beide froh, bald fertig zu sein, um draußen wieder freier aufzuathmen. Wir gingen die kleinen Steige zwischen den malerischen Gehöften langsam auf und ab, sprachen wenig, aber meine Fröhlichkeit kehrte mir bald zurück.

Ihnen ist nicht wohl, sagte ich, als ich ihn immer noch gedankenvoll neben mir hinschreiten sah.

Doch, sagte er. Ich hätte nichts zu klagen;

Ließen mich Gedanken frei,
Ich wüßte nichts von Ungemach.

Es hülfe Ihnen vielleicht, wenn Sie Ihre Gedanken aussprechen könnten.

Vielleicht würde es dann nur schlimmer. Denn schwerlich würden meine Gedanken gerade Ihnen Freude machen.

Schon Ihr Vertrauen wäre mir ja erfreulich.

Auch wenn ich Ihnen die Besorgniß vertraute, daß Sie mir am Ende doch zu viel Vertrauen schenken?

Ich sah ihn fragend an.

Sehen Sie, fuhr er fort, das Wenige, was Sie von mir lernten, ist vielleicht mein Bestes. Ich bin daher überzeugt, Sie denken viel zu günstig von mir und würden erschrecken, wenn Sie hörten, wie andere Leute, die mich freilich noch weniger kennen, über mich urtheilen.

Geht das aber nicht einem Jeden so, fragt' ich, daß er zu hoch oder zu gering geschätzt wird und kaum seine Nächsten ihn in dem richtigen Lichte sehen? Und soll mich das irre machen in meinem guten Glauben an die Dauer eines freundlichen Verkehrs, dem überdies ein so nahes Ziel gesteckt ist?

Er lächelte schmerzlich. Ich habe die bestimmte Ahnung, daß Sie mich überleben werden, vielleicht um viele Jahre, sagte er. Seit ich Sie kenne, hat Ihre Natur sichtbar sich aufgerafft, und wer weiß, ob der Ausspruch Ihres Arztes nicht einst zu dem Uebrigen gelegt werden wird, was falsche Propheten leichtsinnig in den Tag hinein geredet haben. Sie schütteln den Kopf. Es ist besser, dies der Zukunft zu überlassen. Ich aber trage die Weissagung zu deutlich in mir, um sie überhören zu können; und da macht es mir schwere Bedenken, ob ich nicht ein Unrecht an Ihnen begehe, Ihre Gesellschaft, Ihr Gespräch – darf ich sagen: Ihre Freundschaft? – zu genießen, unbekümmert um den Nachtheil, den Ihre Güte Ihnen vielleicht bringen möchte. Sie sind über so Vieles erhaben, was bei aller Erbärmlichkeit denn doch eine Macht ist – wie stark und grausam, das habe ich nur zu traurig erfahren müssen. Und damit es Sie nicht verletze, von einem Manne an allerlei Urtheile und Vorurtheile erinnert zu werden, die sonst einem weiblichen Gemüth am deutlichsten gegenwärtig sind, und die wir bisher in unserem freundschaftlichen Verkehr verachtet haben, müssen Sie wissen, daß ich nicht hier, nicht krank, nicht schon mit einem Fuß im Grabe wäre, wenn ich sorgfältiger bedacht hätte, was man über mich urtheilt, und welches Licht – welchen Schatten, sollte ich sagen – ich auf diejenigen werfe, mit denen ich umgehe.

Wir hatten uns auf einen mit Moos und Epheu dicht überwachsenen Stein am Wege gesetzt, von wo man durch die Kastanienbäume die schönsten Berghäupter gegenüber und die Abhänge des Passeier übersah. Kinder, die in die Schule gingen, umstanden uns in einiger Entfernung, die Bauern schritten vorbei, die Kühe wurden an die Wassertröge geführt – er sah und hörte von Allem nichts und sprach leise weiter.

Sie wissen vielleicht nicht, liebe Marie, wie eine in jeder Hinsicht unabhängige Lage auf die Natur wirkt im Guten und Schlimmen. Es ist auch unnöthig, hier darüber zu moralisiren. Aber das Eine ist wichtig, daß, wer sich nirgend gebunden fühlt, allzu leicht gering denkt von denen, die sich binden, sei es an Rücksichten oder an Vorurtheile. Ich habe mir's schon einmal nachgesagt, ich war besser, als mein Ruf. Aber weil ich die Menschen und ihre Hilfe, ihre Protection, ihren guten Willen entbehren konnte, glaubte ich auch, ihre gute Meinung entbehren zu können, und lachte dazu, wenn mich die Spießbürger, wie ich sie schalt, schwärzer sahen, als ich mir selber vorkam. Sie neiden mir meine Freiheit, sagte ich. Da ich sonst in Nichts von ihnen abhänge, soll ich mich wenigstens unter ihr Sittengericht beugen. Was wäre die Freiheit, wenn sie uns nicht vor Allem innerlich auf uns selbst und unser Gewissen stellte? Und so ging ich meinen Weg und ließ sie reden.

Aber jeder Menschenweg führt am Ende bei Menschenwohnungen vorbei, und wer hier und dort Einlaß begehrt, muß seine Schritte zügeln, daß sie ihn nicht in den Verdacht eines Landstreichers oder Trunkenen bringen. Denn solche läßt kein friedlicher Bürger über seine Schwelle. Ich will Ihnen keinen langen Roman zum Besten geben. Um es kurz zu sagen; ich lernte ein liebenswürdiges Mädchen kennen; es war vielleicht das erste Mal, daß ich eine wirkliche Freundschaft empfand und Freundschaft erfuhr. Das Fräulein war seit einigen Monaten verlobt mit einem jungen Offizier, dem ich früher wohl in lockerer Gesellschaft begegnet war. Augenblicklich war er abwesend auf einer Dienstreise. Ich bin mir bewußt, daß ich das Haus nicht mehr besucht haben würde, wenn ich etwas wie Leidenschaft für seine Braut in mir entdeckt hätte. So aber gab ich mich dem Reize dieses harmlosen, traulichen Umgangs ohne Bedenken hin, um so mehr, als auch ihr Bruder nichts dagegen einzuwenden hatte. Es war ein angesehenes, wohlhabendes Haus; kleine Feste, bei denen getanzt, Komödie gespielt, Bilder gestellt wurden, versammelten auch während der Abwesenheit des Verlobten viele jungen Leute dort, und die Braut nahm heiter an Allem Theil. Auf einmal aber bemerkte ich, daß der Bruder sich gegen mich zurückhaltend und kalt benahm. Ich war schon Willens, ihn um den Grund zu befragen, als er mir zuvorkam und mir in einem höflichen Briefe seinen bestimmten Wunsch aussprach, daß ich das Haus seiner Eltern nicht mehr besuchen möchte. Es kam natürlich zu weiteren Erklärungen, und ich erfuhr, daß der Verlobte es seiner Braut zur Pflicht gemacht habe, den Umgang mit mir abzubrechen, da ich »ein Mensch ohne Grundsätze« sei. Mancherlei kam dazu, unser Gespräch über diese üble Sache zu erhitzen, und obwohl ich den besten Willen hatte, meiner Freundin jeden Kummer zu sparen, die Dinge nahmen eine ernste Wendung. Die Conversation wurde unter zwei Pistolenläufen fortgesetzt; ich schoß in einen Baum; der Bruder, dem der Kopf mehr als mir brannte, streifte mir die linke Seite. Es war nicht der Rede werth. Aber die mühsam niedergehaltene Aufregung, der kalte Wintermorgen, an dem ich in meinem Wagen, nur nothdürftig verbunden, mehrere Stunden weit nach der Stadt zurückfuhr, der nagende Schmerz und Ingrimm, daß ein schönes, reines, menschliches Band so albern zerrissen worden, warfen mich darnieder. Ich stand von einem schweren Entzündungsfieber nur wieder auf, um als unheilbar hierher geschickt zu werden. Und nun begreifen Sie vielleicht, liebe Marie, weßhalb ich es nicht länger leicht nehmen kann, Sie so arglos neben mir hingehen zu sehen, neben einem »Menschen ohne Grundsätze«, der doch wenigstens den Einen allezeit festgehalten hat, nicht auf Kosten eines fremden Glücks das seinige zu suchen.

Ich wußte längst, was ich ihm darauf erwiedern mußte. Wenn Sie mir dies alles anvertraut haben, um meinen Sinn zu ändern, sagt' ich, so kennen Sie mich nicht. Es kann mich nur darin bestärken, daß ich Recht daran thue, auch Ihnen gegenüber von dem Rechte der Wahrheit Gebrauch zu machen, das Sterbenden vergönnt wird. Ich habe noch nichts Gutes im Leben erfahren, das ich mir nicht hätte erkämpfen müssen. Unser freundliches Begegnen ist mir wahrlich so viel werth, daß ich es mir, wenn es mir auch ungesucht zu Theil ward, nicht so leicht streitig machen lasse. Was wäre denn Freundschaft, wenn man nicht den Muth hätte, sie zu bekennen und zu vertheidigen, wenn sie angefochten wird? Wie klein und unwahr müßte ich mir und Ihnen erscheinen, änderte ich nur das Geringste in meinem Betragen gegen Sie, weil schlechte oder einfältige Menschen Ihnen Dinge nachsagen, die ich als Lügen erkenne? Auch ich hange von Niemand mehr ab, dem zu Liebe ich vielleicht, weil ich ein Mädchen bin, mein Leben gegen meine Ueberzeugung knechten lassen müßte. Wenn mein Vater einst erfährt, daß ich in meinen letzten Tagen eine gute und feste Freundschaft mit einem Fremden geschlossen habe, wird er von diesem Fremden nur Gutes denken, weil seine Tochter ihm vertraut hat. Also nichts mehr von diesen Bedenken, die Ihnen keine trübe Stunde hätten machen sollen, und wir bleiben, wie bisher, gute Kameraden, nicht wahr, lieber Freund?

Bis in den Tod! sagte er und faßte meine Hand in großer Bewegung. Es gelang mir bald, ihn wieder völlig heiter zu machen, und der schöne, reiche Tag wäre rein ausgeklungen, ohne einen wunderlichen Zwischenfall, der freilich nur mir zu denken gab.

Wir ritten schon früh wieder hinunter, da die Sonne so zeitig hinter die Berge tritt. Morrik war sehr aufgeräumt; er sprach alle Augenblick mit seinem Maulthier, ihm etwas mehr Sinn für die wundervolle Landschaft zutrauend, als das arme Geschöpf aufbringen konnte; er hielt an den Bauernhöfen und wechselte ein Wort mit Kindern und Müttern; einem zerlumpten, weißbärtigen Alten, der keuchend bergan uns entgegen kam, steckte er im Vorbeireiten einen Guldenzettel an den Hut und freute sich, was er wohl sagen möchte, wenn der nächste Bekannte ihn auf den seltsamen Zierrath aufmerksam machen würde. So kamen wir auf einem näheren Wege zu der Brücke hinab, und ich sah auf einer Bank einen jungen Polen sitzen, der mir schon von früher her bekannt war, nicht im angenehmsten Sinne des Wortes. Ein paar Mal war ich ihm allein begegnet und hatte dann gleich seine schwarzen Augen mit einem so unheimlichen Ausdruck mich anstarren sehen, daß ich immer eilte, an ihm vorbei zu kommen. Er ist offenbar einer der Kränksten, aber sein heftiges Gemüth scheint gegen den Druck seines Schicksals in beständiger Empörung, und dieser innere Kampf verzerrt sein anziehendes und schönes Gesicht. Auch die fremde Tracht, ganz schwarz, die Füße in hohen Stiefeln, die pelzbesetzte Mütze mit der schwarzweißen Feder, das alles macht ihn zu einer auffallenden Erscheinung, die mir schon manchmal in ängstlichen Träumen, immer drohend, aufgetaucht ist. Heute saß er ganz still und schien mich nicht zu gewahren. Morrik war vorauf geritten, da der Brückensteg zu schmal ist für zwei Reiter, und ich mußte dicht an der Bank vorbei, auf der der junge Pole wie im Schlaf hingelehnt saß. Plötzlich springt er auf, fällt meinem Thier in den Zügel, sieht mich ein paar Augenblicke durchdringend an, will etwas sagen, bricht aber in ein krampfhaftes Lachen aus, daß mein Thier scheut und einen Satz macht und mich um ein Haar über die Brüstung geschleudert hätte. – Ehe ich mich besinnen konnte, war er um die Ecke des Weges verschwunden. Der Führer fluchte in hellem Zorn ihm nach; ich hatte kaum Zeit, ihm Schweigen einzuschärfen, denn wir hatten Morrik schon eingeholt, dem ich um keinen Preis von dem räthselhaften Vorfall etwas sagen möchte, ehe ich weiß, ob es ein Wahnsinniger ist, oder sonst ein Geheimniß darunter verborgen liegt.

Ich habe zu viel geschrieben, alle Pulse fliegen mir; diese Nacht werd' ich für den Tag zu büßen haben. Gute Nacht!

 

Am 8. November. Regen und Scirocco.

Nun schon den zweiten Tag die böse Luft, in der kein Kranker sich hinauswagt. Es ist Schade. Ich hatte mich darauf gefreut, meinen neugewonnenen Freund über Manches zu fragen, was ich bisher, da wir uns noch nicht so herzlich die Hand gereicht hatten, zurückhielt. Nun muß ich mich gedulden. Seltsam, daß die Einsamkeit, die mir die wahre Lebensluft schien, sogleich wieder nur ein Nothbehelf wird, wenn man wirklich einem verstehenden und mitfühlenden Menschen nahe getreten ist. Ich muß mich mit Büchern und Musik behelfen. Jeden Morgen hat er seinen Diener geschickt, nach meinem Befinden zu fragen. Ihm ist der Ausritt gut bekommen. Ich fühle ihn heute noch in allen Gliedern. Ich will nun nach Hause schreiben und Vater von ihm erzählen. Ich weiß, daß es ihn freuen wird.

 

Am 11. November.

Nun scheint der südliche Winter sein mildes Regiment endlich angetreten zu haben, und die Leute versichern, es werde von Bestand sein. Ich habe schon gestern wieder von zehn Uhr an bis gegen Sonnenuntergang im Freien zugebracht, lange mit Morrik auf der Wassermauer, nicht immer im Gespräch, da auch er, wie ich ihn gebeten, ein Buch mitgebracht hatte, Gedichte eines Amerikaners, Edgar Allan Poe, die er mir mit Lächeln zeigte, als das getreueste Spiegelbild seiner eigenen Stimmung vor seiner »Wiedergeburt«, wie er es nennt. Ich habe sie mitgenommen und ihm dafür meines lieben Rückert »Weisheit des Brahmanen« geliehen, aus der man freilich nur mit den Fingerspitzen naschen kann; aber jede solche Priese – um das ungeschickte Bild todt zu hetzen – erfrischt den Kopf und leitet die unnützen Wallungen ab. Sie haben eine wahre geistige Hausapotheke mitgebracht, scherzte Morrik. Fahren Sie nur fort, mich in die Cur zu nehmen. Der desperate Amerikaner hat mich vollends verpfuscht.

Ueber unseren Ausflug nach Schönna werde viel geschwatzt, sagte er und sah mich an, ob es mir nicht doch vielleicht verdrießlich sei. Thun wir ihnen nicht den Gefallen, es zu merken, bat ich ihn. Und dann waren wir heiter und ließen uns die schöne Sonne nicht von den paar Mücken und Stechfliegen verfinstern.

Wir sind stillschweigend übereingekommen, nie von unserer Krankheit zu sprechen, womit sich die Leute hier trösten oder auch das Herz schwer machen, je nachdem dieses Herz kalt oder warm ist. Aber ich merke wohl, daß er nun die falsche Meinung gefaßt hat, es gehe mir besser, während ich deutlich das Gegentheil fühle, gerade an der Erleichterung, die bei unserer Krankheit einzutreten pflegt, wenn es zu Ende geht. Ich glaube freier zu athmen und bewege mich mit geringerem Aufwand von Willenskraft. Auch esse ich mehr und meine Nächte sind ruhiger, wahrscheinlich vor Erschöpfung, die wächst, obwohl ich die Illusion von Bewegung und Befreiung habe. Wie ich aber heute Nachmittag nach Hause ging – ich esse um Drei und war sehr hungrig – fühlte ich recht deutlich, wie es mit mir steht. Es ist Markt in Meran, einer der großen, herbstlichen Fleischmärkte, wo die Lauben in eine lange Reihe von Metzgerbuden verwandelt sind, in jedem Hofe geschlachtet, an jedem Nagel ein halbes Kalb oder Schwein aufgehängt und den Bauern feilgeboten wird, die in großen Schaaren aus dem Vintschgau, Passeier, dem Ultener Thal und den nächsten Gehöften und Einöden zusammenströmen. Andere Buden mit allerlei Waaren, Eisengeräthen, Tuchen, Heiligenbildern, unzähligen Siebensachen stehen auf dem Platz an der Pfarrkirche, und dazwischen schiebt und drängt und stößt sich das Volk, daß man höchstens seines Lebens, aber kaum seines Athems noch sicher ist, denn der Geruch aus den Fleischbänken mit dem schlechten Tabaksqualm vermischt – und sogar zehnjährige Buben habe ich schon mit der dampfenden kurzen Pfeife frei herumgehen sehen – liegt gegen Abend wie ein zäher Nebel über dem Markt, und die Brust muß sehr breit und gut gewölbt sein, die er nicht zusammendrücken soll.

Da ist mir fast ohnmächtig geworden. Auch rührte sich keiner dieser großen Bursche nur um einen Zoll breit vom Fleck. Ein Glück, daß sich mein Freund vom Küchelberg, Ignatius, mit seiner Liesi gerade, da die Noth am größten war, meiner annahm und mich durch die Mauern seiner Kameraden mit einigen derben Ellenbogen-Manövers hindurchführte bis an meine Wohnung. Er war wieder ein wenig vom Wein angeglüht und scheint besser ihn , als sich vor ihm zu hüten. Aber er kam mir doch wie ein rettender Engel, und ich vergab ihm gern allerlei lustige Fragen nach meinem »Bruder oder Schatz«, obwohl ich ihm nicht recht klar machen konnte, daß er weder das Eine, noch das Andere ist und mir doch sehr werth.

Die Wirthin bringt mir mein Vesper, so krankhaft ist mein Hunger geworden, daß ich ihn nicht bis zum Abend beschwichtigen kann. Das sind nun wohl die letzten Feigen dieses Jahres. Gottlob, daß Brod und Schinken nicht auch an die Jahreszeiten gebunden sind! Wenn ich unserem alten Doctor den Streich spielte, hier noch vor dem Frühlinge, und zwar Hungers zu sterben! – –

 

Am 19. November.

Kaum kann ich die Feder halten, so zittert mir die Aufregung dieser Stunde durch Leib und Seele nach. Wie voreilig war die Hoffnung, es werde nun so fortgehen bis ans Ende, wie in dieser sonnigen, friedlichen Woche, wo ein Tag dem anderen glich, Vormittags die leeren Stunden mit Morrik im Wintergarten, der Rest des Tages mit meinen Büchern, Briefen, Handarbeiten und dem Clavier, dessen Ton, wie mir's vorkommt, immer seelenvoller und weicher wird. Und nun das! Und noch dazu, daß ich's mit Niemand aussprechen darf, sondern vor Allen gegen meinen lieben Freund, gegen Morrik, mich stellen muß, als sei gar nichts vorgefallen!

Ist denn auch etwas vorgefallen? Hat mir's wirklich nicht blos geträumt, daß der arme Mensch – ich darf wohl sagen, der Wahnsinnige, obwohl er diesen Verdacht so ernsthaft bekämpfte – mit mir gesprochen hat, Worte, die ich nicht verstehe, mit Blicken, vor denen mir schaudert, wenn mir zuweilen ist, als sprächen sie deutlicher, als seine Worte? Ich hätte meiner Ahnung folgen sollen, die mich seit der Scene an der steinernen Brücke vor dem einsamen Weg am Küchelberg entlang so dringend warnte. Aber ich wußte, daß Morrik nicht auf der Wassermauer sein würde, und es war mir unlieb, dort ohne ihn zu sein, zumal auch Curmusik angesagt war. Es kam auch so in Gedanken, daß ich zum Vintschauer-Thor hinaus war, ich wußte nicht wie; da ist es so warm noch, wie bei uns im Sommer, und man schleppt sich behaglich von Bank zu Bank an den entblätterten Reben-Abhängen hin. Was ich dachte, weiß ich nicht, plötzlich war er wie aus dem Boden aufgetaucht an meiner Seite und faßte meine Hand. Der Schreck war zu heftig, als daß ich auch nur einen Laut hätte ausstoßen können; ich sah ihm aber fest ins Gesicht und sah, wie es auch ihm Mühe machte, die Lippen zu öffnen. Dann fing er an, erst in gebrochenem Deutsch, bald aber in einem heftigen, unaufhaltsamen Französisch sich wegen des Auftritts am Brückensteg zu entschuldigen; er sei einen Augenblick vor Schmerz und Eifersucht seiner Sinne unmächtig gewesen und hätte nachher sich willig die Hand, die den Zügel des Maulthiers gefaßt, abhauen lassen wollen, wenn mich das hätte versöhnen können. Noch immer, während er das sagte, konnte ich mich nicht von ihm befreien. Ich sah den Weg auf und ab – Niemand war zu erblicken. Das gab mir endlich allen Muth und Stolz zurück, ich konnte ihm die Hand entziehen und ihn fragen, was ihn berechtigte, diese Sprache gegen eine Unbekannte zu führen. Darauf schwieg er lange, es arbeitete gewaltsam in ihm, das Gesicht bebte in allen Nerven. Was er endlich sprach, habe ich vergessen, will ich vergessen. Ich hörte es auch mit an, als sei es gar nicht an mich gerichtet. Galt es denn auch mir, die er gar nicht kannte, mit der er nie ein Wort gewechselt hatte? Ist eine Leidenschaft, die sich nur an eine wie ein Schatten vorbeischleichende Gestalt heftet, an eine schon innerlich Abgeschiedene, die nur den Schein des Lebens an der Stirn trägt, ist sie mehr als eine Laune des Wahnsinns, und ist der Wahnsinn zurechnungsfähig für seine Worte? Nur daß er Drohungen gegen Morrik ausstieß, das machte mir den Irren gefährlich und mehr als bedauernswürdig. Ich weiß nicht, was ich ihm sagte; aber ich sah, daß es doch Eindruck auf ihn machte. Er nahm plötzlich die hohe schwarze Mütze mit dem Federbusch ab und stand fast demüthig vor mir. Vous avez raison, Madame, sagte er mit tiefem Wohlklang in der Stimme, nachdem sie vorher heiser und scharf geklungen hatte. Pardonnez-moi, j'ai perdu la tête. Dann verneigte er sich tief vor mir und ging querfeldein in die Niederung, wo ich seine dunkle Gestalt noch lange zwischen den Weidenbäumen verfolgen konnte.

Da ich es nun hingeschrieben habe, ist mir, als sähe ich es mit klareren Augen an, und das Mitleiden gewinnt die Oberhand über die Entrüstung. Ist es aber möglich, daß ein Sterbender eine Sterbende mit anderen Gefühlen ansieht, als mit denen einer gemeinsamen, heiteren oder trüben Resignation?

Ich habe mich im Spiegel gesehen und es noch weniger verstanden.

Und auch das wird mir immer ein Räthsel bleiben, wie ein solcher Auftritt möglich ist zwischen zwei Naturen, von denen die eine nicht den leisesten Zug zu der andern spürt, während die andere sich ihr ungestüm zu nähern sucht. Ich weiß wohl, nicht nur das Verwandte zieht sich an, sondern auch die Gegensätze. Aber kann die einfache Gleichgültigkeit überhaupt eine Macht ausüben?

Je länger ich mich darein vertiefe, je klarer wird mir's, daß sein Geist gestört ist. Nun werde ich doch mit Morrik darüber reden müssen; denn wer weiß, was für Scenen ich mich aussetze, wenn ich zum zweiten Mal schutzlos diesem Irren in den Weg komme und der Schreck mir die Besonnenheit lähmt, ihn zu bändigen.

 

Einige Tage später.

Es ist mir erspart worden, dem Freunde diese unangenehmen Vorfälle mitzutheilen, die ihn jedenfalls aufgeregt hätten, da er ohnehin in jüngster Zeit weniger heiter ist und oft wie abwesend neben mir hingeht. Der Arme, den ich fürchtete, wird nun nicht mehr meine Wege kreuzen. Seinen umflorten Sinn umgiebt nun schon die himmlische Klarheit. Heute früh, als die Wirthin zu mir hereintrat, erzählte sie mir, daß ein junger Pole in der Nacht gestorben sei; die Beschreibung, die sie von seiner Person machte, paßt Zug für Zug auf meinen armen Wahnwitzigen. Ein Blutsturz hat ihn hingerafft, so fanden sie ihn Morgens in seinem Bett.

Ich machte mir nun Vorwürfe, daß ich doch vielleicht zu hart zu ihm gesprochen habe. Aber ich hatte keine Waffe, als das Wort; wenn es zweischneidig war und ihn tiefer verwundete, als zur Abwehr nöthig gewesen wäre, so mag mir wohl die Bestürzung des Augenblicks zur Entschuldigung dienen und daß ich seinen Zustand mir nicht sogleich klar zu machen wußte.

 

Abends.

Müde, aufgeregt, mit mir selbst im Streit. Als ich Morrik heute wiedersah, that es mir besonders wohl, nach diesen peinlichen Tagen meinen lieben Freund wieder zu begrüßen. Er erzählte mir, ohne Gewicht darauf zu legen – denn man ist hier daran gewöhnt, ein bekanntes Gesicht plötzlich verschwinden zu sehen – von dem jüngsten Todesfall und fragte, ob ich mich der feinen melancholischen Gestalt erinnerte. Ich sagte: Nein, und gleich darauf wurde mir das Herz so schwer, als hätte ich das schlimmste Verbrechen begangen. Nun kann ich mir hundert Mal vorhalten, daß ich mit dieser Lüge ein weiteres Gespräch und vielleicht die Nothwendigkeit anderer Lügen habe abschneiden wollen: – es läßt mich nicht los, das unheimliche Gefühl, mich gegen den Freund vergangen zu haben, der ein Recht hatte auf die volle Wahrheit. Ich werde nun wieder eine schlechte Nacht haben und nicht eher ruhig sein, als bis ich ihm offen Alles eingestanden und ihn um Verzeihung gebeten habe.

 

Am anderen Tage. Ich glaube, es ist der 23.
Kalter Nebel.

Ich soll hart bestraft werden. Er hat nicht ausgehn können wegen der strengeren Luft. Nun muß ich mich bis morgen gedulden, wer weiß, bis übermorgen. Ich fühle mich recht gedrückt und armselig; es ist mir schon zu sehr Bedürfniß geworden, keinen Hauch von Unwahrheit und Mißverstehen in diesem Verhältniß zu dulden.

Edgar Allan Poe mit seiner krankhaften Unzufriedenheit, seinen bitteren und trostlosen Sarkasmen sagt mir jetzt wahrhaftig zu. Es giebt Stimmungen, in denen uns Weisheit so sehr widersteht, wie einem Fiebernden eine Schüssel süßer Milch. Nur freilich …hellip;

 

Zwei Stunden nachher.

Ist denn Ruhe und Seelenfrieden hier auf der kreisenden Erde nur ein leeres Wort? Kann sie nicht einmal der bewahren, der sie in sich selbst erobert hat? Ich fange an zu glauben, daß ich vor Stürmen und Schicksalen, die mir diese letzten Athemzüge verstören, nicht einmal in einem verschlossenen und vermauerten Thurme sicher wäre, auch wenn mir ein Rabe das Essen zum Gitterfenster hereintrüge. Und ginge es nicht anders, so würde ein Erdbeben meinen Versteck unterwühlen, die Mauern spalten und mich wieder hinaus ins Leben werfen, unter fremde Menschen, deren Neigung mich zu ängstigen anfinge, wenn ich eben damit fertig geworden wäre, mir aus ihrer Abneigung nicht das Geringste mehr zu machen.

Ein Besuch hat mich heut Morgen unterbrochen, der Letzte von allen Meranern, auf den ich gerathen hätte, daß er je bei mir eintreten würde, kein Geringerer, als der Herr Bürgermeister der Stadt. Er kam, um mich nicht durch eine feierliche Vorladung zu erschrecken, und eröffnete mir, daß ihm ein Brief für mich anvertraut sei und das Testament Dessen, der den Brief geschrieben und der mich zu seiner Erbin eingesetzt habe. Ich sah ihn rathlos an. Der Gedanke an den Vater konnte mir nicht nahe treten. Geschähe das Furchtbare, daß ich ihn noch zu beweinen hätte, so wäre mir doch der Kummer erspart, ihn zu beerben. Wer aber in aller Welt – ? Ich warf einen Blick auf den Brief, den der Herr Bürgermeister mit einigem Zögern auf den Tisch legte, und sah eine ganz fremde Hand. Ich kenne die Handschrift nicht, sagte ich verwundert, während mir doch, weil die Aufschrift französisch war, eine wunderliche Furcht aufstieg. Mein Erstaunen schien ihn zu beruhigen. Er hatte wohl ein intimeres Verhältniß zwischen dem Schreiber und mir vorausgesetzt und sich auf eine peinliche Scene gefaßt gemacht. Wollen sie den Brief jetzt oder später lesen? fragte er. Ich öffnete ihn sogleich und las mit Herzklopfen, aber ohne meine Bewegung zu verrathen , wie ich wenigstens glaube. Der Brief führte eine Sprache, die ich schon einmal mit Entsetzen von mir gewiesen, kaum besänftigt von der Nähe des Todes, die der Unglückliche sich nicht verleugnen konnte. Vieles habe ich noch jetzt nicht entziffert. Die undeutliche französische Hand zittert in jedem Zuge von krankhafter Erregung. Uebrigens kein Wort von dem Vermächtniß, nur Trostlosigkeit, Anklagen gegen das Geschick, das das Netz dieser Leidenschaft zerreiße, statt es zu lösen, wirre, taumelnde Worte und Bilder, hingeschrieben, nur um einem gepreßten Herzen Luft zu machen – und ein anderes zu bedrücken.

Als ich die Blätter aus der Hand legte, wandte sich der freundliche Herr wieder zu mir und erwartete offenbar eine Erklärung, die ich ihm freilich schuldig bleiben mußte. Als ich ihm bekannte, daß mir das alles nicht minder überraschend sei, als ihm, ließ er mir eine Abschrift des Testaments, um meinen Entschluß reiflicher zu bedenken. Denn wenn ich auch majorenn wäre und den Willen meines Vaters nicht zu Rathe zu ziehen hätte – einen so ansehnlichen Besitz in der ersten Aufregung der Ueberraschung auszuschlagen, müsse er mir aufs Ernstlichste widerrathen . In einigen Tagen werde er wieder anfragen.

Ich will ausgehen; es ist mir, als könnte ich mit diesen Blättern nicht länger in Einem Zimmer bleiben, als theilten sie der Luft die Fieberschwüle mit, aus der sie stammen. Auch brauche ich sie nicht zum zweiten Mal zu lesen, um ins Reine zu kommen. Ich oder die Armen von Meran, – kann noch ein Zweifel sein, wer den Anderen überleben und es nöthiger brauchen wird?

 

Nachmittags. 4 Uhr.

Es steht ein Unstern über diesem Tage; wär' er doch erst vorbei! Wer weiß, was der Abend noch bringt!

Ich bin ausgegangen in der sehr thörichten Hoffnung, doch vielleicht Morrik zu begegnen. Statt seiner fand ich die wohlbekannten fremden Gesichter im Wintergarten, über die ich sonst schon hinwegsehen gelernt habe, heute aber mich ganz von Frischem kränken sollte. Ich sah, daß man die Köpfe zusammensteckte und flüsterte, wo ich mich blicken ließ. Auf einer Bank saß die junge Läster-Chronistin, die ich längst zu grüßen aufgegeben habe, da sie den Kopf aufwirft, wenn ich mich ihr nähere. Der Platz neben ihr war der einzige leere. Als ich ihn aber kaum eingenommen hatte, stand sie brüsk auf, ging nach einer anderen Bank und bat zwei Damen, noch ein wenig zusammenzurücken. Mir stieg das Blut ins Gesicht; aber ich hielt aus. Endlich rauschte die »Lebensretterin«, die nun schon Wochen lang kein Wort an mich verschwendet, in die Laube. Aber das Herz war ihr heute zu voll, sie trat an mich heran und sagte so laut, daß es Alle hören konnten: Nun, meine Liebe, man darf Ihnen ja gratuliren, Sie haben eine so große Erbschaft gemacht von dem jungen Polen; der arme Mensch! Sie sollen ihn freilich sehr streng behandelt und immer in angemessener Entfernung gehalten haben. Kein Wunder, wenn es da rasch mit ihm zu Ende ging. Nun ist es wirklich rührend, daß er noch über den Tod hinaus Ihnen sein gebrochenes Herz zu Füßen gelegt hat.

Sie sind im Irrthum, sagte ich. Ich habe das Vermächtniß nicht angenommen, das nur durch das Versehen einer verstörten Phantasie an meine Adresse gerichtet ist. Aber wäre es auch die klare Absicht des Verstorbenen gewesen, mich zu seiner Erbin einzusetzen, mit der Güte wie mit der Bosheit fremder Menschen weiß ich gleich wenig anzufangen und pflege Beidem den Rücken zu wenden.

Somit sah ich ruhig in mein Buch. Es war so still in der Laube, daß ich das heftige und rasche Athmen der dicken Frau ohne Nerven und des kleinen Fräuleins, das mich haßt, deutlich hören konnte. Ich nahm nicht weiter Notiz von dem, was ferner noch gezischelt und getuschelt wurde. Nur den Namen Morrik unterschied ich ein paar Mal, er wurde offenbar absichtlich lauter betont. Auch das konnte mich nicht kümmern.

Aber als ich dann nach Hause ging, von der weichen Nebelluft durchschauert, sonnenlos in mir und um mich, hätte ich am liebsten mich recht herzhaft ausgeweint. Ich bin so gelähmt, daß nicht einmal die Thränen fließen wollen, Alles stockt in mir, Leben, Lust und Leid!

 

Am 25. November.

Und nun noch Das! Das aber ist das Letzte, dieser Schlag ging dem kranken Baum tief an die Wurzel, es braucht jetzt keinen Sturm mehr, ihn umzureißen, eine Kinderhand kann ihn zum Fall bringen.

Daß mir der Schmerz von der Seite kommen mußte, wo ich mich am sichersten glaubte! Daß ich gerade da, wo ich mir das Herz zu erleichtern hoffte, ein so viel schwereres von dannen trug!

Ich habe ihn endlich heute auf der Wassermauer getroffen, die Sonne war so golden wie je, ich selbst wieder aufgelebt und dachte vollends ruhig und frei zu werden durch das Gespräch, das ich schon so lange ersehnt hatte. Auch täuschte ich mich darin nicht, daß ich es ihm leicht klar machen konnte, wie Alles so gekommen; er lächelte, als ich ihm meinen Kummer sagte über jene Lüge. Er nahm meine Hand und gab sie nicht wieder frei, ehe er einen Kuß darauf gedrückt hatte, was mich seltsam berührte. Auch ihm hatte man von dem Testament des jungen Polen erzählt; er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß ich es ausschlagen würde. Und so schien Alles vortrefflich im Reinen und ich blickte dankbar nach oben, daß die schöne Sonne Alles so freundlich gelichtet und geschlichtet habe.

Wie kam es denn, daß wir doch wieder zu dem unseligen Thema zurückkehrten? Ach, ich allein hatte wohl die Schuld. Ich wollte ihn recht überzeugen, wie fern und fremd mir der arme Wahnsinnige geblieben war. Darum fing ich wieder davon an, wie mich jene Begegnung noch nachträglich mit Schauern übergieße, so oft ich ihrer gedenke, wie unverantwortlich es sei, Menschen, die so sichtbar verstört und unzurechnungsfähig seien, frei umhergehen zu lassen. Da sah er so vor sich hin und sagte: Sie irren gewaltig, liebe Marie; er war so wenig geisteskrank, wie ich, der ich hier neben Ihnen sitze und Ihnen hoffentlich noch keine Furcht mache. Und darin hat er sogar etwas vor mir voraus, daß er's schon vom Herzen hat, was mir das meinige noch schwer macht.

Ich verstehe Sie nicht, sagte ich, und verstand ihn wahrhaftig nicht.

So wird es besser sein, ich schweige davon, sagte er darauf. Wozu sollt' es auch führen?

Nach einer Weile: Nein, ich sehe nicht ein, was dabei herauskommt, wenn ich schweige. Höchstens denken Sie dann etwas Schlimmeres. Und ist es denn wirklich so verabscheuungswerth, wie Sie es zu finden scheinen, wenn man zwei Schritte vom Grabe noch einmal ins Leben zurücksieht und da noch ein schönes Glück erblickt, das Einem das Leben liebens- und lebenswürdig machen könnte, wär' es nur nicht eben zu spät? Wenn man dann fast von Sinnen kommt vor Jammer, Sehnsucht und Grimm gegen das Schicksal? Wenn man das Versagte wenigstens sterbend noch einmal ans Herz drücken und das Leben an seinen Lippen aushauchen möchte? So ist es jenem armen Jungen ergangen, der nun schon schläft, und so –

Er stockte und sah mich an. Es war gerade kein Mensch unter den Pappeln; er faßte wieder meine Hand. Sie zittern – auch vor mir! sagte er. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.

Ich war keines Wortes mächtig. Ich fühlte nur, das letzte schöne Glück war mir zerstört, das harmlose Vertrauen, der warme, heitere Verkehr, an den ich mich nur zu sehr gewöhnt hatte. Ich war wieder allein, ich mußte es sein, wenn ich mir nicht Vorwürfe machen sollte zu allem, was ich schon unverschuldet litt.

Ich will nach Hause gehen, sagte ich; es ist mir nicht wohl. Bleiben Sie hier und genießen Sie noch den Sonnenschein, der mir heute den Kopf einnimmt. Ich schreibe Ihnen heut Nachmittag ein paar Zeilen, ob mir inzwischen besser geworden.

Damit stand ich auf, gab ihm eine letzte Hand, bat ihn mit einem Blicke, daß er nichts mehr sagen möchte, und verließ ihn. Das war das Letzte!

Ich will nun sehen, ob ich meine Gedanken so weit sammeln kann, an ihn zu schreiben.

 

Abends.

Da ist der Brief. Ich lege den Entwurf zwischen diese Blätter. Mir ist jetzt leichter, da es überstanden ist, physisch leichter; aber der innere Druck auf der Seele ist noch derselbe.

 

»Meran, den 25. November.«

»Lieber Freund!

»Lassen Sie mich schon heute Ihnen Lebewohl sagen für dieses Leben, und auf Wiedersehen für ein anderes, auf das wir hoffen. Es wird uns leichter werden, jetzt von einander Abschied zu nehmen, wo wir Beide noch den Eindruck unseres reinen, freundschaftlichen Einverständnisses bewahren, als wenn wir erkannt hätten, daß wir uns in wichtigen Dingen nicht verstehen. Das aber muß ich fürchten, da die letzten Worte, die Sie heute zu mir sprachen, noch jetzt mich so betrüben und niederschlagen, wie ich es nie vorher einem Wort meines lieben Freundes zugetraut hätte.

»Ich gäbe viel darum, wenn es zwischen uns beim Alten geblieben wäre; ich war glücklich dabei und hoffte, daß es auch Ihnen wohl thue. Wenn es aber nicht sein sollte, daß wir bis zuletzt als gute Kameraden ruhig neben einander ausharrten, so muß ich es Ihnen freilich danken, daß sie gesprochen haben. Ich hoffe nun doch, durch unseren frühen und gefaßten Abschied, wenn er Ihnen auch einen Augenblick weh thut, Ihre Stimmung zu mildern, Ihnen die Klarheit wiederzugeben, mit der wir Beide noch vor Kurzem zurück und vorwärts blickten.

»Es wird nicht ganz zu vermeiden sein, daß wir uns noch hier und da begegnen. Lassen Sie uns mit einem Gruß an einander vorübergehen, als wären wir schon drüben. Ich brauche es nicht zu sagen, daß ich Ihnen meine Freundschaft bewahren werde, hier wie dort. Aber ich bitte, daß Sie mir die Ihrige retten möchten, die einen Augenblick durch dunklere Mächte gefährdet schien.

»Leben Sie wohl, mein theurer Freund, und wenn Sie mir zeigen wollen, daß Sie diese Zeilen so verstehen, wie sie mir aus dem Herzen kommen, so antworten Sie mir nicht.

»Marie.«

——————

 

Am letzten November.

Ich sehne mich nach Schnee und Eis, nach der stillen, grauen Winterluft meiner Heimath. Diese Sonne, die nun Tag für Tag über dem klaren Novemberhimmel hinzieht, thut mir an den Augen und am Herzen weh. Heute früh wachte ich mit einem frohen Schrecken auf; es war über Nacht ein weicher Schnee gefallen und lag noch unberührt auf den Dächern und Wegen. Jetzt ist er bis auf wenige Spuren weggeschmolzen, und die Leute gehen in leichten Mäntelchen trockenen Fußes unter den kahlen Pappeln spazieren.

Der Vater hat gestern geschrieben und meinen Entschluß wegen des Vermächtnisses gebilligt. Ich hab' es sogleich dem Bürgermeister angezeigt und heute schon im Namen der Armenverwaltung ein Dankschreiben erhalten, das ich gern entbehrt hätte. Gottlob, die Sache ist nun völlig abgethan!

Ich schreibe jetzt so selten, weil ein Tag dem andern gleicht, wie die Blätter desselben Baumes im Spätherbste. Alle sind gelb, nur fällt eins früher zu Boden, als das andere.

 

Am 1. December, Nachts.

Ein Schützenfest hat das stille Meran von früh an lebendig gemacht. Ich wurde durch die Musik geweckt, mit der die Schützen vom Sandplatze vor der Post nach dem Schießhause zogen, unter meinen Fenstern vorbei. Dann über Tag das Büchsenknallen, das mich sehr aufregte, und das Schreien und Jauchzen der Bauern, die verspätet und schon ziemlich vom Wein erhitzt an der Schießstätte eintrafen. Dann war Abends ein Feuerwerk drüben am linken Ufer der Passer und es war schön anzusehen, wie beim Schein einiger Pechpfannen, die längs der Wassermauer aufgepflanzt sind, die ganze Bevölkerung der Stadt und die Fremden auf und ab strömten und den schönen Abend genossen. Hernach machte sich ein heftiger Scirocco auf, trieb die Raketen wild übers Wasser hin, schürte die Pechflammen und scheuchte, da auch ein Regen sich dazu gesellte, die Zuschauer in ihre Häuser zurück. Ich sah Alles hinter dem geschlossenen Fenster mit an und stand so in meinen Gedanken, bis die letzten Funken zerstoben waren und eine dichte, sternlose Finsterniß das ganze Land überzogen hatte.

Wie lange ist's her, daß ich mit Niemand, außer mit meinen Wirthsleuten, ein Wort gesprochen habe? Mein Verlangen, daß sich mein Mund für immer schließen möchte, wächst von Tag zu Tag. Jetzt noch eine Stunde so heiteren, traulichen Gesprächs, wie ich es früher mit Morrik hatte, und dann gleich einschlafen und den langen Traum anspinnen ins Ewige hinüber! Aber ich muß aushalten, bis es Zeit sein wird.

 

Am 4. December.

Und wenn es Zeit sein wird, ob ich dann wohl dem Wunsch widerstehen werde, ihn noch einmal zu sehen und trotz meines Vorsatzes noch einmal Auge in Auge Abschied zu nehmen? Ich meine, es müßte ihm selber wohlthun, wie er auch über mein jähes Abbrechen denken mag. Manchmal ängstigt mich auch der Gedanke, er könnte es dennoch mißverstanden haben, glauben, es sei der Leute wegen, daß ich mich zurückgezogen habe. Ich möchte es ihm doch noch einmal sagen, daß ich es nur seinetwegen gethan, seines – und freilich auch meines Friedens wegen.

Wie es ihm jetzt gehen mag? Ob er ausgehen kann, und wer ihm die lange Einsamkeit eines solchen Tages erträglich macht?

Ich dank' es ihm wahrlich, daß er meine Bitte erfüllt und nicht wieder geschrieben hat. Aber es fehlt mir sehr, daß ich nun so hinlebe, ohne einmal einen Blick hinüberthun zu können, wie er aussieht, traurig oder heiter, wie er seine Leiden trägt, was er liest, was er denkt. Auch das wollte ich ihm von der Stirne ablesen. Seine Stirn ist so durchsichtig.

Gestern bin ich seinem Bedienten begegnet; der treue Mensch grüßte mich; ich hätte ihn so gern angehalten und befragt. Doch ist es besser so.

 

Am 11.

Gang nach der Zenoburg, Morgens um Neun, der alte, liebe Weg, nicht mit dem alten Herzen. Als ich bei der Pension vorbeikam, trat er eben aus der Thür, sah mich und stand still, wie eine Bildsäule, um mich vorüberzulassen. Ich wagte nicht, zu ihm hinzusehen, aber der erste rasche Blick hatte mir gezeigt, daß er sehr ernst und noch bleicher geworden ist, fast wie in der ersten Zeit, wo er so verzweifelt herumging. Er grüßte mich nicht, hielt sich im Schatten der Thür, als fürchte er, mich zu erschrecken, und so ging ich nicht gar fern an ihm vorbei, und sah auf die Steine.

Der Berg kam mir steiler vor, als das erste Mal; ich bin auch wohl schwächer geworden – und damals war ich noch heiter.

Was ist denn geschehen, daß ich es mit aller Anstrengung und Selbstbezwingung nicht werden kann? Es ist nicht blos das Mitleiden mit ihm und die Entbehrung eines täglichen Gesprächs, das mir Bedürfniß geworden war – es ist fast wie eine Schuld, wie eine verletzte Pflicht.

Und doch – wie hätte ich anders handeln können? Darf man mit einer Lebenshoffnung im Angesicht des Todes sein Spiel treiben? – –

 

Am 16. Abends.

Ein mühsamer, aber fröhlicher Tag liegt hinter mir. Ich habe die kleine Weihnachtskiste gepackt, die ich nach Hause schicken will. Wie alle die Sächelchen beisammen lagen, die ich für Vater, Ernst und die Mutter gearbeitet, und die hübschen Holzschnitzereien, die Bilder von Meran und die kleine Saltnerfigur, die ich so getreu, als es zu machen war, für meinen Ernst herausstaffirt habe, hatte ich eine Freude wie ein rechtes Kind an meiner eigenen Bescheerung. Und dann das Einpacken, und wie es nicht voll wurde, noch hineingestopft, was mir unter die Hände kam, ein paar Granatäpfel, ein Schächtelchen mit Feigen, eins mit Kastanien und einen von den süßen Weihnachtskuchen aus lauter Rosinen und Honig – das Kistchen weiß wenigstens von Meran zu erzählen.

Dann trug es mir der Lehrbursche meines Wirthes nach der Post, und ich ging zum ersten Mal wieder nach der Wassermauer, wo Alles in alter Weise herumsaß; nur die Fußsäcke waren etwas zahlreicher geworden. Morrik kam bald nach mir, und dieses Mal wechselten wir einen Gruß, wie verabredet war, und er sah mich freundlich und still an, wohl um aus meinem Aussehen zu erfahren, ob ich mich wohl fühle. Ich war sehr erhitzt von meinen kleinen Geschäften. Zu Hause hab' ich dann wohl im Spiegel gesehen, daß es nur das Roth der Aufregung war; vielleicht auch der Freude.

Nun wir uns wieder so unbefangen begegnet sind, mein' ich, daß es mir auch in Zukunft leichter werden wird. Ich brauche nur zu denken, ich hätte nie ein Wort mit ihm gewechselt, sondern nur eine Geschichte gelesen, die mich sehr für einen Menschen eingenommen hätte, und nun schiene zufällig das Gesicht dieses Fremden wie eine Illustration, ein Titelbild zu jener Geschichte, und ich sähe es darum mit größerer Theilnahme an.

Wir haben aber nicht wieder beisammen gesessen; ich ging nur ein paar Mal auf und ab mit einer Dame, die freundlich zu mir war, sich erkundigte, warum ich so lange nicht ausgegangen sei, und mir viel von ihren Kindern erzählte, von denen man sie getrennt hat, damit sie volle Ruhe genieße. Es schoß ihr dabei feucht in die Augen. – Getrennt werden vom Liebsten, um Ruhe zu genießen – was die weisen Herren Leibärzte für thörichte Seelsorger sind!

 

Am heiligen Abend.

Was soll ich davon denken? Vor einer Stunde wird mir ein Weihnachtsbaum, aufs Schönste geschmückt mit Orangen, Granatäpfeln, Zuckerfrüchten und einer Menge Kerzen, ins Zimmer gebracht, so groß, daß ich ihn auf dem Fußboden stehen lassen mußte, da er auch so noch bis an die Decke reicht. Eine fremde Magd habe ihn gebracht, sagte meine Wirthin, für mich; mit keinem Wort habe sie verrathen wollen, woher er komme. Nun habe ich denn wohl die Lichter anzünden müssen und schreibe jetzt bei ihrem Schein, nachdem ich vorher den Kindern dabei bescheert habe, die hier zu Lande von keinem Christbaum wissen. Jetzt, da ich wieder allein bin, zergrüble ich mich, wer den Baum wohl geschickt haben mag. Die freundliche Dame, der jetzt auch wohl bange sein mag nach Tannenzweigen und Weihnachtsjubel? Aber sie hätte doch wohl ein Wort geschrieben; auch kennen wir uns gar zu wenig. Noch manch andere freundliche Menschengesichter gehen täglich an mir vorüber, ich muß mich wohl anklagen, daß ich in der Aufregung der ersten Zeit den Leuten Unrecht gethan habe. Mit Einigen gewiß hätte ich herzlich verkehren können, wäre die Sehnsucht allein zu bleiben nicht so heftig, so abstoßend gewesen. Nun mag Niemand mehr das erste Wort an mich wenden. Wer aber soll darauf kommen, mir eine Weihnachtsfreude zu stiften?

Und wenn es von ihm käme, wär' es dann nicht ein Vertragsbruch? Wer nicht mehr sprechen will und darf, darf der den Andern beschenken? Es ist leichter, stumm zu geben, als stumm zu nehmen. Und wie soll man danken, wenn man sich schon Lebewohl gesagt hat?

Es macht mich immer unruhiger, als sei das Alles nicht, wie es sein sollte, als sei ein künstliches, unklares Wesen dabei, das nicht gut thue und sich noch irgendwie an uns rächen werde.

Da kommen noch so spät Briefe von meinen Theuren. Ich muß erst die Lichter auslöschen und meine kleine Lampe anzünden. Die Zweige glimmen und knistern schon hier und da. – –

Das letzte Fünkchen ist erloschen – an meinem letzten Christbaum. Draußen läuten die Glocken. Ich schreibe diese Zeilen im hellen Mondschein, der mir Gesellschaft leistet, da in der Lampe das Oel versiegt ist. In mir klingt ein Vers, den ich heute früh gelesen habe:

Und eine Hand im Schatten gleitet
Herüber aus dem Geisterland
Und kühlt die Brust, in der es streitet.

 

Am 28. December.

Welch ein Wiedersehen! Welch ein trauriges Begegnen der Augen und Hände! Hatte ich nicht Recht, daß es sich früher oder später an uns rächen würde?

Mir war ein Concert-Programm ins Haus getragen worden, ein Citherspieler wollte sich heute Nachmittag im Saale der Post hören lassen. Ich zürne jetzt nicht mehr so wie sonst einer Störung, die mich meinen Gedanken entreißt. Also ging ich hin, da ich die Cither liebe und gern einmal einen Meister darauf hören wollte. Ich kam, als das erste Stück schon begonnen hatte und nur noch drei Stühle ganz vorn unbesetzt waren, die man wohl für besonders vornehme Gäste aufgehoben hatte. Nun mußte ich mich schon darein finden, einen dieser Ehrenplätze einzunehmen, und that es auch nicht ungern, weil ich die Hände des Spielers desto besser beobachten konnte, auch der Ton nicht eben stark war. Im Saal entstand eine drückende Luft, der Ofen, die vielen Menschen, die niedrige Decke. Alles war mir beklemmend; doch gewöhnte ich mich bald daran und hörte nun mit Entzücken dem seelenvollen Spiele zu. Plötzlich öffnet sich leise die Thür und Morrik tritt in den Saal, stutzt einen Moment, da er ihn ganz gefüllt sieht, mag aber doch nicht wieder umkehren, um so weniger, da ihm einer der Herren zunächst der Thüre die leeren Plätze neben mir zeigt, und geht sachte durch die Reihen durch bis zu mir, wo er sich mit einer leichten Verbeugung niederließ.

Mir stand der Athem still; ich fürchtete immer, er möchte das Zittern, das mich befiel, an seinem Sessel empfinden, dessen Armlehne dicht an die meinige stieß. Aber er schien gefaßter, als ich, und aufmerksamer der Musik zu folgen, daß ich nach und nach meiner Bewegung wieder Meister wurde und nun in einer unbeschreiblich süßen Träumerei zuhörte, als wären die Töne ein gemeinsames, überirdisches Element, in welchem unser Beider Gedanken und Gefühle auf- und untergingen, ein in Eins aufgelöstes, harmonisch zusammenklingendes Zwiegespräch unserer Seelen, von uns abgelöst und doch uns wieder verbindend, eine Verständigung über alles, was uns an einander befremdet, getrennt und gequält hatte. Ich kann nicht sagen, wie sehr dieser halb visionäre Zustand mir wohlthat. Ich glaubte, die bestimmte Empfindung davon zu haben, daß in ihm etwas Aehnliches vorging. Wir sahen Beide auf die Cither, und es war doch, als wäre es nur ein einziger langer Blick Auge in Auge.

Auch das Klatschen und Bravorufen weckte mich kaum aus dieser innerlichen Verzückung. Zudem dauerten die Pausen zwischen den einzelnen Stücken nur wenige Minuten. Jetzt aber legte der Spieler die Cither fort und holte ein seltsames Instrument hervor, das er »die himmlische Kikiliri« nannte und mit einigen Worten erklärte, daß es in Tirol heimisch und von schlichten Bauern verfertigt sei. Es ist eine Art Holz-Harmonika aus schmalen, geglätteten Tasten von sehr hartem Holz zusammengefügt, die auf einer Strohunterlage ruhen und durch ihre verschiedene Länge, von einer bis zu zwei Spannen herabsteigend, die Stufen der Tonleiter bilden. Der Ton selbst aber, den das harte und rasche Aufschlagen mit zwei Hämmern hervorbringt, ist scharf und gellend, daß man nicht leicht die Cither mit einem Instrument ablösen könnte, zu dem sie in stärkerem Gegensatz stünde. Meine gehobene Stimmung wurde gewaltsam zerschmettert und zerrissen, jeder Ton drang mir wie eine Beleidigung, eine Mißhandlung in die Seele, und ich wäre gern aufgestanden, wenn ich nicht gefürchtet hätte, den Spieler zu kränken. Auch zitterte ich für Morrik, dessen Empfindlichkeit für jeden Lärm ich kannte. Ich wagte ihn flüchtig anzusehen. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf gegen die rechte Hand gestützt, als wollte er so viel als möglich sich gegen den heftigen Ueberfall verschließen. Auf einmal aber sah ich, daß sich seine Lippen vollends verfärbten, die Augen sich ohne Blick halb öffneten und das Haupt zurücksank gegen die Lehne des Sessels.

Auch Andere unter den Zuhörern bemerkten es, aber Niemand rührte sich, dem Ohnmächtigen beizuspringen. Ich glaubte an gewissen spöttischen Mundwinkeln zu sehen, daß man dieses Amt mit rechter Schadenfreude mir überließ. Diese Armseligkeit gab mir alle Fassung zurück. Ich stand auf, bat den Spieler inne zu halten, da dem Herrn unwohl geworden sei, benetzte Morrik's Stirn und Schläfe mit der Eau de Cologne, die ich immer bei mir trage, und ließ ihn den belebenden Geruch einathmen. Während dessen war ein Theil der Gesellschaft aufgestanden, aber Keiner verließ seinen Patz; es war nur, um das Schauspiel besser zu beobachten. Nur der Citherspieler trat heran und half mir, da Morrik endlich wieder zu sich kam, ihn vollends aufzurichten und die kurze Strecke bis an die Thür des Saales zu führen. Sobald wir draußen waren, wo die reine Decemberluft ihn anwehte, kehrte ihm rasch die Besinnung zurück, er sah mich fragend an, begriff aber sogleich, was vorgegangen war, und stützte sich leicht auf meinen Arm, als ich ihn die Treppe hinunter begleitete. Ich danke Ihnen, sagte er. Das war alles, was er sprach. Und so gingen wir, da sein Diener nicht unten zu finden war, noch eine Strecke weit zusammen, die Straße hinauf, die man »die kleinen Lauben« nennt, bis wir an der Kirche waren und sein Haus sehen konnten. Ist Ihnen wieder wohl? fragte ich. Er nickte mit dem Kopf und machte eine Bewegung, daß er nun allein gehen wolle. Aber ehe wir schieden, drückte er mir noch einmal die Hand, suchte einen Seufzer zu verbergen und wandte sich stillschweigend ab, um nach Hause zu gehen. Ich sah mich um, bis er die Thür erreicht hatte. Er ging weiter mit festen, langsamen Schritten, blickte aber nicht nach mir um. Und als er mir verschwunden war, ging auch ich.

Ich fühle mich so angegriffen von diesem Ereigniß, daß ich mich gleich niederlegen will. Mein Kopf schmerzt zum Zerspringen, und wenn ich die Augen schließe, rast mir vor den Ohren der harte hämmernde Ton der hölzernen Musik, die wahrscheinlich nur zum Spott den Namen der »himmlischen« führt, und alle Hitze und Dumpfheit des Saales fiebert mir durch die Glieder.

 

Am 11. Januar.

Vierzehn kranke Tage, in denen ich keine Feder angerührt, kein Buch geöffnet, keinen Ton auf meinem Clavier gespielt habe. Es war eine leichte Grippe; Fasten und Schlafen haben mich wieder herausgerettet. Nur in Einer Nacht, wo mich das Fieber mit heftigen Schreckbildern heimsuchte, war ich drauf und dran, einen Arzt kommen zu lassen, wie meine Wirthin mir beständig zuredete. Man ist sehr arzneigläubig hier im Volk. Nun bin ich froh, daß ich auf eigene Hand mich wieder so weit gebracht habe, auf meinen Füßen zu stehen.

Ich wage jetzt meinen ersten Ausgang. Es ist kalt, aber ganz windstill, und die Sonne in den Mittagsstunden so kräftig, daß ich die Fenster öffnen kann. Ich habe großes Verlangen, irgend etwas von Morrik zu erfahren. An wen aber soll ich mich wenden?

 

Nachmittags.

So hatte es mir doch richtig geahnt, und die Fieber-Visionen waren keine Lügner. Er ist krank an einem schweren Nervenfieber, liegt zu Bett seit jenem Concert, und es steht zuweilen so schlimm, daß er halbe Tage lang ohne Besinnung liegt. Ich bin gleich unter dem Thor seinem Arzt begegnet und habe mir ein Herz gefaßt, mich ohne Weiteres bei ihm zu erkundigen, da Jedermann weiß, daß ich ihn aus dem Saal der Post hinaus und über die Straße geführt habe – was sollte auch die Zurückhaltung? Und ist es nicht so unschuldig, wie es leider vielleicht unpassend ist, wenn ich meine Theilnahme an ihm offen an den Tag lege? Der Arzt war so ernst. Ich hätte ihn gern länger festgehalten und aufs Gewissen gefragt, ob er eine nahe Gefahr fürchte; aber einer seiner Patienten näherte sich ihm, so wurde unser Gespräch abgerissen.

Mit welchem Herzen saß ich dann auf der sonnigen Bank und sah in die Wellen hinab, die mit den geflößten Holzscheiten spielten und sie gewaltsam von den Steinen loswühlten, wenn sie sich ein Weilchen anzuklammern suchten! Was sind wir Besseres, wir armen Menschen, die im Strom des Schicksals hintreiben! Was sind unsere besten Augenblicke Besseres, als eine kurze Rast auf einer Klippe, von der uns die nächste Welle hinwegreißen wird!

Ruhe, Ruhe! Mein Herz schlägt mich noch todt mit seinem stürmischen Pochen!

Wie ich es aushalten soll, ihn jeden Moment mir sterbend vorzustellen und nicht seine Athemzüge zu bewachen, ist mir noch ein Räthsel. Hat es dahin kommen müssen, o mein Gott! Und ich habe mir's nie auch nur im Traum einfallen lassen, daß er vor mir die Augen schließen könnte!

 

Am 12. Januar, Abends.

Nun habe ich es erreicht und errungen, und der Friede, den ich in mir fühle, ist den Kampf werth, durch den ich erst hindurch mußte. Ich komme von ihm, ich war den ganzen Tag bei ihm und werde es auch morgen sein und alle Tage, so viele es noch sein sollen.

Wie ich die Nacht überlebt habe, weiß Gott, mit dem ich mich in lichten Pausen besprach, wenn ich in den finstern Stunden dazwischen vor Schmerz und Trostlosigkeit das Gefühl von ihm und mir völlig verloren hatte und wie im Schwindel das ganze Dasein, Zeit und Ewigkeit um mich her taumelte, nicht besser als die Wasserwirbel um ein willenloses Scheit.

Am Morgen bat ich die Wirthin, in seine Pension zu gehen und sich zu erkundigen, wie die Nacht gewesen sei. Sie berichtete, daß eine dicke Dame mit blonden Löckchen, aber schon bei Jahren, ihr geöffnet habe, in der Wohnung des Herrn Morrik selbst, der nebenan in seinem Cabinet liege und im Fieber spreche, so laut, daß man es draußen hören könne. Die Dame habe sie gefragt, von wem sie komme, und dann ein ungutes Gesicht gemacht und sie mit dem kurzen Bescheid abgefertigt: es stehe noch beim Alten.

Mir war es ein neuer Schreck; ich weiß, wie er über die berufsmäßige Menschenliebe der »Lebensretterin« denkt, und daß er ihr bisher geflissentlich ausgewichen war. Und nun sie um ihn, seine Fieberworte belauschend und in helleren Stunden ihn mit ihrer breiten Zuthulichkeit belästigend! Diese Vorstellung konnte ich nicht ertragen.

Es war noch früher Morgen, als ich selbst die Treppe in seinem Hause hinaufstieg, völlig entschlossen, keine Rücksicht gelten zu lassen, als die auf sein Wohl und seine Ruhe. Mir sank auch nur einen Augenblick der Muth, als auf mein Klopfen die harte, thönerne Stimme: Herein! rief. Als ich aber die glanzlosen, kühlen Augen strenge und abweisend auf mir ruhen fühlte, wurde ich ganz still in meinem Innern und sagte mit ruhiger Stimme, daß ich mich nur selbst erkundigen wolle, da mir der Bescheid durch meine Hausfrau nicht genügt habe. – Sie hatte noch nicht Zeit zu einer Antwort gefunden, da rief Morrik aus dem Cabinet meinen Namen. Ich will nur selber hinzugehen, sagte ich, und den Kranken fragen, wie er sich fühlt. Er scheint ja wieder zu sich gekommen zu sein.

Herr Morrik empfängt Niemand, sagte sie. Auch wäre ein solcher Besuch gegen alle Schicklichkeit, ein Grund, der Ihnen freilich weniger von Gewicht scheinen wird.

Am Sterbebett eines Freundes allerdings nicht! erwiederte ich.

Und er rief zum zweiten Mal: Marie! und ich öffnete die Tapetenthür, die in sein Cabinet führte, ohne Zaudern und trat zu ihm ein.

Das Zimmerchen war trübe, das eine Fenster sah in die enge Gasse, und die Vorhänge waren halb geschlossen. Doch hatte ich Licht genug, seine blassen Züge zu sehen, auf denen, da ich eintrat, eine matte Freude aufdämmerte. Er streckte mir die heiße Hand entgegen und versuchte, den Kopf vom Kissen zu erheben. Sie kommen! sagte er leise. Sie ahnen nicht, welche Erquickung Sie mir bringen. Gehen Sie nicht wieder fort, Marie; ich kann Sie nicht mehr entbehren – es ist auch nur so kurze Zeit übrig. Die Dame drin – Sie wissen – jeder Ton, den sie spricht, thut mir weh, schon ihre bloße Nähe ist mir wie ein Alp, ich habe aber das Herz nicht, es ihr zu sagen. Ich habe es ihr anzudeuten versucht, daß ich lieber allein wäre. Sie antwortete: Kranke dürften keinen Willen haben. – Bleiben Sie! Wenn Sie hier sind, höre und sehe ich nichts, als Sie. Ich verspreche auch, ich will nichts sagen, was Sie erzürnen könnte.

Und so sprach er hastig und leise noch mehr, daß mir die Thränen nahe kamen und ich seine Hand herzlich drückte und ihm versprach, was er nur verlangte. Da verklärte sich sein Gesicht. Er schloß wieder die Augen und lag so ruhig, daß ich dachte, er schliefe. Aber wenn ich ihm die Hand entziehen wollte, sah er mich bittend und traurig wieder an, bis er nach einer halben Stunde wirklich eingeschlafen war.

Ich ging in das Wohnzimmer zurück, wo die Dame auf dem Sopha saß, ihr Strickzeug eifrig in den Händen bewegend; die armen Maschen mußten es entgelten, was ich verbrochen hatte. Ich empfand, daß keine Zeit zu verlieren war, und brachte es unbefangen nun so schonend als möglich heraus, daß der Kranke ihr für ihre Aufopferung höchst dankbar sei; aber er wolle sie nicht länger bemühen, da ich nun die Pflege übernehmen könne, mit Hilfe seines Dieners und der Leute im Hause.

Sie, meine Liebe? fragte sie gedehnt und sah mich mit ihrer vernichtendsten Miene an.

Gewiß, erwiederte ich ruhig. Ich stehe Herrn Morrik von allen hiesigen Fremden am nächsten, und es schiene mir und ihm unnatürlich, wenn ich diese Pflicht einer Fremderen überließe, die überdies so viele andere Pflichten der Nächstenliebe zu erfüllen hat.

Sie starrte mich an, als traue sie ihren Ohren nicht. Ist es möglich? sagte sie endlich. Fühlen Sie denn nicht entfernt, daß Sie durch diesen Schritt Ihren schon so schwer erschütterten Ruf vollends untergraben? Sind Sie mit ihm verwandt? Sind Sie eine alte Frau, wie ich, die über jeden Verdacht erhaben ist? Ich glaube, Sie wollen mich zum Besten haben oder sind selbst einer Wärterin bedürftig, mein liebes Kind.

Ich weiß genau, was ich thun muß und was ich verantworten kann, entgegnete ich. Wenn wir verschieden darüber denken, so thut es mir leid, aber ich kann es darum nicht ändern. Ich bleibe hier und kann Ihnen freilich nicht wehren, das Gleiche zu thun; aber meines Rufes wegen bitte ich außer Sorge zu sein; ich denke, Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich mit der Welt abgeschlossen habe und meine Sache vor einem höheren Richter wohl zu rechtfertigen hoffe.

Sie stand auf, setzte ihren Hut auf und sagte: Sie werden mir nicht zumuthen, in der Nähe einer jungen Dame zu bleiben, deren sittliche Grundsätze von den meinigen so weit abstehen, und durch meine Gegenwart ein Verhältniß, das ich in jeder Hinsicht verwerflich finde, gewissermaßen zu legitimiren. Nur noch das bleibt mir übrig, aus des Kranken eigenem Mund zu hören, ob er damit einverstanden ist, daß ich ihn verlasse. Was der Arzt dazu sagen wird, einen Nervenkranken so beständiger Aufregung auszusetzen, ist nicht meine Sache.

Damit machte sie eine Bewegung gegen die Tapetenthür; aber ich vertrat ihr gelassen den Weg und sagte: Herr Morrik schläft. Ich bitte also, ihn nicht zu stören und aus diesem Schlaf die Beruhigung zu schöpfen, daß meine Nähe ihm eher wohlthätig als aufregend ist.

Weiter wechselten wir nur noch einen förmlichen, stillschweigenden Knix, und als sich die Thür hinter der schwer Erzürnten geschlossen hatte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich öffnete sogleich die Thür nach dem kleinen Altan, der in den Garten hinausführt, um den Essigäther-Duft aus dem Zimmer zu lassen, den die »Dame ohne Nerven« auch hier mitgebracht hatte. Dann aber sah ich mich um in meinem neuen Reich, wo es mir überaus wohl ward. Welch ein Gegensatz – dieses schmucke, schön tapezirte, behagliche hohe Zimmer und mein enges Stübchen mit den dürftigen Möbeln! Und dort sein Schreibtisch mit allem Luxus von Mappen, Schreibzeug, Cassetten und Etuis, seine schönen Bücher auf der hangenden Borte, die bequemen Fauteuils, vor Allem aber die Wohlthat, mit einem Schritt im Freien zu sein, auf dem sauberen, mit Marquisen verhangenen Balcon, von dem nur wenige Stufen in das Gärtchen hinabführen. So windstill, sonnig, einsam war es da; der Springbrunnen plätscherte ins Becken nieder, eine Wärterin saß mit einem hübschen Kind unten auf der sonnigen Bank und summte es in Schlaf.

Ich ertappte mich mit Schrecken darauf, daß ich über dem Frieden dieser Umgebung vergaß, wer nebenan im Fieberschlummer lag. Ich schlich wieder an die Thür und horchte. Marie! rief er ganz leise. Als ich den Kopf hineinsteckte, sagte er: Ich habe Alles gehört; Sie sind mein Schutzengel; ich danke Ihnen die ersten ruhigen Athemzüge seit vierzehn Tagen.

Schlafen Sie! sagte ich; Sie dürfen nicht sprechen. Seien Sie heiter und haben Sie nur gute Träume! Er nickte schwach und schloß wieder die Augen.

Nachmittags kam der Arzt. Diesen wenigstens muß ich ausnehmen von meiner neulichen Anklage, daß sie schlechte Seelsorger seien, die Herren Doctoren. Er lächelte, als ich ihm erzählte, weshalb ich hiergeblieben. Hatte ihm Morrik schon von mir erzählt? Ich sollt' es kaum glauben. Aber mehr noch, als durch die Ablösung der »Lebensrettern«, deren wohlthätiger Einfluß auf kranke Nerven ihm wohl auch problematisch schien, gewann ich seine Zufriedenheit, als er von Morrik's dreistündigem Schlaf hörte und den Puls gebessert fand. Im Hinausbegleiten wagte ich eine Frage wegen des Verlaufes der Krankheit. Er zuckte die Achsein. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, sagte er. – Ich wußte es wohl!

Um sieben Uhr bin ich dann nach Hause gegangen; der Bediente wacht bei ihm die Nacht hindurch. Er schlief, als ich ging, und fühlte nicht einmal meine Hand, als ich die seinige berührte. Ich will nun auch schlafen gehen, um morgen wieder früh auf meinem Posten zu sein. Seit lange war es nicht mehr so still in mir, wie heute Abend. Nun kann nichts mehr zwischen uns treten!

 

Am 13.

Er ist in der Nacht aufgewacht und hat gleich nach mir gefragt, sich auch kaum durch die Versicherung des Dieners, daß ich gewiß am Morgen wiederkäme, besänftigen lassen. Heute früh nun fand ich ihn sehr erregt. Erst einem ernsthaften Gespräch, dem er mit Anstrengung folgte, gelang es, ihn zu überzeugen, daß es so gut und in der Ordnung sei, daß die Tag- und Nachtwache sich ja doch abwechseln müsse. Und wenn ich nun plötzlich in der Nacht sterben muß? fragte er. So schicken Sie nach mir und ich bin sogleich bei Ihnen. Darauf mußte ich ihm die Hand geben; dann schlief er wieder ein wenig. Er ißt nicht das Geringste; seine Hände sind so mager, daß es zum Erschrecken ist.

Aber ich bestärkte mich dennoch darin, daß meine Gegenwart ihn beruhigt. Der Nachmittag war wieder besser. Wir sprachen gar nichts zusammen, nur die Thür war zwischen beiden Zimmern offen, daß er den Schein meiner Lampe sehen konnte und meinen Schatten an der Wand, was er sich eigens ausgebeten hatte. Ich las lange Zeit und hörte ihn athmen und sonst keinen Laut weit und breit. Nur, wenn ich ihm die Arznei reichen mußte, ging ich zu ihm hinein. Er hat dann immer einen Scherz oder ein Liebeswort, doch ohne jede überspannte Leidenschaftlichkeit. Sie ist eine Zauberin, sagte er zum Arzt, sie macht mir selbst das Sterben zu einem Fest. Früher habe ich Sie immer bitten wollen: »Was du thun willst, thue bald.« Jetzt läge mir sehr daran, Doctor, daß Sie mich noch ein paar Tage länger hinfristeten. Von Ihren schlechten Tränken kann ich gar nicht genug haben, seit solch ein Hausgeist sie mir bringt.

 

Am 15.

Ich hatte gestern nicht das Herz, zu schreiben, wie schlimm es stand. Ist es heute schon ein Trost, daß es nicht noch schlimmer geworden? Dazu die graue Kälte, das Eis im Bassin des Gärtchens und keine Schneeflocke, die weich und feucht durch die starren Lüfte wehte und das Athmen erleichterte. Ich seufze nach Schnee, weil ich überzeugt bin, daß es nicht besser mit ihm wird, ehe nicht die Luft sich mildert.

Heute habe ich stundenlang an seinem Bett gestanden und er kannte mich nicht. Er sprach im Fieber von Menschen und Ländern, die mir alle fremd waren. Ich sah da erst wieder, wie wenig wir von einander wissen, und gleich darauf, als er meinen Namen rief, wie nah und wohlbekannt ich ihm bin, und daß wir das Beste und Tiefste von einander wissen, was überhaupt des Wissens werth ist!

 

Am 19. Januar, Morgens 5 Uhr.

Eben bin ich nach Hause gekommen, nach vierundzwanzig schlaflosen Stunden, und doch fühle ich, daß an Schlaf noch nicht zu denken ist, ehe ich mich diesen Blättern gegenüber gesammelt und ausgesprochen habe.

Ich denke mir das Gefühl eines Blinden, der den ersten Lichtstrahl wiedersieht und sein Glück zunächst als einen blendenden Schmerz empfindet, ähnlich wie meine Stimmung in diesem Augenblick.

Ich will aber versuchen, Alles der Reihe nach zu sagen. Freilich Anfang, Mitte und Ende – was bedeuten sie noch, wo das Ewige mitten in die Zeit hineintritt, wo man sterbend zu einem Leben aufwacht, das noch in der Zeit steht und doch einen ewigen Inhalt gewonnen hat?

Aber das sind Alles schwache, stammelnde Worte. Ich wollte ja erzählen.

Die Tage zwischen den letzten Seiten und diesen hier waren so traurig, ich mochte nicht davon Rechenschaft geben. Als gestern Abend der Arzt noch spät kam – ich hatte ihn eigens rufen lassen, da meine Angst mit jeder Stunde wuchs – verhehlte er seine Besorgnisse nicht. Wir müssen eine Krisis herbeizuführen suchen, sagte er, sonst ist er verloren! Morrik kannte Keinen von uns. Ein laues Bad, in das er gebracht wurde, und die kalten Uebergießungen regten ihn so heftig auf, daß ich ihn durch die Thür laute unverständliche Klagerufe ausstoßen hörte. Als man ihn wieder zu Bett gebracht hatte, kam der Arzt zu mir heraus. Ich bleibe diese Nacht bei ihm, Fräulein, sagte der treffliche Mann. Es darf nichts versehen werden mit den Eis-Umschlägen. Gehen Sie aber heim und ruhen; der Tag war hart genug.

Ich sagte ihm, daß ich doch keine Ruhe finden würde und mit ihm bleiben und wachen wolle. Er drang auch nicht weiter in mich, als er meinen festen Entschluß sah. Ich hatte es Morrik ja versprochen, nicht auf mich warten zu lassen, wenn es so weit sein würde.

Also setzte ich mich in den Lehnstuhl an seinem Schreibtisch und nahm ein Buch, nur um mich äußerlich an etwas zu halten; denn freilich, zum Lesen gehört außer klaren Augen auch ein klarer Sinn; und welche Schatten lagen auf dem meinen! Ich horchte beständig in das Krankenzimmer hinein, wo der Arzt an seinem Bette saß, ihm die Compressen selbst erneuerte und dann und wann mit leiser Stimme dem Bedienten einen Befehl gab. Das dumpfe, abgerissene Plaudern und Stöhnen, das der Fiebernde ausstieß, schnitt mir mehr als je ins Herz. Das ist noch seine Stimme, dacht' ich, und das vielleicht das Letzte, was er dir sagt, und du verstehst ihn nicht, und er selber versteht sich nicht mehr. Welch ein Abschied!

Ich will nicht dabei verweilen. Noch jetzt in der Erinnerung an diese furchtbaren Stunden sträubt sich mir das Haar. – –

Wir hörten vom Thurm die Stunden schlagen, zehn – eilf Uhr – Mitternacht. Nebenan wurde es stiller; ich horchte mit stockendem Athem hinein und fragte mich bange, ob das Gutes oder Schlimmes bedeute. Einmal versuchte ich aufzustehen, um nahe zu der Thür zu schleichen und zu hören, ob er noch athme. Da fühlte ich, daß ich von diesen Qualen förmlich gelähmt war und kein Glied bewegen konnte. Oder konnte ich nur den Muth nicht erschwingen, meinen Willen aufzuraffen, um der Gewißheit ins Gesicht zu sehen?

Seltsam; ich dachte mit dem Tode so vertraut zu sein, auch wenn er an meinen Freund heranträte; und nun schauderte ich in unsäglicher Angst zusammen, wie ein Kind im Dunkeln.

Ich weiß nicht, ob ich es lange in diesem Zustand ausgehalten hätte, ohne das Bewußtsein zu verlieren, zumal da ich über Tag fast keinen Bissen genossen hatte. Da öffnete sich, da es höchste Zeit war, die Thür des Cabinets, und unser trefflicher Arzt trat leise herein. Ich hoffe, er ist gerettet! sagte er. Das Wort erschütterte mich dergestalt, daß ich in einen Krampf von Weinen ausbrach.

Er setzte sich mir gegenüber und sagte: Sie weinen, Fräulein; vielleicht weil Ihnen das Wort »Rettung« wie eine bittere Ironie vorkommt, wenn von einem Kranken die Rede ist, der schon aufgegeben war, ehe er in diese Krankheit fiel. Aber diese Krankheit wird, wie wir nun hoffen dürfen, seine Retterin. Die Natur hat ein tollkühnes Spiel gewagt und es gewonnen, und es ist nicht das erste Mal, daß ich eine so wundersame Hinterlist des Organismus beobachtet habe: Aufruhr und Kampf im gesammten Nerven- und Blut-System anzuzetteln, um in dem allgemeinen Aufgebot der letzten Lebenskräfte auch einen älteren Feind aus dem Felde zu schlagen, der sich schon als Herrn und Sieger fühlte. Nun sollen Sie sehen, daß unser Freund, wenn die erste schwere Reconvalescenz ohne Störung gelingt, mit raschen Schritten auch der Genesung von seinem andern Leiden entgegengehen wird, an der man vorher mit allem Recht verzweifeln durfte. Und jetzt kann ich ihn auch ohne Furcht vor einem Nervenfieber, das man nicht zum zweiten Mal bekommt, im März getrost nach Venedig schicken, wo die feuchte Luft seiner Brust wohlthun wird. Ich spiele wahrlich nicht gern den Propheten; aber dafür wage ich mich zu verbürgen – immer vorausgesetzt, daß keine äußere Störung dazwischentritt, – daß es nicht Jahr und Tag dauern wird, bis unser Freund sich wieder so stark und kräftig fühlt, wie je.

Ein Geräusch, das aus dem Cabinet kam, rief ihn dorthin zurück. Er blieb nur wenige Minuten; inzwischen hatte ich Zeit, mich zu fassen. Darf ich es vor mir selbst gestehen, daß diese plötzliche Umwälzung all meiner Gedanken mich mehr bestürzte, als freute? Er sollte leben, und ich hatte ihn mir, in der Zuversicht, daß er mir bald nachsterben würde, mit so viel Freudigkeit zugeeignet, als verstünde sich's von selbst, daß wir uns hier nur auf kurze Zeit trennten, mit dem Wunsch: Wohl zu sterben! statt: Wohl zu leben!

Doch wirklich, es dauerte nur so lange, als der Arzt davon sprach; dann wich das selbstsüchtige Bedauern, und ich konnte mit reinem Dank und Entzücken sagen: Gottlob! Er wird leben, er soll noch seiner Kräfte, seiner Jugend, seiner Pläne und Hoffnungen froh werden! Indem kam der Doctor wieder zu mir und sagte: Sie schlafen Beide, Herr und Diener. Ich habe den guten Burschen, der sich wahrlich genug geplagt hat, noch etwas bequemer zurecht gerückt in seinem Lehnstuhl, und er ist nicht darüber aufgewacht, recht als wüßte er, wie entbehrlich er nun geworden ist, seit die Krisis vorüber ist und die Natur selbst sich zur Wärterin des Kranken gemacht hat. Soll ich Ihnen rathen , Fräulein, so strecken Sie sich dort auf das Canapee und schlafen Sie auch. Ich habe mir da noch eine Tasse Thee aufgehoben, und es macht mir durchaus nichts, bis an den Morgen hier zu bleiben und in den Büchern unseres Freundes zu naschen. Sie aber darf ich in dieser Winternacht nicht über die Straße lassen. Sie würden Alles aufs Spiel setzen, was Sie in diesem Winter bereits gewonnen haben.

Ich sah ihn groß an. Gewonnen? sagte ich. Sie müssen wissen, daß ich gar keine Illusionen über meinen Zustand habe und nur zu gut weiß, wie wenig im besten Fall noch auf dem Spiele steht, und daß, was etwa zu gewinnen wäre, höchstens ein Aufschub von Tagen und Wochen ist.

Er lächelte. Verzeihen Sie, sagte er, daß ich nicht ganz derselben Ansicht bin; allerdings sind Leute vom Fach schlechtere Propheten als Laien, wenigstens minder zuversichtliche.

Ich hatte die Mappe bei mir, in der ich jenes Blatt Papier mit der Zeichnung unseres alten Arztes verwahre; denn die Tage vorher hatte ich an Morrik's Tisch Briefe nach Hause geschrieben. Sie sollen sich überzeugen, sagt' ich, daß ich nur die Weissagung eines Ihrer Collegen wiederhole – und erzählte ihm, wie Alles gekommen, indem ich zugleich die Zeichnung aus der Mappe nahm und sie ihm hinhielt. Sie schien denn auch einigen Eindruck auf ihn zu machen. Kopfschüttelnd betrachtete er das Blatt und sagte dann: Ich bin gewohnt, selber zu prüfen, ehe ich mich ausspreche. Sie haben, wie Sie sagen, ganz ohne ärztlichen Rath und Beistand diesen Winter zugebracht, und vielleicht wohl daran gethan. Denn viel ist freilich nicht in unsere Macht gegeben. Auch bin ich fern davon, Ihnen meine Ansicht aufzudrängen. Aber es interessirt mich selbst lebhaft, zu wissen, ob Ihr Aussehen, Ihre Bewegungen, der Ton Ihrer Stimme und Ihr Puls wirklich nur eine Komödie spielen, oder ob dieses Blatt Sie und mich vielleicht zum Besten hat. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir erlaubten, hierüber ins Klare zu kommen.

Ich habe nichts dagegen, sagte ich. Nur müssen Sie mir gestatten, wie auch die Untersuchung ausfallen möge, meinem alten Arzte dennoch mehr zu glauben, als Ihnen.

Als er zehn Minuten lang meine Brust beklopft und behorcht hatte, setzte er sich ernsthaft mir gegenüber, trank in langen Zügen seinen Thee und sagte auf meine zuversichtliche Frage, ob das Blatt nicht dennoch ehrlich sei:

Darüber wage ich nichts zu sagen. Aber wenn es einst so mit Ihnen stand, liebes Fräulein, so hat unsere Meraner Luft in der That ein Wunder vollbracht. Wir haben ähnliche Fälle erlebt, wo uns hoffnungslose und völlig aufgegebene Personen zugeschickt wurden, die nun herumgehn zum Staunen ihrer selbst und ihrer Aerzte. Aber die Zeit, in der Sie diese enormen Fortschritte gemacht, ist mir denn doch etwas zu kurz, und ich möchte eher dieses Blatt anzweifeln, ja, wenn es nicht zu kühn wäre, Ihnen eine Anlage zu dieser Krankheit überhaupt absprechen und all Ihre Leiden auf eine tiefe Erschöpfung der Nerven schieben. Ihr Arzt ist ein alter Herr, wie Sie sagen. Nun, die Kunst des Percutirens ist noch jung, und Hippokrates und Galen, wenn sie davon mitreden sollten, würden sich bedenkliche Blößen geben. Sie sehen mich ungläubig an, bestes Fräulein? Uebers Jahr wollen wir uns wieder über dieses Thema unterhalten. Denn allerdings wäre es für Ihr höchst erregbares Nervensystem sehr günstig, wenn Sie den nächsten Winter wiederum hier zubrächten, mögen Sie auch im Sommer immerhin die Ihrigen besuchen.

Er hätte mir das Alles noch bestimmter versichern und mit hundert Gründen der Wissenschaft belegen können, ich fühlte zu deutlich in mir, daß es unmöglich sei. Wir stritten lebhaft mit einander, er mit einer lächelnden, sarkastischen Zuversicht, die mich förmlich aufbrachte, so daß ich alles, was ich an Invectiven gegen seinen Stand je gehört hatte, gegen ihn ins Feld führte und nur den Einen Arzt, unsern ehrlichen alten Hausfreund, von all den ehrenrührigen Anklagen ausnahm. Es war wohl seltsam, daß die Kranke sich so eifrig gegen den Arzt vertheidigte, der ihr das Leben zusprach. Aber mein Leben, wenn es mir zurückgegeben würde – wäre es denn ein Geschenk und dankenswerth? Wäre es nicht neue Knechtschaft nach diesem kurzen Freiheitstraume?

Es ließ mir auch keine Ruhe; ich schrieb noch in der Nacht und in seiner Gegenwart an meinen alten Freund, daß er mir zu Hilfe kommen und mich vor dem Leben retten möchte, das man mir wieder vorspiegeln wolle. Es war noch dunkler Morgen, als wir Beide, der Doctor und ich, das Haus verließen. Der Diener war inzwischen aufgewacht; Morrik schlief fest und erquicklich dem Leben entgegen. Der Doctor bestand darauf, daß ich eine Sänfte kommen lassen sollte. Aber ich weigerte mich entschieden. Ich brachte meinen Brief selbst in den Briefkasten und bat meinen Begleiter, einstweilen, bis die Antwort käme, mit Niemand davon zu reden, am wenigsten mit Morrik. Er versprach es lächelnd und verabschiedete sich erst an meinem Hause. Ich bin die dunkeln Treppen so mühsam hinaufgetappt, daß ich wieder recht gefühlt habe, wie bald ich sie zum letzten Mal erklimmen werde.

Die Berge drüben röthen sich noch nicht. Nebel und einzelne Schneeflocken streifen durch die Luft. Es ist jetzt warm im Zimmer, der kleine Ofen thut seine Schuldigkeit. Wenn ich doch schlafen könnte! Es war zu viel auf einmal für einen armen Invaliden, dieser lange Vorpostendienst, während eine heiße Schlacht ohne ihn gewonnen und ihm selbst noch einmal die falsche Hoffnung vorgehalten wurde auf einen Sieg, dessen Früchte er doch nicht mehr genießen möchte!

 

Am 20. Januar.

Gestern zu Hause geblieben. Ich habe es unbedachter Weise dem Doctor versprochen, das Zimmer nicht zu verlassen, bis er es mir erlauben würde. Die Ehre der Wissenschaft stünde auf dem Spiel, sagte er, wenn ich durch ein leichtsinniges Wagestück seine Diagnose zu Schanden machte.

Auch ist es nöthig für unsern Freund, setzte er hinzu.

Heute früh besuchte er mich nun selbst. Gottlob! es könnte nicht besser und hoffnungsvoller stehen mit Morrik. Ich wagte nicht zu fragen, ob er nach mir verlangt, mich vermißt habe. Er soll viel schlafen.

Regen und Schnee draußen machen mir meine Gefangenschaft erträglich. Ich werde wohl noch die ganze Woche zu Hause bleiben.

Auch verlangte mich's nicht, Menschen zu begegnen. Ich habe eine unsichere, seltsame Bangigkeit in mir, bis ich Antwort von meinem alten Freunde bekomme. Ich weiß nicht, mit welchem Gesicht ich die Menschen ansehn soll; wie Einer, der nur noch eine kurze Rast bei ihnen macht, ehe er seinen Stab weitersetzt, oder wie Einer, der sich anders besinnt und dableiben will?

Ich habe ein so unstätes, heimathloses Gefühl seit jenem nächtlichen Gespräch, weder hüben, noch drüben bin ich zu Hause. Unheimlich ist mir zu Muthe. Es kommt mir vor, als müßten mich alle Leute argwöhnisch ansehen, wie die Polizei einen Vagabunden, dessen Paß nicht in Ordnung ist, und der sich nicht ausweisen kann, woher er kommt und wohin er will.

Und noch eine Woche in dieser traurigen Verworrenheit hinleben zu müssen, auch wenn er umgehend schreibt! Heute wäre mein Posttag an den Vater. Ich kann mich nicht entschließen, eine Feder anzurühren.

Das Schlimmste ist, daß auch mein eigenes Gefühl ganz confus geworden ist. Wenn ich recht deutlich zu empfinden meine: Es ist unmöglich, du kannst nicht leben! fängt plötzlich das Blut in den Adern so frisch und behaglich an zu fließen, als mache es sich lustig über die schwermüthige Seele und die fadenscheinigen Nerven. Ich hole dann die Zeichnung hervor, wie einen sicheren Wechsel auf die bessere Welt. Aber seit der hiesige Arzt sie mit so respectlosen Augen angesehen hat, ist der beruhigende Zauber dieses Blattes entkräftet. Ich dachte früher so bestimmt darauf rechnen zu können, daß der Tod, wie der grimmige Shylok, auf diesem seinem »Schein« stehen würde. Nun ist mir bange, daß Gnade vor Recht ergehen könnte.

Ist es wirklich Gnade, zu lebenslanger Gefangenschaft begnadigt zu werden?

 

Am 25.

Noch keine Entscheidung! Und immer noch kalte Nebelluft! Der einzige Sonnenblick in dieser grauen Existenz ist die Botschaft, die mir täglich meine Wirthin einholt, daß die Nacht ruhig war und die Kräfte wachsen.

Ich muß hier nur eine Thorheit beichten: Ich habe mir ein neues Kleid gekauft und ein seidenes Tuch, förmlich wie ein anderer Mensch. Es wurde mir freilich ins Zimmer getragen, ein alter, weißhaariger, halb erblindeter Hausirer kam mit seinem Packen, triefend vor kaltem Nebel, und er dauerte mich, wie er so still Alles wieder einschnürte, als ich ihm sagte, ich hätte kaum Hoffnung, das Kleid aufzutragen, das ich anhatte. Aber hätte ich ihm nicht blos etwas schenken können für seine vergebliche Mühe?

Es ist ein sehr hübscher Sommerstoff. Wer wird nun darin die Mücken summen hören und Kirschen essen und sich des Lebens freuen?

 

Am 1. Februar.

Ich habe eine Nacht darüber vergehen lassen und bin doch nicht weiter gekommen mit meiner Fassung. Wie der Brief gestern kam, konnt' ich ihn vor Zittern erst nicht öffnen; dann tanzten mir noch eine Weile alle Buchstaben vor den Augen; und als ich ihn zu Ende gelesen hatte, wirbelten mir die Gedanken so heftig durcheinander, als sollt' ich den Verstand verlieren. Vor Schrecken? Vor Freude? Vor Mitleiden mit mir selbst? Ach wohl nur darum, weil ich so klar, wie nie, erkannte, daß wir nichts Festes, nichts Gewisses haben, unsere arme Seele darauf zu stützen in dieser um ihre eigene Achse kreisenden Welt! Ich glaubte wenigstens Einen treuen, unerschütterlichen, ehrlichen Freund zu haben – und er hat mich getäuscht! Ich dachte, meines eigenen Instinctes, meiner ahnenden, unbestechlichen Empfindung sicher zu sein – und muß nun erleben, daß auch sie in die Verschwörung gegen mich verwickelt waren!

Je öfter ich den Brief wieder lese, je weniger kann ich ihm zürnen. Das Blatt, daß ich gestern noch, in der ersten Aufregung der Enttäuschung, an ihn anfing, muß ich nun zerreißen. Er hat es gut mit mir gemeint, vielleicht seine Pflicht als Arzt gethan; aber ich bleibe dabei – schlechte Seelsorger sind sie, einer wie der andere. Hat er sich gefragt, als er mir diese gefährliche und energische Cur zumuthete, ob nicht vielleicht, wenn sie auch leiblich glückte, meine Seele desto unheilbarer verletzt werden könnte? Und hat er auch für diese »ein heroisches Mittel«, wie er es nennt, in Bereitschaft?

Wer mich so gut kennt, hätte der mich nicht noch etwas besser kennen sollen? Er hat Recht, wenn er sagte, ohne eine solche Täuschung wäre ich nie zu bewegen gewesen, die Meinigen zu verlassen, diese drückenden Verhältnisse, die mich täglich aufregten und an meinem Leben zehrten, abschütteln, um mir die volle Ruhe zu gönnen, die ich zur Heilung brauchte. Gab doch im Grunde nur das den Ausschlag, daß ich meinem lieben Vater den Gram ersparen wollte, zu Allem, was er ohnehin zu tragen hatte, mich einen Winter lang ohne Rettung vor seinen Augen sterben zu sehen. Ich hätte dennoch versucht, mir Gewalt anzuthun, heiter zu scheinen, mich zu schicken in das, was mir als eine Schickung erschien, und wäre, davon aufgerieben, darüber wirklich am Ende unheilbar erkrankt. Auch darin hat er Recht, daß er diese Täuschung mit mir wagen konnte, wenn sie auch grausam schien. Ich habe mein Leben lang die härteste Gewißheit der hoffnungsvollen Ungewißheit vorgezogen. Wenn Ruhe und Seelenfrieden das einzige Mittel waren, meine Nerven wieder gesund zu stimmen und die drohende Gefahr von meiner schwer belasteten Brust abzuwehren, so konnte ich durch eine schwebende und schwankende Lebenshoffnung nur noch kränker, und durch den zuversichtlichen Wahn, daß ich sterben müsse, einzig geheilt werden.

Und wie klug hat der arglistige, böse, grausame Freund alles eingefädelt, was er mir zum Heile glaubte! Diese Zeichnung, die er mir mit scheinbarem Widerstreben in den Händen ließ, damit sich meiner Phantasie ein festes, greifbares Schreckbild einprägte, und ich so recht gewaffnet wäre gegen alle schmeichelnden Hoffnungen und wieder aufglimmenden Wünsche! Und seine ernste Mahnung, ja keinen Arzt zu Rathe zu ziehen, der mir nur trügerische Auskunft geben würde, da sie Alle ihre Patienten zu schonen suchten! Seine Bewegung beim Abschied, sein Lob wegen meiner standhaften Fassung – und bei alle dem kann ich ihm nicht böse sein, er weiß es ja nicht, wie mir das Leben, dem mich seine Hinterlist zurückgegeben hat, erst recht, da ich es verloren gab, unselig, arm und nicht der Mühe werth erschienen ist, wie bitter es für mich ist, noch einmal zu leben für etwas, dem ich abgestorben bin, mir wieder gefallen zu lassen, was mir jetzt doppelt mißfällt, seit ich etwas Besseres, Höheres und Freieres kenne, als das enge Einerlei eines Mädchentagewerks in den Schranken der spießbürgerlichen Sitten und Unsitten, beobachtet, beurtheilt und bemitleidet von hundert sogenannten »guten Bekannten«, denen man so schlecht bekannt ist, daß sie das Beste in einem für das Schlechteste halten!

Ich muß aufhören. Meine Gedanken verlieren sich in die dichte Nacht einer freudelosen Zukunft; die hellsten Stellen sind ein mattes Zwielicht, in dem ich die Gesichter des Vaters und meines Ernst erkenne. Wie strahlend war die Aussicht durch das offene Thor, an dem der Todesengel Wache hält!

 

Am 3.

Der Arzt geht eben von mir. Er hat den Brief mitgenommen, um ihn, wie er sagt, zu studiren, da der Fall sehr merkwürdig, und ein feinerer Psychologe, als mein alter Freund, ihm noch nicht begegnet sei. Vielleicht will er Morrik den Brief zeigen.

Von ihm freilich sprach er mit keiner Silbe; ich fragte auch nicht, ich hatte ja schon vorher die Nachricht bekommen, daß Alles gut stehe. Er habe sogar gestern die erste warme Sonne wieder auf dem Balcon genossen.

Es war heute etwas Zerstreutes, Eiliges, Räthselhaftes um den guten Doctor. Ich mußte ihn selbst erst fragen, ob er mir jetzt erlaube, wieder auszugehen. Er nickte. Hüten Sie sich nur vor aufregenden Gesprächen, sagte er. – Mit wem sollte ich sprechen?

Also wirklich leben müssen? Wo? Und als Was? Es ist hier Alles katholisch, sonst wäre mir das Liebste, eine Schule zu halten. Wieder über die Berge zurück, wieder die Gesichter sehen, deren ängstliche Wichtigkeit und Nichtigkeit mich schon im Traume traurig und beklommen macht? Und doch darf ich dem Vater nicht fehlen. Ein Glück nur, daß er nicht mitbetrogen war, sondern in alles einwilligte, was mein böser Freund mit mir in Scene setzte.

Seltsam ist es mir doch, daß Morrik nicht wenigstens durch seinen Diener mir einen Gruß schickt, sich nach mir erkundigen läßt. Er wird freilich fühlen, daß nun Alles anders ist, seit wir Beide wieder leben sollen. Aber schon die Rücksicht auf unsere frühere Freundschaft – oder fühlt er es nicht, wie herb und schwer es ist, plötzlich wieder so um sich zu kommen, wenn man sich kaum recht gewonnen zu haben glaubte?

Der Doctor sagte, eine solche Krisis verwandle die ganze Natur. Ich muß mich wohl darein ergeben, daß die neue, gesunde, lebensfrohe Seele, die er sich aus dem Fieber-Paroxysmus gerettet hat, für seine frühere Todesgenossin keine Erinnerung mehr bewahrt.

Mag es drum sein! Mir wird er immer bleiben, was er mir gewesen ist.

 

Am 5. Februar, Abends.

Glückwünsche vom Vater. Sie haben mich zu Thränen gebracht. Nein! Ich war glücklich, als man mir condolirte. Ich bin unselig, seit ich wieder der Erde gehöre und mich dessen freuen soll.

Diese öden Wintertage, in denen die Sonne schon wieder mit Frühlingskraft scheint, machen mich vollends elend an Leib und Seele. Es ist so unfruchtbar, – – –

 

Am 6.

Mitten in meinen Nöthen gestern ist mir wieder ein Funke von Muth aufgeblitzt, daß ich zu schreiben aufhörte, ans Fenster trat und mich wohl eine Stunde lang recht in mich hinein schämte über meine Feigheit, meinen Kummer, meine Undankbarkeit gegen Gott. Wie hieß doch das gute Sprüchlein, über das ich damals so tapfer predigen konnte?

Denn ich bin ein Mensch gewesen,
Und das heißt ein Kämpfer sein.

Nun wohl, es hat noch nicht sein sollen, daß mir Engels-Flügel wuchsen. Ich muß noch eine Weile mit meinen Menschen-Armen schaffen und mich rühren, mich durchschlagen, wo es nöthig ist, und froh sein, wenn ich sie einmal um den Hals eines theuren Menschen legen und einen Augenblick dort ausruhen lassen kann. Daß ich etwas Höheres kennen oder doch ahnen gelernt habe, ist nun, wie es ist, gut und schlimm. Gut, weil ich doch die goldene Erinnerung als einen ewigen Schatz mit fortnehme, übel, weil so Vieles dürftig dagegen scheinen wird, was mich sonst vielleicht reich gemacht hätte. Aber ich möcht' es doch nicht missen.

So hab' ich auch heute früh an meinen alten Freund geschrieben, mich mit ihm ausgesöhnt und will versuchen, auch mit mir, auf die ich schwer erzürnt war, mich wieder zu versöhnen. Ich muß jetzt doppelt Frieden mit mir und in mir halten, da es draußen wieder in den Kampf geht.

 

Am 8. Februar.

Und wo sind überhaupt die Glücklichen, die Freien, die schon hier unten wie auf Wolken wandeln und mit der Stirn an die Sterne rühren? Wer kann sagen, daß kein Staub ihm auf die Seele fällt, keine Mauer den Schritt und die Aussicht einschränkt, daß er alle Stunden seines Tages im Ewigen lebt, wo Alles Licht, Leben und Freiheit ist?

Vielleicht wird Wenigen ein Loos gegönnt, wie es Morrik erwartet nach dieser harten Prüfung. Wenn ich mich recht hineindenke in seine Zukunft, schlägt mir das Herz so freudig, daß ich mich selbst daran erwärme, wie ich's ihm gönne! Seltsam, es sind kaum vierzehn Tage, seit ich an seinem Bette stand. Was liegt schon Alles dazwischen! Wenn er meinen Namen hört, blickt er vielleicht fremd auf und muß sich mühsam auf unser Begegnen besinnen. Und ich spinne mir hier seine Zukunft, als wäre ich eine steinalte Frau und hörte nach vielen, vielen Jahren, daß es einem Jugendfreunde so und so in der Welt ergangen sei, und sagte: Er hat es wohl verdient; er war ein edler, tiefer Mensch; ich habe ihn gut gekannt! – –

 

Am 12. Februar.

Es wird das Gescheiteste sein, daß ich Alles ehrlich beichte und dann mich selber darüber auslache. Wie lange ist's her, daß ich mir wieder vornahm, ein rechter Kämpfer zu sein? O schön! Die Waffen strecken, weglaufen, und dann nicht einmal zum Desertiren Courage genug haben, sondern mitten drin wieder Kehrt machen – ein schönes Heldenstück! Ich würde nicht fertig, mich zu schämen, wenn ich mir nicht ein Herz faßte, die Sache komisch zu nehmen.

Es war also heute Nachmittag so warm und frühlingsmäßig, daß mir die Sonne auf meinem einsamen Spaziergang am Küchelberg zu viel wurde. Denn dort regt sich keine Luft, und schon jetzt spielen die Eidechsen wieder, wie mitten im Sommer, kein Laub giebt Kühlung, die nackten Reben, die sich sonst so schattig über mich wölbten, mögen freilich wissen, warum sie noch nicht Miene machen auszuschlagen. Ich kehrte wieder um und wagte mich zum ersten Male seit vielen Tagen auf die Wassermauer, wo nur wenige Menschen waren. Erst klopfte mir das Herz, als wisse ein Jeder schon längst, daß ich mich unter die Unheilbaren nur so eingeschlichen habe und nun entlarvt und mit Protest zurückgewiesen sei. Ich studirte mir eine Antwort ein auf die Frage: Ist Ihnen das Sterben doch wieder verleidet? Ich muß sagen, obwohl mich Niemand zu beachten schien, war mir doch sehr übel zu Muthe. Alle meine kleinen Sünden fielen mir ein, die ich getrost begangen hatte in der Meinung, man könne seinen Willen wohl einmal durchsetzen, wenn es ein letzter Wille sei. Wie unhöflich, wie rücksichtslos war ich gegen Den und Die und die Meisten gewesen, aus denen ich mir nichts machte! Da ging der dicke Herr, der immer einen kleinen Thermometer im Knopfloch trägt und bei jedem Grad, um den er steigt oder fällt, einen Knopf seines Ueberrockes auf- oder zumacht. Er hat mir gleich Anfangs so gute Lehren gegeben, und ich habe sie nicht nur unbefolgt gelassen, sondern einmal sogar unwillkürlich den Schleier übers Gesicht gezogen, als der dicke Menschenfreund auf mich zu kam, daß er ganz verdutzt stehen blieb. Und jenes junge Mädchen, mit dem ich nie mehr gesprochen habe, weil sie mich gleich nach der ersten Viertelstunde unserer Bekanntschaft geküßt und mir ein Gedicht hergesagt hat, das ihr Bruder gemacht habe; und dort die Dame mit den zwei langen, schnurrbärtigen Söhnen, vor deren Courmachen sie mich so vorsorglich warnte, während sie es doch so sehr übel nahm, daß ich ihre Warnung beherzigte und den faden Menschen den Rücken kehrte; und nun vollends die arme kleine Lästerchronik, die jetzt nur noch im Tragsessel die Luft genießt, aber noch Kraft übrig hat, sich der Schwächen ihrer Mitmenschen zu erfreuen – was wird sie mir drüben, wo sie nun vor mir ankommt, Alles nachsagen? Nun, vielleicht ist man drüben besser unterrichtet und milder gesinnt, als hier.

Indem ich das Alles überlegte und mich dabei von Herzen ärgerte, daß die kleinstädtische Feigheit wieder so recht bei mir in Flor kam, daß ich die gleichmüthige Todesverachtung, mit der ich früher das Leben hier angesehn, nicht mehr erschwingen konnte, kam ich bis an die Winter-Anlage und warf einen Blick auf die Bänke und Lauben, der meinem bischen Muth vollends den Garaus machte. Denn da saß groß und breit auf dem sonnigsten Fleck in einer ganz neuen Frühlings-Toilette die Dame ohne Nerven, und neben ihr, still vor sich hinblickend, aber sichtbar erholt – Morrik. Sie sprach eifrig auf ihn ein, er hörte geduldig zu, aber mit einem fast freundlichen Lächeln, das ich jeder Anderen lieber gegönnt hätte, als ihr. Wie mir da plötzlich zu Muth wurde, kann ich nicht sagen. Nur fort! Nur fort! Nur das nicht mehr sehen müssen und von ihnen nicht gesehen werden, kein gleichgültiges, höfliches Wort mit ihnen wechseln, nachdem man ihnen Angesichts des Todes Wahrheit gegeben und damit wohl und weh gethan hat.

Es jagte mich förmlich über die hölzerne Brücke, die Chaussee entlang, die durch mehrere kleine Orte vier Stunden lang im schönen Thale der Etsch hinläuft, bis sie Botzen erreicht. Durch Untermais war ich bald und ruhte dort auf einer Bank und faßte mich wieder so weit, daß ich einem vernünftigen Gedanken nachsinnen konnte, der freilich noch unvernünftig genug war. Wenn ich so fortgehe, dachte ich, komme ich wohl heute noch nach Botzen; auch holt mich gewiß ein Wagen oder eine Post noch ein und nimmt mich auf. Dann kann ich an meine Wirthsleute schreiben, daß meine plötzliche Abreise nöthig geworden sei, ihnen Geld schicken und sie bitten, meine paar Sachen einzupacken und mir nachzuschicken. Ich bin dann eines jeden Wiedersehens, all der kleinen Nadelstiche, aller Abschiedsnöthe überhoben und wenn noch ein Hahn nach mir kräht, so stört mir's wenigstens nicht meinen Morgenschlaf. Wer höchstens sich wundern wird, ist der Doctor; ich kann ihm ja schreiben. Und sonst – wer fragt nach mir? Ueber den, den ich einmal meinen Freund genannt habe, kann ich ruhig sein. Er ist wieder so weit genesen, daß er neben der Dame ohne Nerven sitzen und lächeln kann, wenn sie mit ihren bleiernen Blicken und ihrer tönernen Stimme auf ihn eindringt!

Mit diesem Entschlusse war ich sehr vergnügt, wie ich wenigstens meinte, und ging wieder tapfer vorwärts, nach Süden zu. Ich suchte mich an der Landschaft zu freuen, den grünen Wiesenflächen, hinter denen die noch winterlich nackten Berge aufstiegen, am Gipfel glänzend von dünnem Schnee, an den hübschen Gehöften, Weingärten und rauschenden Bächen, an denen ich vorbeikam, vor Allem an dem Gedanken, nun einen Strich unter all meine Zweifel und Sorgen gemacht und mich wieder auf mich selbst gestellt zu haben. Ja es war mir ordentlich ein Trost, zu denken, daß es nun wieder nach Hause ging, wieder in den alten Käfich, wo ich mir selbst nichts vorzuwerfen brauchte, wenn meine Flügel zum freien Umherfliegen nicht taugten und ich die Probe schlecht bestand. Alle Zimmer-Vögel machen es ja nicht besser.

Darüber ging die Sonne unter. Ich war durch ein Dorf gekommen, dessen Namen ich nicht weiß, und hatte dort ein halbes Glas Wein getrunken, da es mich doch fröstelte in meinem leichten Mantel und der Februarwind lebhafter wurde, als einem verwöhnten Meraner Wintergaste behaglich ist. Mehr und mehr wurde mir unheimlich, im Zwielicht auf der öden Landstraße so ganz einsam hinwandernd, und ich sah mich oft um, »ob nicht was käme und mich mitnähme.« Ein Stellwagen hatte mich überholt, der aber voll rauchender Bauern saß und nicht einladend aussah. Und als ich noch eine gute Stunde so hingegangen war und nirgends ein Obdach sah und auch Hunger litt, setzte sich die Heldin, die so feste Entschlüsse in der Brust trug, wie ein anderes verirrtes Kind auf einen Stein am Wege und weinte ganz tapfer in ihr Taschentuch hinein. Ach ja, Sterben ist leicht, aber Leben schwer!

Weiß Gott, was aus mir geworden wäre, wenn nicht noch zur rechten Zeit sich ein freundlicher Zufall, nein, der gütige Himmel meiner erbarmt hätte. Ich hörte ein Wägelchen heranrollen, eine Peitsche knallen, und wie ich aufsah, erkannte ich meinen alten guten Freund von der Zenoburg, Ignatius, den Weinhüter, der ebenfalls spähende Blicke nach der einsamen Gestalt richtete und plötzlich vor mir still hielt. Es gab eine ganz trauliche Wiedererkennungs-Scene, die damit endigte, daß er mich in sein leichtes Gefährt hob und heimfuhr. Er hatte ein Weingeschäft in dem nahen Vilpian abgeschlossen und war sehr guter Dinge, ließ sich auch damit zufrieden stellen, daß ich ihm erzählte, wie zufällig und in Gedanken ich mich so weit von Meran weg verloren hätte. Da saß ich nun in eine warme Decke gewickelt und wurde eilig zurücktransportirt und mußte nur froh sein, daß es dunkle Nacht war, als er mich zu Hause richtig ablieferte. Keiner bekannten Seele begegneten wir unterwegs, außer dem Doctor, der in Untermais aus einem Hause trat, aber nicht ahnte, wer sich in Schleier und Mantel vor ihm versteckte.

Der gute Ignatius! Den ganzen Weg unterhielt er mich mit Schilderungen seines häuslichen Glückes, manchmal in ziemlich freien Ausdrücken, die ich ihm schon hingehen lassen mußte; der Wein von Vilpian löste ihm die Zunge. Zwar mit dem Auftrumpfen und Besserwissenwollen sei's noch beim Alten mit der Liese, sagte er, aber er merk' es je länger, je mehr: sie wisse es auch wirklich besser. Man mache so viele dumme Streiche, wenn man ledig sei. Wo zwei zusammenhausten, habe der Eine gerade, was dem Andern fehle und vier Augen sähen doppelt so viel, wie zwei, und dann mache sie Alles so viel fein und geschickt, wie er's gern habe, und gebe ihm so gute Worte und es sei ein Leben wie im Himmel. –

Er fragte auch einmal nach dem Herrn, mit dem ich in Schönna gewesen sei; als ich ihm erzählte, es gehe ihm besser als je, sang er so ein Lied vor sich hin, das ich nicht verstand und klatschte dazu mit der Peitsche und nickte mir so zwinkernd und possenhaft zu, daß ich ganz böse wurde. –

Was meine guten Wirthsleute für Augen machten, als ich ihnen gestand, wie weit ich mich verlaufen! Ich habe ihnen gleich heute gesagt, daß ich nur noch eine Woche hier bleibe. Es soll auf dem Brenner schon wieder schneefrei und gar nicht kalt sein. Ich muß diesen vielleicht sehr flüchtigen Vorfrühling benutzen, um übers Gebirge zu kommen. – Aber morgen, das hab' ich mir feierlich gelobt, will ich die heutige kindische Flucht öffentlich abbüßen, auf die Wassermauer gehen, die paar Bekannten anreden, ihnen sagen, wie wunderbar ich mich erholt fühle und wie bald ich nun wieder nach Hause zu reisen denke. Auch der Dame ohne Nerven will ich nicht ausweichen und sehen, ob ich nicht noch zu guter Letzt wieder zu Gnaden angenommen werde.

Es wäre doch zu schimpflich gewesen, wenn ich's wirklich bis Botzen gebracht hätte, durchgegangen wäre, wie ein Spitzbube, der keinem ehrlichen Menschen ins Gesicht blicken kann. Und obendrein hatte ich gar nicht bedacht, daß auch dieses Heft zurückgeblieben wäre und wer weiß in welche Hände gekommen.

Tags darauf. Nach Tische.
Frühling an allen Enden.

Kann man denn das schreiben, was man noch nicht denken und fassen kann?

Wie ich heute früh aufstand, ich fürchtete mich gar nicht vor allem Unholden, was mir der Tag bringen sollte, vor allen Muth- und Feuerproben, denen ich entgegenging. Hätte ich all das Holde geahnt, daß mir bevorstand, wer weiß, ob ich nicht noch einmal davon gelaufen wäre!

Ich schrieb gestern, das Leben sei schwer. Das Schwerste im schweren Leben ist aber das Glück – für eine arme Seele, die sein überirdisches Gewicht nicht von klein auf tragen gelernt hat, die nun davon überstürzt, übermannt wird und sich immer noch fragt: Wird dir's nicht am Ende wieder abgenommen, ehe deine Kraft ihm gewachsen ist?

Aber das ist doch eine tröstliche Sache, daß es gar kein wahres Glück giebt, das man einsam tragen müßte, daß uns alle tiefste, innerste Wohlthat nur von Menschen kommen kann, und der uns das Glück bringt, es dann auch tragen hilft.

Da stehen die ersten Veilchen, die auch darum wissen, zu welch einem Frühling ich heute aufgewacht bin. Ich hatte so fest geschlafen auf die lange Wanderung gestern, und mein gutes Gewissen wiegte mich so sanft, seit ich mich entschlossen hatte, mich des Verbrechens, weiter zu leben, nicht mehr vor den Leuten zu schämen. Als ich aufstand, war's heller Tag. Ich sah, da ich mir das Haar machte, daß ich wieder frische Farben hatte; und dann merkte ich auch beim Ankleiden, daß ich wirklich die alten Sterbekleider nicht mehr tragen kann, sie engen und drücken mich überall, und der weißhaarige Hausirer ist sehr zur rechten Zeit gekommen. So lange hatte ich keinen Anfall von Eitelkeit mehr. Aber wenn man wieder leben soll, muß man ja auch wieder ein Frauenzimmer sein. Wie ich mir die Zöpfe flocht, fand ich, daß ich noch gar nicht so alt aussah, und ich weiß nicht, wie es kam, ich mußte an den jungen Polen denken und studirte an dem Räthsel, was ich nur an mir haben mag, daß man sich so auf zehn Schritte in mich verlieben kann. Das mag nun Geschmackssache sein. Aber ich schämte mich zum ersten Male meiner altmodischen Toilette und wie ich den Hut aufsetzte, beschloß ich, wenigstens erst ein neues Band daran zu wenden, ehe ich den großen Dornenweg unter die Leute anträte. Und so will ich eben fort und denke nur an Tand und Band, wie ein grünes Backfischchen, als sich die Thür öffnet und – Morrik hereintritt. Ich glaube, er hatte selbst das Anklopfen vergessen. – Ich war etwas bestürzt, er aber merkte es nicht, da er noch viel zerstreuter und scheuer war. Er setzte sich auch nicht, sondern ging gleich ans Fenster und lobte die Aussicht, sah auch den alten Secretär forschend an und sprach über Rococo-Möbel, wie ein Kenner, und plötzlich kam er damit heraus, ich möge verzeihen, daß er sich die Freiheit nehme, mich zu besuchen, er reise aber morgen nach Venedig und wolle mir doch Adieu sagen. Auch habe er mir zu danken und zugleich sich zu entschuldigen.

Ich saß auf dem kleinen Canapee und sprach keine Silbe als: Wollen Sie nicht Platz nehmen? – Auch hatte ich den Hut noch immer auf, was wenig einladend aussehen mochte; aber er schien an nichts zu denken, als wie er das sagen sollte, was ihm auf der Seele lag.

Was müssen Sie von mir gedacht haben, sagte er, daß ich nichts von mir hören und sehen ließ die ganze Zeit seit jener Nacht, in der Sie mit dem Doctor bei mir gewacht haben? Aber so schlimm, so herzlos, so undankbar, wie ich Ihnen erschienen, bin ich wahrlich nicht. Die Wahrheit ist, daß ich von Allem, was während meiner Krankheit vorgegangen, nicht viel mehr weiß, als von einem unruhigen Traum. Es kam mir freilich so vor, als hätte ich Sie neben meinem Bette gesehen, aus Ihrer Hand die Arzenei genommen, es gefühlt, wie Sie mir das Kissen zurechtrückten. Auch einer wunderlichen Scene zwischen Ihnen und meiner bête noire, der »Dame ohne Nerven«, wie Sie sie getauft haben, erinnerte ich mich dunkel. Doch kam mir Alles bei näherer Ueberlegung so abenteuerlich vor, daß ich mir's rasch aus dem Sinn schlug. Ich hatte ja Ihren Brief, in dem Sie so ernst und entschieden Abschied nahmen. Nun kam freilich jeden Morgen Ihre Wirthin, nach meinem Befinden zu fragen; aber es schickten auch Andere deshalb zu mir. Man kann ja noch höflich sein, dacht' ich, auch wenn sonst Alles aus und vorbei ist. Und so meinte ich denn, nicht gegen Ihre strenge Weisung verstoßen, mich Ihnen nicht wieder nähern zu dürfen; ja, ich war im Zweifel, ob Sie es übel nehmen könnten, wenn ich Ihnen zum Abschied eine Zeile schriebe, Ihnen etwa einen Strauß zuschickte, wie es ja hier Sitte ist. Und nun denken Sie mein Erstaunen, als ich gestern zufällig der Lebensretterin wieder begegne und von ihr höre, daß Alles, was ich geträumt zu haben glaubte, sich wirklich leibhaft mit mir zugetragen, daß Sie erst meine Befreierin, dann meine treue Pflegerin gewesen und mit so schöner Großmuth mir in meinem Elend nichts von dem nachgetragen haben, was Sie von mir entfernt und die früheren hellen Tage so jäh abgeschnitten hat. Ich kann Ihnen nun kaum danken, liebes Fräulein; ich bin ganz krank von dem beschämenden Gefühl, mit dem ich jetzt zurückblicke. Gleich gestern wollte ich zu Ihnen, um Ihnen das Unbegreifliche aufzuklären. Aber Sie waren nicht zu Hause. Hat man Ihnen nicht bestellt, daß ich zweimal an ihrer Thüre war?

Vielleicht aber ist es Ihnen so, wie es gegen mein Wissen und Wollen kam, am liebsten gewesen. Ihr Antheil galt nur dem Sterbenden. Nun es entschieden ist, daß ich leben soll, bin ich Ihnen so fern gerückt, wie durch jenes eine unbedachte Wort, das Sie zuerst von mir zurückstieß. Nun denn, ich reise morgen, und der Zwang, den Ihnen meine Nähe verursacht, wird dann für immer gelöst sein. –

Was ich erwiederte, was er dann sagte, wie es kam, daß er auf einmal meine Hand in der seinigen hielt und mich wieder, wie sonst, »Marie« nannte, – weiß ich's zu sagen? Es umklang und umbrauste mich wie Musik, wie Strahlen wogte und brannte es mir vor den Augen – war es lang oder kurz? – ich weiß nur, eine Ewigkeit ging vor mir auf, in die ich hinüberstarb sanft und selig ohne jeden Kampf, um dann aufzuwachen, schon hier in einem Drüben, jenseit all meiner armen, kleinen, zagenden Menschenkümmernisse, in einer Glorie von Frieden und unsterblichem Vertrauen und ewigem Wissen und Schauen. – – –

Komm, sagte er dann, du bist fertig zum Ausgehen, wir wollen Braut-Visiten machen. – Da nahm er mich unter den Arm, führte mich erst über den Flur in die Schneider-Werkstatt, wo der ehrliche Meister und seine zwei Gesellen uns groß anstarrten und die Frau Meisterin vor Ueberraschung, als sie es von draußen hörte, mit der Pfanne, die sie eben aufs Feuer setzen wollte, hereingestürzt kam, um ein großes Loblied von mir zu singen, was er an mir für eine Frau kriegte, daß ich durch meine Thränen hell zu lachen anfing. Und dann gingen wir in die Stadt hinunter, und hier und da trat er in einen Laden und kaufte was ganz Unnützes, nur damit er sagen konnte: »Schickt's in die Wohnung meiner Braut, beim Schneider, drei Stock hoch, dicht unterm Himmel!« – und dabei blieb er ganz ernsthaft. Als wir aber auf die Wassermauer kamen, fanden wir Alles wie verabredet beisammen, und eben fing die Curmusik an zu trompeten und zu oboen und schien mir heute ganz schön im Tact und wohlgestimmt. Zuerst natürlich war ich etwas beklommen, als plötzlich alle Augen auf uns gerichtet waren. Aber es dauerte nicht lange, so amüsirte mich's unsäglich, wie alle Menschen die Freundlichkeit und Holdseligkeit selbst wurden, und wie gut sie mir alle gefielen. Wir fingen mit der Lebensretterin an, in deren starren, kleinen Augen wahrhaftig etwas Feuchtes schimmerte, als Morrik ihr die Hand küßte und ihr sagte, sie sei die Einzige, auf die ich eifersüchtig gewesen. Das trug mir einen gnädigen Kuß auf die Stirn ein und die Versicherung, daß man der Eifersucht, zumal bei schwachen Nerven, Manches verzeihen müsse. Und dann die Dame mit den beiden geputzten Söhnen und die Schwester mit dem dichtenden Bruder, ja selbst der dicke Herr mit dem Thermometer im Knopfloch – von Allen sammelten wir Glückwünsche ein, Alle sagten, es sei ihnen gar keine Neuigkeit, und Morrik erwiederte, so seien sie besser unterrichtet gewesen, als er selbst, und scherzte sogar mit der kleinen Lästerchronik, die allein gegen mich eisig blieb, wie immer. Aber dem Kinde, das uns den Veilchenstrauß anbot, schenkte er seine ganze Börse, und dazu schien die Sonne, und die Trompeten schmetterten den Frühling wach, und auf dem Kirchhof drüben, wo ich mir schon mein Ruhewinkelchen ausgesucht hatte, blühten alle Blumen, als gäbe es gar keinen Tod, wenn man einmal leben gelernt hat. –

Wir haben dann noch zusammen gegessen und dann Abschied genommen, eben als die Sonne unterging. Kind, sagte er, ich habe es unserm Tyrannen, dem Doctor, versprechen müssen, vor dem nächsten Frühling dich nicht wiederzusehen. Nichts sei schlimmer für Reconvalescenten, als ein Brautstand unter vier Augen. Er hat darum auch kein Wort davon gesagt, daß du mich besucht hast, als ich im Fieber lag, obwohl ich mit ziemlich deutlichen Anspielungen an ihm herumforschte. Da du aber schreiben gelernt hast, leider nur zu gut, wie ich's selbst erleben mußte, werden wir ja doch beisammen sein. Und wie werde ich jubeln, wenn der erste Brief von dir kommt, der nicht mehr vom Abschiednehmen spricht, sondern vom Wiedersehen, nicht mehr von Sterben, sondern von Leben!

Wir standen unten an der Treppe im Zwielicht. Da gaben wir uns die letzte Hand darauf, fröhlich auch noch diese Prüfung zu überstehen. Und so hielt ich den theuren Freund fest an mich gedrückt, um ihn gleich wieder hinzugeben; aber die helle Zuversicht blieb mir zurück: Der uns das gegönnt hat, wird uns auch die Zukunft gönnen, und wir sollen nicht umsonst durch den Tod zum Leben eingegangen sein.

Dieses Heft ist zu Ende. Ich will es dir heute noch hinschicken, mein geliebter Freund; vielleicht blätterst du gern darin, unterwegs, wenn deine Gedanken mich suchen. Ich habe ja nichts mehr, was nicht dein wäre, und wenn du viel von dir darin findest, sei es dir wie ein Spiegel, in dem du mich und dich zugleich siehst, für immer verbunden. Dieses Blatt lege ich nun noch hinein, das ich gestern aus einem Band Gedichte abgeschrieben, und eins von den Veilchen, die du mir heute geschenkt hast. Wenn wieder frische blühen, seh' ich dich wieder, so Gott will! Und er wird es wollen!

      Nicht weinen sollst du, sollst frohlocken
Und still dich segnen früh und spät,
Wenn deine Seele froherschrocken
Am Abgrund unsrer Liebe steht.

      Der Lärm des Lebens ist versunken,
Kaum dringt der Freunde Gruß herauf;
Wir schauen stumm und wonnetrunken
Zu seligen Gestirnen auf.

      Und wie des Friedens sanfte Welle
Begräbt den schwanken Grund der Zeit.
Wird's vor den Sinnen morgenhelle,
Und tagt wie Glanz der Ewigkeit.

——————


 << zurück weiter >>