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Der Kreisrichter.

(1855)

 

Am hellen Nachmittag rollte mein Wägelchen über das etwas unsanfte Pflaster der saubern kleinen Stadt und hielt vor dem Wirthshause zum rothen Engel. Schon unterwegs, auf der fünfstündigen Fahrt durch das schöne ebene Land in heiterer Herbstsonne, hatte ich es meinem Freunde Dank gewußt, daß er mich zu dieser Abschweifung von der trostlos geraden Eisenbahnlinie veranlaßt hatte. Ich trug eine Vollmacht von ihm in der Tasche, den Verkauf eines ihm vererbten Weingärtchens in der Umgegend der kleinen Kreisstadt abzuschließen, und einen Empfehlungsbrief an den Herrn Kreisrichter. »Die Bekanntschaft des Mannes wird dich nicht gereuen, hatte mein Freund gesagt, und die Bekanntschaft der Gegend lohnt sich wahrlich auch. Wer weiß, ob ich das Stück Land, das mir jetzt zur Last ist, nicht einmal zurückkaufen werde, wenn ich um einen Winkel der Welt verlegen bin, wo man sich ohne Haß vor ihr verschließen und das Restchen Leben friedlich tropfenweise ausschlürfen kann.«

In der That schien mir der Ort gleich auf den ersten Blick wohl dazu angethan. An der Schwelle der gelinde ansteigenden Vorberge lag der bescheidne Häuserhaufen schon von fern gesehen in großer Behaglichkeit da, während die Winzerhütten und kleinen Landhäuser sich lachend im Grünen über die Abhänge zerstreut und die weitere Aussicht in Besitz genommen hatten.

Der Wein, der hier wächst, ist unberühmt, aber, wie manche geringere Landweine, von einem sehr bestimmten Geschmack und zarter hellroter Farbe. Wer ihn nur einmal flüchtig gekostet, pflegt ihn hinfort unter die Getränke zu rechnen, die nicht die Gabe haben, das Menschenherz zu erfreuen. Die Landeskinder und Andere, die sich in ihn hinein getrunken haben, verspüren dann und wann in der Gesellschaft der edelsten und kostbarsten Weine aller Zonen ein Heimweh nach ihm, das ich an mir selbst erleben sollte.

In der Gaststube zum rothen Engel war es um diese Stunde leer, wie denn auch die Gassen in tiefer Nachmittagsruhe lagen, als mein Gefährt hindurchrasselte. Der Wirth aber hatte sich tapfer sein Schläfchen abgebrochen und zu mir gesetzt, auch der Gelegenheit wahrgenommen, ein höfliches Glas mitzutrinken. Nach mancherlei Kriegs–, Staats- und Erntegesprächen kam er auf das Neueste vom Jahr, eine große Hochzeit der Bürgermeisterstochter mit dem Sohne des hiesigen größten Kaufmanns, dessen Laden mir, wie ich dem Wirth zu seiner nicht geringen Befriedigung sagen konnte, durch die Mannigfaltigkeit der ausgestellten Producte und eine stattliche Spiegelscheibe, die einzige im Orte, im Vorüberfahren aufgefallen war. »Das junge Paar ist gestern verreis't,« sagte der Wirth. »Das ist ja die leichtsinnige neue Mode, während es sonst für das Beste galt, den Ehestand im eignen Nest anzufangen. Da bleibt nichts übrig, wenn das ledige junge Volk nicht um sein Tänzchen kommen soll, als eine Nachhochzeit, wie sie heut Abend drüben beim Brautvater gehalten wird. Die meisten meiner Abendgäste sind zwar geladen, aber ich fahre dennoch nicht schlecht dabei, fügte er pfiffig hinzu. Man hört die Musik über den Markt her deutlich genug, und wir lassen die Fenster auf. Es wird auf den Abend voll werden im rothen Engel, aber ein Plätzchen am Fenster soll Ihnen aufgehoben sein. Wäre jetzt noch ein Schöpplein gefällig?«

Ich dankte, seinen Wein belobend, und bat ihn, mir den Weg zum Hause des Herrn Kreisrichters zu sagen, da ich mein Geschäft mit ihm bald zu erledigen wünschte. – »Warten Sie,« unterbrach sich mein Mann in einer sehr gewissenhaften Wegweisung, »da kommt mein Heinrich eben aus der Schule und soll Sie begleiten. Der Herr Kreisrichter hält was auf ihn, wie er überhaupt hübsche Kinder und sauberes junges Volk gern um sich hat. Die Bürgermeisterstochter, die gestern geheirathet hat, war sein Augapfel, und alle jungen Mädel hat er am kleinen Finger, obwohl er schon in Jahren ist und sein Lebtag nicht war, was man eine schöne Mannsperson nennt. Schönheit vergeht, Häßlichkeit besteht, heißt's im Sprüchwort. Als er jung war, mögen sie sich nicht so arg um ihn gerissen haben.«

Damit rief er seinen Buben, der draußen über den Flur gelaufen kam. Es war ein krausköpfiger lebhafter Junge mit schönen schwarzen Augen. Zutraulich faßte er meine Hand und wir wanderten zusammen unseres Weges.

»Sie werden den Onkel jetzt zu Hause treffen,« sagte mein kleiner Führer. »Wenn die Birnen erst reif sind, geh' ich jeden Nachmittag mit Hans, dessen Vater nebenan wohnt, von der Schule aus an Onkels Garten vorbei. Sobald er uns sieht, ruft er uns herein, und wir dürfen sogar auf den Baum steigen. Hernach geht er wieder aufs Gericht, bis an den Abend.«

Nicht lange, so hatten wir das Ende der Stadt erreicht, und mein Führer machte Miene, auch noch das Thor zu passiren. »Wohnt der Onkel draußen?« fragte ich.

»Freilich, am Wall; es ist nicht mehr weit zu ihm.«

Wir bogen links ab und betraten den schattigen Spaziergang, der auf den ehemaligen Schutz- und Trutzwerken des friedlichen Ortes hinlief. An einem altertümlichen grauen Hause stand der Knabe still. Hier! sagte er. Man sah durch eine Gitterthür neben dem Hause in den Garten hinein. Vorn in der Tiefe des früheren Stadtgrabens standen prachtvolle Nußbäume, die mit ihren Aesten bis an die oberen Fenster herüber reichten. Keine menschliche Seele außer uns genoß ihren Duft und Schatten zu dieser Stunde. Oben aber hörte man eine Geige aus dem geöffneten Fenster, und die Vögel zwitscherten mit hinein.

»Ist das der Onkel, der spielt?«

Der Knabe nickte. »Vater sagt, er spiele besser als unser bester Stadtgeiger. Aber er spielt keine Tänze, und fast immer aus dem Kopf.«

Ich gab meinem kleinen Freunde die Hand und stand noch eine Weile unten an den steinernen Stufen, während der Knabe dem Thore zusprang. Meine gute Meinung von dem Onkel wuchs, je länger ich in die Fülle des grünen Laubes starrte. Es war ein überaus einsamlicher, erquickender Ort, und zugleich mußte in anderen Stunden eine lustig spazierende wohllöbliche Bürgerschaft die freundlichste Staffage machen.

So erstieg ich endlich, meiner Vollmacht froh, die saubere Treppe. Das untere Geschoß schien unbewohnt, wenigstens hingen die Epheuranken, mit denen die Wände des luftigen Flurs, wohin man blickte, übersponnen waren, wuchernd vor den Thüren und hielten Schloß und Thürgriff umklammert. Nun erscholl das Spiel der Geige voller in dem geschlossenen Raum des Treppenhauses, und da ich langsam stieg, den verstohlenen Genuß mir nicht selbst abzukürzen, war ich noch nicht zur Hälfte hinauf, als ein verwundertes Gesicht oben an den Stufen erschien. Der Mann hatte offenbar eine kurze Abfertigung auf der Zunge, denn ich sah, wie er mit sehr ungehaltener Geberde ans Geländer trat und den Besuch, der augenscheinlich die Stunde schlecht gewählt hatte, mit raschem Händewinken zur Umkehr bewegen wollte. Als er ein ganz fremdes Gesicht sah, ergab er sich in die Nothwendigkeit einer wörtlichen Verständigung und ließ mich völlig heraufkommen.

Er trug einen langen hellen Sommerrock und Schuhe, und ein grauer Schnurrbart bemühte sich umsonst, den harmlosen Zügen einen martialischen Anstrich zu geben.

Ich fragte nach dem Herrn Kreisrichter und hielt ihm meinen Empfehlungsbrief entgegen.

»Sie hören, daß der Herr Kreisrichter spielt,« sagte er mit Achselzucken und einem mühsamen Anlauf zur Höflichkeit. »Um diese Stunde besucht ihn sonst Niemand, mein Herr; es weiß ein Jeder, daß ich ihn dann nicht stören darf.«

Ich entschuldigte mich, daß ich fremd sei und dieser schätzbaren Kenntniß bisher ermangelt habe. Dabei schob ich alle Schuld auf den Wirth und seinen Sohn. –

»Diese unnützen Buben!« fuhr er auf, gleichwohl die Stimme dämpfend. »Von ihnen läßt sich der Herr Kreisrichter Alles gefallen. Wir haben keine eigenen Kinder,« setzte er vertraulicher hinzu. »Da denkt der Mensch immer Wunder welch ein Segen ihm abgeht, und dankt seinem Nachbarn, wenn der ihm vom seinigen borgt, so oft er ihm lästig wird. Manchmal haben wir den ganzen Garten voll, und die Taugenichtse fallen wie die Heuschrecken über Sträucher und Bäume her.«

»Ist keine Frau Kreisrichterin im Hause?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verheirathet,« sagte er mit dem Tone eines Mannes, der mit Befriedigung, aber ohne Ueberhebung, sich eingesteht, weiser gehandelt zu haben, als die meisten seiner Nebenmenschen.

Während dieses halblauten Gesprächs an der Treppe wogte der schöne starke Ton der Violine immer auf und ab und fesselte mich so sehr, daß ich ganz vergaß, was mich hergeführt hatte. Der Alte schien durch mein respectvolles Lauschen gewonnen zu werden. »Wenn Sie sich ganz ruhig verhalten wollen,« sagte er, »will ich Sie ins Vorzimmer treten lassen. Da hören Sie besser und können es ruhig abwarten, bis der Herr die Geige weglegt.« – Er öffnete vorsichtig die nächste Thür, legte noch einmal den Finger auf den Mund und drückte, nachdem ich eingetreten war, die Thür von außen behutsam wie an einem Krankenzimmer ins Schloß.

Ich befand mich in einem überaus hellen, geräumigen Gemach, dessen drei tiefe Fenster, fast bis auf den Boden reichend, den Blick zwischen den Baumwipfeln über Hügel und fernes Gebirg frei ließen. Die reine Luft wehte herein und bewegte die weißen Vorhänge und die Blätter der hochstaudigen Gewächse, die in den Fensternischen standen. Einige Sessel, ein Sopha, dazu ein Schrank mit Musikalien, Alles einfach und bequem, machten das Mobiliar des kleinen Saales aus. Aber die schönsten Kupferstiche an den Wänden und in der einen Ecke, dem günstigsten Licht zugekehrt, die herrliche antike Statue des betenden Knaben nahmen dem Raum alles Ungastliche der Leere. Man sah einen feinen Sinn in der Auswahl der Bilder und in der Anordnung des Ganzen, und nur der gekräuselte Sand auf den Dielen erinnerte daran, daß der Herr Kreisrichter zu den Honoratioren einer kleinen Stadt gehörte.

Sehr zufrieden mit meiner Lage ließ ich mich auf einem der Sessel nieder, und indem meine Augen zwischen den Stuckarabesken des weißgetünchten Plafonds herumgingen, horchte ich mehr und mehr hingerissen dem Concert im Nebenzimmer.

Es war nicht allein das Fremde und Wunderliche meines Zustandes, das Unverhoffte und Heimliche, was mir den Genuß erhöhte; ich weiß es ganz bestimmt, daß ich niemals vor- und nachher so habe spielen hören. Offenbar war es freie Phantasie, denn es mischten sich gelegentliche Anklänge an bekannte Weisen ein, wie man im Erguß eines innerlichen Gesprächs dann und wann sich an ein schönes Wort eines Dritten erinnert, das die eigenen Gedanken schlagend zusammenfaßt. Aber wenn irgend Musik eine seelenbezwingende Macht hat, so hatte sie diese. Sie war ohne alles Pathos, ohne jegliche Rhetorik. Unscheinbar, ja sogar nüchtern bewegte sich bald dieses, bald jenes Thema, und wuchs unversehens, und verstärkte sich an ernster Energie der Behandlung, und hatte mich bezwungen, ehe ich mich dessen versah. Eine andere Melodie lös'te dann die erste ab und spielte leichter mit meinen Sinnen, bis die erste wieder auftauchte und daran erinnerte, daß sie ein älteres Recht auf mich hatte. Die dämonische Gewalt des Einfachen habe ich nie so deutlich an mir empfunden, wie hier. Wenn der heitere Herbsttag draußen selbst den Bogen geführt hätte, es hätte nicht mehr Stimme der Natur in seinem Spiel sich offenbaren können.

Und so verklang es auch ohne feierliche Schlußcadenz, wie der Wald plötzlich zu rauschen aufhört, wenn der Wind schweigt. Ich hörte einen eigenthümlich ungleichen Schritt und ein Klappen, aus dem ich entnahm, daß die Geige zur Ruhe gebracht wurde. Nun besann ich mich wieder, wo ich war, im Vorzimmer des Herrn Kreisrichters, eine gerichtlich beglaubigte Vollmacht in der Tasche.

Den alten Diener hörte ich jetzt durch eine andere Thür zu seinem Herrn treten und mich anmelden. Einen Augenblick noch, und er öffnete die Thür nach meinem Saal und bat mich, einzutreten.

Mit einer seltsamen Befangenheit trat ich über die Schwelle, und der Anblick, dem ich begegnete, war nicht geeignet, mich in die Stimmung eines Geschäftsbesuches sogleich zurückzuführen.

Das Gemach war kleiner, aber nicht minder hell, und durch einen Teppich wohnlicher, als das erste. Ein großer Schreibtisch stand mitten im Zimmer zwischen den tiefen Fenstern, zu beiden Seiten mächtige Oleanderbüsche in voller Blüthe. Die Wand mir gegenüber war mit einem einzigen großen Bilde geschmückt, einer Copie jenes wunderbaren Meisterstücks des ältern Palma, das über dem Seitenaltar in Santa Maria Formosa zu Venedig steht: die heilige Barbara im dunkelrothen Gewand, das Haar goldbraun, die lebendigen Augen ernsthaft auf den Beschauer gerichtet. Unter dem Bilde stand ein niedriges Canapee, ein Tischchen davor. Sonst kein Bild in dem ganzen Zimmer und die übrigen Wände mit Bücherschränken verstellt.

Am Tische stand der Kreisrichter.

Ich hatte die Worte meines Wirths, die mich auf die Bekanntschaft eines nicht eben schönen Mannes vorbereiteten, über dem Concert gänzlich vergessen. Ich war auf einen einfachen, rüstigen und stattlichen Mann gefaßt, dessen heiter vornehmes Gesicht in den Rahmen dieses Hauses wohl hineinpaßte. Fast das völlige Widerspiel meiner Erwartungen stand mir gegenüber.

Eine hochaufgeschossene, unreife Gestalt, wie eines zu rasch gewachsenen Knaben, ungeschickt in den Kleidern hängend, trug einen Kopf von der entschiedensten Häßlichkeit. Der Blick eines einzigen hellgrauen Auges fiel mir ruhig entgegen, das andere, das zu fehlen schien, war von der Wimper verschlossen, die Nase und der untere Theil des Gesichts sehr schmal und verkümmert; man konnte nicht glauben, daß jemals das Roth der Jugend auf diesen Lippen und Wangen geschimmert hatte. Die Stirne sprang vor, wie in alten Häusern das obere Geschoß über dem untern, breit und hoch; einige Büschel fahlblonder Haare hingen darüber herab. Aber selbst diese bedeutende und ungewöhnliche Bildung des Schädels vermochte die Nüchternheit des Gesichts nicht sonderlich zu beleben und die Häßlichkeit zu einer solchen zu machen, welche die Franzosen le beau du laid zu nennen pflegen. Ich habe nie einen Kopf von so erloschenem Colorit gesehen.

Nicht minder unglücklich war die Haltung der Gestalt. Der Kopf neigte sich leicht auf die linke Seite, der linke Arm war offenbar ein wenig kürzer, als der rechte, und wie der Mann an dem Tische stand, auf den rechten Fuß gestützt, den linken mit der Spitze gegen den Teppich gestemmt, war es unzweifelhaft, daß sich die Uebervortheilung der linken Seite bei der Vertheilung der natürlichen Gaben bis auf den Fuß herab erstreckt hatte.

Unwillkürlich glitt mein Blick von der seltsam vernachlässigten Mannesgestalt auf das Bild der Heiligen, das in sicherer Fülle der Schönheit fröhlich neben ihm blühte und den goldenen Rahmen verdunkelte.

Er weidete sich offenbar an meinem Erstaunen, und ich sah ein sehr feines Lächeln über seine Züge fliegen. Dabei öffnete er leise die Lippen, und eine Reihe der schönsten Zähne gab plötzlich dem unscheinbaren Munde Reiz und Adel.

»Sie müssen das Original des Bildes gesehen haben,« fing er an, ohne eine weitere Vorstellung meinerseits abzuwarten. »Ich sehe es an Ihren Augen, daß Sie es nicht zum ersten Male bewundern. Dieser Copie hier, obwohl sie mit Sorgfalt und Verstand gemacht ist, fehlt denn doch gerade das, was an der ächten Barbara auf den ersten Blick hinreißt.«

Dabei hatte er den Kopf flüchtig nach dem Bilde gewandt und war von dem Tisch zurückgetreten. Seine Bewegungen waren rasch und frei, das Auge glänzte zu dem Gemälde hinauf, und seine Stimme klang voller und tiefer als man der schmalen Brust zugetraut hätte.

Ich sagte ihm, daß ich allerdings die kaum verjährte Erinnerung an dieses Bild aufs Lebendigste Zug für Zug in mir trüge.

»Sie werden Sie behalten, so lange Sie leben!« sagte er feierlich; dann in leichterem Ton: »Werden Sie glauben, daß ich mit diesem Bilde schon Todte erweckt habe?«

Ich sah ihn fragend an.

»Verstehen Sie mich,« fuhr er lächelnd fort, »meine Todten gingen aufrecht auf ihren Füßen herum, aßen, tranken und schliefen, und Einige trieben den Hochmuth so weit, daß sie sich sogar einbildeten, zu wissen, was Leben sei. Und doch waren es Menschen ohne Lebensflamme, wie sie eine kleine Stadt denn eben vielfach beherbergt. Wenn sie mich lange genug gedauert und geärgert hatten, führte ich sie auf die Stelle, wo Sie jetzt stehen. Da kamen sie nach und nach zu sich und wurden demüthig, und die Schuppen fielen ihnen von den Augen. Wo es nicht zündete, war sicher ein Stein in der Brust. Aber ich hüte mich wohl, mein Wunder zu oft zu thun. Manche gute Gesellen sind eben zu schwach, das Leben zu ertragen; es macht sie unglücklich, wenn man sie ihrem Scheintod, ihren mittelmäßigen Wünschen, ihren engen Bedürfnissen entreißt. Die Schönheit ist nur für den frommen Mutigen, der keine Götzen haben will neben ihr. Für die Anderen – ist das!«

Mit diesem Worte zog er einen grünen Seidenvorhang an einem Schnürchen über das Bild. »Im Nu ist es dunkler im Zimmer,« sagte er ernsthaft. – »Aber Sie kommen in Geschäften. Dafür giebt uns die Sonne draußen Licht genug.«

Er schob mir einen Sessel neben den Schreibtisch und setzte sich selbst. Nachdem er den Brief gelesen und die Vollmacht geprüft hatte, sagte er: »Bis auf den Einen Punkt, der mit dem Käufer mündlich zu erledigen ist, steht dem Vollzuge des Kaufs nichts im Wege. Ich kann Sie zu jenem Herrn führen, mit dem Ihr Freund in Unterhandlung steht, und die Sache ist mit drei Worten und einem Federzug abgethan. Eilt es Ihnen mit der Abreise? Gut, so machen wir uns unverzüglich auf den Weg. Wollen Sie aber die Nacht darangeben, so fügt sich Alles besser. Ich mache es mit dem Wirth schon aus, daß Sie mein Gast sind und unter meinem Dach übernachten. Auf den Abend lade ich Sie zu einer Tanzgesellschaft bei unserm Bürgermeister, meinem braven alten Freund. Dem Käufer des kleinen Grundstückes werden Sie dort ebenfalls begegnen und können bei einem Glase Wein den Handel freundschaftlich ins Reine bringen. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie bleiben. Machen Sie mir die Freude!« –

Ich schlug in die herzlich dargebotene Hand. »Wie schlecht verstünde ich mich auf meinen Vortheil, sagte ich, wenn ich solcher Bitte widerstehen könnte. Leider haben Sie keinen Tänzer an mir.«

»Wenn die Mädchen damit zufrieden sind, ich lasse mir's schon gefallen, einen bloß schauenden Menschen neben mir zu haben. Die Jugend hier ist gesund, und das ist in jungen Jahren die halbe Schönheit. Auch haben sie noch Race. Achten Sie auf die feine Form der Köpfe und die Schläfen, und im Gang und Tanz und Sitzen die natürliche Anmuth. Väter und Mütter sehen das wohl auch und mögen es auch gern von mir hören; wenn sie es nur völlig zu schätzen wüßten! Aber von dem ersten besten jungen Fant hören sie es doppelt so gern.«

»Ich habe Sie da gleich mit meiner Schwäche bekannt gemacht,« fuhr er heiter fort, indem er aufstand. »Allein ich habe ein Vertrauen zu Ihnen gefaßt; und auch das kommt von oben, wie alles Gute. Lassen Sie mich's denn genießen, was mir nicht oft beschieden ist, meinem alten Hange nachzuhängen, ohne daß mich meine biedern Nachbarn für einen Narren halten, dem man vieles hingehen lassen muß, weil er sonst eine ehrliche Haut ist. Sie sind in Italien gewesen. Sie wissen, wie einem Herz und Augen zuweilen übergehen.«

Er rief dem Diener und ließ sich den Hut bringen. »Jetzt in die Kanzlei,« sagte er, »und Abends zu Ihnen in den Engel, Sie zum Fest abzuholen.«

Wir gingen zusammen den grünenden Treppenflur hinab. Ein Schwalbenpaar flog durch das offne Fensterchen schwirrend hinaus. »Dort im Winkel ist ihr Nest,« sagte der Kreisrichter. »Das sind meine sommerlichen Hausgenossen und die einzige Familie hier am Ort, deren Kinder sich nicht an den Onkel gewöhnen wollen. Es muß wohl an ihnen liegen, denn ich habe die Gelbschnäbel herzlich gern.«

Damit traten wir auf den Wall hinaus, und mein Gastfreund machte mich auf einen Weg aufmerksam, der quer durch den schattigen Grund in die jenseitigen Hügel hinüberlief. »Er führt Sie auf einen Punkt, wo Sie die ganze Herrlichkeit unseres Städtchens überschauen. Möge sie Gnade vor Ihren Augen finden.«

Ich folgte dem Fußweg, während er dem Thor zuwanderte. Hinter einem der Bäume blieb ich stehen und sah ihm nach, wie er mit seltsam schleifendem Gang, das Haupt auf die Seite geneigt, von den spielenden Sonnenlichtern überflogen unter den Bäumen hineilte, die Arme auf dem Rücken, bei aller Ungestalt und Verwahrlosung des Aeußern eine wohlthuende Erscheinung. Oder waren meine Augen schon von seiner Stimme bestochen?

——————

Als ich in der Dämmerung von meinen Irrwegen in das Wirthshaus zurückkam, unterwegs mit wenig anderen Gedanken beschäftigt, als mit meiner neuen Bekanntschaft, traf ich den wundersamen Mann schon in vertrautem Gespräch mit meinem Wirth. Der kleine Heinrich stand neben ihm, und die Hand des Kreisrichters ruhte leicht, während er sprach, auf dem Lockenkopf des Knaben.

»Ich habe Ihre Seele schon dem rothen Engel abgewonnen,« rief er mir entgegen, »und Sie sind nun gänzlich in der Gewalt des hinkenden Teufels. Hoffentlich finden Sie nicht Ursache, den Tausch zu bereuen. Mein sehr verehrter Herr Wirth geht freilich eines Gastes verlustig, der den Ruhm seiner guten Betten verbreiten würde. Aber der ist, denk' ich, auch ohne Sie fest genug in der Welt gegründet, und seinen guten Wein, sein eigen Gewächs, sollen Sie bei mir nicht minder verehren lernen. Laßt es vom besten vorjährigen sein, lieber Herr Gevatter, und schickt mir nicht zu bescheiden. Mein alter Lerche, wie Ihr wißt, ist auch kein Feind des Vortrefflichen.«

»So ein Gegenstand von sechs Flaschen, Herr Kreisrichter?« fragte der Wirth mit einer devoten Art von Vertraulichkeit, wie sie nur Wirthen zu ihren Stammgästen eigen ist.

»Bleib's dabei!« sagte der Kreisrichter. Dann zauste er den Knaben in den Locken, hinterließ einen Gruß an die Frau Gevatterin, und wir gingen. Ich hatte offenbar an Ansehn im rothen Engel erheblich gewonnen durch die freundschaftliche Art, mit welcher der Kreisrichter seinen rechten Arm mit meinem linken verschränkte; doch stützte er sich nicht auf, und wer seine Füße nicht sah, kam durch die Bewegungen des Oberkörpers kaum auf den Gedanken, daß er lahm sei.

Der Marktplatz war lebendig. Auf den Stufen des fließenden Brünnleins standen Buben und Mädchen und sahen in die erleuchteten Fenster des Hochzeithauses. Einzelne Töne einiger stimmenden Geigen, Flöten und Contrabasse verkündeten die großen Dinge, die bevorstanden, und lockten mehr und mehr Zuhörer in die Fenster und Hausthüren gegenüber. Wir gingen an dem Brunnen vorbei. Die ältesten der Kinder kamen heran und gaben meinem Begleiter die Hand. Es war kein Gesicht unter allen, das über seine mangelhafte Gestalt eine Miene verzogen hätte. Und doch sah er noch auffallender aus, als am Nachmittag; er ging im schwarzen langen Frack, die Handschuhe in der Linken schlenkernd, in der rechten Hand ein Zweiglein Reseda, das er beim Eintritt in das Haus des Bürgermeisters ins Knopfloch steckte.

Oben fanden wir eine zahlreiche Gesellschaft beisammen, und es wollte mir scheinen, als ob man mit dem Beginn des Tanzes auf meinen Gastfreund gewartet hätte. Die Gruppen der jungen Leute, die plaudernd im Saal beisammen standen, belebten sich auf einmal, als seine lange Figur an der Schwelle erschien. Die Mädchen ließen ihre Tänzer stehen und eilten mit hellen Augen zu ihm heran, ihm eine Hand zu geben. Die Musikanten stimmten eifriger, und eine Clarinette that sich mit einem einsamen Lauf hervor, der in einem glänzenden Triller schloß. Der Hausherr kam uns aufs Würdevollste entgegen und hieß auch den ungeladenen Gast herzlich willkommen. Seine ledige Schwester machte die Wirthin, denn die Hausfrau schien schon länger todt zu sein. Immer am Arm des Kreisrichters gelangte ich nun in die Zimmer der Väter und Mütter und mußte eine langwierige Präsentation über mich ergehen lassen. Ich hatte meinen Begleiter heimlich dabei im Auge. Ein stilles Behagen der Herrschaft, die er über diesen Kreis ausübte, lag auf seinem Gesicht, eine leise, gutmüthige Schalkhaftigkeit in den Worten, die er an die Einzelnen richtete. Und obwohl Alle darüber einig zu sein schienen, daß er nicht ganz von ihrem Stoffe war, offenbarte sich doch in der Art, wie ihm Männer und Frauen begegneten, das Bewußtsein, daß sie keinen zuverlässigeren Freund besaßen.

Wir hatten kaum sämmtlichen Honoratioren unsern Respect bezeugt, als die Musik vollstimmig eine Polonaise begann. Mein Freund eröffnete den Ball mit der Wirthin. Wie er mit ihr den Saal hinaufschritt, schien er trotz seiner Gebrechen von Allen am meisten Herr seiner Bewegungen zu sein. Seine Dame, die Ehre vollkommen würdigend, blickte freundlich zu ihm hinauf und nahm ihm jedes Wort, jeden Scherz lebhaft dankbar vom Munde. Er führte sie dann wieder in das anstoßende Gemach, wo sich bald ein Kranz von Müttern um ihn versammelte.

Ich hatte mich inzwischen mit dem Käufer des Weinbergs, der mir von dem Kreisrichter in einem ehrsamen Herrn Apotheker vorgestellt worden war, in die Schreibstube des Hausherrn zurückgezogen, durch ein kleines Kabinet von der lauten Tanzmusik getrennt. Hier stand für die gereifteren Gäste ein Tisch mit Flaschen und Gläsern bereit und mannigfacher Rauchapparat. Wir waren bald Handels einig. Die Clausel des Contracts bezog sich auf jene Grille meines Freundes, das kleine Grundstück dereinst wieder in seinen Besitz zu bringen, und da der Käufer das Stück Rebenland zunächst zu allerhand Experimenten mit neuen Reben und chemischer Düngung zu benutzen dachte, ging er auf annehmliche Bedingungen eines etwaigen späteren Rückkaufes bereitwillig ein. Wir klangen mit den Gläsern an auf den guten Handel, meinen Freund und die Fortschritte der Wissenschaft, und der Biedermann versprach, mir, als dem Unterhändler, eine Probe seiner neuen Künste, wenn sie geriethen, ins Haus zu schicken.

So standen wir auf, und ich trat durch das Kabinet an den Eingang des Tanzsaales zurück. Schon hatten die Gesichter zu glühen, die Augen zu glänzen angefangen, und es war allerdings viel Hübsches zu sehen. »Gesunde Jugend ist die halbe Schönheit,« hatte mein Kreisrichter gesagt; daran dachte ich wieder. Der Zauber der Frische lag über dem größten Theil der tanzenden Mädchengestalten, hie und da noch ein wenig mehr. Auch die jungen Männer waren meist ansehnlich und von gewandter Haltung und mußten ein sonderliches Talent in der Unterhaltung besitzen. Denn mehr als einmal hörte ich ein helles, unschuldiges Mädchengelächter mitten durch die Walzermelodie, wie ich mich nicht entsinne jemals in Tanzsälen größerer Städte vernommen zu haben.

Nach und nach aber vertieft in meine Gedanken, überhörte ich, daß Jemand zu mir trat. Eine Hand berührte mir die Schulter, und der Kreisrichter stand neben mir.

»Sie träumen mehr, als Sie sehen,« sagte er lächelnd. »Sie bedürfen doch noch einiger Anleitung. Mein Kleinod ist leider gestern entführt worden. Nunmehr ist kein Wuchs, der sich mit dem ihrigen vergleichen ließe, zwischen diesen vier Wänden. Und welches Haar, welche feinen Augen, welche ruhige Stirne! Nur daß der Geist in dem Gesichtchen dennoch überwog, und der Mund mehr durch Sinn und Güte, als durch eine vollkommen schwellende Fülle reizend war. Wir leben im Norden, lieber Freund. Das Gemüth tritt da an die Stelle der Natur und legt die letzte Hand an die Form. – Sehen Sie, da ist die Schwester der Neuvermählten. Seit ich sie dazu vermocht habe, ihr Haar rund abzuschneiden, wie stimmen nun all ihre Züge munter zusammen! Ein kleiner Eigensinn, aber Idealität im Blut und meine sehr gute Freundin. – Und dort die Kleine, Halbwüchsige, die mit den Löckchen im Nacken. Wie sich das Ohr zierlich aus den Haaren abhebt – jetzt fällt leider eine Blume darüber; und das trutzige Näschen in dem allerliebsten Soubrettengesicht, es wird schwer halten, daß es sich in späteren Jahren in eine gewisse Würde hineinfindet. – Sehen Sie jene Schlanke mit der Rose im braunen Haar, die sich eben lachend zu ihrer Freundin wendet? Sie schwebt im Tanzen wie ein Blumenzweig. Diese mandelförmigen Köpfchen, ich liebe sie. Sie mögen altern, wie sie wollen, der Umriß bleibt unverwüstlich.«

Während er sprach, leuchtete sein einziges Auge, und es schien seltsamer Weise, als dehne sich die weit vorstehende Stirn. Sein unscheinbarer Mund war sehr milde im Ausdruck, keine Spur jenes fatalen unsichern Etwas, das die Lippen älterer Herren so oft umspielt, wenn sie die Kenner machen bei Tafel, in Galerien, oder in Tanzsälen. Er sprach während mehrerer Tänze in seiner Weise fort. »Die Wenigsten kennen die große Welt,« sagte er. »Aber in kleinen Städten ersetzen Schicksale oft auf Einen Schlag, was die Bildung des offenen großen Lebens in Jahren nach und nach am Menschen thut. Ich vermisse es nicht, daß ich von der großen Landstraße so entlegen wohne. Die Menschen haben auch hier ihre Lebensgeschichte. Seit den zwölf Jahren, daß ich hier bin, – wie manchen Schmerz hat mich der Vorzug gekostet, daß mich die Natur zum Vertrauten gestempelt hat.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, und ich unterhielt mich eine Stunde lang mit Andern. Dann kam er wieder zu mir – es war gegen zehn Uhr – und sagte: »Ich bin so selbstsüchtig, daß ich für mich und Sie Urlaub von unserm Wirth erbeten habe. Ich freue mich schon den ganzen Nachmittag darauf, daß wir noch von Italien miteinander reden wollen. Lerche hat für ein nothdürftiges Essen gesorgt, und unser rother Engel, wie Sie gehört haben, steht für den Wein. Kommen Sie! Da Sie nicht tanzen, sind wir dem jungen Volk unnütz, und die Alten kennen schon meine Unart, weder zu spielen, noch zu kannegießern.«

Ich folgte ihm gern, und wir kamen unbemerkt auf den Flur. Er hatte schon meinen Arm gefaßt, als ein junges Mädchen aus einer Seitenthür hervorhuschte, eben jener kleine Eigensinn, den er mir als die jüngere Tochter des Hausherrn gezeigt hatte. »Sie dürfen mir nicht so fort, Onkel!« rief sie, »Sie entgehen dieser Schleife doch nicht, die ich Ihnen im Cotillon zugedacht hatte.«

»Haben Sie nicht eine Decoration für meinen jungen Freund, Clärchen?« sagte er lächelnd, indem er sich das Band von den spitzen Mädchenfingern ins Knopfloch schlingen ließ. »Sie würde ihm doch besser stehen, als mir. Nehmen Sie indessen meinen schon etwas welken Resedazweig als eine Erinnerung an ihren invaliden Ritter.«

»Ihr Freund verdient gescholten, und nicht belohnt zu werden,« erwiederte das Mädchen rasch. »Gute Nacht, Onkel! Und sie war wieder davon, ehe ich um Gnade bitten konnte.«

»Da haben Sie Ihr Gericht!« lachte der Kreisrichter im Hinuntergehen. »Sie gehören noch nicht zu den Prytanen und müssen Gunst und Glück verdienen, d. h. ertanzen.«

Als wir in der Kühle durch die dunkle Stadt gegangen waren und nun aus dem Thore traten und die Mondsichel langsam über den Hügeln emporschweben sahen, stand mein Freund still und sagte: Wo mögen sie jetzt sein, die beiden glücklichen Menschen, denen ich gestern um diese Stunde in den Reisewagen half? Es ist doch köstlich, mit seinem jungen Glück in die weite Welt hinaus zu fahren, wenn der Mond eben aufgeht, alle Winde still schweigen, die Nacht über der Erde schwimmt und darauf hört, wie unser Herz klopft. Davon wußten unsere Aelterväter nichts, die aus der Kirche in ihr eigen Haus und Bett zogen, wie übermüthig schön das ist, Alles, was einem seine Heimath bedeutet, mit sich herumführen und in die elendeste Schenke, wo man übernachten muß, sein ganzes Haus und Hab' und Gut in Gestalt einer lieben Frau hineinzutragen. Es steht Ihnen noch bevor; genießen Sie es mit voller Seele – aber nicht zu lange. Es hat Alles seine Zeit, seine Höhe, seinen Verfall.«

Mein heimliches Staunen über den Mann wuchs bei solchen Worten immer mehr. Welche lebhafte Phantasie, mit der er die Geheimnisse eines ihm fremden Glückes durchdrang! Denn »wir sind nicht verheirathet« hatte Lerche gesagt. Waren wir es vielleicht einmal? Und wenn nicht, warum in aller Welt nicht? Wie geschaffen schien dieses liebevolle, feste, helle Gemüth, eine Frau glücklich zu machen. Er war häßlich – ich hatte häßlichere Ehemänner gesehen, die von ihren Frauen aufrichtig angebetet wurden. Und wenn er um seines Aeußern willen traurige Erfahrungen gemacht hatte, hätte sich nicht so vielen seiner Worte eine leise Bitterkeit, oder doch ein Anflug von Resignation müssen anmerken lassen? Wie heiter klangen sie, wie ohne jeden Verdacht, daß er entbehre, was er pries!

Ich kam nicht damit ins Reine. Indessen waren wir in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, wo uns Lerche in haushofmeisterlichem Eifer empfing. Eine große Lampe brannte auf dem Tisch vor dem verhangenen Bilde, einige kalte Schüsseln standen darauf, die sechs Flaschen im Cirkel um die Lampe aufgepflanzt. Noch waren die Fenster offen, und das schwarze Laub wogte davor unter dem reinen Himmel. Wir saßen traulich nieder, mein Wirth offenbar in der besten Laune. Lerche ging geschäftig, obwohl nichts zu schaffen war, ab und zu, und man hörte, wie er in den Zwischenräumen draußen das Lob seines Herrn wahr machte, daß er kein Feind des Vortrefflichen sei. Als er die Schüsseln abgetragen und gemeldet hatte, daß meine Lagerstatt in bester Ordnung sei, empfahl er sich für heut. »Bei dem letzten Glas einer Flasche darf ich ihn nicht stören,« sagte sein Herr gutmüthig. »Er wird dann gern sentimental, und ich habe ihn oft auf seiner einsamen Kammer laute Reden halten hören, von denen er selber kein Wort verstand. Wir alten Junggesellen haben alle unsere Eigenheiten.«

Nun lag ich in dem weiten Lehnsessel, dem Bild gegenüber, und eine vortreffliche Cigarre that das Letzte, mich mit dem Gefühl des größten Wohlseins zu durchdringen. Der Kreisrichter ging rauchend das Zimmer auf und nieder, und eine Pause in der Unterhaltung trat ein.

Endlich machte sich eine lange Gedankenreihe bei mir Luft. »Sie sind doch ein glücklicher Mann!« sagte ich.

Er blieb stehen und sah mit der freundlichsten Ironie von der Welt auf mich nieder. »Meinen Sie?« erwiederte er. »Nun, ich meine es auch. Aber was will dies ›doch‹, das Sie dem glücklichen Manne vorsetzten? Ueberrascht es Sie, einen Glücklichen zu finden, wo mancherlei Umstände Sie einen Unglücklichen suchen ließen? Ist nirgend Glück zu Hause bei dem Einsamen? Doch das ist der Onkel einer halben Stadt schwerlich. Oder bei Einem, der sich nicht zu viel thut, wenn er sich gesteht, daß er einer der häßlichsten Menschen seiner Bekanntschaft ist?

»Ich weiß, daß Sie sagen wollen, so hätten Sie es nicht gemeint; daß Sie es bestreiten werden, wenn ich sage, Sie hätten ganz Recht gehabt, es so zu meinen. Es hat Leute gegeben, und meine besten Freunde, die sich und mich über meine Ritterschaft von der traurigen Gestalt mit einem Satze trösten wollten, den heutzutage die Kinder von ihren Ammen lernen: Männer brauchten nicht schön zu sein, das sei für die Weiber. Mir war es immer ein Zeichen von der Künstlichkeit unserer Cultur, daß wir auf natürliche Gaben so leicht verzichten. Oder ist dieser leichtsinnig weise Verzicht nicht so ganz ehrlich? – Bemühen wir uns nur, aus der Noth eine Tugend zu machen? Ich wünschte von Herzen, daß es so wäre.

»Woher kommt es denn sonst, daß wir, einige Tugendstolze und Kopfhänger ausgenommen, mit dem freundlichen und heiligen Worte Glück gerade das Wünschenswerte bezeichnen, was ohne unser Zuthun uns geschenkt wird? Warum freuen sich die Menschen selbst in einem Spiel, wo es um Nüsse oder Rechenpfennige geht, die glücklichen Karten zu haben; die Rosen, die sie im Garten ziehen, früher als die im Nachbarsgarten ausschlagen, die Nachtigall, die sie zehn Schritte weiter eben so gut hören würden, gerade auf ihrer Seite des Gartenzauns im Busche nisten zu sehen? Es ist eben für jeden wohlthuend, sich als einen Liebling des Himmels ansehen zu dürfen. Und wir sollten gleichgültig dagegen sein, ob wir an unserm eigenen Leibe eine Göttergunst erfahren haben, oder vernachlässigt worden sind? Nimmermehr! – Die alten Völker mit ihrem reinen und frommen Sinn wußten auch dieses Glück hoch zu halten. Es ist nichts Zufälliges und Kleines, daß sie unter all ihren schönen Göttern eine Göttin der Schönheit hatten.

»Sie werden mich nicht mißverstehen, als begriffe ich nicht auch das Stück Wahrheit in jenem Satze, den ich bestritten. Der beste Werth eines Mannes für die Seinen und die Welt besteht allerdings in Anderem, als in seinem Gesicht und seinen wohlgestalten Gliedern. Aber in diesem Sinne betrachtet – wo bleibt der Unterschied zwischen den Geschlechtern? Und darf dies ein sittlicher Mensch nicht einsetzen, ohne darüber jene natürlichen Gaben zu verachten, die mir unter allen sogenannten Glücksgütern voranzustehen scheinen?

Das Letztere müssen Sie einem Menschen zu Gute halten, der diesen Vorzug immer entbehrt hat und niemals die Aussicht hatte, sein böses Glück zu verbessern, was bei allen anderen Ungnaden des Schicksals zu hoffen freisteht. Man überschätzt jedes Versagte.«

Er sagte dies Alles lebhaft, aber völlig heiter. Kein Zug von Empfindlichkeit lag in seinem Gesicht. Dann that er einige Schritte durchs Zimmer und stand wieder am Tische still, das Auge auf das verhangene Bild gerichtet.

»Und es ist auch ein Unterschied,« fuhr er fort, den die weisen Leute vergessen. Ein mangelndes Glück ist nicht gleich ein Unglück. Unsere nördliche Welt von heutzutage ist eine Welt gedankenvoller Arbeit, sittlicher Energie. Was Wunder, daß ihren Männern ein Glück im Preise gesunken ist, das nicht auch in den Bereich ihres Strebens gelegt ist! Aber das ist eine harte und stumpfsinnige Thorheit, zu verlangen, daß man den Mangel jenes Glücks auch dann noch nicht empfinden soll, wenn er ans Unglück grenzt.

»Noch jetzt, wo ich, wie Sie selbst gestanden, doch ein glücklicher Mensch bin, kann ich auf Augenblicke jenes Gefühl in mir zurückrufen, das ich als junger Mensch, schon als Knabe empfand, wenn ich über die Gasse ging und die Kinder ließen ihr Spiel ruhen, um mich anzusehen, oder die Mädchen stießen sich heimlich mit den Ellenbogen an, sich auf den seltsamen Menschen aufmerksam zu machen. Glauben Sie nicht, daß ich der Narr war, jedes glatte Stutzergesicht zu beneiden. Ich fühlte mich, und je mehr ich zum Menschen aufwachte, desto herzhafter und tröstlicher sagte ich mir all jene weisen Dinge, die über den wahren Werth des Menschen zu sagen sind. Ich hatte auch die Genugtuung, daß der Schrecken vor mir nicht unbezwinglich war. Manches Kind, dem auf den ersten Blick nicht wohl bei mir wurde, hing später von Herzen an mir. Ich hatte mehr als einen Freund auf Leben und Tod; und sogar Freundinnen, leider mehr, als mir lieb war, und darunter die schönsten Mädchen in der Stadt.«

»Bin ich doch selbst ein Zeuge gewesen, daß Ihr Glück Ihnen darin treu geblieben ist,« versetzte ich.

Er lächelte vor sich hin. »Wenn ich Feinde hätte,« sagte er, »ich würde ihnen dieses Glück wünschen, das erst in gewissen Jahren einigermaßen vergütet, was es einem in der Jugend kostet. Es ist recht hübsch, wenn die Menschen ein gutes Zutrauen zu einem haben, die Eltern einem unbesorgt ihre Töchter, die Brüder ihre Schwestern, die Ehemänner ihre leichtsinnigsten Frauen anvertrauen. Nur ist dieser Beweis von Achtung ein wenig zweideutig, wenn man beschaffen ist, wie ich. Der Ruf eines gefährlichen Menschen ist kein Ruhm. Aber wenn der Ruf eines völlig ungefährlichen auch mehr ein Mißgeschick, als eine Schande ist: es kommen Stunden genug, wo man sich seiner schämt.«

Er trank ruhig ein Glas und füllte es von Neuem. Sein blasses Gesicht röthete sich, mehr, als vom Wein, von Erinnerung. »Ich schäme mich dieser Scham nicht« setzte er hinzu. »Man hätte kein Herz im Busen, wenn man von so viel Auszeichnung nicht beschämt würde.«

»Und doch bin ich versucht zu glauben, daß Sie sich und den Menschen damals Unrecht thaten.«

»Mir? Gewiß nicht. Häßlichkeit glänzt in jungen Jahren am meisten. Den Menschen? Ich glaubte es damals selbst zuweilen. Um dieses frommen Glaubens willen habe ich sogar die Thorheit begangen, in einem Zimmer, wo leider kein Spiegel hing und die Nacht schon hereinbrach, der schönsten meiner Freundinnen zu gestehen, daß ich öfter, als es mit rechten Dingen zugehen könne, von ihr geträumt hätte. Es war nur die Vorrede zu einer schönen langen Herzensgeschichte, die ich ihr nicht geschenkt haben würde, hätte sie an der Vorrede mehr Geschmack gefunden.«

»Es war der Thörin eigener Schade,« erwiederte ich, »und ein größerer für ihr ganzes Geschlecht. Aufrichtig, bester Mann: war die eine leere Seele werth, daß Sie an all ihren Schwestern verzweifelten? Sollte es nicht auch in Ihrer Jugend mehr als Ein Clärchen gegeben haben, dessen kleiner Eigensinn kluger Weise darin bestanden hätte, Sie besitzen zu wollen?«

»Vielleicht,« sagte er trocken. »Dann wäre nur leider der kleine Eigensinn von dem größeren übertrotzt worden, der mir im Blute saß. Mein Sinn war unrettbar an Schönheit verloren, und der Widerspruch, der mir mit auf die Welt gegeben worden, die ungenügsamsten Sinne in einem weniger als nothdürftigen Bau, der Streit zwischen meinen Bedürfnissen und dem Mangel alles Dessen, worauf man Ansprüche stützen darf, war so heftig und unversöhnlich, daß es endlich selbst den Himmel erbarmt zu haben scheint.«

Mit einer strahlenden Miene stand er in sich versunken. »Ich habe mehr genossen, als ihr Alle!« sagte er plötzlich halb für sich. Dann hob er sein Glas, sah eine Weise in das leuchtende Roth hinein und sagte dann: »Der Wein hat schon zu viel ausgeplaudert, als daß ich Ihnen nicht Alles sagen dürfte und müßte. Füllen Sie Ihr Glas! Wem kann ein Alter besser vertrauen, als der Jugend!«

Wir klangen leise mit den Gläsern an. Dann trat er an das Bild und zog den Vorhang zurück. In dem warmen Lampenlichte floß ein wunderbares Leben über die Gestalt, als würde das Blut in den Wangen röther, die Augen strahlender. Er schob einen Sessel dem meinigen gegenüber, nachdem er den Tisch in die Mitte des Zimmers gerückt hatte, und verbarg einen Augenblick die Stirn in der Hand. Darauf sprach er:

»Eine leere Seele war sie nicht. Vielleicht verstand sie mich besser, als die Anderen alle. Aber ihr Erstaunen, ihre völlige Ahnungslosigkeit und der Blick, mit dem sie mich ansah, ob ich es auch wirklich war, dem solche Worte über die Lippen gekommen – das Alles traf tiefer und entscheidender, als Hohn und Grausamkeit hätten treffen können. Sie hat Recht, sagte ich mir, als ich ging; man soll nichts gegen die Natur thun. Es wäre ein Verbrechen am Instinct, der Gleich zu Gleich gesellt, wenn sie mir zu gehören wünschte.

Seit jenem Abend wußte ich, daß ich allein bleiben würde.

Und seltsam, seitdem ich dieß wußte, und der erste Schmerz ausgeblutet hatte, gefiel ich mir besser als je zuvor, und wurde heiter ohne Zwang und erlebte die allerbesten Tage.

Seit meinen Knabenjahren waren mir beide Eltern gestorben. Und da mich nichts an meinem Heimatorte hielt, wo ich einzig um jener schönen Freundin willen meine Ferien zuzubringen pflegte, gab ich am Morgen nach meiner Demüthigung Bücher und Kleider einem Schiffer rheinab mit auf den Weg nach Bonn, band meine Geige auf den Thornister und wanderte getrost, freilich in sehr kleinen Tagreisen, das Ufer hinunter.

Ich stellte viele nützliche Betrachtungen unterwegs an, unter andern, daß ich drei und zwanzig Jahre alt war und mich schon ein ansehnlich Stück Leben lang vogelfrei durch die Welt getrieben, auch drei runde Jahre auf verschiedenen Universitäten herum studirt hatte. Ich kam zu dem Schlusse, mich ernstlicher, als bisher, der Göttin des Rechts zu widmen, vor deren verbundenen Augen ich ganz wohl zu bestehen erwarten durfte.

Mit der Musik hielt ich es zu intim, um je daran zu denken, einen richtigen Meister aus mir zu machen. Sie sehen, daß ich an der ganzen linken Seite einigermaßen zu kurz gekommen bin. Ich betrachtete die Geige allezeit als die Wiederherstellerin des fehlenden Gleichgewichts, als mein linkes Auge und den eigentlichen linken Fuß, auf dem ich sicher im Leben stand. Und weil ich von früh auf immer nur für mich allein musicirt hatte, war ich über den Dilettanten nicht hinaus gekommen und konnte es schwerlich von der Zukunft hoffen.

In Bonn richtete ich mich arbeitsam und philisterhaft ein. Die Verbindungen lockten mich wenig. Freunde hatte ich ohnehin bald mehr, als ich brauchte, denn die Ironie, meine einzige Waffe gegen alles Unbequeme, stumpfte sich bald an verschiedenen dicken Schädeln ab. Selbst daß ich bereitwillig im Geldleihen war – sonst ein so zuverlässiges Mittel bei guten Bekannten vergessen zu werden – half mir wenig, wie es denn auf Universitäten überhaupt nicht verfangen will. Im Uebrigen wußten die Meisten nicht recht, was sie aus mir machen sollten, und da ich meinestheils mir aus den Wenigsten etwas machte, sah ich es gleichmüthig mit an.

So verging ein Winter und Frühling.

Eines Sommertags kommt einer meiner Freunde auf mein Zimmer und stört mich von den Büchern auf. Es seien Schauspieler in Königswinter, die dort vierzehn Tage lang spielen würden. Eine Wunderschöne sei darunter. Keiner in der ganzen Burschenschaft, die gerade am Ufer gesessen, als sie landeten, sei unverliebt nach Bonn zurückgekommen. Sie heiße Wilhelmine; die Schauspieler selbst nennten sie die schöne Willy. Nun tummle dich, Bruderherz, daß wir noch zu rechter Zeit hinauskommen, das Meerwunder zu sehen. Sie spielt die Louise in Kabale und Liebe.

Eine gewisse Ahnung wollte mich an den Sitz fest schrauben. Sie wissen aber, daß ein Student am Nachmittag im schönen Wetter keinen eigenen Willen hat. So ließ ich mich fortschleppen. Heimlich lechzte ich freilich nach einer Augenweide, denn ich hatte mich viele Monden lang vor allem Schönen standhaft verschlossen.

Als wir hinaus kamen, hatte das Schauspiel schon begonnen. Damals lag ein Wirthshaus dicht am Rhein, das vor Zeiten ein herrschaftlicher Besitz gewesen war und unter manchen Resten seiner früheren Bestimmung auch ein kleines Theater aufzuweisen hatte, noch recht wohl im Stande. Die eine Seite dieses Anbaues ging in den Hof, und ein hinterer Zugang führte aus dem Obstgarten in einige Zimmer, die für die Garderobe bestimmt waren. Wir Studenten hatten das Alles längst ausgekundschaftet, denn es kam zuweilen, daß einige Theaterlustige unter uns sich der Gelegenheit bedienten und ein Stück zum Besten gaben.

Wir fanden den kleinen Zuschauerraum überfüllt, aber das Auftreten der Schönen hatten wir noch nicht verpaßt. Es war eine Truppe dritten Ranges und außer dem Director kein irgend erhebliches Talent darunter. Indessen – wir hatten lange gefastet, und so waren wir nicht geizig mit ehrlich gemeintem Beifall. Die ersten Scenen zwischen dem Alten und dem Bösewicht gingen glänzend vorüber.

Nun ward ein Murmeln durchs ganze Publikum hörbar, und alle Augen hefteten sich schärfer auf die Thür, durch welche Louise Millerin eintreten sollte. Ich stand im Gedränge an einem Pfeiler, und, ehrlich gesagt, die erste Aufwallung der Hoffnung war schon wieder gekühlt. Ich glaubte aus andern Erfahrungen unsern nicht sehr wählerischen Burschengeschmack genügend zu kennen, dessen Flamme nur eines schwachen Windes bedurfte, um zum Dach hinauszuschlagen.

Zerstreut sah ich vor mich nieder, als mich ein unermeßliches Klatschen aufschreckte. Ich blickte auf, sie stand schon auf der Bühne. Es war mir, wie wenn sie vom Himmel herabgefallen wäre.

Ich beschreibe Sie Ihnen nicht. Sehen Sie das Bild Ihnen gegenüber an; das war sie. Als ich später das erstemal in die Kirche trat, die das Original bewahrt, war mir die Aehnlichkeit fast gespenstisch erschreckend.

Nun aber hob sie die schwarzblauen Augen auf und ließ sie ohne Gegenstand über das Haus schweifen, auch über mein Auge weg. Ich fühlte den Pfeiler zittern, an den ich mich lehnte.

Aber die Gewalt, die von ihr ausging, ähnlich wie ich sie auch Bildern gegenüber schon empfunden hatte, zog sich wieder von mir zurück, als sie zu sprechen anfing. Nicht, daß sie ohne Verständniß gesprochen hätte, aber völlig ohne Wärme und Seele. Mit dem gleichgültigsten Ton entfielen ihr jene Bekenntnisse schwärmerischer, überfließender Sehnsucht, die so viel Andacht vor dem Dichter brauchen, um im Munde einer heutigen Schauspielerin uns mit der Einfachheit der Wahrheit zu berühren. Auch ihre Bewegungen waren gelassen, kühl, müde. Die herrliche, nicht gar große, aber volle und stolze Gestalt regte sich wie im Traum, wie schlafwandelnd. Die Augen sahen zuweilen bei Ferdinands glühendsten Schwüren theilnahmlos auf die dürftigen Coulissen, und obwohl meine Kameraden mit ihrem Applaus nicht nachließen, hörte ich doch in den Zwischenacten mancherlei verdächtige Reden, z. B. wer so schön sei, sei schon an und für sich Schauspiels genug, oder die Rolle passe nicht für ihre Figur, oder auch, ihr sei nicht wohl dabei, den Schwan unter den Krähen vorzustellen. Denn daß ihr das Publikum vielleicht nicht der Mühe werth schien, konnte einer doch anscheinend gebildeten Künstlerin auch nicht von fern zugetraut werden.

Auf den wenigen geschriebenen Theaterzetteln, die am Eingang des Wirthshauses angeklebt waren, stand sie als Frau aufgeführt. Ihre Jugend und Frische schien diesem zu widersprechen. Je länger ich sie aber beobachtete, desto weniger zweifelte ich daran. Eine gewisse ahnungsvolle Dämmerung des Wesens, die in der Rolle der Louise so nöthig ist, fehlte ihr nun gerade ganz. Sie war zurückhaltend, aber nicht scheu, unbefangen in jeder Geberde, aber nicht unwissend, ungelös't an Geist und Leidenschaft, aber nicht durchweht von verhaltener jungfräulicher Feuerkraft. Das Räthselhafte ihrer Person vollendete den Triumph ihrer Schönheit. Als das Stück vorüber war, und die Hoffnung der Meisten, die Zauberin näher kennen zu lernen, durch den kurz angebundenen Director vereitelt worden, zeigte sich die Schwärmerei in den Herzen meiner Commilitonen so einträchtig, daß die sechzig und mehr Nebenbuhler sich unter dem vom Wirth ausgekundschafteten Fenster der Schönen aufstellten und ein damals beliebtes Ständchen im vollen Chor absangen. Die Gardinen blieben indeß herabhangen, obwohl das Licht dahinter brannte und beide Fensterflügel weit offen standen. Dann ließ sich ein Theil der Enthusiasten im Garten beim Wein nieder, während ein anderer in die Bonner Kneipen zurückwanderte, um dort den Freunden Wunder über Wunder zum Besten zu geben.

Ich hatte mich von den Andern getrennt und trug mein volles Herz entlang dem lautlosen Rhein auf einem einsamen Fußpfade nach Hause.

Ich wußte noch nicht, wie es um mich stand. Erst am andern Morgen sollt' ich es erfahren, da meine Gedanken durch keine Macht des Willens an die Arbeit zu fesseln waren. Meine alte Hauswirthin, die mich sonst immer in der Frühe geigen hörte, kam besorgt herauf, als Alles still blieb, und fragte, ob ich krank sei. Schlecht geschlafen hatte ich allerdings, so viel mußt' ich mir selber eingestehn. Und wenn Arbeitsscheu eine Krankheit ist, so war ich herzlich krank. Nun sann ich über die beste Kur. Ueber Tag war ich mit mir darüber einig, daß Enthaltsamkeit das schnellste Mittel sei. Gegen die Theaterstunde lief die Krankheit mit dem Arzte durch, und ich saß einer der Ersten vor den schicksalsvollen Brettern.

Die schöne Frau gewann nur noch in der Nähe. Ich sah erst, daß Kunst, Lampenlicht und Putz keinen Theil an ihrer Zauberei hatten. Auch fiel mir auf, daß sie sich einfacher kleidete, als die andern weiblichen Mitglieder der Truppe, die sie mit viel Theaterflittern gern überglänzt hätten. Dafür schien Alles, was sie trug, ihr eigen zu gehören, die kleine goldene Kette um den Hals, die wenigen Spangen und Ringe, und sie trug Jegliches mit einer vornehmen Nachlässigkeit, die sehr gegen das vordringliche Prahlen ihrer Colleginnen abstach. Leider stand sie ihnen an Lebhaftigkeit des Spiels eben so nach wie an Sucht zu gefallen. Es war dieselbe kalte Passivität heute wie gestern.

Und so blieb es all die folgenden Tage. Das Uebel war nur, daß sich mir die Empfindung dafür völlig abstumpfte, daß man mich mitten in der Vorstellung hätte anrufen und fragen können, welches Stück gespielt werde – und ich wäre die Antwort schuldig geblieben. Wenn sie gerade nicht auf der Bühne war, stierte ich in die Schalllöcher des Contrabasses in dem kleinen Orchesterraum und sah und hörte nichts um mich her. Trat sie wieder auf, so ließ mein Auge nicht von ihr, und lebte nichts an mir, als mein Auge.

Es konnte nicht fehlen, daß so viel feurige junge Leute mit der Autorität des Directors bald fertig wurden. Schon am dritten Abend nahmen die Schauspieler alle an einer Gondelfahrt Theil, und der Senior der Burschenschaft, ein sehr schmucker Jüngling von ritterlicher Haltung, erlangte die beneidete Gunst, neben der schönen Willy im Kahn zu sitzen und ihr seine Huldigungen zu sagen, die sie in ihrer müden, zerstreuten Weise gleichgültig anzuhören schien. Ich beobachtete die Beiden aus einem andern Nachen mit einem Herzklopfen, das ich mir, so gut es ging, als das Muthfieber der Resignation auszulegen bemüht war. Ich war noch vernünftig genug, einzusehen, daß man kein stattlicheres Paar wünschen könne. Aber die geringen Fortschritte, die der Glückliche machte, thaten mir doch überaus sanft. Sie mußte Verstand haben, wenn ihr dieser Anbeter, der ein guter unbedeutender Mensch war, nicht sonderlich zusagen wollte.

Bald verbreitete sich das Gerücht von ihrer unbezwinglichen Tugend zugleich mit mancherlei Historien, die man auf Kosten der drei oder vier andern Damen erzählte. Sie hatte eine gewisse Art, allen Freiheiten zuvorzukommen, ohne Unfreundlichkeit eine Schranke um sich zu ziehen, und die Thorheiten, die um sie herum mit den leichtern Geschöpfen getrieben wurden, völlig zu überhören, so daß einige Zuversichtliche, die sich vermessen hatten, wenigstens einen Kuß zu gewinnen, nach geringen Anstalten zur Eroberung ihre Wette freiwillig verloren gaben. Ich hörte dem unablässigen Hin- und Herreden über das Räthsel mit großer Genugtuung zu. So hatte diesmal wenigstens Keiner etwas vor mir voraus. Denn auch die Schauspieler, mit denen man sich beim Weine befreundete, konnten sich nicht besserer Erfolge rühmen. Von ihrer Vergangenheit wußten sie nichts. Sie war eines Tages in Mainz zum Director gekommen mit der Bitte, sie zu engagiren. Sie habe früher nie gespielt. Mit Ihrem Gesicht spielt sich's von selbst, hatte der Director gesagt. Seitdem sei sie ein Jahr bei ihnen, und habe nichts zugelernt.

Es fügte sich ein paarmal, daß ich auf Spaziergängen in ihrer Nähe war und hörte, was sie mit Andern sprach. Es klang Alles gut aus diesem Munde. Einigemal sah ich ihre Augen auf mir ruhn, ohne jenes nicht sehr gütige Verwundern, mit dem mich die Andern ins Auge faßten. Es that mir wohl bis ins Herz hinein, obwohl ich in der Verwirrung, wie mir immer geschah, lahmer wurde als sonst. Die ruhige Theilnahme stand ihr gar zu gut, ihr Gesicht belebte sich, wenigstens bildete sich's der arme Wicht ein, dem doch durch diese Theilnahme nur wieder seine Narrheit vorgehalten wurde.

Gelegentlich richtete ich auch wohl ein Wort an sie, wenn sie einmal vor so vielen Hofmachern im Augenblick keinen hatte. Sie war sehr freundlich, und mir schien, redseliger als zu den Andern. Aber die Freude hatte immer bald ein Ende. Entweder kam ein Dritter dazwischen, oder ich ertappte mich, wenn sie eine Frage an mich richtete, darauf, daß ich ohne zu hören und zu denken in ihr Gesicht gestarrt hatte. Dann schoß mir das Blut in die Schläfen, und, meine Verwirrung wohl bemerkend, war sie freundlich genug, unter einem Vorwand abzubrechen.

Ihre Güte und Menschlichkeit raubte mir vollends, was an mir noch mein gewesen war.

Ich will Sie nicht ermüden und Tag für Tag jenes verworrene Leben zurückzurufen suchen. Der gefürchtete vierzehnte war endlich da. Der Director, den eine Verpflichtung nach Cöln rief, war nicht zu bewegen, noch eine Woche zu bleiben, obwohl er glänzende Geschäfte machte. Für den letzten Abend war ein Lustspiel angekündigt. Ein Ball, den die Studenten im Saale des Wirthshauses veranstaltet hatten, und eine solenne Kneiperei sollten den schönen Traum dieser beiden Wochen abschließen.

Was aus mir werden würde, wenn ich aus diesem Traumleben aufwachte und den traurigen Tag nicht mehr erträglich finden konnte, weil er einen Abend hatte, das hatte den ganzen Morgen wie ein schwerer stumpfer Nebel über mir gelegen. Schon Mittags ließ ich mich in der Fähre übersetzen, um auf dem Marsch nach Königswinter meine beklommenen Sinne zu lüften. Es war nicht allzu heiß; aber ich kam nur keuchend von der Stelle und mußte oft ausruhen. Mir war, als ging ich, ein Armersünder meinem letzten Stündlein entgegen.

So kam ich freilich zuerst von Allen an und hatte sogar das melancholische Glück, die schöne Frau, die am Fenster stand, ehrerbietig zu grüßen. Dann schlich ich mich ins Theater, das dunkel war, saß auf meinem angestammten Platz dicht vor dem Orchester nieder und genoß ungestört die Wollust der wüthendsten Liebesschmerzen.

Endlich kam ein Schwarm Anderer in das noch unerleuchtete Haus und fand mich, den Kopf auf die Arme gelegt. Ich sagte, daß ich hier eine Stunde geschlafen hätte, vom Gang ermüdet. Da es dunkel war, konnte mich mein Gesicht nicht verrathen. Das Haus überfüllte sich bald; alle Thüren mußten offen bleiben, denn man stand bis auf den Gang hinaus. Das schlechte kleine Orchester fing an eine lahme Ouverture zu kratzen, das alberne Lustspiel begann, ich lachte ein paarmal hell auf, wo nichts zu lachen war, denn die Posse dieses Lebens kam mir immer toller vor. Mitten in dieser Armseligkeit trafen mich einmal die ernsthaften Augen der schönen Frau, die heute noch zerstreuter spielte, als gewöhnlich, aber in Schönheit strahlte, wie nie. Eine ungesunde Lustigkeit erhitzte mich. Ich wollte mir überdieß vor meinen Freunden ein glänzendes Zeugniß geben, daß ihre Neckereien, mit denen mich die Scharfsichtigsten nicht verschont hatten, sehr unbegründet gewesen seien.

So ging der erste Act vorüber. Die Musikanten, die mit der Truppe zogen und hie und da in einer Operette eine größere Rolle spielten, waren heute besonders schlecht bei Tact und Gehör. Sie hatten, da es der Abschiedstag war, sich zu guter Letzt in dem Wein von Königswinter noch eine besondere Güte thun wollen, und der Vorgeiger zumal war stark bezecht. Als sie nun eines ihrer gewöhnlichen Zwischenactstücke einsetzten, das aus dem Don Juan nicht ungeschickt zusammengestohlen war, konnte der Mann seinen wankenden Bogen nur zu einem mißtönigen Stammeln bewegen. In der Aufregung, in der ich war, hörte ich das nicht lange mit an. Mit einem Sprung war ich über der Schranke, hatte die mißhandelte Geige ergriffen und spielte aus aller Macht, so daß meine Mitspieler in einen ungewohnten Zug kamen und selbst das überlaute Gespräch im Publikum unterbrochen wurde. Als sie mich sahen, brachen sie in ein ungestümes Klatschen aus und riefen mir Scherze und Neckereien zu, worauf es wieder still wurde bis ans Ende des Stücks. Einige Köpfe der Schauspieler sahen hinter dem Vorhange vor, der Director kam aus der Coulisse, sogar das Kleid der schönen Willy sah ich im Proscenium wehen. Das befeuerte mich immer mehr. Mit den wildesten Passagen stattete ich meinen Part aus und ließ meine Geige über die anderen Stimmen herrschen, so viel das nicht sehr vorzügliche Instrument hergeben wollte. Am Schluß neues Bravo und der Ruf, daß ich auf meinem Platze bleiben und allein weiterspielen solle. Ich willfahrte gern. Ich wußte ja, daß sie hinter dem Vorhang stand, und daß ich keine andere Sprache reden durfte, ihr meine Abschiedsgedanken zu offenbaren. Während ich spielte, regte sich kein Laut im Hause. Viele mochten in ihr Herz greifen und fühlen, daß ich einen Theil ihrer eigenen Empfindungen aussprach. Denn als ich schloß, blieb es noch eine Weile still. Dann erst machten sich die gepreßten Geister in anhaltendem Bravo Luft.

Ich blieb auch im Verlauf der Komödie im Orchester sitzen, während der Vorgeiger neben mir seinen Rausch ausschlief. Aber ich nahm keinen Theil an dem Spiel, nicht einmal so viel wie bisher. Denn ich scheute mich, die Augen zu ihr aufzuschlagen, als hätte ich mich verrathen und auch den Antheil verscherzt, den ich früher in diesen Zügen zu lesen glaubte. Der zweite Act ging so vorüber. In der folgenden Pause konnte ich nicht anders als wieder den Bogen führen, diesmal nur wie ein rüstiger Kapellmeister. Auf eine Improvisation ließ ich mich trotz aller Bitten nicht mehr ein und stahl mich, kurz ehe der Vorhang aufrollte, aus dem Theater in den Garten hinaus.

Die Sommernacht wehte über die Blumenbeete und durch die Zweige der Apfelbäume, und der Gesang der Grillen schwirrte im Grase. Ein Leuchtkäfer flog an mich heran; ich haschte ihn und trug ihn eine Weile in der Hand. Bei Tag bist du häßlich, sagte ich, und ließ ihn wieder fliegen. Die Aufregung, die ich über den ganzen Tag in mir getragen hatte, ließ endlich von mir. Weder jene böse Lustigkeit, noch ein eigentlicher Schmerz war in meinem Innern, dafür eine süße Dumpfheit und jene Steigerung der Sinne, die sie allen begegnenden Stimmen der Natur empfänglicher macht. Mitten im Garten stand ein breitarmiger, niedriger, alter Baum, um den eine Bank gezimmert war. Man konnte ohne Mühe hinaufsteigen, und ich ersah mir eben einen bequemen Sitz. Durch die Lücken der Zweige konnte ich den Garten vor mir übersehen, dahinter den Hof und die Fenster des Tanzsaales, wo schon die Lampen angezündet wurden. Zur Rechten Dächer des Städtchens, links der dunkle Rhein, über den Schiffchen glitten. Ein größeres kam mit vollen Segeln vorüber. Die Schiffslaterne spiegelte sich ruhig im Wasser, und rothbeschienene Kindergesichter tauchten aus der Tiefe des Bootes auf. Ich sah in die Nähe und Weite wie in eine fremde Welt, die man mir zu beschauen gönnte. Rings hauchte um mich der Duft der Nachtblumen, und der Thau rieselte erfrischend über mich herab.

Ich schloß jetzt aus dem Lärmen, der vom Theater her erscholl, daß das Stück zu Ende sein müsse. Wirklich sah ich bald den Tanzsaal sich beleben, Andere über den Hof herausströmen, um sich erst durch einen Trunk im Freien von der überstandenen Hitze zu erholen. Einige Bürgerfamilien aus Bonn und Königswinter, die es den Studenten zu Gefallen mit der Gesellschaft von Schauspielerinnen nicht allzu ängstlich nahmen, hatten zugesagt an dem Balle Theil zu nehmen, und die Gegenwart einiger Professoren bewog auch viele von den Bedenklicheren zu bleiben. Bald war der Garten laut und regsam von lustwandelnden Paaren; Gelächter und Geflüster wehte an dem Baum vorüber, auf dem ich saß, und erst als aus dem Saal die Geigenstriche lockten, blieb ich wieder in meiner verborgenen Finsterniß allein.

Umsonst strengte ich mich an, unter den wirbelnden Schatten, die jetzt an den hellen Fenstern vorüberflogen, die Eine, die ich meinte, herauszufinden. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, hinabzusteigen und sie im Saale aufzusuchen. Daß ich sehen sollte, wie sie von Hand zu Hand, von Arm zu Arm ging, und mehr als Einer ihre Schulter an seiner Brust fühlen dürfte, – das konnte ich von meiner noch nicht sehr reifen Resignation nicht verlangen. Ich war heimlich damit zufrieden, daß ich sie aus der Ferne nicht ausfindig machte. Ich ging sogar mit mir zu Rath, ob ich es möglich machen könnte, sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Die Beschämung, diesen Entschluß zu fassen und selbst wieder umzustoßen, sollte mir erspart werden. Denn plötzlich kam sie am Arm jenes schönen Studenten, der schon bei der Gondelfahrt ihren Ritter gemacht hatte, über den Hof daher; hinter ihnen die zweite Liebhaberin mit ihrem Galan und ein Kellner, der ein Tischchen und einige Gläser und Flaschen trug.

Sie betraten den Garten, und zu meinem Schrecken gingen sie gerade auf meinen Baum los. Es war zu spät, um unbemerkt hinab zu klettern, und so ergab ich mich in mein Schicksal, da sie kein Licht hatten und mein Versteck sicher genug schien. Sie ließen sich wirklich unter mir nieder, das Tischchen wurde aufgestellt und der Kellner empfahl sich.

Meine Schöne trug einen vollen Rosenkranz im Haar und schien sehr blaß und gedankenvoll. Sie hörte ihren Begleiter geduldig ein langes Geschwätz über das Stück und die Vortrefflichkeit ihres Spiels auskramen und sagte dann ruhig: Sie irren sich, oder reden gegen Ihre Meinung. Ich fühle es am besten, daß ich für die Rolle nicht passe. Andere, zu denen ich vielleicht mehr Geschick hätte, stehen leider nicht auf unserem Repertoir. – Worauf ihr Ritter nicht unterließ, eine Lanze gegen Jeden einzulegen, der an der Vollkommenheit ihrer heutigen Darstellung zu zweifeln wage, sollte es auch die Dame selber sein. Das andere Paar war in seine eigenen Angelegenheiten zu sehr vertieft, um hierüber eine Meinung zu haben.

Die Gläser wurden vollgeschenkt, und der Burschensenior erhob das seine und brachte einen Trinkspruch auf die Schönheit aus. Man stieß an, und Willy nippte aus ihrem Glase, während die Andere ihrem Erkorenen tapfer zutrank. Da, als eben der Sprecher sich wieder setzte und sich anschickte, seinen Toast zu glossiren, krachte der Ast, auf dem ich saß, so vernehmlich, daß alle Vier in die Höhe sprangen.

Ich hätte nichts Sehnlicher gewünscht, als daß mir in diesem Augenblick Eulen- oder Rabenflügel gewachsen wären und mich unverzüglich aus dem Garten über den Rhein in die weite Welt getragen hätten.

Dergleichen ereignete sich freilich nicht. Aber wie ein armes in die Enge getriebenes Jagdthier in der Verzweiflung zuweilen einen Muth faßt, der sonst seine Sache nicht ist, so gab mir meine böse Lage allen Humor und alle Fassung, die mir sonst der schönen Frau gegenüber gefehlt hatten. Ich ließ meine Kameraden lachen, die beiden Schauspielerinnen staunen, und stieg sehr gelassen von meinem Baum herab. Erst als ich festen Boden unter mir hatte, ließ ich mich zu Erklärungen herbei. Ich hätte bekanntlich Anfälle von Schlafsucht, sagte ich. Thatsache sei, daß man mich vor Beginn des Schauspiels im Theater schlafend gefunden habe. Auch sei ich nach dem zweiten Act hinausgegangen, um mir draußen ein Plätzchen zu suchen, meiner müden Natur ihren Willen zu lassen. Da die Bänke im Garten nicht sicher genug vor Störung geschienen hätten, wo hätte ich mich besser betten können, als in die sicheren Aeste dieses dunkeln Baumes?

›Sie hätten herabstürzen können,‹ sagte Willy mit all jener Herzlichkeit, die mich sonst schon erquickt hatte.

Ich war gottlos genug zu erwiedern, daß, wer auf Einem Beine lahm ist, nicht sehr fürchtet, es auf beiden zu werden.

›Aber Sie haben vorhin nicht eben schläfrig gespielt,‹ sagte die zweite Liebhaberin.

›Es kam Ihnen nur so vor, Fräulein,‹ versetzte ich. ›In Wahrheit schlief ich auch damals, und Sie hörten nichts als meine Träume, die allerdings lebhaft und ängstlich waren. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, daß ich dies trauliche Beisammensein gestört habe. Leben Sie wohl!‹

So wollte ich von ihnen gehen. Willy schwieg und sah mich ohne ein Zeichen des Gefallens oder Mißfallens an. Aber die Andern hielten mich mit freundschaftlicher Gewalt und wollten mich nicht eher loslassen, als bis ich für meine unhöfliche Schlafsucht Buße gethan und mich mit einem Trinkspruch wieder zu Ehren gebracht hätte. Ich ergriff ein Glas und brachte ein Hoch aus auf die Nacht, die eine Mutter der Glücklichen und Traurigen, der Liebenden und Einsamen sei, die Blumen duften und den Johanniswurm leuchten lasse und insonderheit immer die Gönnerin eines armen Schlafsüchtigen gewesen sei. Es war in meinem Spruch für Jeden etwas; die beiden Studiosen deuteten sich ihn als einen Glückwunsch zu ihren Rechten auf die Gesellschaft der Schönen und stimmten laut in das Vivat mit ein.

Während ich so noch bei ihnen stand und die kleine Soubrette mich mit allerhand Fragen und Neckereien aufhielt, kam eine Schaar von Tänzern mit ihren Mädchen in den Garten, und unsere Zurückgezogenheit hatte ein Ende. Man habe die Damen im Saale vermißt, hieß es, und das Fest drohe um seinen vollen Glanz zu kommen. Als ein neuer Tanz Alle wieder ins Haus rief, wurde auch die Bank um den Baum leer. Nur ich stand vor dem verwaisten Tischchen.

›Sei's denn!‹ sagte ich. ›So soll die Thorheit ihr Ende finden.‹ Ich nahm das Glas, aus dem sie getrunken hatte. Es war noch halb voll. ›Der Schönheit,‹ sagte ich laut, ›und der Nacht!‹ und trank es aus. Dann wandte ich mich und ging standhaft dem Ende des Gartens zu, meinen Heimweg anzutreten.

Da plötzlich, wie ich gleichgültig den Blick über den Hof voranschicke, seh' ich was, das mir den Fuß an den Boden heftet. Sie selber kam mit raschen Schritten auf den Garten zu, über das helle Kleid ein dunkles Mäntelchen geworfen, ganz allein. Vor überlautem Herzklopfen drohte mir die Brust zu springen, und es umfing mich wie Schwindel. Sie wird etwas verloren haben, sagte ich vor mich hin. Der Schmerz will noch ein Nachspiel mit mir halten. – Ich stand an einem Monatsrosenbusch mitten im Weg. So gern ich wahrhaftig wollte, ich konnte mich nicht regen, um ihr aufzuweichen.

So kam sie nahe zu mir heran und schien unverlegen, mir hier allein zu begegnen. Ich war das freilich gewohnt, daß man mich im Geringsten nicht fürchtete. Hier aber that es mir dennoch weh und gab mir im Augenblick meine Haltung wieder. Sie hatte es sonst beharrlich vermieden, mit Einem von uns irgendwo ohne andere Gesellschaft zu sein. Jetzt ging sie mit gleichmüthigen Schritten auf mich zu.

›Es ist heiß drinnen!‹ sagte sie. ›Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auf einem Gang durch den Garten begleiteten. Wenn ich gespielt habe, mag ich nicht tanzen. Es bringt mich um die ganze Nachtruhe.‹

Ich stellte mich ihr zur Verfügung, und wir gingen tiefer in den Garten hinein. Meinen Arm bot ich ihr nicht. Eine Weile schritten wir schweigend neben einander durch die dämmrigen Gänge.

›Sie haben nicht in dem heutigen Stück ausgedauert,‹ fing sie plötzlich an. ›Seien Sie offen, es hat Ihnen nicht genügt, ich habe Ihnen nicht genügt. Sie sollen mir nichts einwenden, ich weiß es, ich weiß es nicht erst seit heute, daß meine Kunst mir noch eine fremde ist. Es ist zum Theil meine Schuld, ich spiele selten mit ganzem Herzen, nur weil ich zufällig auf dem Theater stehe und die Leute erwarten, ich werde nun den Mund öffnen und sprechen, was mir der Souffleur vorsagt. Die Andern bei der Truppe, obwohl sie weniger Mittel haben, bringen es doch weiter, weil sie sich's angelegen sein lassen, wär' es auch nur aus Eitelkeit. Ich bin nicht einmal eitel.‹

Ich hörte diese rührend offenen Bekenntnisse, die sie mit ungewöhnlicher Wärme aussprach, nicht ganz so dankbar an, wie ich gesollt hätte. Du machst wieder einmal den Vertrauten, sagte ich zu mir selbst. Fast um weiteres Vertrauen abzuschneiden, erwiederte ich: ›Sie haben keine Veranlassung, eitel zu sein. Sie sind Ihrer Wirkung sicher, wenn Sie sich nur zeigen.‹

Sie blieb stehen und sah mich in dem Sternzwielicht so ernsthaft und traurig an, daß ich mich meiner Worte schämte. ›Von Ihnen will ich diese Sprache nicht hören,‹ sagte sie; ›denn sie klingt ungütig in Ihrem Munde, wenn sie in anderen nur fade klingt. Wer so viel Musik hat, wie Sie, versteht, daß mich diese Worte kränken müssen. Sie wissen es besser, ich bin nur darum nicht eitel, weil ich unglücklich bin. Wenn mir die Menschen und die Welt gefielen, es würde mir wohl daran gelegen sein, auch ihnen zu gefallen.

›Ein Unglücklicher, und wäre er das größte Talent, wird es in unserer Kunst nicht weit bringen. Mich wenigstens haben meine Schicksale wie zugeschlossen, wie mit hundert Schleiern verhängt. Ich bin stumpf an allen Organen und habe keine Interessen. Wer nicht froh sein kann, dem ist nichts wichtig, als sein Inneres, und das Leben liegt ihm weit ab.

›Wie soll ich aber froh sein? Ich bin freilich mitten unter dem Leichtsinn aufgewachsen, aber oft genug schauderte mir um so mehr vor ihm, weil er neben dem Elend in den Tag hinein lachte. Ich bin ein Schauspielerkind. Als ich siebzehn Jahre alt war, wurde ich von der Mutter an einen reichen Polen verkauft. Drei Jahre lang zog ich mit ihm herum; er hatte mich zwar in aller Form geheirathet, aber er hielt mich wie eine leibeigene Magd, deren Schönheit ihm gefiel. Wir besuchten Sommers die Bäder, wo gespielt wurde. Dann verschloß er mich in seiner Wohnung und ließ mich oft viele Tage und Nächte nicht an die Luft. In einer Nacht kam er nach Hause um die gewöhnliche Zeit, nach dem Schlusse der Bank. Ich hatte im Nebenzimmer geschlafen, als ich plötzlich durch einen Schuß aufgeweckt wurde. Er hatte den Rest seines Vermögens verspielt.

›Ich mußte Schmuck und Kleider verkaufen, um ihn begraben zu lassen. Kaum blieb so viel, daß ich nach der nächsten Stadt reisen konnte, wo ein Schauspiel war. Ich konnte mir die Gesellschaft nicht aussuchen, ich mußte froh sein, daß ich aufgenommen wurde, denn ich hatte nie gespielt, außer in Kinderrollen, und es war Niemand, der mich in die Schule nehmen konnte. Der Director erbot sich wohl dazu, aber ich sah, daß ich ihm nicht im Geringsten entgegenkommen durfte.

›So ist denn nichts aus mir geworden. Und doch verleugnet sich mein Blut nicht ganz. Mir ist immer, als müsse noch eine Zeit kommen, wenn die Erinnerung an die erlittene Sklaverei mehr verwischt ist, wo ich fühlen werde, wie der Stein von meinem Herzen fällt und es sich wieder frei und freudig ausdehnt. Ich will dann größere Aufgaben suchen und eine Umgebung, die mich hebt. Jetzt, wenn ich auch könnte und nicht, um zu leben, hier aushalten müßte, es hülfe noch nichts.

›Und doch,‹ sagte sie mit einem plötzlich verwandelten, helleren Tone, ›und doch ist es schade, daß Sie gerade heute nicht im Schauspiel ausgehalten haben. Ihr Spiel hat mich ganz eigen belebt. Ich weiß es, daß ich meine Sache hernach besser gemacht habe, obwohl ich immerhin im Lustspiel nicht an meinem Platze sein werde. Es war in den Tönen so viel wahre Leidenschaft, und die ist es gerade, der ich bisher nirgend begegnet bin, so viel Hitze, Wildheit und Zügellosigkeit mir auch das Leben umlagert haben.‹

Sie sprach noch viel über die Art, wie meine Musik sie ergriffen habe, und ich ging wie im Traume neben ihr. ›Es ist mir leid, daß wir morgen fortgehen,‹ sagte sie endlich. ›Ich hätte viel von Ihnen gelernt. Denken Sie zuweilen an mich, wenn Sie musiciren. Vielleicht wirkt es in die Ferne. Wollen Sie mir das versprechen?‹

Ich wußte nichts zu antworten. Wir waren wieder am Ausgang des Gartens angelangt und standen vor dem Hof. Die hellen Fenster erleuchteten ihr Gesicht, das himmlisch blühte und glühte. Ich ergriff ihre Hand und küßte sie ohne ein Wort. Als ich wieder aufsah, begegnete ich ihren Augen. ›Ich habe Ihnen vertraut,‹ sagte sie sanft. ›Sie sollten sich auch vertrauen, mehr als Sie thun. Sie sind kein Sohn der Nacht, sondern dennoch ein Sonnenkind, was Sie sich auch einreden mögen. Leben Sie wohl!‹

Sie faßte meine beiden Hände, dann küßte sie mich auf den Mund und ging ins Haus zurück. –

In welcher Verfassung ich zurückblieb, will ich nicht zu schildern versuchen. Auch ist ein solcher Sturm und Wirbelwind, Jauchzen und Stöhnen der Leidenschaft, wie es nach jenem Kuß in mir haus'te, von Niemand nachzuempfinden, der nicht die vielen Jahre schon in meiner Haut gesteckt und sich am Ende schier an sich selbst gewöhnt hatte. Ich weiß nur, daß ich lange, lange auf einem Grasplatz lag, das Gesicht in den Thau gedrückt, ohne eine klare Empfindung von mir selbst. Nur dunkel drang in mein Bewußtsein die Nähe der Menschen, verlorene Töne der Musik, Blumenduft und Kühle der Nacht. Ich wußte nur Eines mit voller Empfindung: ich war dennoch ein Sonnenkind.

Als ich mich endlich erhob, mußte Mitternacht vorüber sein. Ich wankte durch den Garten und trat in den Hof. Durch die Fenster konnt' ich sehen, daß das Fest längst zu Ende war. An einem Tisch in der Mitte des Saals saßen noch Einige trinkend beisammen; während die Meisten auf einer Streu längs den Wänden schon im tiefen Schlafe lagen. Es war ein ziemlich wüster Anblick. Oben in den Zimmern, die die Schauspieler in Beschlag hatten, brannte kaum noch hie und da ein Licht.

Indem ich noch überlege, ob es nicht am gerathensten sei, hier zu übernachten, da ich mir auf meinem kühlen Lager ein Unbehagen in den Gliedern zugezogen hatte, sehe ich den Kellner beschäftigt, das Hofthor zu schließen. Ich mache mich an ihn heran und bitte ihn, mir irgend eine Kammer anzuweisen, wo ich schlafen könne. Der Saal sei überfüllt. Er mustert mich mit schlaftrunkenen Augen und sagt auf einmal: ›Da sind Sie ja doch noch. Ich habe zwar auf die Hausthüre Acht gegeben und der Hausknecht auf das Hofthor, aber in dem Leben und Treiben, dacht' ich, wären Sie uns doch entgangen. Ich habe was für Sie von dem schönen Frauenzimmer, der Schauspielerin oben in Nummer Zehn; ich habe den ganzen Garten nach Ihnen durchsucht; sie wollte nicht glauben, daß Sie schon fort wären.‹ –

Mit diesen Worten händigte er mir einen versiegelten Brief ein und blieb stehen, meine weiteren Wünsche in Empfang zu nehmen. Es ist gut! sagte ich und schickte ihn fort.

Ich lehnte mich an die Mauer des Hauses, meine Füße wollten mich nach so viel Schrecken und Stürmen nicht mehr tragen. Das Fenster neben mir gab Licht genug, daß ich lesen konnte. Sie schrieb:

»Ich habe mit dem Director gesprochen; da er längst mit unserm Capellmeister brechen wollte, ging er gern darauf ein, Sie an dessen Stelle zu engagiren. Er will in Cöln einige Sänger und Sängerinnen für die Truppe gewinnen und öfter kleinere Opern geben. Wenn Sie sich losmachen können, wäre es auch nur auf ein Jahr, so reisen Sie mit uns, oder folgen uns in einigen Tagen. Willy.« – – –

Eine halbe Stunde, nachdem ich den Brief gelesen, stieg ich die Treppe des Wirthshauses hinauf. Eine schwache Lampe dämmerte auf dem Corridor zwischen den Zimmern. Ich las die Nummern über den Thüren, acht – neun – zehn –; da kämpfte ich den letzten Kampf. Ein Lichtstrahl fiel durch das Schlüsselloch, ich hörte Schritte drinnen auf- und abgehen, endlich klopfte ich an.

Der Riegel wurde zurückgeschoben und eine hastige Hand öffnete. ›Ich habe Sie erwartet,‹ sagte sie; ihre Stimme klang unsicher, ihre Augen hingen forschend an meinem Gesicht. Sie war noch völlig angekleidet, sogar der Kranz von Rosen saß noch in dem dunkeln Haar. Auf dem Tische stand ein Licht; wir setzten uns ihm gegenüber, die Flamme wankte von ihrem Athem.

›Sie haben mir wohlthun wollen,‹ fing ich an. ›Ich komme, Ihnen zu danken. Der flüchtige Antheil, den Sie mir Fremden geschenkt haben, wird mich mein Lebenlang begleiten, und auch Sie sollen ihn nicht vergessen. Aber was jetzt so schön ist, daß es einen armen Verstand fast aus den Fugen bringen könnte, kann so verderblich werden, daß es uns Beide unglücklich macht, mich, indem es mich vernichtet, Sie, indem Sie sich Vorwürfe machen würden, mich mit dem besten Herzen so weit gebracht zu haben.‹

Ich sah, daß sie etwas erwiedern wollte und kam ihr zuvor. Ihre Stimme hätte meine Besonnenheit zu Schanden gemacht.

›Daß Sie mir theuer sind,‹ sagte ich, ›wissen Sie, denn Sie wollten sich mir freundlich erzeigen, indem Sie mir einen Platz in Ihrer Nähe frei machten. Daß ich Sie aber bis zur Verzweiflung liebe, können Sie nicht wissen. Denn Sie stehen über dem unbarmherzigen Wunsch, ein Opfer täglich vor Augen zu haben. Nachdem ich Ihnen dies gesagt habe, werden Sie fühlen, daß ich es mir selber schuldig bin, Sie nach dieser Nacht nicht wieder zu sehen.‹

Ich war im Begriff aufzustehen, als mich ihre Augen trafen, groß und glänzend. ›Und wenn Sie mir dennoch nichts Neues gesagt hätten?‹ sprach sie mit ihren innigsten Lauten, ›wenn es mir seit diesem Abend klar wäre, daß auch ich Sie nicht mehr entbehren kann? Wollen Sie mich Ihrem Stolz opfern? Können Sie es?‹

›Sie täuschen sich,‹ sagte ich; ›Ihr menschliches Herz täuscht Sie. Ich muß freilich nach allen Zeichen Ihrer Freundschaft glauben, daß etwas in mir sei, was mich Ihnen werth macht, was Sie vieles vergessen läßt, woran die meisten Ihrer Schwestern Anstoß nehmen würden. Aber wie es auch sei, unsere Gefühle für einander sind nicht gleich. Ich bin Ihnen vielleicht Viel, Sie mir Alles. Sie würden Unrecht thun, Alles für Viel hinzugeben.

›Ich bin ein herzlich unvollkommenes Geschöpf; Sie das vollkommenste, das meine Augen je gesehen haben. Nur ein Rausch der Güte kann Sie darüber verblenden, daß wir nicht dazu angethan sind, neben einander herzugehen. Auch wenn ich nicht das Unglück hätte, mit diesen hoffnungslosen Schmerzen Sie anzusehen, – selbst ein Verkehr der Freundschaft würde uns nicht auf die Länge glücklich machen. Einzeln, wie ich in der Welt stehe, kann mich das Bedauern der Menschen oder ihr verletzender Blick wenig anfechten. Neben Ihnen erschiene ich mir selber als ein Zerrbild und würde mir sagen, daß ein Schein des Lächerlichen auch auf Sie fallen müßte, während Sie jetzt, wohin Sie treten, die Freude und das Entzücken bringen.‹

Während ich sprach, starrte sie unverwandt in das Licht und schüttelte nur dann und wann langsam das Haupt. Ihre Augen wurden feucht.

›Sorgen Sie nicht um mich,‹ fuhr ich fort und stand auf. ›Ich werde weiter leben und hoffentlich noch ein nützlicher und auch wohl zufriedener Mensch werden. Es giebt alte Krieger, denen man die Kugel aus der Wunde nicht hat herausziehen können. Sie leben doch, und nur in stürmischer Witterung oder im Frühling rührt sich das Blei in dem geheilten Gliede. Machen Sie davon die Nutzanwendung auf mich. Behüte Sie Gott! Denken Sie freundlich an mich.‹

Sie saß unbeweglich, ich fühlte, daß ich gehen mußte, wenn ich nicht vor ihre Füße stürzen und meine armseligen Worte alle widerrufen sollte. So ging ich, und sie ließ mich gehen. Auf der Treppe, die ich rasch hinabstieg, war mir, als hörte ich sie rufen. Blind rannte ich weiter, durchs Haus, durch die Thür und die Gasse hinab, die zum Rhein führte. Ich sah nicht mehr zurück. Wenn sie am Fenster gestanden und gewinkt hätte, ich wäre umgekehrt, und hätte es mein Leben gekostet.

Am Ufer stand eine Schifferhütte, ich pochte den Mann heraus und bewog ihn, mich zur Stunde nach Bonn zurückzufahren. Wie die Wellen sich schluchzend am Kahne brachen, rings um uns her die letzte tiefe Finsterniß der nun bald schwindenden Nacht, schüttelten mich meine Schmerzen gewaltsam. Ich lag vorn im Nachen und horchte auf die Fluth. Das dünne Brett zwischen mir und der Tiefe, wenn das plötzlich wiche, so wäre mir sehr wohl, dachte ich. Ich glaubte, glücklicher und unglücklicher im Leben nicht mehr werden zu können.

Aber je weiter ich mich von ihr entfernte, desto klarer wurde ich darüber, daß ich gethan, wie ich mußte. Es ist eine großherzige Laune von ihr gewesen, sagte ich mir, oder wenn es mehr war, hätte es den Launen des Lebens doch nicht Stand gehalten.

Als ich nach Hause kam, war ich so weit mit meinem Innern gediehen, daß ich mich niederlegen und an Schlaf denken konnte. Ich schlief auch wirklich einige Stunden und wachte erst am späten Morgen auf. – –

——————

Meine Freunde kamen über Tag und erzählten, daß sie die Schauspieler noch eine große Strecke weit in Kähnen begleitet hätten. Die schöne Willy sei sehr blaß gewesen, aber freundlicher als gewöhnlich, wenn sie auch wenig gesprochen habe. Einer hatte einen Handschuh aufzuweisen, den sie auf ihrem Zimmer vergessen, und wußte sich nicht wenig damit. Ich hörte das Alles mit an, als spräche man von einer Fremden. Die Nacht lag so weit hinter mir, wie wenn Jahre dazwischen verflossen wären.

Am Nachmittag, schon gegen die Dämmerung, saß ich über den Büchern allein, freilich, ohne zu wissen, was ich las. Da kommt meine alte Wirthin herein und sagt, eine Dame sei unten, eine Verwandte von mir, die mich zu sprechen wünsche. Sie müsse von der Reise kommen, denn ein Koffer sei ihr nachgetragen worden. Sie scheine jung zu sein, mehr könne sie nicht sagen, denn das Gesicht trage sie dicht verschleiert.

Die gute Frau hatte noch nicht ausgeredet, so war ich vom Sitz auf und in großen Sätzen die Treppe hinunter. Durch die Glasthüre sah ich in das Hinterstübchen meiner Wirthin. Eine Gestalt stand am Fenster und sah in den Blumengarten hinaus. Einen Augenblick später – und ich lag keines Worts, keiner Besinnung mächtig in ihren Armen.

Ich ermannte mich zuerst, als ich im Hause nach mir rufen hörte. Es war ein Bekannter, der mich abholen wollte. ›Der Herr ist ausgegangen,‹ beschied ihn die vorsichtige Alte.

›Wir müssen fort von hier,‹ sagte sie. ›Ich will dich haben, ehe ich wieder wie verloren in der Welt herumgehe. Gestern Abend, als du mir das Alles sagtest, hattest du mich fast überredet, daß es so besser und nothwendig sei; du kannst mich überreden, wozu du willst. Ich habe es eine Nacht und einen Tag bedacht und nicht die Kraft gefunden, so vernünftig zu sein. Die Vernunft ist auch eure Sache. Wir haben nur ein Herz, und meins will Alles für Alles geben. Wenn deine Vernunft dann meint, daß wir uns doch wieder trennen müssen, so bin ich dann doch einmal glücklich gewesen. Ich bin unserer Truppe entflohen, Niemand weiß, nach welcher Gegend hin, und hier am Orte hat mich Keiner erkannt. Ich hörte auf der Straße, daß sie von mir sprachen, als ich vorüberging. Ich lachte unter meinem Schleier, ich wußte, du könntest mich heute nicht verstoßen. Denke nun von mir, was du willst, daß ich leichtsinnig sei, ein thörichtes, zudringliches, verliebtes Weib, es ist Alles wahr, aber du wirst es nicht ändern, mit all deiner stolzen Vernunft nicht. Ich bin einmal in meinem Leben verkauft worden. Wie wollen die Menschen mich nun schelten, wenn ich mich verschenke, um jene Schmach zu verschmerzen!‹

So sprach sie, und mehr, und ihr ganzes Wesen schien mir vertauscht. Uebermüthig, neckisch, trotzig, dabei ein Lachen in den Augen, das den letzten Rest meiner vielgescholtenen Vernunft über den Haufen warf.

Ich schickte die Wirthin nach einem Wagen. Indessen gingen wir in mein Zimmer hinauf, und sie half mir einpacken in stürmischer Freude, daß sie meine kleine Häuslichkeit durchmustern durfte. Ein paar Bände Dramen, die gerade auf dem Tische lagen, warf sie mit in den Koffer. ›Für die Regentage,‹ sagte sie. ›Und vor Allem die Geige nicht vergessen!‹ – So waren wir reisefertig, als der Wagen eben vor die Hausthüre rollte.

Ich trug der Wirthin auf, meinen Freunden zu bestellen, daß ich auf unbestimmte Zeit hätte verreisen müssen. Dann fuhren wir fort, im verschlossenen Wagen, in der Dämmerung von Keinem der Vorübergehenden erkannt.

In einem abgelegenen Winkel des Siebengebirges, wohin sich selten ein Student verstieg, hatte ich eine Bekanntschaft. Ein Bergwanderer bin ich freilich nie gewesen. Meine Bekanntschaft schrieb sich aus einem der vielen Dörfer längs dem Rhein, wo ich im letzten Frühjahr einmal in der Schenke einen seltsamen Kauz getroffen hatte, der mich durch einen melancholischen Zug in dem verbrannten Soldatengesicht anzog. Ich gewann ihm durch eine gute Flasche und meine oft bewährte Qualification zum Vertrauten das Herz ab. Er erzählte mir eine unglückliche Liebesgeschichte, die ihn dazu gebracht, in einer versteckten Wildniß des Gebirgs, das vor zwanzig Jahren noch nicht so wegsam war wie heute, eine Försterstelle anzunehmen. Kein Anderer wolle hin, weil man dort sterben und verderben könne, ohne daß eine Christenseele davon erführe. Ihm sei es schon recht so. Alle Monate mache er einen Gang an den Rhein hinunter in sein Heimathdorf und versorge sich mit Wein. Wildpret habe er mehr, als er bezwingen könne, und ein alter Soldat, wie er, verstehe sich auf die Küche. Er lud mich ein, ihn einmal zu besuchen. Es sei ohnehin eine Verwöhnung, daß er in dem Bett seines Vorgängers schlafe. Anno 13 und 14 sei es oft den Generalen nicht so gut geworden.

Unter dem Dach dieser ehrlichen Seele barg ich meinen Schatz. Mein guter Lerche machte große Augen, als ich ihm sagte, wir würden seine Gastfreundschaft auf einige Zeit in Anspruch nehmen. Dann nickte er verstehend mit dem Kopf und seufzte. Es dauerte keine Stunde, so wäre er schon für seinen schönen Gast durchs Feuer gegangen. Es hätte freilich dazu nicht einmal ein so weiches Herz bedurft, wie das seine; denn war sie jemals liebenswürdig gewesen, so war sie es in dieser grünen Einöde hundertfach.

Ich weiß nicht, wie uns die Tage hingegangen sind. Die Sonne schien so golden sie nur konnte, der Wald umstand unser Haus, die beiden Hunde unseres Wirths spielten um uns herum, nicht weit von uns schwatzte der Bach ins Gelag hinein – wir saßen, wandelten, sprachen und schwiegen, wie es uns ums Herz war, und die Nacht war unerwartet da. Einmal erstiegen wir auch eine Höhe, ruhten auf den Klippen und sahen in die tiefe Welt hinunter und über den Rhein, der von Leben wimmelte. Ich sah meine Geliebte an; kein Zug ihres Gesichts sprach von einem Verlangen, an diesem ferngerückten Leben wieder Theil zu haben.

Zuweilen las sie in den Büchern, die wir mitgenommen hatten. Sie bat mich dann, meine Geige zur Hand zu nehmen und nach meiner Art zu phantasiren. So stand ich denn draußen an einen Stamm gelehnt und sah durchs Fenster, wie sie drinnen auf- und abging, das Buch in der Linken, mit dem rechten Arm lebhaft gestikulirend. Hörte ich dann auf, so brannten ihr die Wangen bis an die Augen hinauf.

›Ich mache Fortschritte,‹ sagte sie. ›Du bist ein guter Meister, und ich lerne leicht.‹

So kam es eines Abends, daß ich ihr vorschlug, ein Stück zusammen zu lesen. Ich nahm einen Band aufs Gerathewohl und schlug den Othello auf. ›Ich habe früher wohl die Desdemona gespielt,‹ sagte sie. ›Aber mein Othello verstand es nicht, mich in die Illusion zu bringen. Ich fürchte, ich habe von der Rolle noch nichts verstanden.‹

Wir lasen, oder vielmehr, ich las das Ganze und überließ ihr nur die eine Rolle. Sie war Anfangs unsicher im Ton, aber bald fand sie sich in das innerste Wesen dieses so aus der Fülle des Gemüths geschaffenen Einakters. Sie blieb nicht lang auf ihrem Sitz. Sie stand auf und stellte dar, was sie sprach. Wenn sie nichts zu thun hatte, stand sie am Fenster, die Arme gekreuzt, den Blick zu Boden gesenkt. Dann belebte sie ihr Stichwort von Neuem. Die Scene, wo Desdemona sich beim Auskleiden von Emilia helfen läßt, spielte sie sitzend und sprach beide Rollen. Die ahnungsvolle Schwüle, aus der das Lied von der Weide vorbricht, wie ängstlicher Vogelgesang aus Gewitterlüften, erschütterte mich in allen Tiefen. Sie sang die klagenden Strophen nach einer Melodie, die mir neulich auf der Geige gekommen war, und die ich ihr noch einmal hatte spielen müssen. Wie sie dann zum zweitenmal fragte:

›Thätst du dergleichen um die ganze Welt?‹

und dann:

›Ich will des Todes sein, thät' ich solch Unrecht
›Auch um die ganze Welt –‹

fiel mir das Buch aus den Händen, die Thränen bezwang ich nicht mehr, und jauchzend und weinend hielten wir uns in den Armen.

Den Rest des Abends war ich zerstreut und schweigsam. Sie hatte kein Arg dabei und hielt es allein für Nachwirkung unseres Lesens. Auch sie war still, aber mehr als einmal sprach sie: ›Ich war nie glücklicher. Man kann gar nie glücklicher werden, als ich bin.‹ – Diese Worte reiften meinen Entschluß.

Um Mitternacht, als sie schlief, stand ich auf. Die helle Nacht fiel auf das herrliche Gesicht, die Lippen schlummerten roth, und sie athmete ruhig wie ein Kind. Ich drückte einen Kuß auf ihr weiches Haar und ging sacht aus dem Zimmer.

Unser Hausherr lag auf seinem harten Lager, das er nun schon vierzehn Tage neben dem Herd der kleinen Küche eingenommen. ›Steh auf, alter Freund!‹ sagte ich, als er verwundert aus seinem leisen Schlaf emporsah. – Wir gingen in den Wald hinaus, die Hunde gaben keinen Laut. Ich sagte ihm, daß ich fort müsse, und gab ihm einen Brief an meine Geliebte, den ich schon vor dem Schlafengehen verstohlen geschrieben hatte. Ich nahm darin Abschied von ihr für immer. Daß sie an meinem Herzen nicht zweifeln solle, weil ich es vermochte, jetzt schon von ihr zu gehen, brauchte ich sie nicht zu bitten. Wir kannten uns, sie kannte den unerschütterlichen Entschluß in mir, in der Welt nicht neben ihr zu stehen. Sie wußte auch, daß mich keine armselige Besorgniß von ihr trieb, ein Glück, wie wir es hatten, könne verblassen, wenn der Herbst uns noch im Walde fände. Aber wenn man das Nothwendige thun muß, soll man sich doch nicht erst nöthigen lassen. Und das sagt' ich ihr noch, daß ich jetzt erst gehen dürfe, da ich sie nicht mehr allein ließe, daß ihr der Genius zum Gefährten bleibe, und eine Aufgabe, und eine Zukunft. Ich bat sie, mir zu schreiben, mich nicht zu vergessen; doch wenn sie in der Welt noch ein anderes Glück fände, es nicht um meinetwillen von sich zu stoßen. – Ich frug Lerche, ob er sich entschließen könne, seine Wildniß zu verlassen und bei ihr zu bleiben, so lange sie ihn nicht fortschickte. In die Hölle würde er ihr nachgehen, verschwor er sich; ich hatte es wohl gewußt. So gab ich ihm alles Geld, was ich bei mir hatte, eine Summe, die für die erste Zeit ausreichte, und ließ mir von ihm versprechen, mir zu schreiben, sobald seine Herrin in Verlegenheit sei. Dann nahmen wir Abschied. ›Ich möchte Ihnen einen von den Hunden mitgeben,‹ sagte er noch zuletzt; ›aber das Thier würde wieder zurücklaufen, sie sind ganz an diesen Engel gewöhnt. Der Himmel weiß, wie Sie's fertig bringen, davonzugehen.‹

Also verließ ich sie, wiederum in der Nacht, aber nach allem Kampf den reinen Himmel im Herzen. Ich wanderte die ganze Nacht, nur zuweilen ruhte ich und horchte um mich her. Ihre Stimme sollte ich nicht wieder hören. Die Geige trug ich, alles Andere war zurückgeblieben. Als ich endlich die Sonne aufgehen sah, spielte ich Desdemona's Lied und weinte mich noch einmal satt. Dann vollbrachte ich meine Reise.

Erst am nächstfolgenden Tag kam ein Brief von ihr; sie hatte ihn im ersten Sturm des einsamen Morgens geschrieben. Nach allen Schmerzen schrieb sie jedoch, daß sie sich füge und es auch zu fassen hoffe, ehe sie wieder unter Menschen käme. Sie wolle nach Frankfurt, dort ein Engagement zu suchen. Sie fühle jetzt, daß eine Künstlerin in ihr stecke. Sie wisse auch, wann der erste Funken dieser Flamme in ihr Herz gefallen sei.

Bald nachher schrieb sie mir aus Frankfurt, daß sie dort bleiben werde. Der treue Lerche wolle sie nicht verlassen. Ich antwortete ihr so warm und voll, wie es in mir war, so ruhig, wie ich konnte. Das Wort ›Sehnsucht‹ ist in unsern Briefen hinfort nicht genannt worden.

Es währte nicht lange, so waren die Zeitungen mit Berichten ihrer Erfolge angefüllt. Unter meinen Kameraden war viel Redens darüber. Die Wenigsten hatten es ihr zugetraut, daß sie jemals andere Triumphe, als die einer schönen Frau, erringen würde. Sie schrieb mir von Allem, was ihre Kunst betraf; ich sah alle Schätze der unvergleichlichen Natur vor mir sich entfalten. Nur zuweilen wollte eine Besorgniß in mir aufsteigen, wenn ich sah, mit wie verzehrender Inbrunst sie jede neue Aufgabe ergriff, und ich beschwor sie mehr als einmal, sich nicht aufzureiben. Sie beruhigte mich mit den heitersten Versicherungen, daß sie jetzt erst wisse, was Wohlsein heiße.

Und so lebt' ich hin, ein glückliches Leben, freilich im Schatten; aber ohne Wunsch, in der Erinnerung an den reich genossenen Sonnenschein jener beiden Wochen in den Bergen.

Einige Jahre mochten vergangen sein, und während unerquicklicher Arbeiten zum letzten Examen freute mich nichts, als meinen Schatz von Briefen anwachsen zu sehen. Dieser und Jener meiner Bekannten, der sie inzwischen in Frankfurt spielen gesehen und sein begeistertes Herz gegen mich ausschüttete, brachte mich wohl noch um den Schlaf einer Nacht. Aber mein Entschluß, sie nicht wieder zu sehen, hielt allen Versuchungen Stand.

Da kam eines Tages ein Brief aus Frankfurt von Lerche's Hand. Er enthielt eine Einlage von ihr, mit Bleistift im Bett geschrieben, leidenschaftlicher, als wir uns bisher zu schreiben erlaubt hatten. Wie ich noch in der ungewohnten Wonne schwelge, diese Sprache wieder zu vernehmen, fällt mein Blick auf den Umschlag, den Lerche vollgeschrieben. ›Sie ist nicht mehr,‹ hieß es darin. ›Gestern Abend spielte sie noch die Desdemona, zum erstenmal, mit einem ganz unerhörten Erfolg. Ich begleitete sie aus dem Theater, sie war sehr aufgeregt und ging zu Bett, ohne einen Bissen zu nehmen. Am andern Tag gegen 10 Uhr, als sich nichts regte auf all mein Klopfen, ließ ich die Thür aufbrechen. Da lag sie im Bett mit geschlossenen Augen und war nicht zu erwecken. Der Arzt meint, es sei ein Schlagfluß gewesen. Ich nahm das Papier, das auf ihrer Decke lag, in Verwahrung und schicke es hier mit. Von ihren Haaren hab' ich auch für Sie abgeschnitten. Ich bringe sie Ihnen selbst.‹«

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Der Erzähler schwieg und stand vom Sessel auf, in dem er zurückgesunken geruht hatte. Er trat an das Fenster und stand dort eine lange Zeit, indeß seine Worte in mir nachklangen und meine Augen von dem Bilde gegenüber nicht weichen wollten. Ich hörte endlich, wie er das Fenster schloß. Dann trat er wieder an den Tisch und schenkte die Gläser voll. »Wir müssen noch ein Glas zusammen trinken; es leben die Lebendigen und die Unsterblichen!« sagte er. »Stoß' mit mir an! Wer das von mir erfahren hat, zu dem muß ich hinfort Du sagen.«

Er umarmte mich. Dann ergriff er die Lampe und begleitete mich in das Gemach, wo das Bett für mich aufgeschlagen war. Ich selber schlafe bei meinen Schätzen, sagte er lächelnd und deutete auf das Polster vor dem Bilde zurück. Ich warf noch einen letzten Blick darauf; am andern Morgen, als ich Abschied nahm, war der Vorhang darübergezogen.

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