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Sofort hatte er den Grafen in seiner Wohnung gesucht, aber vergebens; und entschlossen, die Nacht nicht darüber hingehen zu lassen, war er die Arcaden hinabgeschritten, sein Blut zu kühlen, eh' er wieder im Hause nachfragte. Die hellen Fenster des Schenkzimmers überhoben ihn der Mühe. Er wäre auch ohne Weiteres an den Tisch herangetreten, wo er den Grafen sitzen gesehen; aber den dritten Gast am Tische, den er hinter der Zeitung bemerkte, wünschte er lieber zu vermeiden. Darum hatte er sich im Dunkeln vor die Schwelle gesetzt, daß ihm sein Feind nicht entgehen könne, und übersann jetzt Alles und Jedes, was zwischen ihm und dem vornehmen Herrn zu verhandeln war. Einen Augenblick ertappte er sich darauf, daß der Zug von Güte und Menschenfreundlichkeit auf dem runden Gesicht des kleinen Herrn seinen Zorn entwaffnen wollte. Der Aerger, den er über diese Schwäche empfand, schürte dann wieder seine Erbitterung. Das wird's auch dem Mädel angethan haben, sagte er bei sich selbst. Und immerhin, wenn er's nicht so schlimm gemeint hat – wird's darum besser? Kann er's wieder gut machen? Kann er's ernst mit ihr gemeint haben? Und seine Kurzweil mit ihr zu treiben – heiliger Gott, er soll merken, daß sie mir zu gut dafür ist!

Jetzt wurden seine Gedanken von dieser Hauptsache abgelenkt; denn an dem Tische drüben, wo die drei jungen Leute saßen, entstand ein heftiger Lärm. Der Eine, der etwas angetrunken war, warf die Karten hin und verschwor sich, sie heute nicht wieder anzurühren. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, corpo della Madonna! schrie er überlaut. Hol's der Henker, Aloys, aber ich spiele nicht mehr mit dir!

Holla! erwiederte der Schöne, dem diese Rede galt, was soll das, Sepp? was meinst du mit diesen Anzüglichkeiten?

Ja wohl, Sepp, was sollen die dummen Redensarten? secundirte ihm sein getreuer Schildknappe.

Mille tonnerres – was ich meine? rief der Andere. Daß kein jeu zu machen ist, wenn alle Trümpfe in Einer Hand sind.

So spielt man in Venedig! höhnte der Dritte, und schlug ein helles Gelächter auf.

Sepp, sagte der junge Stutzer, indem er phlegmatisch den Rauch durch die Nase blies, du wirst so gut sein, mir eine Erklärung zu geben, was du damit sagen willst oder Sapristi! wir sprechen uns anders.

Sangue freddo, amico mio! lenkte der Aufgebrachte wieder ein. Ich meine nur –

Daß dem Aloys nicht blos die Damen zulaufen, sondern auch die Buben und die Könige? Hahaha, Sepp, 's ist einmal nicht anders. Heute mir, morgen dir, wer's Glück hat, fällt auf den Rücken und bricht die Nase. Wein her!

Peste alla fortuna! brummte der Andere. Ich mag nicht mehr spielen. Ecco! – und er warf eine Handvoll Banknoten auf den Tisch. Ich bin perdu, che il Diavolo vi porti!

Nun, nun, sagte Aloys, mir liegt Nichts dran. Kannst auch morgen Revanche haben, 's ist ohnedies spät und deine Augen tanzen dir im Kopf, daß du Coeur-Dame für eine böse Sieben ansiehst.

Hahaha, lachte sein Bewunderer und klatschte in die Hände. Sollst leben, Aloys! Aber was spät! Wirst doch nicht schon nach Hause wollen?

Das nicht, sagte der Jüngling und trank mit einer gleichgiltigen Miene sein Glas aus. Aber fort muß ich. Ich habe noch einen Weg zu machen.

Noch einen Weg, Teufelsjunge? Nun freilich

La notte xe bella,

Fa presto, Ninetta – –

Presto, presto, das ist die Hauptsache! He? Weiß ich, wohin es geht?

Was weißt du, Schellenkönig? achselzuckte der Jüngling.

Eine Maß Cipro, wenn ich's weiß – he? gilt die Wette?

Meinetwegen mag sie gelten!

Halt' dein Ohr her, Bruderherz! – Und er näherte sich ihm über den Tisch und sagte, immer noch so laut, daß Alle im Zimmer und auch der im dunklen Vorgemach das Wort hören konnten: Planta?

Das Gesicht des Jünglings verfinsterte sich, er schüttelte rasch den Kopf und sagte: Fehlgeschossen! Und ich bitte mir aus, daß davon nicht mehr die Rede ist.

Wie von einem Scorpion gestochen, fuhr der Graf von der Bank auf, beherrschte sich aber noch hinlänglich, um die rasche Bewegung durch einen Griff nach der Flasche, die vor ihm stand, zu bemänteln.

Der Oberst schien allein nichts gehört zu haben, sondern packte seine Steine wieder in die Tasche und rüstete sich zum Aufbruch. Bleiben Sie noch, raunte ihm sein Nachbar zu. Haben Sie nicht gehört?

Was nicht gehört? Sie sind ja todtenblaß geworden!

Der Graf hielt seinen Arm fest und lauschte in fieberhafter Aufregung nach dem Kartentisch hinüber.

Was Tausend! rief eben wieder der vergebens zum Schweigen Ermahnte. Ist die Geschichte schon aus? Ist der wilde Vogel nicht zu Schuß gekommen? Oder bist du des Mädels schon überdrüssig?

Franzl, herrschte der Jüngling ihn an, ich sage dir in allem Ernst, halt' deine unnütze Zunge im Zaum.

Oho, Bruderherz, so haben wir nicht gewettet. Die Maß Cipro ist wenigstens die Beichte von dieser neuesten Neuigkeit werth. Kellnerin! rief er hinaus, komm einmal herein! der Aloys hat ein gebrochenes Herz zu begießen.

Du bist betrunken, Franz, sagte der Jüngling, indem er aufstand. Gute Nacht!

Aber bei der Mutter Gottes von Lana, was ist denn in dich gefahren, Aloys, daß du so verschämt thust, als wüßte nicht der ganze Kaiserstaat bis zum Großtürken hin, daß du überall Hahn im Korbe bist? Und hast du mir nicht selbst vor vierzehn Tagen erst erzählt, daß die wilde Hexe zahm zu werden anfange? Warum soll man nun das Maul von ihr halten, als wie von einer der elftausend Jungfrauen, die freilich auch, bei Lichte besehen, nicht alle das Staats-Examen mit Glanz bestehen möchten? He? Sieh nur, der Sepp liegt schon und schläft wie ein Sack. Also heraus mit der Beicht', wir sind unter drei Augen (eines will ich zudrücken über deinen Teufeleien): Warum geht der Weg nicht mehr nach Planta bei nachtschlafender Zeit, und was hat die Zigeunerin, die Filomena, verbrochen, daß sie –

Daß ihr Name zu einem Schenkstubengespräch gemißbraucht wird? fuhr eine scharfe, vor Aufregung bebende Stimme, die den beiden Jünglingen völlig unbekannt war, dazwischen. Der Schöne fuhr leicht zusammen, wandte sich mit erkünsteltem Gleichmuth zu dem unberufenen Mitsprecher um und maß den kleinen Herrn, der vor ihm stand, mit einem herausfordernden Blick.

Wer sind Sie, Herr? sagte er, während sein Kamerad mit einem betroffenen Gesicht am Tische sitzen blieb. Ich habe nicht die Ehre Sie zu kennen.

Und ich, erwiederte der Graf hastig, würde nicht nach der Ehre geizen, Sie kennen zu lernen, wenn ich nicht aus Ursachen, die Ihnen gleichgiltig sein können, mir Aufklärung über das Gespräch ausbitten müßte, das Sie laut genug geführt haben, um alle Anwesenden an ihm Theil nehmen zu lassen. Ich bitte mir die Frage zu beantworten, ob Sie, was Ihr Freund dort Nachtheiliges gegen den Ruf eines gewissen Mädchens geäußert hat, Lügen strafen wollen, oder nicht?

Ich streite Ihnen das Recht ab, eine solche Frage zu thun, erwiederte der Jüngling und blies eine blaue Wolke nachlässig vor sich hin. Sind Sie ein Verwandter des Mädchens oder haben Sie sonst Ansprüche auf dieses Ritteramt?

Der Graf schwieg einen Augenblick. Ich bin ein Freund der Familie, sagte er mit starker Stimme, und dieses Mädchen ist mir theuer. Aber wenn ich auch als ein Wildfremder bei Ihrem leichtsinnigen Spiel mit dem Ruf eines unbescholtenen Kindes zugegen gewesen wäre, würde ich mir dennoch erlauben, Sie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie werden die Güte haben, unverzüglich vor diesen Herren zu erklären, daß Sie es bereuen, die Ehre des Mädchens durch ein prahlerisches Wort verdächtigt zu haben: das werden Sie, junger Mann, und damit Sie wissen, mit wem Sie es zu thun haben, – hier ist meine Karte!

Er warf sie auf den Tisch, neben dem der Jüngling stand. Dieser nahm sie kaltblütig auf, steckte sie in die Tasche und sagte: Die Erklärung, die Sie von mir verlangen, kann ich um so eher abgeben, als Sie ja wohl gehört haben, daß ich es nicht war, der dies Gespräch aufs Tapet gebracht hat, und daß ich mehr als einmal es abzubrechen versucht habe. Ich bin nicht der Liebhaber jenes Mädchens, behüte mich Gott! Ich werde sie nie wiedersehen. Was ihre Ehre anbelangt, so brauche ich sie nicht zu verteidigen, da sie ja in guten Händen ist. Wenn Sie als Freund dieser Familie, um welchen Posten ich Sie nicht beneide, noch weitere Aufklärungen wünschen, so stehen dieselben Ihnen morgen in meiner Wohnung zu Dienst; hier scheint mir der Ort schlecht dafür gewählt zu sein. Gute Nacht, meine Herren!

Er hatte seine Karte dem Grafen hingereicht, rückte mit einer leichten kecken Bewegung des Hauptes seinen Strohhut und schritt aus dem Schenkzimmer hinaus durch das dunkle Vorgemach und den Flur auf die Gasse. Sein Kamerad, der sich jetzt erst von seiner Befragung erholt hatte, eilte ihm, seinen Namen rufend, nach, ohne die Anderen zu grüßen oder von dem Dritten Notiz zu nehmen, der während der ganzen Scene friedlich an Tisch und Wand gelehnt weitergeschlafen hatte.

Jetzt erst zeigte sich's, wie heftig die Aufregung war, die der kleine Graf bisher unter ritterlichen Formen mühsam verborgen hatte. Er hatte das Feld behauptet, aber der Sieg sah einer Niederlage nur zu ähnlich. Mit ruhelosen Schritten ging er im Zimmer zwischen Tischen und Bänken auf und ab, ergriff seinen Hut, um ihn gleich wieder wegzuwerfen, that einen Blick ins Vorzimmer und schritt zerstreut über die Schwelle.

Suchen Sie Jemand? fragte ihn die Kellnerin, die dort im Dunkeln am Tische stand und den Rest des Weines aus der kleinen Flasche ins Glas goß. Es war Niemand hier, als der Herr Weber, und der ist plötzlich fortgegangen.

Weber? rief der Graf bestürzt. Welcher Weber?

Der von Planta droben, antwortete das Mädchen, das während des ganzen Auftritts draußen im Hof gewesen war und das Erschrecken des Fremden bei diesem Namen nicht begriff.

Auch das noch! stieß der Graf mit einem tiefen Seufzer heraus. Der Vater! Wo mag er hin sein? Den jungen Leuten nach?

Weiß nit! sagte die Schenkin. Dem seine Wege weiß kein Mensch so recht. Es ist, als wär's ihm da oben über den Augen nit richtig, so viel bös und wild schaut er einen an. Soll ich noch Wein bringen, Herr?

Der Graf antwortete nicht, ging in das Schenkzimmer zurück und gerade auf den Obersten zu.

Der Vater war nebenan; er hat Alles gehört! sagte er rasch. Was sagen Sie nun, Oberst?

Daß Sie sich gratuliren können, brummte der Alte, Sie sehen ja aus wie von der Schlange gebissen. Seien Sie froh; ohne den Biß wären Sie vorwärts gegangen und in den Sumpf gerathen. Nun wissen Sie, woran Sie sind, und daß dem Frieden nicht zu trauen ist, mit dem die Natur diesen Fleck Erde tückisch zugedeckt hat. Die Decke ist morsch. Das ganze Stillleben ist nichts als grüner Schimmel und Schwamm, der aus der Fäulniß aufgewachsen ist, und sich im Sonnenschein von weitem ganz luftig ausnahm. Ich hab's Ihnen gleich gesagt. Es ist nichts Gesundes, wo noch Menschen sind. Unter die Steine müssen Sie gehen, die betrügen wenigstens Niemand.

Der Graf hörte schon nichts mehr. Er las den Namen auf der Karte und sagte: Ich lasse noch nicht ab, ich muß erst genauer wissen, woran ich bin. Was auch dahinter stecken mag, das Mädchen ist unschuldig; und selbst wenn alle Ahnung mich täuschte, es kann noch nicht zu spät sein, die arme Seele zu retten. Wer mir nur sagen könnte, wo der Bursche wohnt? Ich kann nicht eher ein Auge zuthun, bis ich Alles von ihm erfahren habe, was er hier nicht sagen wollte.

Da legte der Mann, der in der Ecke an ihrem Tische sah, die Zeitungen weg, faltete sie zusammen und sprach, indem er das große Packet in die Tasche seines braunen Sommerrocks schob: Ich kann dem Herrn Grafen sagen, was er zu wissen wünscht. Der junge Mensch wohnt hier ganz in der Nähe, und ich will Ihnen das Haus zeigen. Was er Ihnen mittheilen will, vermag ich freilich nicht vorauszuwissen. Aber über das Mädchen, von dem die Rede war, und ihre Familie ist er schwerlich besser unterrichtet als ich, und daß er überhaupt etwas von ihnen weiß, wundert mich. Denn ich war bisher der Meinung, nur ich und der Bürgermeister, der es auch nur von mir hat, kennten die traurige Geschichte dieser armen Leute, von der sie selbst zu keinem Menschen je ein Wort verlauten lassen. Wenn es wahr ist, daß der leichtsinnige Bursch eine Liebschaft da oben angeknüpft hat, so muß ihn das Mädchen selbst in einem unbewachten Augenblick in das Geheimniß eingeweiht haben. Wie ich dazu gekommen bin, ist sehr einfach. Eh' ich hieher ans Landgericht versetzt wurde, habe ich eine Zeitlang unten in Trient als Rechtspracticant gearbeitet und den Weber selbst zu Protocoll vernommen. Er hieß damals anders. Er ist darum eingekommen, seinen Namen ändern zu dürfen, und die Regierung hat es ihm erlaubt, weil er in einem erbarmungswürdigen Grade sich die Geschichte mit seiner Tochter zu Gemüth zog und beinah auch den Verstand darüber verloren hätte.

Er schwieg plötzlich und sah mit den festen ruhigen Augen den weißbärtigen Alten an, dessen Gesicht sich wunderlich verzerrte. Ist Ihnen unwohl? fragte er.

Der Alte erhob sich mit sichtbarer Anstrengung, hing sich die Ledertasche um, wobei seine Hände zitterten, als schüttle ihn ein Krampf, und sagte dumpf: Nein! Ich will fort. Der Qualm aus Ihrer Pfeife –

Ich begleite Sie, Oberst, sagte der Graf bestürzt. Sie können so nicht allein über die Straße gehen. Der Herr Landrichter ist wohl so gut, hier auf mich zu warten, bis ich zurückkomme.

Gehen Sie zum Teufel! rief der Alte mit starker Stimme. Ich brauche keine Wärterin. Gute Nacht!

Damit richtete er sich hoch auf und schritt starr vor sich hin blickend hinaus.

Der Graf sah ihm durch die Thüre nach. Als er ruhig darüber war, daß der Alte seinen Weg fand, kehrte er zu dem Landrichter zurück. Begreifen Sie's? fragte er mit Kopfschütteln und einem ganz rathlosen Gesicht, das für einen unbetheiligten Zuschauer fast etwas Komisches gehabt haben würde.

Ich kenne den Herrn nicht anders als von Ansehen, erwiederte der Landrichter achselzuckend.

Ich muß morgen zu ihm. Es war etwas so Desperates in seinen Zügen, daß ich die höchste Sorge um ihn habe. Wüßte man nur, wo er sich eingemietet hat. Aber vielleicht können Sie mir beim Nachforschen behilflich sein.

Der Andere schwieg, stand auf und trat zu dem Schlafenden an dem Tische gegenüber. Der ist besorgt und aufgehoben, sagte er und wir können so frei von der Leber weg reden, als wären wir nur zu Zweien im Zimmer. Wenn ich Ihnen rathen darf, mein Herr, fuhr er fort, indem er sich dem Grafen gegenüber setzte, so seien Sie auf der Hut mit dem Weber. Das Unglück hat den wackern Mann verwildert, und da ihm Niemand helfen kann, ist es am besten, ihn sein Wesen so forttreiben zu lassen. Verzeihen Sie, daß ich meine Meinung gerade heraus sage, obwohl ich gar nicht weiß, welcher Art die Beziehungen sind, in denen Sie zu den Leuten stehen.

Sie sind zufällig genug, versetzte der Graf seufzend. Ich habe vor einigen Wochen den ersten Schritt in das verfallene Schloß gethan und den Plan gefaßt, das Grundstück zu kaufen, die Trümmer theilweise auszubauen und mich selber dorthin zurückzuziehen. Da ich merkte, wie sehr der arme Mann an seiner lichtscheuen Behausung hängt, bot ich ihm an, ihn und die Seinigen dort wohnen zu lassen. Er hat es mir kurz abgeschlagen und sich überhaupt ganz unzugänglich gezeigt, was ich auf einen gewissen Trotz und Stolz der Armuth schob. Das Mädchen aber hat mir ein tiefes Mitleiden eingeflößt, so daß ich auch jetzt noch den festen Willen habe, irgend etwas für sie zu thun, um ihr Schicksal zu erleichtern und sie nicht länger in dieser Umgebung verkommen zu lassen. Vielleicht können Sie mir einen Rath geben, wie es am zweckmäßigsten anzufangen sei.

Der Landrichter zündete seine Pfeife wieder an und sagte: Das lassen Sie sich nur vergehen, mein werter Herr. Der Alte giebt das Kind nicht her, und wenn der Kaiser sie auf seinen Thron setzen wollte. Es ist das Einzige, was ihm von seinem früheren Glück geblieben ist, und in jedem Menschen, der sich dem Mädel nähert, sieht er einen Feind und Räuber. Daß sich der junge Laffe da oben eingeschlichen haben sollte, ist mir auch noch ganz unglaublich; denn wenn der Vater selbst nicht zu Hause ist, läßt er seinen Schatz von dem alten Drachen hüten, der Sie ja auch wohl angeschnaubt haben wird.

Der Graf nickte und fragte: Ist das widrige Weib wirklich die Mutter dieses Weber, oder wie er sonst geheißen haben mag? Sie versteht ja nicht deutsch, und dem Manne steht ja der Tyroler im Gesicht geschrieben.

Seine Schwiegermutter ist's, erwiederte der Landrichter. Er kam noch in jungen Jahren ins Welschtyrol hinunter und heiratete dort ein Mädchen vom Lande, eine schöne, dunkelfarbige, schwarzäugige Person, in die er sich heftig verliebt hatte. Sie soll eine brave Hausfrau gewesen sein, sanfter als die Mutter, die ihr Lebtag ein wilder Teufel war. Und weil der Weber glücklich in seiner Ehe war, kümmerte es ihn auch wenig, die Schwiegermutter mit auf dem Halse zu haben. Auch daß sie mit den jungen Leuten zog, als er die Försterstelle drunten im Val Sugana bekam, ließ er sich ohne Murren gefallen. Denn sie hing auch wieder sehr an den Kindern und schleppte sich Tag und Nacht mit ihnen. Die junge Frau starb leider früh, ihr jüngeres Kind, die Filomena, konnte kaum laufen. Anna, die Aeltere, ging schon in die Schule. Es soll ein apartes Kind gewesen sein, an Temperament nach der Großmutter geartet, aber ein Prachtmädel, bei dem Niemand vorbeiging, ohne still zu stehen und ihr nachzuschauen. Und der Vater, der fast von Sinnen kam, als er sein Weib verlor, lebte mit den beiden Töchtern noch einmal wieder auf. Auch die Jüngere war ein sauberes Ding, mehr wie die Mutter: nichts Herrisches und Eigenwilliges, wie ihre Schwester, aber es ging ihr Alles nicht minder tief. Nun, sie haben sie ja kennen gelernt – freilich, wie sie jetzt ist, nach so vielen armseligen und harten Schicksalen. Ich sage Ihnen, sie ist kaum wiederzuerkennen. Als sich die Geschichte mit der Andern zutrug, war die Kleine schon so gut wie verlobt, mit einem weitläufigen Verwandten, einem älteren Mann, der sie schon als Kind gern gehabt hatte. Sie selbst schien sich nichts dabei zu denken, daß sie heiraten sollte, denn sie war trotz ihrer sechzehn Jahre noch kindisch und wußte nichts von Lieben, und der Vater hatte es für sie abgemacht, weil er sie nicht besser versorgen zu können meinte. Die Aeltere machte ihm Kummer; sie schlug alle Partien, so viele sich ihr boten, die schmucksten und wohlhabendsten Bewerber einen wie den anderen aus, daß Alle sich wunderten. Aber sie war nicht so von Stein, wie die Leute glaubten. Sie hatte eine heimliche Liebschaft mit einem armen Teufel, der bei ihrem Vater als Jagdgehilfe conditionirte, einem schlanken, verwegenen, lustigen Gesellen, der in seinem schlechten Rock und dem verregneten Hütchen mit der Hahnenfeder doch immer eine stattliche Figur zu machen wußte. Er hatte was Ungebundenes, das die Mädel wohl verführt. Sie denken, wenn sie so Einen anbinden, hätten sie was Rechtes gethan. Und die Anna hatte ihn auch am Bändel, daß er auf einen Wink von ihr durch Feuer und Wasser gegangen wäre. Nur das konnte er ihr nicht zu Liebe thun, sich in ihren Vater zu schicken. Es ging ihm gegen die Natur. Er war ein echtes Racekind, ein Welscher bis in alle Poren – aber von der besseren Art – liebte das freie, läßliche, leichte Wesen bei jeder Sache, bei Ernst und Spaß, und wenn er seine Pflicht thun sollte, mußte man sie ihn auf seine Weise thun lassen, dann war Alles von ihm zu erreichen, und er scheute nicht Mühe noch Gefahr. Darin versah es der Weber. Der hatte was Soldatisches von seinen Dienstjahren her behalten; Pünktlichkeit, Strammheit, Accuratesse und Dienstgewissen gingen ihm über Alles, mehr als sonst bei Waidmännern Brauch und von Nöthen ist. Und so taugten die Beiden schlecht zusammen, und nachdem der Junge lange sein rasches Blut im Zaum gehalten, ging es denn doch einmal mit der Zunge durch, und da war's aus. Er mußte fort, und hätte sich droben im Forsthaus nicht wieder sehen lassen dürfen, am wenigsten sich merken lassen, wie er mit der Tochter stand.

Aber Sie werden wohl denken, daß es darum zwischen den jungen Leuten nicht aus war. Noch eine halbe Stunde oberhalb der Försterei, ganz im dicken unwegsamen Wald, steht eine Blockhütte für die Holzmacher. Dahin stahl sich manche liebe Nacht das resolute Mädel, und dahin schlich auf gefährlichen Umwegen die drei Stunden von Trient herauf der Bursch, der inzwischen drüben in der Stadt bei einem Seidenwirker in die Lehre gegangen war. Keine Menschenseele erfuhr etwas von diesen Heimlichkeiten. Auch hütete das Mädchen gerade so standhaft ihre Ehre wie ihre Liebe, und alle Hoffnungslosigkeit, Heißblütigkeit und Einsamkeit konnte ihr den Kopf nicht verwirren. Es muß aber doch ein besonderes Ding gewesen sein, die Leidenschaft und Treue dieses Mädchens zu besitzen, daß der Liebhaber die mühselige nächtliche Wanderung im Sommer und Winter nicht scheute, nur um eine Stunde droben mit seinem Schatz zu plaudern. – Sie war zwei Jahre älter als er; auch fehlte ihr nicht viel, daß sie eben so groß gewesen wäre. Und da die Mädchen da unten rascher verblühen und der Jüngling blutarm war, stand es bedenklich um die Zukunft. Aber das scheint sie niemals im mindesten bekümmert zu haben.

Nun brach damals der Krieg mit Piemont aus, und es wurde junge Mannschaft auch in Welschtyrol ausgehoben, der man freilich gegen ihre Landsleute nicht sonderlich trauen konnte. Aber sie sollten die Regimenter ersetzen, die man aus Ungarn, Böhmen und Croatien heranzog. Der Tag, wo die jungen Bursche in Trient loosen mußten, rückte heran, und die Anna ging mit Herzklopfen umher, sagte freilich zu Keinem im Hause ein Wort, aber Alle sahen's ihr an, daß sie einen heftigen Kummer haben mußte. Und die letzte Nacht vor der Entscheidung stieg sie, wie gewöhnlich, zur Waldhütte hinauf, von Niemand bemerkt, da sie allein in einem Verschlag des oberen Bodens schlief und die Hunde schon lange im Einverständniß waren. – Der Bursch hatte sich auch richtig eingestellt, war übrigens guter Dinge, lachte über ihren Gram und behauptete ganz fröhlich, daß es ihn nicht treffen könne; eine alte Frau habe ihm ein Mittel gesagt, wie man sich unfehlbar freiloose. Man müsse dreimal in die rechte Hand spucken, mit der Linken drei Kreuze darüber machen, die Hand dann in die Erde graben und erst nach drei Vaterunsern wieder herausziehen. Das schien aber das Mädchen wenig zu trösten, und nachdem sie zum ersten Mal mit einander gehadert und, freilich aus Liebe, sich die letzte Stunde verbittert hatten, trennten sie sich in unglücklicher Stimmung, er lachend, sie weinend, obwohl sie sonst ihre Thränen nicht zu verschwenden pflegte. Er war schon eine Strecke weit, als sie ihm nachrief, daß er sich, wie es auch ausfallen möge, jedenfalls die nächste Nacht wieder einfinden müsse, was er denn, wie Alles, was sie von ihm verlangte, ohne Besinnen gelobte.

Nun aber stellen Sie sich das Entsetzen des armen Burschen vor, als er sich am andern Tage nicht nur gegen seine sichere Hoffnung und trotz aller Zaubermittel festlooste, sondern auch die strenge Ordre verlesen hörte, daß keiner von den neuen Rekruten die Kaserne wieder verlassen dürfe. An anderen Orten hatte es sich nämlich ereignet, daß hitzige Köpfe, hie und da selbst durch ein gegenseitig abgenommenes Gelübde gebunden, lieber die Flucht ergriffen hatten, als der Fahne zu folgen, die vielleicht gegen ihre Landsleute getragen wurde. Sie wissen ja, wie Alles von den mazzinistischen Maulwürfen unterwühlt war. Und so wird Niemand, als etwa die eingefleischten Demokraten, etwas dabei finden, daß man die Rekrutirung mit großer Umsicht und Strenge ausführte, und auch in Trient bei Trommelschlag verkündigte: Wer von den Dienstpflichtigen die Kaserne oder gar die Stadt verlasse, werde, auch wenn er dringende Ursachen vorschütze, einfach als Deserteur behandelt und erschossen werden. Denen, die noch Geschäfte zu erledigen hatten, wurde erlaubt, ihre Angehörigen im Hofe zu sprechen, irgend welche Urlaubsgesuche hingegen nicht weiter berücksichtigt.

Dem Liebhaber der Anna soll während all dieser Vorgänge, wie seine Kameraden hernach aussagten, nichts Besonderes anzumerken gewesen sein. Nach dem allerersten unwillkürlichen Schreck, den Jeder empfindet und nicht verbergen kann, wenn er das Unglücksloos zieht, habe er gleich wieder gepfiffen und gesungen, seinen mageren Beutel ausgeleert, um für den Rest der ganzen Baarschaft Wein kommen zu lassen, und sei auch am Abend ganz zeitig schlafen gegangen. Alle hatten ihn gern wegen seiner guten Manieren, zu leben und leben zu lassen. Darum waren auch Alle aufs Höchste erschrocken, als Morgens beim Appell sein Name verlesen wurde und keine Antwort darauf erfolgte. Die Wachen wurden scharf vernommen, alle Thüren und Fenster visitirt, man fand keine Spur, auf welchem Wege er entwichen sein möchte, und bis auf den heutigen Tag ist es nicht ganz aufgeklärt; wahrscheinlich aber, daß er durch den Kamin über die Dächer hinweg das Freie gesucht und gedacht hatte, auf demselben Wege unbemerkt zurückzukommen.

Aber ein trauriger Unfall hatte ihm den Rückweg leider abgeschnitten. Die Streifpatrouillen, die nach ihm ausgeschickt wurden, suchten hier und dort lange vergebens, bis man den armen Burschen endlich an einem schroffen Felsenhang, eine Stunde von der Stadt, hilflos mit einem schweren Bruch des rechten Unterschenkels liegen fand. Wie er dort hingekommen, ob im Auf- oder Absteigen der Sturz geschehen, war nicht aus ihm herauszubringen. Da er überall wohl angeschrieben war, hätte man – trotz der Notwendigkeit strenger Justiz – doch vielleicht die Strafe ermäßigt, wenn er seinen nächtlichen Abschied von der Anna gebeichtet und seinen guten Willen, zurückzukehren, betheuert hätte. Aber er blieb völlig stumm und verweigerte jegliche Auskunft; da war er denn vor dem Standrecht nicht zu retten.

Die Nachricht hiervon verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Gegend. In das hochgelegene Forsthaus brachte sie der Vater selbst mit, der, obwohl er dem Burschen nicht eben grün gewesen, doch menschlich genug war, das klägliche Ende, dem er entgegenging, zu bedauern. Anna hatte Alles mit angehört, ohne einen Laut von sich zu geben. Fünf Minuten nachher war sie aus dem Hause verschwunden.

Das war am Nachmittag, und bis dahin ist Alles in dieser trübseligen Geschichte verständlich und auch wohl sonst schon vorgekommen. Was aber weiter geschah, hat man aus abgerissenen Zeugenaussagen mühsam zusammenbuchstabiren müssen, und wenn man sich's vorstellen will, ist man immer wieder im Zweifel, ob es denn überhaupt menschen-möglich ist. Unser Beruf freilich läßt uns mehr die Schatten- als die Lichtseiten von diesem bunten Menschenwesen betrachten, und wir haben mit allerlei Volk zu verkehren, das unsere Ansprüche an die Gottähnlichkeit unseres Geschlechts ziemlich herabstimmt. Homo homini lupus: über dieses Thema können zwei von meinem Beruf, zumal in einer Gegend, wo die Cultur die grobschlächtigen Triebe und Leidenschaften noch nicht Mores gelehrt hat, Nächte lang mit einander phantasiren. Aber auf Manches sind wir selbst nicht gefaßt, und ich gestehe, daß ich damals – ich war freilich auch ein bischen in das Mädel verschossen gewesen – eine Woche lang jede Nacht aus den schauderhaftesten Träumen mit Schreien aufgewacht bin, so entsetzlich hatte mich die Sache gepackt.

Das Commando nämlich über das Rekrutirungscorps hatte ein junger Offizier, dessen Namen ich nicht nennen will, weil sein alter Vater, ebenfalls ein verdienter Militär, wohl noch leben mag, wenn er auch seitdem verschollen ist. Der Sohn machte überall, wo er sich zeigte, den besten Eindruck; ich selbst hatte Mittags und Abends gern mit ihm discurrirt, wenn ich ihn am Wirthstische fand, und mich gefreut, den jungen Mann so gut unterrichtet, so bescheiden, wohlwollend und nichts weniger als sittenlos zu finden. Noch an dem Mittage, wo Alles von dem Schicksal des armen, wieder eingefangenen Fahnenflüchtlings voll war, sprach ich ihn auf der Gasse, und er war sehr betrübt, daß dem Burschen nicht durchzuhelfen sei. Um sechs Uhr Abends sollte er erschossen werden; er hatte schon gebeichtet und einen Brief geschrieben an einen Freund, den Einzigen, der im Geheimniß seiner Liebschaft war und nach seinem Tode dem Mädchen das Blatt mit seinem Abschiedsgruß heimlich bringen sollte. Uebrigens schien ihm der Tod keinen Schrecken zu erregen; die Hoffnungslosigkeit seines Schicksals und seiner Liebe mochte ihm das Leben verleiden.

Hiervon erzählte mir der junge Offizier, und ich weiß noch, daß ich darüber nachdachte, wie harte Prüfungen gewisse »weichgeschaffene Seelen« in manchen Lebensstellungen durchzumachen haben. Als ich einige Stunden später die Salve krachen hörte, die dem Himmel einen der wackersten Galantuomini, die je in der Haut eines armen Teufels gesteckt, sehr vorzeitig zuschickte, mußte ich unter anderen erbaulichen Betrachtungen auch an den jungen Offizier denken, der wohl selten mit so schwerer Zunge: Feuer! commandirt haben mochte, als in jenem Augenblick.

Auch ließ er sich Abends nicht an der Wirthstafel sehen – wie ich meinte, aus Erschütterung über die Execution. Wie weit ab war ich davon, den wahren Grund zu ahnen!

Der Reitknecht des jungen Herrn hat nachher ausgesagt, daß an jenem Abend, eine Stunde etwa nach der Execution, als es schon dunkel geworden, ein schönes großes Mädchen zu ihm gekommen sei und nach seinem Herrn gefragt habe. Er kannte sie nicht, weil er erst so kurze Zeit am Ort war, ließ sie aber, da hübsche Mädchen immer freien Zutritt haben, einstweilen in das Zimmer seines Herrn, der eben von dem Begräbniß des armen Füsilirten herkam und droben in der Kaserne zu thun hatte, und ging, da das Mädchen große Eile zu haben schien und seine Galanterien mit stolzer Kälte abwies, den Herrn zu rufen. Er mochte wohl ein Liebesverhältniß wittern, obwohl der junge Offizier ihn bisher niemals zu seinem Zuführer gebraucht, und auch in dem Rufe einer exemplarischen Gleichgültigkeit gegen die Weiber stand. Aber freilich, wenn sie Einem zugelaufen kommen, dachte er, wird man ja kein Narr sein. Er merkte dann wohl, daß sein Herr das Mädchen noch eben so wenig kannte, wie er selbst, und konnte sich nicht versagen, draußen an der Thür zu horchen, was zwischen den Beiden verhandelt werden möchte.

Sie sprachen indeß so leise, daß er kein Wort verstand. Also nahm er sich die Freiheit, geradewegs unter dem Vorwand einer gleichgiltigen Meldung hineinzugehen. Da lag das Mädchen vor dem jungen Offizier auf den Knieen, und der hatte, so viel man in dem dunklen Zimmer sehen konnte, einen ganz aparten Ausdruck im Gesicht, hatte sich die Halsbinde abgenommen, als wolle er freier Luft schöpfen, ging erst wie abwesend mit großen Schritten hin und her und schnob dann plötzlich den Burschen, der an der Schwelle stehen geblieben war, mit einer ihm ganz ungewohnten Heftigkeit an, warf ihn hinaus und verriegelte die Thür hinter ihm.

Eine halbe Stunde später kam das Mädchen heraus; der Offizier begleitete sie aber nicht weiter, sondern rief ihr nur eine gute Nacht nach und schloß sich dann wieder ein. Im Vorzimmer, wo der Horchende sich aufgehalten hatte, brannte ein Licht, und bei dessen Schein konnte der Bursch bemerken, daß die Züge des Mädchens einen entsetzlich starren und todten Ausdruck hatten und die schöne bräunliche Farbe der Wangen gar kein Blut mehr durchschimmern ließ. Sie stand erst eine ganze Weile, als müsse sie sich besinnen, wo sie war, und der Bursch, obwohl keiner von den Empfindsamsten, hatte, wie er hernach sagte, das Herz nicht, sie anzureden. Sie bemerkte ihn auch nicht, sondern sah unverwandt vor sich hin. Dann schüttelte sie sich plötzlich vom Wirbel bis zur Zehe, fuhr sich ein paar Mal mit der Hand über die Stirn und klopfte endlich leise wieder an die Thür. Drinnen aber blieb Alles taub und stumm. Sie pochte heftiger und sagte endlich mit einer Stimme wie ein Gespenst – (so bezeichnete es später der Bursch): Geben Sie mir das Blatt heraus, das mit der Begnadigung. Ich hab' es auf dem Tische liegen lassen, ich will es ihm bringen; geben Sie mir's; ich muß es haben; man glaubt mir sonst am Ende nicht.

Die Thür blieb verschlossen, und sie fing von Neuem an zu klopfen. Da trat der Bursch zu ihr und fragte, was sie denn wolle, und welche Begnadigung sein Herr ihr gewährt habe. Sie sah ihn erst an, als verstünde sie nicht, wie man noch fragen könne. Dann besann sie sich und sagte: Gehen Sie lieber hinein und bitten ihn um das Blatt! – Als er sich nicht rührte, griff sie in die Tasche und bot ihm Geld an. Ich muß das Blatt haben, sagte sie gebieterisch. Die Wachen lassen mich sonst nicht zu ihm, und er verbringt noch die ganze Nacht in der Todesangst.

Sie sprechen wohl von dem Italiener, antwortete der Bursch und nannte den Namen ihres Geliebten.

Sie nickte.

Nun, wenn das ist, sagte er und es wurde ihm Alles klar, so hat sich der Herr einen Spaß mit Ihnen gemacht. Der braucht keine Wache mehr; wo der untergebracht ist, da läuft Niemand wieder weg. Haben Sie denn vor einer Stunde die Schüsse nicht gehört? Schade um den armen Jungen; der hätte einen ganz prachtvollen Soldaten abgegeben, und an Courage hat es ihm wahrhaftig nicht gefehlt. Wie gegossen stand er da, als die Kameraden die Gewehre luden, trotz seines zerbrochenen Beines und fiel um wie eine Tanne.

Kaum aber hatte ich das heraus, sagte er, als mir's siedend heiß übern Nacken lief. Denn ich meinte nicht anders, als das Mädel spritzte das helle Feuer aus den Augen, und sie waren auch gar nicht mehr wie ordinäre Menschenaugen, sondern – Gott strafe mich! wie wenn ein Höllenteufel da oben in dem armen Hirn wirtschaftete, und ich trat einen Schritt zurück. Aber das dauerte nicht lange, dann that sie den Mund mit den blanken Zähnen weit auf, als wollte sie schreien, aber sie lachte nur recht von Herzen, daß ich noch dachte: Nun Gott sei Dank, sie macht sich nicht viel draus und versteht Spaß. Ich wollte ihr eben noch zureden, sagte der Bursch; aber da wurde sie wieder ernsthaft, legte den Finger auf den Mund, zog die schwarzen Augenbrauen in die Höhe und ging geschwinde aus dem Zimmer.

Eine Pause entstand, während deren der Landrichter an der längst ausgegangenen Pfeife sog und dann langsam die Asche ausklopfte. Der kleine Graf fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, auf der große Tropfen standen, athmete hörbar aus der gepreßten Brust und seufzte, ohne den Andern anzublicken: Entsetzlich! das ist entsetzlich!

Das ist es, nahm der Landrichter wieder das Wort. Und Sie haben das herrliche Mädchen nicht einmal gekannt. Wenn Ihre Nerven nicht die besten sind, so erlassen Sie mir das Ende.

Der Graf winkte rasch mit abgewandten Augen, daß er fortfahren solle. Aber es dauerte noch eine Weile, bis der Erzähler, von seinen Erinnerungen übermannt, sich wieder zum Reden anschickte.

Sehen Sie, sagte er, bis auf den heutigen Tag kann ich diese Menschen und diese That nicht ganz zusammenreimen. Von ihr verstehe ich es noch am ersten.

Von ihr? Von diesem Mädchen, das Ihnen selber nicht gleichgiltig war?

Sie hatte ihrem Geliebten das Versprechen abgenommen, wie ich Ihnen schon sagte, und wie wir hernach von dem Freunde des Erschossenen erfuhren. Sie hielt sich für die einzige Anstifterin der ganzen unseligen Geschichte; denn sie wußte wohl, welche Macht sie über ihn besaß. Sie wußte auch, daß er sich eher in glühendem Pech sieden lassen würde, als ihr Geheimniß preisgeben; denn sie selbst hatte sich's von ihm zuschwören lassen, und nur der eine Freund mußte darum wissen, weil er den Boten zwischen ihnen machte und übrigens die beste Haut und ihnen beiden ganz ergeben war. Und nun nehmen Sie hinzu, daß sie eine jähe und ungestüme Willenskraft besaß, fast zu viel für ein Mädchen, und dabei eine strenge und reine Seele, die von dem Preis, der für das Leben ihres Geliebten gefordert wurde, nur eine unklare Vorstellung hatte. Wissen wir auch, was der Wahnsinn der Angst aus einem armen rathlosen Menschen machen kann? Macht er nicht aus einem Schwächling zuweilen einen Helden, und bricht dann wieder die stärkste Natur, daß sie alle und jede Besinnung verliert? Aber er, der Teufel von einem Verführer, bleibt mir ein Räthsel, das mich an aller Physiognomik, an aller Seelenkunde irre macht. Ich weiß so gut wie Andere, daß der Teufel der schnellste ist, der so schnell ist wie der Uebergang vom Guten zum Bösen. Und dennoch – aber was hilft das Philosophiren? Ihnen kann ich ja auch nicht klar machen, wie der ganze Eindruck, den ich von dem Unglücklichen empfangen, noch immer sein Verbrechen, ich meine das Niedrige, Satanische darin, Lügen straft. Hatte ihn das Blut des armen Erschossenen, das er fließen sehen, plötzlich zur Bestie gemacht? War es das dämonisch auflodernde Bewußtsein, Macht zu haben über das schöne Geschöpf, über das sonst Niemand etwas vermochte? Hatte er Wein im Kopf? That er's in einem Anfall von Wahnsinn?

Manchmal bin ich geneigt gewesen, das Letztere zu glauben. Denn was noch kommt, ist sehr danach angetan, Zweifel zu erwecken an seiner klaren Vernunft. Den anderen Tag nämlich merkten ihm Alle eine seltsame Beklommenheit und Zerstreutheit an. Er versuchte zu scherzen, wo es nicht hingehörte, machte grobe Versehen in Dienstsachen, die er freilich gleich selbst corrigirte, kam auch wieder nicht zu Tische, und betrieb die Anstalten zum Abmarsch mit einer auffallenden Hast. Schon den zweiten Morgen sollte das Corps aufbrechen, obwohl die Aushebungsangelegenheit nur erst notdürftig erledigt war. Einige fragten ihn, was ihm sei? ob er neue Ordres bekommen habe? Es war aber aus seinen Antworten nicht klug zu werden.

Nun hat sein Bursch hernach ausgesagt, daß ihm am Mittage ein junger Mensch, der sich später als der Freund des Erschossenen herausstellte, einen Brief gebracht habe, über den er plötzlich sehr vergnügt geworden sei. Der Ueberbringer habe das Geld, das er ihm als Botenlohn geben wollen, ausgeschlagen, aber gesagt, daß er gegen Abend wiederkommen werde, dem Herrn die Wege zu zeigen. Ihm, dem Burschen nämlich, sei das Alles verdächtig vorgekommen, obwohl er von der Freundschaft des Fremden mit dem todten Liebhaber der Anna nichts wußte. Er habe auch seinen Herrn zu warnen versucht, der aber sei wie ausgewechselt gewesen und, sonst die Leutseligkeit selbst, nun auf einmal ganz grob und jähzornig. So habe er ihn denn in der Dämmerung mit dem Fremden weggehen sehen und nach der Weisung, ihn vor morgen früh nicht zu erwarten, sich selbst schlafen gelegt.

Als dann aber der Morgen kam und der Mittag, und alles Nachfragen in der Stadt vergebens war, kam der Bursch zu mir gelaufen und vertraute mir seine Mutmaßungen. Ich konnte nach der Beschreibung keinen Augenblick zweifeln, welches Mädchen er meinte, verbarg, so gut es ging, wie mich die Sache angriff, um meiner amtlichen Zurechnungsfähigkeit nichts zu vergeben, und dirigirte noch denselben Nachmittag eine Streifpatrouille nach der Försterei hinauf, wo wir erst bei dunkler Zeit anlangten. Wir fanden die Familie in großem Kummer, Alle, bis auf die Anna, in der Wohnstube beisammen, und der Förster erzählte uns, seine älteste Tochter sei plötzlich heute früh, da sie beim Frühstück gesessen, unter sie getreten, gar nicht wiederzuerkennen, die Kleider beschmutzt und zerrissen, das Haar ungekämmt, und habe, ohne guten Morgen zu wüschen, einen lauten, unverständlichen Gesang angestimmt und sie heftig und immer heftiger aufgefordert mitzusingen. Auf die Frage, was sie denn habe, und warum sie das unvernünftige Singen treibe, habe sie erwiedert: die Hölle ist gebändigt, der Schlange ist der Kopf zertreten, Halleluja! und dann wieder gesungen, daß man es draußen weitum mit Entsetzen gehört habe. Endlich, nachdem wohl eine Stunde lang dies tolle Wesen angehalten, sei sie auf einmal stumm geworden, habe sich geschüttelt und mit einer leisen unheimlichen Stimme gesagt: Die Ameisen! die Ameisen! Laßt sie nur! Jagt sie nicht weg! Sie thun nur ihre Schuldigkeit! – und dann wieder schauerlich in sich hinein gekichert, daß ihnen die Haare zu Berge gestanden. Mit Mühe hätten sie sie hernach auf ihre Bodenkammer hinaufgebracht, wo sie sich seitdem ruhig verhalte, nur daß man sie dann und wann lachen und auch jene Worte sagen höre, aus denen Niemand klug werden könne.

Ich stieg hinauf zu ihr mit dem Lieutenant, der die Patrouille führte. Doch sahen wir nichts in der dunklen Kammer, deren Thür sie verriegelt hatte, und auf alles, was wir ihr durch die Spalten des Bretterverschlags zuriefen, gab sie keine Antwort. Aber die Stimme, das leise Lachen, die abgerissenen Worte – das Alles werde ich nie vergessen. Ein paar Mann blieben im Hause zurück, wir Anderen mit dem Förster begannen den Bergwald abzusuchen mit Fackeln und Laternen, was in der Geschwindigkeit aufzutreiben war. Ich sehe noch das Gesicht, das die Jüngere, die Filomena, damals hatte, wie sie neben dem Ofen saß, steif und starr, und ihr Bräutigam umsonst versuchte, ihr ein Wort abzulocken. Ob sie mehr wußte, als die Andern? ob die Schwester sich, vielleicht unwillkürlich, gegen sie verraten hatte? Sie saß da so festgekauert, als sei das der einzige sichere Fleck auf der ganzen Welt, und bei jeder Handbreit vor- oder rückwärts müsse sie ins Bodenlose stürzen. Der Bräutigam, ein wohlhäbiger Trientiner Bürger, gab es endlich auf, sie zum Reden zu bringen, und schloß sich uns an. Er liebte seine Bequemlichkeit, und die Sache war ihm sehr verdrießlich, aber er glaubte es der Familie schuldig zu sein.

Nun führte uns ein richtiger Instinct gleich bergauf, weil es dort rauher und einsamer war und zu jeder grausen That der arme verwilderte Menschensinn sich am liebsten eine Wildniß sucht. Da fanden wir denn zunächst die Blockhütte, und die Thür offen, gegen die Gewohnheit. Drinnen sah man eben nicht viel Hausrath, aber eine sehr zerstampfte Streu von Moos und Gras, wie es schien erst frisch aufgeschüttet, und auf der einen Bank einen großen Krug, den der Förster sogleich für sein Eigenthum erkannte, auch ein paar Gläser, und eins war noch vollgeschenkt mit Wein. Ich ließ sorgfältig in alle Winkel leuchten, da lag auch richtig die Uniform, die so mit dem Fuß beiseit unter die Bank gestoßen zu sein schien, und auf dem Fensterbrett eine goldene Uhr und eine volle Börse, die der Bursch als seinem Herrn gehörig recognoscirte. Aber von dem Unglücklichen selbst vorläufig keine Spur, auch nicht in der Nähe draußen, nirgends ein Blutflecken, noch andere Anzeichen eines Kampfes. Wir zerstreuten uns in kleine Trupps; ich stieg höher hinauf, der Vater war bei mir, der Bräutigam blieb lieber in der Hütte zurück, da er müde war, und nur noch der Bursche folgte uns die steilen Klippen hinan, durch die licht stehenden Tannen.

Ich will kurz sein. Eine Schlucht hat den Berg da oben zerklüftet. Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam, da müsse er hineingestürzt sein. Aber es war schlimmer. Denn jetzt kam der Mond herauf, und wir konnten einen Büchsenschuß um uns her jeden einzelnen Baum erkennen. Was hängt da Weißes? rief auf einmal der Bursch und stand wie versteinert, denn er litt an Gespensterfurcht. Ich sah scharf durch die Stämme und konnte ebenfalls kein Wort vorbringen, so jämmerlich war der Anblick. Eine Tanne, unten ganz kahl, stieg neben der Steinkluft auf und streckte, wohl mannshoch über dem Boden, ein paar einzelne Aeste von sich. An dem einen hing der Unglückliche, in Hemd und Hosen, die Arme mit einem festen Strick über den Rücken geschnürt, die Füße ebenfalls straff an einander gebunden und oben an dem Ast mit dreifacher Schlinge aufgehängt, während der Kopf, nicht weit vom Rande der Kluft, mit dem herabhängenden Haar so eben den Boden berührte. Da aber, wo das geschah, zwischen den Wurzeln der Tanne, hatten Ameisen ihren Bau aufgeführt, der freilich von Fußtritten halb zerstört war, aber wir sahen mit Schaudern das Wimmeln der Thiere, die das todte Haupt –

Hören Sie auf, stöhnte der Graf und sprang von der Bank in die Höhe. Keine Höhe kann darüber hinaus!

Er lief wie unsinnig im Zimmer umher, stürzte ein Glas Wasser hinab und fächerte sich in Einem fort Kühlung zu. Indessen erwachte der Schläfer am Tische, glotzte verwundert um sich und wankte mit Mühe hinaus. Die Kellnerin schlief in dem Vorzimmer, in der Gasse draußen war Alles todtenstill.

Ich bin nun gleich zu Ende, sagte der Landrichter. Erst aber muß ich noch bemerken, daß diese mit so teuflischem Witz ausgeklügelte Rache nicht eine Erfindung des verstörten Mädchens war, sondern ein uralter Brauch ist, der in der Blutrache zwischen Wilderern und Jägern immer noch hin und wieder in Ausübung kommt. Ich selbst habe, Gott sei Dank! so lang ich im Amt bin nur noch ein einziges Mal einen ähnlichen Fall erlebt. Und so mag sich der Anna, als ihr klar wurde, welch einem ausgesuchten Bubenstück sie zum Opfer gefallen war, sofort auch jene haarsträubende Art der Rache aufgegangen sein, von der sie, da ihr Vater ein Jäger war, mehr als Einmal gehört haben muß. Ich will nun aber all die kläglichen Einzelnheiten übergehen, wie wir den Todten herunternahmen, in die Hütte brachten und fruchtlose Belebungsversuche anstellten. Ein Schlagfluß scheint sich bei Zeiten seiner erbarmt zu haben. Wie es aber möglich war, die Gräuelthat auszuführen, überstieg all' unsere Vorstellung. Denn sie hatte keinen Helfershelfer gehabt, selbst dem Freunde ihres erschossenen Geliebten, der hernach eingezogen wurde, von ihrem Vorhaben nichts gesagt; nur den Boten und Wegweiser hatte er gemacht und sich selbst verwundert, was es zu bedeuten habe. Aber auch er gehorchte ihr blindlings, und nur als sich am Morgen die Nachricht verbreitete, der Offizier werde vermißt, stieg ihm ein banger Argwohn auf und er suchte sich davonzumachen. Also hatte das entsetzliche Mädchen ganz allein den schlafenden Mann binden und die steile Höhe hinanschleppen müssen, eine That, zu der nur die Kraft einer Wahnsinnigen, von Wuth und Rache über alles Menschliche hinausgerissen, ausreichen konnte.

Fast furchtbarer noch, als diese Schreckbilder, ergriff mich aber der Anblick des Vaters und der jüngeren Schwester. Vergebens suchte ich dieser die Wahrheit zu verbergen. Die Großmutter sah ziemlich stumpfsinnig darein, als wir den Todten auf der Bahre von Zweigen herunterbrachten; das Kind aber, die Filomena, fiel schreiend um und lag dann für todt, und als sie später wieder zu sich kam, gerieth sie in ein heftiges Fieber, das ihr nahe am Leben vorbeiging. Weber sprach nicht ein Wort. Er war sonst bei aller Dienststrenge und selbst Härte eher ein heiterer Mann, der gerne mit seinen Kindern scherzte, auch mit guten Freunden, was freilich selten vorkam, bei der Flasche einen munteren Discurs führte. Seit jenem Tage hat er nie ein Wort über das Nothdürftigste gesprochen, geschweige je gelacht. Ich konnte noch am meisten mit ihm ausrichten. Doch kostete es einen harten Kampf, bis ich ihn dazu brachte, sich von der armen Irrsinnigen zu trennen und sie einer Anstalt anzuvertrauen. Nur daß ich ihm vorstellte, wie traurig dies Beisammenleben auf die Jüngere wirken müsse, leuchtete ihm ein, und die Anna ist seitdem wohl aufgehoben, auch die meiste Zeit still und zufrieden, bis es sie dann plötzlich überläuft und sie aufschreit: Die Ameisen! Die Ameisen! – Auch die Filomena ist wieder etwas zu sich gekommen, und ich glaube selbst, daß sie noch eine ganz glückliche brave Frau werden könnte, wenn sich ein rechtschaffener Mann zu ihr fände, der an der unglückseligen Geschichte und dem starrsinnigen Alten keinen Anstoß nähme. Der erste Bräutigam freilich, der Trientiner, zog sich mit schnöder Eilfertigkeit zurück und verleugnete selbst die stadtkundige Verwandtschaft mit lächerlichem und elendem Eifer. Weder der Vater, noch die Tochter schienen das zu bedauern. Der Alte aber kam sofort um seinen Abschied ein, denn es litt ihn keinen Tag mehr in jener Gegend, und da er auch durch allerlei Wunderlichkeiten zu erkennen gab, daß er, wie man zu sagen pflegt, einen Hieb davon wegbekommen hatte, und selbst an seiner Forstmeisterschaft nicht mehr hing, pensionirte man ihn und sorgte unter der Hand, daß er irgendwo ein Unterkommen fand. Vieles, wozu er wohl tauglich gewesen wäre bei seiner Bildung und Redlichkeit, schlug er rundweg aus. Er wollte nicht mit Menschen zu thun haben, und nie und nimmermehr an die furchtbare Vergangenheit durch einen zudringlichen oder mitleidigen Blick erinnert werden. Endlich wurde ihm durch wohlwollende Vermittlung hoher Personen, denen die Tragödie Antheil eingeflößt hatte, die Schloßhüterstelle droben in Planta ausgewirkt. Die sagte ihm zu. Diese Gegend ist schon ziemlich weit ab von dem Schauplatz jener Begebenheit, und weil damals der Krieg mit seinen Schrecken, Sorgen und täglichen Neuigkeiten dazwischenbrauste, hatte die oberflächliche Zeitungsnotiz, die auch hierher gedrungen war, sich bald wieder wie eine Kalendergeschichte den Leuten aus dem Gedächtniß verloren. Dazu noch der Namenswechsel, den man dem schwergebeugten Manne gestattet hatte, so daß er hier als ein völlig Unbekannter einzog und den Menschen um ihn her frei ins Gesicht hätte blicken dürfen. Aber wie Sie wissen, hat sich während dieser Jahre sein schroffes, schweigsames Wesen nicht gemildert. Auch an den Preisschießen der Umgegend würde er sich gewiß nicht betheiligen, ohne einen besonderen Grund, den ich aus einer ihm damals entschlüpften Aeußerung erraten zu haben glaube. Seine fixe Idee ist, daß er ganz fort müsse, den Welttheil verändern, drüben überm Meer versuchen, ob er die Vergangenheit nicht völlig abschütteln könne. Da er nun ohne Vermögen ist, hat er sich die härtesten Entbehrungen auferlegt. Wie es droben in seinem Hausstande hergeht, haben Sie wohl bemerkt. Es kommt Jahr aus Jahr ein kein Bissen Fleisch auf den Tisch, die drei Menschen leben nur von Milch, Brod und Polenta.

Aber die Alte trinkt Wein. Das Mädchen hat es mir gesagt.

So muß sie ihn sich heimlich verschaffen; denn der Mann hat seit jenem Tage keinen Tropfen Wein mehr über die Lippen gebracht. Und so trägt er auch seinen Schützengewinn, der ihm jedesmal so gut wie sicher ist, ungeschmälert mit heim und speichert ihn in seinem Spartopf auf. Ich weiß nicht, wie er seine Berechnung gemacht hat, und wann er darauf hofft, aufbrechen zu können. Aber dessen bin ich gewiß: hat er die Summe beisammen, so wartet er keine Woche länger, und verläßt diesen Himmelsstrich, unter dem er so viel verloren hat. Und dann seien Sie überzeugt, daß er das Kind nicht zurückläßt. Er nähme am liebsten auch die Andere mit, die er jedes Jahr in ihrem traurigen Quartier einmal wieder aufgesucht hat. Sie hat ihn aber nicht wiedererkannt, und er ist immer mit noch schwererem Herzen von ihr weggegangen.

Der Landrichter schwieg eine Weile und sagte endlich, da der Graf stumm vor sich hin sah: Es thut mir leid, daß ich Ihre menschenfreundlichen Absichten mit diesen Eröffnungen habe niederschlagen müssen. Aber Sie sehen selber ein, daß gegenüber einem so verbissenen und verbitterten Hang, das Unglück, das der Himmel geschickt hat, sich wie eine Schuld anzurechnen und sich und die Seinigen nun wie von Gott gezeichnet anzusehen, jedes fremde Eingreifen, und wäre es noch so schonend, als eine neue Kränkung empfunden wird. Ich kann nur wünschen, daß der Weber bald dahin gelangt, sein Vorhaben auszuführen. Vielleicht wirkt dann doch die Reise und die neue Welt ein Wunder an dieser wundersamen Natur, und er greift das Leben noch einmal wie ein neuer Mensch mit frischen Kräften und Hoffnungen an. Drüben findet er auch am Ende einen Leidensgefährten. Denn auch der Vater des unglücklichen Offiziers ist, wie ich Ihnen sagte, verschollen. Erst hat er im Kriege den Tod gesucht; als aber Frieden ward und er avanciren sollte, ist er um den Abschied eingekommen, hat auch den wohlverdienten Orden abgelehnt und sich als Oberst, was er schon vorher war, pensioniren lassen.

Als Oberst? unterbrach ihn der Graf, Herr des Himmels! Ich gerathe auf eine unheimliche Vermuthung. Sie haben den alten Herrn neben mir vorhin so eilig aufbrechen sehen, als Sie zu erzählen anfingen, und eben entsinne ich mich, daß er neulich, als ich am Boden ausruhte, mit einer seltsamen Verstörung in mich drang fortzugehen, weil er Ameisen an der Stelle bemerkte. Ja wohl, und seine menschenfeindlichen Reden, seine finstere Verschlossenheit –

Sie mögen wohl Recht haben, sagte der Andere. Und wenn es wäre, so werden Sie den alten Herrn schwerlich wiedersehen. Geben Sie sich aber, wenn Sie mir folgen wollen, auch keine Mühe weiter, den Weber noch einmal aufzusuchen. Er wird sicherlich nach der heutigen Scene noch gereizter, noch argwöhnischer gegen Sie sein; und gnade Gott dem jungen Windbeutel, dem er vorhin nachgegangen ist, ohne Zweifel um ihm eine scharfe Lection zu geben. Findet er nicht Alles in Richtigkeit, und hat der Leichtsinnige wirklich mehr auf dem Gewissen, als ein paar verliebte Redensarten, die er dem Mädchen etwa bei einem flüchtigen Begegnen zugeraunt hat, so erleben wir noch ein Unglück. Denn dieses Kind ist das einzige Lamm des Armen, und wer ihm nur die Haut anrührt, den wäre der Weber im Stande niederzuschießen, wie ein reißendes Thier.

Eine lebhafte Angst bemächtigte sich des kleinen Grafen. Er mußte denken, wie er das Mädchen heut während des Unwetters zu Füßen des Kreuzes gefunden hatte, und die verzweifelnden Worte, die ihr entfallen waren. Kommen Sie, rief er und sprang auf, wir müssen nach, mir ahnt das Schlimmste; wer weiß, ob wir nicht schon zu spät kommen, um neues Unheil zu verhüten.

Und wohin? erwiederte der Landrichter gelassen.

Sie haben Recht, seufzte der Graf kleinlaut. Es wäre eine Thorheit. Und überdies ist es ja nicht Ihres Amtes, Schuld zu verhüten, sondern zu richten. Ich aber – Gott weiß, was ich darum gäbe – hören Sie nichts? Es klang wie ein Hilferuf.

Eine Pause trat ein. Draußen lag die Nacht so lautlos über der Stadt, daß man nur die Brunnen fließen hörte. Die Männer horchten hinaus.

Es war eine Sinnestäuschung, sagte der Landrichter. Meine traurige Geschichte spukt Ihnen im Ohr. Gehen wir draußen noch ein Weilchen auf und ab, den Wein verdampfen zu lassen und Ihre Nerven zu beruhigen. Ich bereue es fast, Sie eingeweiht zu haben.

Stumm verließen sie die Schenke und gingen auf den mondbeschienenen Uferdamm hinaus, an dem die Passer, vom Gewitter geschwellt, strudelnd und sprudelnd vorbeischoß. Auch die Lüfte waren unruhig, Wolken streiften in dünnen, flatternden Fetzen über den Mond, der nur auf Augenblicke rund und rein heraustrat. Dann aber ergoß sich ein greller Schein rings über den weiten Bergkessel, und die kleinen Schlösser, auch die fernsten, standen wie in bengalischem Feuer.

Die kummervollen Blicke des Grafen suchten vergebens droben hinter den Kastanienzweigen die Thürme des verfallenen Schlosses. Die Epheuwildniß verschlang alle Lichtstrahlen. Desto heller winkten die Zinnen des anderen Schlosses, wo jene falsche Zauberin hauste. Eine ahnungsvolle Unruhe, die auch den festeren Sinn des Landrichters angesteckt hatte, trieb die beiden Männer die Höhen hinauf, wo sie planlos und schweigend zwischen den Weingärten hinschritten.


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