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3

Einige Kaufleute hatten sich im Gefühle völliger Sicherheit zu weit von Odessa fortgewagt. Sie wollten Luxusartikel an die Bauern verkaufen und verborgenes Gold herauslocken. Aber einige wurden ermordet, andere retteten mit Mühe ihr nacktes Leben in den Panzerzug No. 12.

Nun lag das Ungetüm da, ständig unter Dampf, vorne die riesengroße Lokomotive, und ihr Panzer berührte beinahe die Schienen.

Hinter ihm stand ein Wagen, langgestreckt wie ein lauerndes Raubtier, mit vielen Schießscharten für die Gewehrschützen, und daran schlossen sich Pullman-Cars für die Passagiere, einige Karren mit Kanonen und Gepäck.

Vor der Lokomotive aber, umweht von Dampf und Rauch, war ein Panzerturm. Aus seiner Drehkuppel drohte eine Kanone, aus den Seitenwänden sahen die messingnen Maschinengewehre heraus.

Als der Zug mit einem kurzen Ruck anfuhr, erwachte Christine. Der französische General ließ Michael noch nicht von seiner Seite. Er wollte hundert Auskünfte haben, er bewunderte diesen russischen Grafen, der unter so fürchterlichen Verhältnissen mit seiner jungen Frau bis jetzt ausgehalten hatte, und er erwies sich so schlecht unterrichtet über die Verhältnisse unter den Bolschewisten, über ihre Truppen und Bewaffnung, daß Michael ihm lange Vorträge halten mußte, die der General immer wieder mit einem verwunderten Kopfschütteln beantwortete. In Odessa, in Nikolajew und in Cherson gingen Gerüchte um von einer wohlbewaffneten, nach Hunderttausenden zählenden Armee, und in der Phantasie der französischen Truppen waren die Bolschewiki reißende Wölfe von unmenschlicher Grausamkeit, während die Deutschen glaubten, sie wären durch die Kraft ihrer Idee, die ihnen Heldenkräfte verlieh, unbesiegbar.

Christine setzte sich auf. Man hatte sie in einem Abteil allein gelassen. Plötzlich zogen die Bilder der letzten Stunden mit rasender Schnelligkeit an ihrem Geiste vorüber. Ihre Erinnerung, gekräftigt in der Geborgenheit ihrer neuen Umgebung, tastete weiter.

Und da fiel ein Feuerreif über sie, ihr Herz preßte sich zusammen wie unter einem unerträglichen Druck, sie schrie auf.

Mit einem Mal sah sie die Katastrophe im Wirtschaftsgebäude vor sich, sie entsann sich, daß sie mit dem Hauptmann Alexeij Odojewskij verschüttet worden war, daß man sie ausgegraben hatte, daß aber niemand um das Schicksal des Offiziers wußte, daß sie nichts von ihm gesagt hatte, nichts hatte sagen können, weil ihr Kraft und Erinnerung gefehlt hatten.

Was wird er denken! Was wird er von mir denken, wenn er noch am Leben ist? sinnt Christine. Er wird mein Verhalten für Rache nehmen – eine furchtbare Rache, deren ich nie fähig wäre ...

Vielleicht liegt er noch irgendwo unter den Trümmern, der eisige Sturm fegt darüber weg, der Schnee deckt ihn zu. Sie zuckte unter peinigenden Gewissensbissen, aber sie wußte nicht, was sie beginnen sollte. Inzwischen rollte der Zug weiter und weiter, sie entfernte sich immer mehr von dem Schauplatz der Tragödie, und je weiter sie fuhren, desto entsetzlichere Bilder gaukelte ihr die Phantasie vor.

Es kam hinzu, daß sie den Hauptmann nicht hassen konnte, trotz seines verächtlichen Verhaltens. Vielleicht, dachte sie – mit der unklaren Logik einer Frau, der das Laster nur schattenhaft bekannt ist – vielleicht wollte er mich wirklich nur mit Gewalt aus dieser Einöde schaffen, weil er sah, daß ich verloren war. Die Ereignisse haben ihm ja recht gegeben, und ich kann Michael trotz seines Heldenmutes von einer gewissen Schuld nicht freisprechen. In solchen Gedanken starrte sie vor sich hin.

Die Bremsen ziehen plötzlich an. Luft zischt. Türen werden aufgeschlagen. Abgerissene Worte flattern gegeneinander.

Eine kleine Station. Überall Militär: Petljurasoldaten, Freiwillige Denikins, Franzosen, Engländer.

Christine fährt hoch. Sie will Michael rufen. Aber Michael befindet sich noch immer im Wagen des Generals.

Die Waggontüre wird aufgerissen. Ein Herr stürzt herein.

Ehe Christine einen Gedanken fassen kann, reißt er sich die Pelzmütze ab. Einen Augenblick starrt sie fassungslos in ein blutverkrustetes Gesicht. Die Augen brennen aufgeregt, der Mund lächelt. Sie erkennt Hauptmann Odojewskij.

Ein wundersames Glück überkommt sie. Sie ist also nicht schuldig an dem Tod eines Menschen. Er ist gerettet! Er ist nicht, von ihr verleugnet, elend zwischen Eis und Trümmern gestorben!

»Kein Wort,« sagt der Hauptmann rasch. »Jede Sekunde ist verlorene Zeit. Ich werde verfolgt!«

»Verfolgt?«

»Ein Irrtum! Man bezichtigt mich der Spionage. Der Stab des Ukrainischen Direktoriums ist wieder einmal von Raserei befallen!«

»Aber das ist ja Unsinn ... ich werde sofort Michael rufen.«

»Zu spät, Gräfin! Ihr Gatte kann nichts tun. Wir befinden uns noch auf einem Boden, wo nur Petljura befiehlt. Der Verhaftungsbefehl kommt von dem Hetman selbst. Der französische General ist hier machtlos. Erst in Odessa können mich die Franzosen schützen! Gräfin, Sie müssen mir helfen, ich habe keinen Ausweis.«

»Ja, aber –«

»Schnell.« Er wirft einen Blick auf den matt erleuchteten Bahnhof hinaus. Der Zug steht. Stimmen nähern sich.

Christine denkt angestrengt nach. Blitzschnell. Die Tür neben ihrem Wagen wird eben zugeschlagen.

Da sieht sie Michaels Pelz neben sich hängen. Ein Griff in die Taschen. Ja, hier sind Papiere! Er wird sicher im Gefolge des Generals nicht nach einer Legitimation gefragt werden.

Impulsiv reicht sie dem Hauptmann einen militärischen Ausweis. Odojewskij, der sich schon zum Sprung aus dem Fenster bereit machte, nimmt das Dokument an sich. Mit Gedankenschnelle verwandelt sich sein Wesen. Er ist vollkommen ruhig. Zwei russische Offiziere treten ein. In ihrer Begleitung ein Reisender. Die Mütze schief im Gesicht.

»Papiere, bitte,« sagt der Petljura-Offizier. Ein Denikin-Offizier, die Initialen D. auf den Achselklappen, begleitet ihn.

Auf dem Korridor warten Soldaten. Der Bahnsteig ist besetzt. Es ist also wirklich Ernst, denkt Christine und ist glücklich, von ihren Gewissensqualen so schnell befreit zu sein. Sie hätte keine Ruhe mehr gefunden. Sie sieht, wie Odojewskij Michaels Ausweis hinreicht und mit einer lässigen Handbewegung zur Gräfin hin sagt:

»Meine Frau!«

Der Offizier betrachtet lange das Dokument mit Stempel und Unterschrift eines längst verschollenen Divisionskommandanten des Zaren. Reicht es zurück.

Der neue Reisende, der inzwischen schweigend auf dem Korridor gewartet hat, tritt ein. Christine begreift plötzlich die Gefahr, in die sie sich und Michael gebracht hat. Eine drückende Angst preßt ihren Atem zurück.

Der fremde Herr grüßt. Der Hauptmann streift ihn mit einem schnellen Blick. Stutzt und lächelt. Er kennt ihn.

Weiß: Mac Lee. Detektiv und Führer der russischen Konterspionage. Hat nur auf den Augenblick gewartet, wo er Alexeij Odojewskij verhaften konnte.

Hauptmann Odojewskij ist aber momentan Graf Michael Kusmetz. Mac Lee weiß nicht, daß der echte Kusmetz sich im Zuge befindet. Er darf kein Aufsehen erregen, sonst greift er wieder in die Kompetenzen des französischen Oberbefehlshabers in Odessa ein.

Während Mac Lee seine Ledertasche verstaut, winkt Odojewskij Christine zu:

»Ich komme gleich wieder ...«

Christine erschrickt über den drohenden Ausdruck des zweiten Reisenden, der sie finster mustert. Mein Gott, schießt es ihr gleichzeitig durch den Kopf, nun gibt es in dem Zuge ja zwei Grafen Kusmetz!

Und da tritt Michael ein. Ihre Gedanken beginnen sich zu verwirren. Michael legt in Gegenwart des Fremden den Arm in den ihren und bittet sie wegen seiner langen Abwesenheit um Entschuldigung.

Was soll der Mann ihr gegenüber denken?

Zum Glück geht er hinaus. –

Odojewskij ist, kaum daß er den Wagen verlassen hatte, den Korridor entlang gelaufen. Er sah Michael kommen. Trat schnell in ein leeres Kupee, eilte weiter.

Mac Lee ist schon draußen auf dem Bahnsteig und weist dem Kommandanten seine Legitimation mit Petljuras Unterschrift vor.

Odojewskij steht an einem Fenster, knapp neben dem Wagen des Generals, und beobachtet Mac Lee.

Er sieht, wie die Offiziere in seiner Begleitung nochmals erregt den Zug betreten. Alle Wagentüren werden plötzlich geschlossen, die aus dem Bahnsteig befindlichen Reisenden von Soldaten umzingelt.

Odojewskij öffnet die Tür zum Wagen des Generals und stößt auf den Adjutanten.

»Verzeihung,« sagt er. »Graf Kusmetz bittet Sr. Exzellenz um Unterstützung. Man will ihn verhaften.«

Der Adjutant meldet es dem General. Dieser erhebt sich sofort.

»Ein Irrtum!« hört ihn Odojewskij sagen. Als der Adjutant mit dem General vorüberkommt, kann er den Herrn, der die Meldung überbrachte, nicht mehr entdecken. Aber der General hört erregte Stimmen. Der ganze Zug ist in Aufregung.

Er begibt sich in Begleitung seines Adjutanten und mehrerer Ententeoffiziere nach dem Kupee des Grafen.

In diesem Augenblick öffnet Odojewskij die Tür zum andern Gleis, das dunkel daliegt, und verschwindet in der Nacht.

Michael, ohne Paß, benahm sich inzwischen ganz rabiat und rief immer wieder seine Frau als Zeugin an, und Christine beschwor, Michael sei ihr Gatte, worauf der Offizier erklärte, sie habe offenbar zwei Gatten, und er müsse sie nun gleichfalls verhaften.

In diesem kritischen Moment erschien der General und bürgte in eigener Person für Michael und seine Gattin.

»Und der Herr, der Sie zuerst als Gattin anredete, Gräfin?« fragte der Kommandant.

»Ich weiß von nichts, denn ich schlief,« log Christine in ihrer Verzweiflung. Mac Lee schwieg.

Der Zug wird abgelassen.

Im selben Moment ist Odojewskij auf dem anderen Gleis.

Vom Schlußwagen her nähern sich eben Soldaten im Laufschritt, um ein Entkommen nach dieser Seite hin unmöglich zu machen.

Ein Schrei belehrt Odojewskij: Man hat ihn gesehen.

Mit der Schnelligkeit einer hundertstel Sekunde muß ein Ausweg gefunden sein. Er schnellt vor. Sein Schatten taucht unter in der Nacht. Er kriecht unter einen Pullman-Car. Zwischen der Kuppelung hinunter. Unter den Waggon. Soldaten stecken die Kopfe zwischen den Rädern durch. In der Dunkelheit sehen sie nichts. Einer kommt bis zu Odojewskij. Schaut. Erkennt. Ein Moment Zaudern wird sein Verhängnis. Odojewskijs Hände umspannen den Hals des Soldaten. Seine Augen quellen in übermenschlicher Anstrengung aus den Höhlen wie die des weißen Soldaten, dem er den Atem abschneidet. Mit der Kraft eines Raubtieres reißt er ihn völlig unter den Wagen. Denn die Beine des Röchelnden schlagen wild auf das Pflaster.

»Keine Spur,« meldet ein Offizier dem Ortskommandanten.

Der befiehlt dem Lokomotivführer, heißen Dampf abzulassen.

Odojewskij unter dem Wagen stößt die Leiche des Soldaten von sich. Steckt den Kopf in die ausgebreiteten Arme. Wenn die Dampfventile sich öffnen, ist er verbrüht. Er kennt die Geschichte von dem Juden, der auf der Flucht vor Petljuras Häschern sich unter der Lokomotive versteckt hielt. Der ausströmende Dampf höhlte ihm die Augen aus. –

Aber kein Dampf zischt. Hat der Lokomotivführer vergessen? Dieser Mann auf der Lokomotive steht mit flackernden Augen da und wartet. Mit unheimlichen Blicken mustert er die Offiziere.

»Ab!« schreit der Bahnhofskommandant. Der Zug rollt aus der Station.

Die Lichter erlöschen. Es muß gespart werden mit Licht. Die Bolschewiki sollen auch schon Flieger haben. Niemand sieht den leblosen Körper des ermordeten Soldaten auf dem dunklen Gleis.

Es ist Anfang des Jahres 1919. Der Himmel grau, fahl, voller Schnee. Schnell fällt die Nacht über das Land. Mac Lee hat den ganzen Zug abgesucht, aber den Flüchtling nirgends finden können. Er hat Beweise, daß Hauptmann Odojewskij, der in die Petljuraarmee eingetreten war, zur roten Armee Beziehungen unterhielt. Er weiß von seinen Spionen, daß dieser Abenteurer ein Schreiben seines ehemaligen Regimentskameraden, des Ataman Grigorjew, bei sich führt.

Dieser Grigorjew ist der verwegenste Partisanenführer der Ukraine. Und dieses Schreiben muß gefunden werden, ehe Hauptmann Odojewskij in Odessa im Schutz des französischen Ober-Kommandanten sich dem Zugriff entziehen kann. Denn noch mehr weiß Mac Lee: Odojewskij führt Perlen mit sich, mit denen er die weißen Soldaten bestechen will.

Der Zug rast durch die Nacht. Unter einem der Wagen aber kauert auf der Bremsvorrichtung Hauptmann Odojewskij. Nur ein Mensch, der trotz seines schlanken Körperbaues über so ungewöhnliche Kräfte verfügt wie dieser verwegene Abenteurer, ist imstande, solche Teufelsfahrt zu bestehen.

Gefrorene Schneestücke verbeulen seine Augen. Kleine Steinchen, hundertfach hoch geschleudert von der Schnelligkeit des rasenden Zuges, trommeln gegen sein Gesicht. Die Räder rattern, rufen, heulen, brüllen, eine Symphonie der Hölle ist um ihn.

Unsichtbare Hände drohen ihn herabzuziehen von dem kleinen Raum unter dem Bauch des Wagens. Schwer atmend hängt Odojewskij über den Schienen. Unter seinen Blicken fliegt der Erdboden vorbei. Wirbelnde Eisstücke peitschen, zerreißen, verwunden immer wieder sein Gesicht und seine Hände. Aber er hält stand, bis die erste Morgenröte kommt, der Zug langsamer fährt und das französische Okkupationsgebiet erreicht ist.

Hier ist er sicher. Denn er ist ein geschätzter Kundschafter des kommandierenden Generals d'Anselm, der ihm kein Haar wird krümmen lassen. Nur Beweise darf Mac Lee nicht finden.

Eine Militärstation. Der Zug hält. Odojewskij kriecht aus seinem Versteck hervor und begibt sich in den Wagen, aus dem er erst geflüchtet ist. Es steigen noch andere Reisende ein. Odojewskij stellt sich Michael vor. Sie geraten ins Gespräch. Inzwischen steckt der Hauptmann heimlich der Gräfin die Legitimation Michaels wieder zu. – Mac Lee sieht es.


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