Elisabeth von Heyking
Das vollkommene Glück
Elisabeth von Heyking

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»Rien ne nous rend si grands qu'une grande douleur . . .
Les plus désespérés sont les chants les plus beaux,
Et j'en sais d'immortels qui sont de purs sanglots.
«

                                                            (Musset.)

An eines blauen Meeres Küste lag ein großer Garten. Da ragten alte, verwitterte Zypressen, Wistarien wucherten in wildem Rankengewirr, Jasmine dufteten, und unter weit ausladenden Pinien standen wächsern die Kamelien, und blühten bleich zwischen blanken Blättern die großen Magnolien.

In dem Garten stand träumerisch und geheimnisvoll ein langgedehntes, weißes Haus. Nach der Straßenseite war es ganz umsponnen von gelben Schlingrosen. Die umklammerten es mit ihren vielen Zweigen, als wollten sie helfen, einen großen Schatz zu hüten.

Und wirklich barg das Haus etwas gar Seltenes.

Das war eine Frau, die all das besaß, wonach der 6 Menschen Wünsche gehen. Sie war jung und schön, reich und berühmt.

Die Berühmtheit verdankte sie einer Gabe, die sie mit jeder Lerche teilte: Sie war eine große Sängerin. Und ihr Singen klang ebenso ursprünglich und selbstverständlich wie das der Lerchen. Ihre Stimme hatte den gleichen jauchzend frohlockenden Ton, perlte und trillerte scheinbar mühelos bis zu den höchsten Höhen, als sei es nichts Gelerntes, sondern nur der angeborene Ausdruck mitteilungsbedürftiger Daseinsfreude. Ja, sie war eine Sängerin der Freude. Und in der leiderfüllten Welt mochte es gerade dieser selten vernommene Klang sein, der ihr die vielen Freunde gewonnen hatte.

Denn auch das besaß diese Reiche: Freundschaft, neidlose Bewunderung, wohin sie kam.

Traf sie an einem Orte ein, wo sie singen sollte, so harrten ihre Verehrer erwartungsvoll am Bahnhof, geleiteten sie zu ihren Zimmern, die sie mit Blumen geschmückt hatten, erzählten, was alles von ihnen vorbereitet worden, um ihr den Aufenthalt festlich zu 7 gestalten. Beifall erscholl im Saale, sobald sie erschien, und nachdem ihr Gesang verklungen, war sie stets umringt von Menschen, die ihr alle gern Worte des Dankes sagen wollten für die Stunden sorgenentrückten Genusses, die ihnen ihre Stimme vorgezaubert hatte. Unter denen, die sich mit leuchtenden Augen zu ihr drängten, waren die Frauen ebenso zahlreich wie die Männer. Denn das unbefangen Kindliche, das der Sängerin eigen war, zog sie an und weckte in ihnen mütterliche Instinkte. Sie fühlten, daß der helle, glockenreine Klang dieser Stimme nicht täuschte, sondern zugleich der Ausdruck innerer Wesensart war. Und wirklich gehörte ja die Unberührtheit, die daraus sprach, mit zu dem besonderen Liebreiz, durch den die Sängerin unbewußt alle Herzen gewann.

Beinah unbewußt schien sie auch all der anderen Güter, mit denen das Schicksal sie bedacht. Sie beachtete dies Viele kaum, als sei es eigentlich ein Geringes. Denn es lebte in ihr eine dunkle Ahnung, daß es ein Einziges, Höchstes, ihr aber bisher Versagtes gab, 8 neben dem alles sonst Gewährte in Wahrheit verschwindend klein erscheinen mußte. Und es konnte geschehen, daß, wenn sie die vielen Lieder sang, die alle von Gefühlen eingegeben waren, die sie selbst doch nie empfunden, sondern nur an anderen kannte, etwas gespannt Erwartungsvolles sie überkam. Es war ihr dann, als fehle ihrem Leben und vielleicht auch ihrer Kunst doch noch die letzte, herrlichste Weihe. Aber das waren nur vorüberhuschende Gedanken. Sie besaß zu viel natürlichen Frohsinn, um über Dinge, die nicht waren, lange zu grübeln. Auch erfüllte sie eine angeborene, fromme Zuversicht, daß – wie bisher so auch weiter – eine gütige Macht ihr zur rechten Stunde senden würde, was ihr ersprießlich sei.

Und sie hatte recht mit diesem ruhigen Vertrauen. Denn es kam ja wirklich der wundersame Tag, wo derjenige in ihr Leben trat, der bestimmt war, ihr das Einzige, Höchste zu bringen.

Auf einer ihrer Reisen in einer Stadt seines eigenen gebirgigen Heimatlandes war es, daß sie ihn zum ersten Male sah. 9

Vernommen hatte sie seinen Namen freilich schon oft – er gehörte ja zu den auf der Welt bekannten – und Freunde hatten ihr viel von ihm erzählt, aber begegnet war sie ihm bisher nie. Das mochte an seiner seltsamen Lebensweise liegen. Von menschlichem Verkehr am liebsten ganz abgeschlossen, hauste er meist allein hoch in den Bergen, galt für einen eigene Wege wandelnden Denker und zugleich für einen großen Sonderling, der es auch stets verschmäht hatte, einer öffentlichen Körperschaft seines Berufes beizutreten. Höhenvogel, gewohnt, einsam frei über Firnen und Abgründen zu kreisen, wäre ihm ein Amt wie ein Käfig erschienen. – Eines seiner berühmten Bücher hatte die Sängerin auch gelesen, weil ihr erzählt worden, daß er die Musik als höchste und schöpferischste der Künste darin preise. Und diese Abschnitte hatte sie auch als ein köstlich Geschenk aufgenommen. In feierlich schöner Sprache, die selbst wie eine getragene Melodie klang, war ihr darin Offenbarung über das tiefste Wesen ihrer eigenen Kunst geworden, und dankbar begann sie, durch des unbekannten Verfassers Deutungen nun zu 10 ahnen, was Musik eigentlich sei. Aber in allem übrigen tat ihr sein Buch in der Seele weh. Trostlos klang, was er darin von dem Lose der Menschen sagte, und daß die ganze schöne Welt, die sie so sehr liebte, besser nie entstanden wäre. Er hatte sie damit auch keineswegs überzeugt, denn es widersprach zu sehr ihrem eigensten Wesen, daß jedes einzelne Leben verkörperter Irrtum sein sollte, und sie konnte nicht glauben, daß weise nur sei, wer den Hang zum Dasein weltflüchtig in sich ertöte. Doch ihn, der das geschrieben, bedauerte sie seitdem aus tiefstem Herzen. Er mußte ein unglücklicher Mensch sein. Und da das Gütige, Harmonieheischende in ihr stets bereit war, jedem, der von Schmerz und Unglück befallen, warmherzig beizustehen, so erwachte die Sehnsucht, diesen Leiderfüllten von seiner tiefen Schwermut zu erlösen.

Der Mann, den die Menschen einen Sonderling nannten, weil er ihre Gesellschaft so leicht entbehren konnte, hatte seinerseits manche begeisterten Worte über den Gesang der Künstlerin gelesen und gehört. Er war eigentlich immer etwas mißtrauisch gegen jedes 11 so allgemeine Lob; denn Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß gerade die verbreitetsten Urteile vor Nachprüfung am wenigsten bestanden; doch auch von einem Arzt, der ihm aus der gemeinsamen Studentenzeit Freund geblieben und von dessen Meinung er viel hielt, war ihm die Sängerin besonders warm gepriesen worden, – so hatte er sich vorgenommen, die Vielgerühmte zu hören, falls ihre Laufbahn sie einmal in seine Nähe führte.

Und nun sollte dies geschehen. In einer Kirche seiner Heimatstadt würde sie singen.

Abgespannt und entmutigt durch Wochen angestrengter und doch ergebnisloser Arbeit, fuhr er an jenem Tage aus seiner Gebirgseinsiedelei herab in die Stadt.

So recht als ein innerlich Vereinsamter fühlte er sich, als er, aus dem kalten Winterabend draußen kommend, in den feierlichen Raum trat und nun zwischen den vielen Menschen wartend saß.

Aber einsam – das war er ja nun schon lange. Es mußte wohl eine Grundstimmung seiner Seele sein, die 12 ihm im Laufe des Lebens mehr und mehr ins Bewußtsein trat. – Einst hatte ja auch er Leben und Forschung voll Wissensdurst und froher Jugendzuversicht begonnen. Und die Sehnsucht nach Erkenntnis war geblieben, schmerzhaft heißer noch geworden, – aber die Zuversicht – wie lange schon war sie geschwunden! – Anfänglich, da hatte alles einfach geschienen, als ob das Ergründen der Dinge vielleicht doch nur eine Frage von Fleiß und wirklicher Redlichkeit sein könne. Anfänglich, da hatte er auf seinem Pfade des Suchens kurze selige Augenblicke erlebt, wo er, dem sehenden Auge enthüllt, zu erschauen wähnte, was der Zweck alles Seins, was wir werden könnten, und wie die Welt dann sein würde. In solchen Momenten verzückter Vision war es wie eine Ahnung über ihn gekommen, als läge Erscheinungen und Geschehnissen eigentlich eine Selbstverständlichkeit zugrunde, – etwas so Einfaches, daß es, erst ausgesprochen, beinahe eine Banalität scheinen würde, – und schon glaubte er das Wort zu wissen, das alles erklären würde, fühlte es auf den Lippen, hörte seinen Klang 13 im Ohr, wähnend, er gerade sei derjenige, es der harrenden Welt zu künden – – und vermochte doch nie es zu formen. Immer wieder war da im Allerletzten ein Versagen des Könnens, ein Versagen der Gnade höchsten Erlebnisses.

Und je mehr er sich dann gemüht, desto seltener wurden diese kurzen von Jenseitssonne erleuchteten Ausblicke, desto undurchdringlicher die verhüllende Finsternis. Vermeintliche Gewißheiten wandelten sich zu lauter Anfechtbarkeiten. Immer neue Bedenken drangen, wie zur Vernichtung gewillte Feinde, auf ihn ein. Des Zweifels kalte Nebel stiegen wogend auf, verwischten Überzeugungen, die eben noch als sieghaft klares Bild vor ihm gestanden. Alles verbarg sich in schwankendem Grau. Es war oft wie eine Beklemmung. Nichts bot Sicherheit in einer Welt, die, mit allem was sie enthielt, nur Schein und Täuschung war, wo einem etwas veränderten Organe sich alsobald alles anders darstellte, wo nicht zwei Augenpaare das Gleiche sahen. – Jedes mußte sich da doch auch anders denken lassen. Und welch je Gedachtes konnte dann 14 noch Anspruch auf Endgültigkeit erheben? Höchstens auf Richtigkeit für die jeweilige Phase des Denkenden. Aber wie wandelbar diese Phasen! Und wie sehr hatte er ihren Wechsel gerade an sich selbst erlebt! – Ja, wer war er überhaupt, daß er sich vermaß, die Wahrheit finden zu können? – Der Pfad, den er eingeschlagen und dem er getraut, konnte ebensogut in die Irre führen. Und seine vermeintlichen Ergebnisse waren vielleicht nur Blendwerk und Wahn.

So war er auf dem Leidensweg des Erkennens gar bald zur Station des Zweifelns an der eigenen Berufung gekommen.

Aber diese Tragik der persönlichen Unzulänglichkeit war ja nicht die grausamste, denn welch ehrlich Suchender übergäbe die Fackel nicht willig verzichtend anderen Händen, wenn diese nur wirklich das Dunkel damit zu scheuchen vermöchten. Aber gab es überhaupt solche, in denen die Fackel hell genug leuchten würde? Oder war es vielleicht Bestimmung, daß das Dunkel für alle Zeiten undurchdringlich bleiben sollte? – 15

Tiefe Zerrissenheit war in ihm. Ein Sichquälen und Sträuben. Um schließlich doch dahin zu gelangen: Ja, die letzte und tiefste Tragik lag nicht in Grenzen, die ihm, dem einzelnen, gesteckt worden, sondern in den Mauern, die die ganze Menschheit umkerkerten, und über die keine Sehnsucht nach Erkenntnis sie je völlig hinwegzuheben vermochte. – Grenzenloses Mitleid empfand er für all die Wesen einer Schöpfung, deren Zweck ihnen nun und nimmer entschleiert werden sollte, denen die Weltordnung sich als Zwang zu stetem Leiden offenbarte, ohne daß sie auch nur erfuhren, wozu all die Qual. Arme, in Blindheit Tastende, für die es Vorausbestimmung war, daß alles enden mußte im Wissensverzicht.

Lag da nicht einzig mögliche Erlösung im Streben nach Aufhebung aller Vorstellung, die gieriger Wille immer von neuem schuf? – War nicht einzige praktische Weisheit, durch Loslösung von allem Wunsche, dem Leiden die Angriffspunkte der Persönlichkeit zu entziehen, durch Selbstbefreiung vom Fühlen, das nie 16 Glück, vom Denken, das nie Vollendung sein konnte, Ruhe wenigstens zu erlangen? –

Er verschwand auf Jahre in dem fernen, von Leben brodelnden Lande, wo, gerade im Ekel vor seiner Überfülle, die Sehnsucht nach Abkehr vom Leben am tiefsten empfunden worden; wo die Aufhebung aller Wahrnehmung seiner Erscheinungsformen als höchstes Ziel gelehrt wurde, und einsiedlerische Asketen in Weltabgewandtheit die schweren Stufen zunehmender Versenkung tiefer und tiefer hinabstiegen zu selbstgewolltem Erlöschen irdischen Ichs. – Unter aschebestreuten Büßern und gelbgewandeten Mönchen, bei Grüblern in der Stadt am heiligsten Flusse, hatte er dort als einer der Ihren gelebt, mit den Weisen des Landes dunkle Texte entziffert und den rätselreichen Aussprüchen weltentrückter Heiligen der verschiedenen Grade gelauscht.

Dann war er heimgekehrt. Lebte seitdem meist in hoher Bergesabgeschiedenheit. Schrieb über seine weiten Wanderungen, von den Menschen, Dingen und Lehren, denen er begegnet. Ein kühles Berichten 17 sollte es sein, angeblich allem gleich fern stehend. Kein Bekenntnis eigener Überzeugung – die sich aber dennoch verriet durch die tiefe Trauer, die Hoffnungslosigkeit, die unabsichtlich aus jeder Seite klangen. Bücher mit Rückhalten. Verschlossenheiten noch bei scheinbarem Sichmitteilen. – Nie mehr empfand er ja in der Arbeit des Schaffens volle Beglückung, nie mehr beim Beginnen den einstmaligen beseligenden Glauben an das erstehende Werk. Alles formte sich ihm unwillkürlich skeptisch, und die Skepsis richtete sich auch schon gegen die eigenen Gedanken, noch ehe sie laut geworden. Fern die Zeiten glückhafter Konzeption, die eigentlich schöpferischen, des Erlebens wahrhaft werten Stunden, mit dem siegreichen Vertrauen in das zu Gebärende – Statt dessen Entsagung, mühsam errungen und daher sorglich gehütet. Scheu vor Affekt, vor aller Passion. Nur noch ein wehmütiges Zuschauen all den nichtigen Geschehnissen, den wirren Lebensfäden.

Und dabei angeborenes Mitleid, oft heiß aufquellend, zu raschem Liebeswerk drängend, aber alsobald 18 gezügelt, in vorhergesehene Bahnen gelenkt. Er tat wohl, so vielen er vermochte. Denn anderen wenigstens des Lebens äußere Härten etwas zu mildern, das konnte ja nur recht sein – wie immer es sich verhalten mochte mit dem letzten Grunde all dieser Qual. Am meisten dauerten ihn die jungen Menschen, die alles Schwere erst noch erfahren mußten. Arme, hoffnungsvolle Studenten wurden seine besonderen Schützlinge, weil er für sie all die Enttäuschungen, die endgültige Entsagung voraussah, die er selbst erlebt. Er half ihnen reichlich. Aber sein Wohltun geschah in einer fernen, unpersönlichen Art, die ihn den einzelnen nicht nahebrachte. Im Geben lag zugleich eine Abwehr, als wollte er sich eine gewisse innere Unnahbarkeit und Gefühlsunabhängigkeit wahren. Wozu eigenes Elend noch vertiefen durch die stündlich neue Innewerdung des Leidens anderer? Es konnte ihm ja doch nicht abgeholfen werden, weil das Leben selbst das Leiden war.

Aussprache über all diese innersten Dinge hatte er kaum; er suchte sie nicht und war nicht jemand, an den 19 sich andere ihrerseits leicht um Aussprache wandten. Er gehörte zu denen, die Einsamkeit wie eine Atmosphäre umgibt. Zwar stand ihm einer seiner Freunde, der Arzt, nahe, aber auch ihn sah er selten.

Doch zuweilen überkam ihn in einem Frieren der Seele das plötzliche Bewußtwerden des völligen Alleinstehens gegenüber der großen Tragik des Daseins. Wie ein einzelner Ton dünkte er sich, der durch das Schweigen der Nacht klingt und verweht, ohne daß ein lauschendes Ohr seine Schwingungen vernommen, ohne daß eine andere Stimme sie aufgenommen und weitergetragen hätte. »Kyrie eleison!« hätte er dann rufen mögen – und rief es nicht. Was sollte solch Schrei in der Leere? – Millionen Male aus verzweifelnden Herzen aufgestiegen, war er millionen Male ungehört verhallt.

In solchen Zeiten wurde Musik seine Zuflucht, denn durch sie kam er sich weniger verlassen vor. Eine unmittelbare Äußerung desselben Willens, der sich in ihm selbst eine flüchtige Erscheinungsform geschaffen, war ja auch sie. Dieser selbe Wille führte die 20 schwingenden Linien der Melodien und offenbarte in Tönen verborgenste Seelenzustände. Ja, in der Musik fand der Einsame den Widerhall all dessen, was ihn selbst erfüllte. Sie konnte hochstürmende Hoffnung sein, und sie war auch tiefstes Verzagen. Wie widerstreitende Regungen im eigenen Herzen dünkten ihn die sich kreuzenden Stimmen der Fugen, aber während dort alles zerrissen und ungeklärt blieb, führten sie zu Ruhe und Befriedigung, brachten Erlösung. Seligstes Erleben war es ihm, wenn er so die eigensten, heimlichsten Gefühle in den Tönen wiedererkannte, als würde, was er stumm empfunden und allein von sich zu wissen wähnte, plötzlich von geliebten Lippen zu köstlichem Klange geformt. Es war, als schenke die Musik ihm, dem sehnend Suchenden, eine verstehend antwortende Gefährtin.

In solchen Gedanken war er an jenem Abend aus seinem verschneiten Höhenheim zur Stadt unten am See herabgekommen. In dem hohen Schiff der alten Kirche saß er nun, blickte hinan, den aufstrebenden Linien der Pfeiler folgend, die zum dämmernden 21 Gewölbe führten, gleich Verheißungen zu verschleierter Höhe. Erwartungsvoll harrte er, die vielgepriesene Sängerin zu hören.

Und nun, nachdem ein Vorspiel auf der berühmten alten Orgel erklungen, erhob sich in unsichtbarer Ferne eine Stimme.

Einsam klang auch sie durch den Raum, aber nicht wehevoll, nein, unbefangen froh, allen Leides noch unbewußt. Als spiele ein eben neu erschaffenes Lebewesen sein erstes Spiel in junger Welt. Ahnungslos alles Bösen.

Der lauschende Mann mußte plötzlich an ein Eichkätzchen denken, das in sonnendurchschienenem Wald steil ragende Stämme umkreist und von Ast zu Ast hüpft bis zu den zitternden Zweiglein der Krone. Ebenso leicht stieg diese Stimme empor zu höchsten Höhen, spielte sich an den Leitern der Töne hinauf, perlte dann dort oben auf und ab in stets neuen tändelnden Windungen, als schaukele ein schwindelfreies Waldwesen in einem Gewebe verschlungener Lianen. Rasch folgten die Noten aufeinander, und, kaum 22 vernommen, hatte jeder Übergang auch schon seine Lösung gefunden, ohne alle Anstrengung. Und so frohe, liebenswürdig überlegene Schelmerei lag in den Tönen, daß der Gedanke erwachte: Ist statt Mühe und Grübeln Spiel vielleicht Befreiung? – »Versuch' es!« schien die Stimme dem Gedanken zu antworten. »Fang mich!« rief sie und flog hinaus in noch weitere Ferne. Dann, von schwindelnder Höhe hinabgleitend bis zurück zu dem Punkte, von wo die Reise durch die Lüfte begonnen: »Schau, so schwing ich hinweg über alle Fährnisse!« – Leicht, beinah übermütig klang es und voll lieblichster Grazie.

Und auch von den Hörern schien die Erdenschwere abgeglitten, solange die Töne erklangen. In der Freude an dem Kunstwerk war ihnen, als seien sie selbst es, denen etwas sehr Schönes gelungen. Und sie alle lächelten, ohne es zu wissen, dasselbe Lächeln mit, das auf den Lippen der unsichtbaren Künstlerin liegen mochte. Der Forscher aber, der müd und vergrämt gekommen, fühlte sich so befreit von allen Fesseln und Hemmungen, als könne es keine unlösbaren Fragen, 23 kein unentrinnbares Leidensgesetz mehr geben. Die über alles hinweg hebende Begeisterung eines Jünglings empfand er, der Selbstbeherrschte – und war ja auch für diese eine Stunde in die Jugendzeit entrückt worden.

Bei gemeinsamen Bekannten sollte er die Sängerin am selben Abend treffen. Doch eine seltsame Scheu vor diesem persönlichen Bekanntwerden überkam ihn nun plötzlich. Er wußte nicht, war es Angst, daß der Zauber, den der unsichtbaren Künstlerin Stimme auf ihn ausgeübt, durch die greifbare Gegenwart der Frau vielleicht verscheucht werden könnte, oder war noch irgendein anderes, unklares Gefühl dabei, ein Zurückbeben vor etwas Verhängnisvollem? –

An der Haustür blieb er zaudernd stehen und wäre am liebsten noch im letzten Augenblick umgekehrt. Aber gerade da holte der befreundete Arzt ihn ein. Auch er war in der Kirche gewesen und wollte sich nun gleichfalls in die zu Ehren der Sängerin geladene Gesellschaft begeben. 24

»Nun, hab' ich dir zu viel gesagt?« rief er. »War es nicht herrlich?« Und dabei hob er auch schon den schweren Türklopfer.

»In der Tat, eine schöne Stimme«, antwortete der Forscher gemessen.

»Wie gletscherhaft du mal wieder bist«, sagte der Arzt, halb ärgerlich lachend. »Aber die Stimme ist es ja nicht allein, sondern die ganze Frau selbst, und daß sie so ein wundervoller, warmherziger Mensch ist. Unbefangen wie ein Kind und dabei voller Herzensweisheit. Na, du wirst sie ja gleich kennenlernen.«

»Eigentlich wollte ich mich hier nur entschuldigen . . . und . . . heimfahren«, sagte der Einsiedler halb verlegen und unschlüssig. »Du weißt ja – ich passe schlecht in Gesellschaft – hab' auch keine Neugier nach weiteren Exemplaren für meine Menschensammlung.«

»Aber das lass' ich nicht zu!« entgegnete der Arzt, nun beinahe ernstlich böse. »Aus bloßer Menschenscheu so etwas aus dem Wege gehen! – Ich sag' dir doch – sie ist ein Erlebnis, das man nicht wieder vergißt.« 25

Die Tür hatte sich geöffnet, er nötigte den halb noch sich sträubenden Freund in den Hausflur. Ein Entkommen war nicht möglich.

Etwas abseits, wie es seine Gewohnheit war, hatte der Gelehrte sich anfänglich gehalten, diesmal noch besonders, um die Sängerin ungestört beobachten zu können. Er nahm sich vor, recht kühl und kritisch zu prüfen – genau wie jeder anderen Erscheinungsform gegenüber. Das Bedürfnis der Abwehr war schon wieder mächtig in ihm erwacht. Gerade weil ihr Gesang ihn so gefangengenommen hatte.

Von seinem halbversteckten Platze aus sah er sie eintreten. Merkwürdig jung. Rührend jung. Das war der erste Eindruck.

Und dann gewahrte er, wie sie sich in dieser Gesellschaft, die ganz zu ihrer Feier veranstaltet worden, mit einer ruhigen Sicherheit bewegte, die ihn gerade bei dieser augenfälligen Jugend erstaunte. Auf all die ihr begeistert dargebrachten Huldigungen antwortete sie mit einem liebenswürdigen Lächeln, in dem aber etwas Ablehnendes lag. Daß sie von allen 26 als eine große Künstlerin anerkannt wurde, erschien ihr offenbar als etwas Selbstverständliches. Und der Forscher fragte sich: »Ist das die Blasiertheit einer früh Verwöhnten oder das Abgeklärtsein derer, die schon die Nichtigkeit aller Erfolge erkannten?« –

Ja, anfänglich hatte er noch im verborgenen beobachten können. Aber dann fand ihn die Hausherrin, führte ihn zur Sängerin und stellte ihn vor: »Da bringe ich Ihnen unsern einsamen Philosophen – Sie können wirklich stolz sein, daß er für Sie von seinen Bergen herabgestiegen ist.« – Als er nun aber vor ihr stand, und sie aus großen, klaren Augen zu ihm aufschaute, da überkam ihn, trotz der Menschen ringsum, die Empfindung, daß sie beide ja eigentlich ganz allein auf der Welt seien. Und da gab es kein kritisches Beobachten, keine Abwehr mehr. Da gab es nur – ja, wie sollte er dies Gefühl denn nennen, das ihn so plötzlich erfaßt hatte? – Eine leidenschaftliche Interessenahme war es, wie er sie für niemand noch empfunden. Als sei dies eine menschliche Wesen, das er vor wenigen Minuten noch gar nicht 27 gekannt, irgendwie der eigentliche Zweck seines Lebens. Die eine große Wichtigkeit, vor der alles übrige versank – vergessen. Es war etwas Nieerlebtes, Unfaßliches. Schicksalsschwingen glaubte er rauschen zu hören, vom Wunderbaren fühlte er sich gestreift. Er wollte sich dagegen wehren und verfiel dieser seltsamen Empfindung nur um so mehr.

Er hätte der Sängerin nun wohl, wie all die andern, Bewunderung über ihre Kunst aussprechen sollen, aber das Menschliche in ihr beschäftigte ihn bereits so stark, daß er unvermittelt und wie zu sich selbst sprechend sagte: »Aber Sie sind ja gar nicht blasiert?«

»Hielten Sie mich denn dafür?« fragte sie erstaunt.

»Ja, vorhin dachte ich es, wo Sie alle Huldigungen von sich wiesen, als seien Sie ihrer überdrüssig.«

»Das war aber nicht Überdruß,« entgegnete sie eifrig, »es ist ja im Gegenteil jedesmal von neuem so beglückend, wie die Menschen sich an meinem Singen freuen, ich finde nur immer, daß ich kein Recht auf all das viele Lob habe, denn sehen Sie, meine Stimme ist doch eine Gabe des Himmels, kein Verdienst.« 28

»Vielleicht das Verdienst eines früheren Daseins«, entgegnete er.

»Oh, das ist ein schöner Gedanke!« rief sie glücklich. »Damit wäre die oft so ungerecht scheinende Verteilung der Talente erklärt!«

»Aber Sie haben doch auch sonst noch Verdienst um Ihr Singen«, sagte er, »Sie haben doch sicher viel arbeiten müssen.«

»Sie meinen das Üben? Aber das war ja eigentlich nur Vergnügen, denn singen, das ist nun mal mein natürliches Element. Schon als Kind, wenn ich gescholten wurde und man mich in die Ecke stellte, fing ich, noch halb im Schluchzen, an, mir etwas vorzusingen, dann war ich gleich wieder froh und vergaß ganz, daß ich eigentlich betrübt sein sollte.«

»Ich kann mir so gut vorstellen, wie Sie so dastanden als kleines gescholtenes Mädchen«, sagte er lächelnd. »Ihr Gesicht hat sich seit damals sicher nicht sehr verändert.«

»Ich hab' mich wohl überhaupt nicht sehr 29 verändert,« antwortete sie, »denn auch jetzt verscheucht mir eine schöne Melodie gleich jeden Trübsinn. So bin ich eigentlich immer froh.«

»Sie ist eben auch jetzt noch ein Kind«, dachte er, und dabei überkam ihn mit neuer Stärke die beinahe mitleidige Gerührtheit, die er gleich bei ihrem Anblick empfunden. Ach, nicht Überwindung, nein, nur eine noch ganz jugendliche Unkenntnis des Lebens lag ihrem Frohsinn offenbar zugrunde. Er fühlte, daß sie, deren Name in der ganzen Welt bekannt war, selbst doch nichts von dem eigentlichen Wesen der Welt wußte, daß diese Vielgereiste und Vielgerühmte eine noch ganz Unerfahrene war. Und wie oftmals beim Anblick ahnungslos froher Kinder, empfand er jetzt vor ihr nur den einen Wunsch: Ach, daß sie so bleiben möchte, daß man die Macht besäße, sie so zu erhalten! – Aber sein Wissen sagte ihm, daß das unmöglich sei, weil das Leid niemand je noch unbekannt blieb. Und plötzlich empfand er eine große Angst um sie. Wer würde bei dem unvermeidlichen inneren Wandel, den schmerzvoll enttäuschendes Erleben mit sich bringt, 30 ihr nahe sein, wer würde sie da hegen und schützen dürfen?

Doch andere Gäste umdrängten die Sängerin, zogen sie in ihre Mitte. Er schaute ihr nach, hörte sie plaudern und silberhell lachen. Das klang so froh und unbekümmert. Wie die eilenden Wellchen eines klaren Gebirgsbaches, in denen der Frühsonne Schein flimmernd spielt. Da war ihm, als habe er sich, in seinem einsam grübelnden Dasein, gerade nach diesem Klang seit Jahren gesehnt. Als sei er verklärende Ergänzung des schwermütigen Tones eigenen Ichs.

Wie verzaubert verließ er spät die Gesellschaft, schritt über die alte bedeckte Holzbrücke, die den Fluß überspannt, und stand lange noch am See unter den hellglitzernden Sternen – ahnend schon, daß ihn etwas betroffen, dem er nicht mehr würde entfliehen können.

Die nächsten Tage, während deren die Sängerin noch in der Stadt verweilte, wurden von ihren Freunden mit allem angefüllt, was sie erfreuen mochte, und der sonst so Einsiedlerische nahm an all diesen 31 Veranstaltungen nicht nur teil, sondern erwies sich, in einer etwas schüchtern linkischen und über sich selbst staunenden Art, sogar erfinderisch im Herbeiführen neuer Anlässe zu gemeinsamen Besichtigungen und Ausflügen. Seine Bekannten wunderten sich anfänglich darüber, – er hatte in seinen Werken ja soviel über Geselligkeit gespottet und jene verhöhnt, die ihre Langweilen zwecks leichteren Ertragens zusammentun. Aber der Grund seiner Wandlung wurde, wenigstens dem befreundeten Arzte, bald klar, und er glaubte auch zu gewahren, daß diejenige, um derentwillen der Forscher sich plötzlich so verändert hatte, ihrerseits wachsendes Interesse an ihm nahm. Bei dieser von ihm ganz unvorhergesehenen Wendung begann sich der Arzt etwas beklommen zu fragen, zur Herbeiführung welchen Erlebens dieser beiden gerade er wohl Werkzeug gewesen, als er den Freund zum Besuch jener Gesellschaft gedrängt hatte, in der er die ihm bis dahin Fremde kennenlernen sollte?

Für den Tag vor der Sängerin Abreise war ein Ausflug nach einem Höhenort geplant,. von dem sich 32 ein weiter Blick auf die höchste Schneekette bot. Dort oben lag auch die Einsiedelei des Forschers, und er hatte gebeten, daß die Gesellschaft bei ihm einkehren möge.

Bei der Abfahrt von unten war die Stadt mit feuchtkaltem Nebel erfüllt. Über dem See wogte er in wallendem Grau. Es schien ein sinnloses Unternehmen, in dieser Undurchdringlichkeit eine Aussicht suchen zu wollen. Aber die Landeskinder versicherten, droben würde es ganz anders sein. – So fuhr die Gesellschaft ab in der steil die Bergwand hinanklimmenden Drahtseilbahn. – Wie an einer senkrechten Mauer kroch der kleine Zug hinauf. Man hörte das Surren des Seils und das Einschnappen der Zahnräder. Durch die angelaufenen Fensterscheiben war kaum etwas zu unterscheiden von der grauen Welt, durch die die kastenartigen Wagen sich emporwanden. Nur stellenweise, wo der Nebel etwas dünner war, sah man im Vorbeihuschen einzelne kahle Baumstämme. Wie gefangen ragten sie aus den Fugen des Gesteins und reckten ihre schwarzen Äste, gleich seltsam 33 verzerrten Gliedern. Allmählich wurde es lichter. Allerhand dünne Wassergerinnsel, kleine Quellen, die im Sommer mit frohen Stimmen rinnen mochten, waren im Gleiten am Felsen erstarrt, bedeckten ihn mit langen Strichen eisiger Krusten. An allen Büschen, an jedem Zweig und Halm waren Wasser und Nebel seit vielen Wochen im eisigen Lufthauch angefroren, bildeten lange, graue Eisbärte, die seltsam gespenstisch alle schräg nach einer Richtung hingen. Es hatte etwas traumhaft Unwirkliches, dies Fahren zwischen lauter Dingen, die, hinter grauen Schleiern verschwommen, sich nur ahnen ließen. – Aber immer weißer wurde die Welt draußen beim zunehmenden Steigen, denn der Schnee, der sich unten in Nässe aufgelöst hatte, lag hier dichter und dichter und verbreitete seine eigene Helligkeit. Besonders steil war diese letzte Strecke.

Im Nebel, der auch die Wagen füllte, hörte man eine Stimme ängstlich sagen: »Wenn das Seil risse!«

»Oh, es sind ja noch mehr Sicherungen da«, antwortete beschwichtigend der Arzt.

»Und wenn schon,« sagte der Forscher vor sich hin, 34 »wieviel würde dadurch wohl einem jeden von uns erspart.«

»Aber wie können Sie nur so reden,« sagte die Sängerin vorwurfsvoll, »das Leben ist doch schön.«

»Ja, ich weiß, Sie lieben das Leben.«

»Wie sollte ich nicht«, antwortete sie. »Jeder Künstler – auch eine kleine Sängerin wie ich – muß das ja, um wirken zu können, denn Kunstwerk ist doch festgehaltene Lebensschönheit und Lebensfreude.«

»Häufiger ist es doch wohl Ausdruck tiefstempfundener Lebenstragik«, entgegnete der Mann.

Während sie noch sprachen, glitt der erste Sonnenstrahl dem aufsteigenden Bahnzug bewillkommnend von oben entgegen. »Sehen Sie, wie recht wir hatten!« riefen die einheimischen Wetterpropheten.

Und wirklich war es ganz klar, als sie droben ausstiegen. Funkelnd weiß dehnte sich vor ihnen eine weite Matte, funkelnd weiß ragte gegen den tiefblauen Himmel die Kette höchster Berge. Einige Leute, die zur Bewunderung von Naturschönheiten genaue Lokalkentnisse für unerläßlich hielten, wollten die 35 Sängerin nun gleich über Höhe und Namen aller einzelnen Spitzen belehren. Aber sie entzog sich ihnen.

»Kommen Sie«, sagte sie leis zu dem Gelehrten. Und sie traten zusammen bis an den äußersten Vorsprung der Matte, wo sie steil abfiel, verschlungen bald von dem wogenden Nebelmeer der Tiefe. Scheinbar aus ihm unmittelbar auftauchend, stand jenseits, in weiter Ferne und wie an den Himmel hingezaubert, das ewige Gebirge.

In ehrfürchtiger Andacht blieben sie beide. Und dann, nach einer Weile des Schweigens, sagte die Fremde wie träumend: »Kann man davor noch wissen wollen? – Ach, nur schauen. Aus wie manchen Dingen klingt es doch zu uns: ›Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen‹ – und verständen wir das und ließen sie still auf uns wirken, sie schenkten sich uns freiwillig wohl vollständiger, als wir sie je zu ergründen vermögen. – Aber«, sagte sie dann, ihm zugewandt, »eigentlich widerspricht dies gerade Ihrem Beruf.«

»Ach, ich weiß am besten, wie wenig wir zu 36 erforschen vermögen«, antwortete er. »Das Beste kommt uns immer in Augenblicken der Gnade – da sehen wir es dann plötzlich. Drum haben Sie auch recht mit dem Schauenwollen.«

»Ja, schauen«, sagte sie – und setzte hinzu, als seufze sie im Traume, »und . . . fühlen.«

Dann schritten sie alle über das glitzernd weiße Feld, vorbei an geschlossenen Sommerhäusern und verschneiten Gehöften. Zu seiner Einsiedelei führte der Gelehrte die Gesellschaft, und es klopfte ihm dabei das Herz, als sei er, der Gebirgssohn, plötzlich der Höhenluft ungewohnt geworden.

Ein einstmaliges Bauernhaus war es, das er sich hatte ausbauen lassen. Das untere Stockwerk bildete einen einzigen großen Raum. Bücherbretter liefen an den Wänden entlang, und ein Flügel nahm die Mitte des Zimmers ein. Das breite Fenster, an dem der Schreibtisch stand, umrahmte die Aussicht auf die Kette ragender weißer Gebirgsspitzen, zog ihre feierliche Schönheit mit in den strengen Raum hinein. Doch die Herbheit des Eindrucks wurde gemildert durch 37 das Knistern der in einem großen Kachelofen brennenden Scheite.

Die Sängerin schritt langsam umher und beschaute alles, als wolle sie es sich für immer einprägen. »Wenn man auf die hohen Berge blickt und die Namen auf den Einbänden Ihrer Bücher liest, hat man den Eindruck, daß Ihr Leben sich zwischen lauter Riesen abspielt«, sagte sie zum Hausherrn.

»Die alten Gesellen da draußen kann man allenfalls als Riesen gelten lassen,« antwortete er, »obschon sie neben manchen ihresgleichen in anderen Teilen der Welt wie Knirpse aussehen würden – aber bei Ihrer Beurteilung meiner Bibliothek, da scheinen Sie die Werke des Intellekts doch sehr zu überschätzen. Sie ist, wie alle Bibliotheken, wohl hauptsächlich eine Ablagerungsstätte für jeweilige riesige Irrtümer. Endgültige Richtigkeit steht in keinem Buch.«

»Damit verlangen Sie aber auch zu viel,« entgegnete sie, »denn die, von denen die Bücher geschrieben werden, sind ja selbst nichts Endgültiges. Ich meine, man sollte Menschen und Bücher immer nur als ihre 38 eigenen Vorläufer ansehen. Das macht uns soviel zuversichtlicher und . . . glücklicher.«

»Ich habe Sie in diesen Tagen so oft von Glück reden hören,« sagte er, »und als sei, es zu erreichen, Zweck und Bestimmung. Aber das ist ja ein Wahn, der nur zu Leiden führen kann. Wir sollen gar nicht glücklich sein wollen, nur ehrlich und stolz im Verzicht.«

»Nicht glücklich sein wollen?« wiederholte sie erstaunt. »Aber warum? Es ist doch angeborener Zug aller Menschen.«

»Weil Glück ein Phantom ist. Und solange wir ihm nachjagen oder gar es zu besitzen wähnen, eine Fessel. Eine Lähmung unserer besten Kräfte durch Sucht nach Behagen, auf das notwendig bitterste Enttäuschung folgen muß. Alles, was wir einen Augenblick als angenehm empfinden, zeitigt ja Stunden des Schmerzes, denn des Leidens Äcker tragen stets hundertmal mehr als die Felder der Freude. Darum scheint mir einziger Weg zur Erlösung, dies Wünschen nach Glück wie überhaupt alles Wollen in uns aufzuheben.« 39

»Glauben Sie das ganz, ganz wirklich?« fragte sie.

Er mußte mitleidig lächeln, ihre Stimme klang so rührend traurig wie die eines erschrockenen Kindes. Und er antwortete: »Meine Überzeugung ist es allerdings, und ich trachte, dahin zu gelangen – aber es ist kein leichter Weg, und man geht ihn nur mit viel Widerstreben und häufigem Straucheln.«

»Ich möchte nicht, daß Sie ihn gingen,« sagte sie leise, »ich möchte . . . ach, ich denke es mir eigentlich so leicht, glücklich zu sein.« – Die Worte waren nur wie hingehaucht. Er wußte nicht, ob er sie wirklich vernommen.

Sie waren an den geöffneten Flügel getreten. Leise schlug die Sängerin einen Akkord an und fragte: »Spielen Sie denn selbst?«

»Nur soviel ich für meine Arbeiten gelegentlich brauche,« antwortete er, »aber bisweilen spiele ich auch, weil mir Musik die einzige Ausdrucksform für manche Seelenzustände scheint.«

»Das glaube ich auch«, sagte sie überzeugt.

Und er fuhr fort: »Vieles schwingt ja so fein, daß 40 Worte zu grob sind, es wiederzugeben, Erinnerungen an Dinge, die nie doch gewesen, Heimweh nach Unbekanntem, Sehnsucht, die im Traume empfunden wurde, Leiden . . . uneingestandenes . . . Ja, das vor allem: klanggewordenes Leiden ist Musik.«

»Mir ist Musik bisher meist etwas Beflügelndes, Hinreißendes gewesen, eine Seligkeit kündende Melodie, aber« – und ein seltsam Suchendes, ängstlich Ahnendes überschattete plötzlich das Leuchten ihrer Augen – »vielleicht ist sie wirklich auch ganz anderes, das ich noch nicht kenne.«

Sie wollte weitersprechen, aber die übrigen Gäste, die sie am Flügel mit den Händen auf den Tasten sahen, riefen bittend: »Ach, singen Sie, singen Sie!«

»Soll ich?« wandte sie sich leise an den Hausherrn, und er antwortete ebenso und voll Inbrunst: »Es war schon lange mein sehnlichster Wunsch, daß in diesem Raume etwas von Ihnen haften bleiben möge, damit ich es später in meiner Einsamkeit wieder wachrufen könne.«

Ein schmerzliches Lächeln huschte über ihre Züge, als wolle sie etwas entgegnen, doch dann wandte sie sich laut zu den anderen: »Aber was soll man hier in der Höhenwelt denn singen?« Und auf die Schneekette draußen blickend, fuhr sie fort: »Die Umrißlinie der Berge müßte man in Melodie setzen.«

»Genau dasselbe habe ich bei manchen seltsamen Fieberkurven auch schon gedacht,« sagte der Arzt, »die müßten sich singen lassen.«

Nun saß sie am Klavier, und während ihre Finger präludierend über die Tasten glitten, sagte sie: »Nun, wenn auch nicht die Linien der ewigen Schneeberge, so will ich Ihnen doch etwas hier vom Lande singen.« Und mit halber Stimme begann sie:

»Hinder der Gletscherwand
Steit ja mis Vatterland,
D' Glogge töne und 's Alphorn dri,
Schöners cha uf der Welt nüt si,
Heimat, wie bist mer so lieb!«

Und die Lauschenden fielen ein:

»Heimat, wie bist mer so lieb!«

Sie waren entzückt, daß die Fremde ihre Volkslieder kannte, und baten um weitere. Und je mehr 42 sie sang, um so mehr offenbarte sich diesen gesangs- und bergesfrohen Menschen der Künstlerin Verstehen ihrer Wesensart, eine Verwandtschaft mit ihrem zuversichtlichen Vertrauen in höchste Lenkung, das auch Schmerzlichstes noch versöhnlich erscheinen läßt. Als dann das Liedchen erscholl:

»Sternli das sagt: 's geht mer guet,
Hat mi nit Gott in der Huet,
Warli, der Vater von alle
Laßt mi gewißli nit falle –«

da fühlten sie alle, daß dies auch der Sängerin allereigenster Glaube war, dessen ruhiges Vertrauen sie bis dahin durchs Leben getragen hatte.

Doch auch diese Stunde mit ihren Klängen zog vorüber an den ewigen Bergen. Die weißen Schneeriesen, die zum breiten Fenster hineinschauten, begannen sich in Abendrot zu färben.

»Bald wird es Zeit aufzubrechen«, mahnte der Arzt.

»Aber vorher noch ein Abschiedslied!« baten alle.

»Ein Abschiedslied?« wiederholte die Fremde schmerzlich, als riefe sie das Wort zurück aus glücklichem Traumesland. Und dann sang sie: 43

»Wir möge 's beide selber nit wüssen,
Wie gern daß wir einanderen g'sehn,
Das tut mir so weh,
Das tut mir so weh,
Daß mir's einanderen nimmermehr sehn.«

Der Hausherr lehnte ihr gegenüber am Flügel. Er hatte alles ringsum vergessen. Wie sie nun aber geendet und zu ihm aufschaute, fuhr es ihm durch den Sinn: Morgen mußte sie ja abreisen! – Und vielleicht dachte auch sie daran, denn wie beim Betreten des Raumes, ließ sie dann beim Verlassen die Blicke noch einmal auf allem ruhen, als wolle sie jede Einzelheit mit sich nehmen.

In blauem Schatten wandelten sie dann zurück über die weiten, verschneiten Triften. Immer kälter und ersterbender wurde das Licht. Alles Leuchten, alle Farbe hatten sich hinausgeflüchtet zu der fernen Schneekette. Die glühte jetzt in immer tieferem Purpurrot.

Auf der steilen Bahn fuhren sie hinab in die Nebel und Dunkelheiten der Tiefe. Trunken und müde von 44 der scharfen, dünnen Luft, waren sie jetzt alle schweigsam. Unten angelangt, trennte man sich rasch.

Doch der Gelehrte irrte noch lange durch die abendlichen Straßen. Vor einem hellerleuchteten Blumenladen blieb er stehen und starrte traumverloren, als sähe er sie kaum, auf all die bunten Blüten hinter den Scheiben; aber plötzlich bekam sein Blick etwas erstaunt Freudiges, als feiere er ein überraschendes Wiedersehen. Schnell trat er in den Laden, wies auf einen großen Strauß rosigster Rosen, der im Schaufenster prangte, und befahl, daß man ihn unverzüglich der Sängerin bringen möge. Den mußte sie haben, denn genau wie diese rosigen Blumen hatte sie ja selbst ausgesehen vorhin, als der Widerschein des Bergeglühens auf ihrem Antlitz lag.

Und dann wunderte er sich über das, was er so plötzlich getan. Er hatte ja nie vorher einer Frau Blumen gesandt.

Aber alles in dieser Zeit war ja zum Staunen gewesen. Jetzt, da sie nahezu vorbei, kam ihm das so recht zum Bewußtsein. Ein Lebensabschnitt war sie, 45 der ganz für sich stand, abgesondert von allem übrigen. Es dünkte ihn, er habe darin mehr erfahren als in seinem ganzen früheren Dasein. Es war ja auch mehr, weil nie vorher Empfundenes und daher ihm Wunderbares. Dies Gefühl des Wunderbaren, das ihn bei der ersten Begegnung mit der Fremden überkommen, hatte ihn in immer steigendem Banne gehalten. Unbegreiflich schien es, daß ihm, dem kritisch Abwägenden, schwermütig Ablehnenden, dies innere Erlebnis überhaupt zuteil geworden. Anfänglich hatte er sich noch dagegen gestemmt, sich gesagt, daß er fliehen müsse vor etwas, das so stark war, daß es alle seine Überzeugungen und Gewohnheiten umzuwerfen drohte. Aber dann hatte er sich doch nicht loszureißen vermocht. Er war geblieben und tiefer und tiefer in den Zauber versunken. Manchmal war er sich dabei vorgekommen wie ein zu Tode Verurteilter, dem das Leben plötzlich ein einziges Schönes bietet und der es, voll schmerzlicher Wonne, vor dem Ende noch auskosten will. – Und warum auch nicht? – Daß er dieses Zusammenseins Preis mit bitterem 46 Entbehren und Zurücksehnen würde zahlen müssen, und daß der Preis mit jeder weiteren Stunde stieg – das hatte er ja die ganze Zeit gewußt. Aber was er sich selbst antat, darüber war er doch niemand Rechenschaft schuldig? Mit dem Trotz eines sehr Unabhängigen, sehr Einsamen hatte er sich gesagt: »Wenn ich ihr meine Liebe schenke und wenn ich auch darüber unglücklich werde, wen braucht es zu kümmern? Ihr kann es nicht schaden, sie weiß ja nichts davon.«

Nun aber, am Vorabend des Tages, der sie entführen sollte, begann er zu ahnen, daß der nachträgliche Schmerzenspreis dieser Zeit des Wunders noch viel höher sein würde, als er gewähnt.

Am nächsten Morgen war sie abgereist, um in benachbarten Städten zu singen. Mit allen anderen Freunden und Bewunderern hatte er am Bahnhof gestanden. Zu besonderen Abschiedsworten war keine Gelegenheit gewesen, aber als der Zug davonfuhr, und sie noch einmal aus dem geöffneten Fenster den Verweilenden zuwinkte, hatte es ihm einen Augenblick geschienen, als suche sie gerade ihn mit den Augen, 47 und als läge in diesen Augen ein neuer, wehmütiger Ausdruck, der vor wenigen Tagen, als er zuerst in sie geblickt, nicht darin gewesen. Aber er mußte sich getäuscht haben, hatte wohl auch in ihre Augen den eigenen Schmerz gelegt, weil er gar so groß war – so groß, daß er ihn eben überall sah.

In Sturm und Kälte war er dann heimgekehrt. Auf der Fahrt hinauf und dem Wege über die weiß verschneite Weide, überall dachte er an die Entschwundene, entsann sich, was sie an dieser und jener Stelle gesagt und wie sie dabei ausgesehen. Greifbar nahe schien noch das Gestern, und doch war alles verändert. Und auch die Heimatsnatur trauerte mit ihm um Vergangenes. Kein Sonnenstrahl, kein leuchtendes Gebirge. Sonne und Freude waren zugleich entschwunden. Trübsinn lastete auf ihm, Wolken verhüllten die Berge.

Im Hause schlug ihm Erinnerung übermächtig entgegen. Als er sie gestern hierher geführt, hatte er gewähnt, später in der Vergegenwärtigung jener Stunde ein tröstendes Wiedererleben zu finden – 48 aber eine Marter war es nun, wie er, an dem Flügel stehend, ihre Stimme zu hören vermeinte: »Das tut mir so weh, daß wir einander nimmermehr sehn.« Er, der Einsamkeitsgewohnte, empfand dabei eine ganz neue, tiefe Verlassenheit. Ob sie vielleicht auch daran zurückdachte, eben jetzt? – Ja, was tat sie wohl in dieser Stunde? – Nach den zusammen verlebten Tagen dünkte es ihn unerträglich, nun so gar nichts mehr von ihr zu wissen! – Er schaute auf die Uhr. Sie mußte längst in der Stadt angelangt sein, wo sie heute singen sollte. Sie mußte schon angefangen haben. Er wußte, was sie singen wollte. Sie hatte ja hier oben davon gesprochen, und er glaubte noch zu hören, wie der Arzt ihr geraten hatte: »Wenn Sie noch etwas zugeben müssen, so singen Sie doch einige unserer Volkslieder.« Vielleicht sang sie gerade jetzt jene alte Abschiedsweise. Und vielleicht sah sie dabei ebenso wehmütig aus wie heute morgen bei der Abreise – und – ja, wie schon gestern. Denn jetzt entsann er sich deutlich, was er im Augenblick gar nicht bemerkt und was, ihm unbewußt, sich doch seinem 49 Gedächtnis irgendwie eingeprägt haben mußte, daß sie ja schon gestern, beim Singen gerade dieser Worte, so traurig zu ihm aufgeschaut hatte. – Was bedeutete jener Blick? Was war dies Neue, Leidvolle, das er darin gewahrt – und – woher stammte es? Wer hatte es in ihr Leben gebracht? . . . War es denkbar, daß er selbst es gewesen? – – Aber all sein Sinnen hatte sich während dieser Tage doch im Gegenteil gerade darauf gerichtet, sie vor Schmerz und Leid zu bewahren. Schmerz und Leid, die wollte er auf sich nehmen, sie aber sollte weiterwandeln in ihrer ungetrübten heiteren Ruhe, in der klaren Schöne ihres Wesens. Daß er ihren Gleichmut vielleicht in Gefahr bringen könne, war ihm nicht in den Sinn gekommen, denn er war von aller Eitelkeit frei und hatte seit Jahren einsam gelebt. Auch erschien sie ihm so jung, daß es ihn selbstverständlich dünkte, in ihren Augen nur ein väterlicher Freund sein zu können. Sollte er sich geirrt haben? Und hatte hier, wie immer, die Tat eine unabsehbare Reihenfolge nunmehr unabänderlicher Ereignisse gezeitigt? – Aber da war doch 50 gar keine Tat gewesen. Oder war es Tat, daß er nichts getan? Er hatte die Dinge gehen lassen, alle schmerzlichen Folgen im voraus auf sich nehmend. Dafür konnte sie doch nicht büßen müssen, nicht schon an eine Kette geschmiedet sein, die sie gar nicht wissentlich aufgenommen? – Eine große Unruhe ergriff ihn. War es möglich, daß er sie vergessen hatte, während doch gerade all sein Denken ein Kreisen um sie gewesen war? Und hatte ihr Blick ihm etwas davon sagen wollen, etwas, das er nicht verstanden? – – Ja, aber . . . dann . . . dann brauchte dies Nimmerwiedersehen ja gar nicht unabänderlich zu sein! Und plötzlich standen ganz neue, nie bedachte Möglichkeiten vor ihm, und es war, als brause der Föhn in seinen Ohren und verkünde nahenden Frühling. – Aber beinah erschrocken suchte er die Vision zu bannen: das wäre wahrlich die Tat, deren der Weise sich enthält, wissend, daß sie die Kette unvermeidlich schmerzlichen Geschehens um neue Spannen verlängert. Nein, er mußte dies alles überwinden und von sich tun. Sich nicht in Dinge hineinträumen, die sicherlich gar nicht 51 bestanden. Alle Gewohnheiten seiner bisherigen Lebensweise rief er zu Hilfe, seine Scheu sich je ganz hinzugeben, sein Bedürfnis, stets noch letzte Schranken um sich zu wahren. Er hielt sich die eigenen langjährigen Ziele vor, die bisher gewonnenen Überzeugungen. Und plötzlich sagte er laut in der Stille der Nacht: »Nicht in tätigem Eingriff liegt für mich der Weg, sondern in opferndem Entsagen, in der das Ich verlöschenden Versenkung. Ich bin dem schon allzu untreu geworden.« – Doch da war eine leise Stimme in seinem Innern, die entgegnete: »Du sprichst von Entsagen, täuschst du dich nicht selbst? Ist das nicht eher ein kleinmütiges Zurückbeben vor Verantwortung? Und läge Vollendung nicht vielleicht gerade im Führen eines anderen Wesens durch das Wirrsal des Lebens, im Opfern des Ichs in einer Liebe, die ganz gebend wäre?«

Aber er wehrte sich noch. Mit einer entschlossenen Gebärde setzte er sich an den Schreibtisch. Es war wirklich Zeit, die Arbeit wieder aufzunehmen, die er hier niedergelegt. Wann war das doch gewesen? – 52 Lange her dünkte es ihn. – Aber nein, es war ja nur eine Woche verstrichen, seit er von hier herabgefahren, um sie in der Dämmerung der alten Kirche singen zu hören. Und schon waren die Gedanken auch wieder weit fort von der Arbeit und durcheilten von neuem diese kurze Spanne Zeit, die so viel enthalten hatte. So viel, was nun vorbei war. »Das tut mir so weh, das tut mir so weh.«

Draußen tobte der Wind um das einsame Haus. Er beachtete es nicht. Aber plötzlich fuhr er aus seinem Sinnen und horchte auf: zwischen dem Brausen des Sturmes glaubte er einen neuen Ton zu hören – eine Stimme, ihre Stimme, die ihn rief, immer wieder rief! Er vernahm sie so deutlich, daß er hinausspähte in die Finsternis. Aber da war niemand. Und doch glaubte er sie zu sehen. Er sah sie, nicht im Glanz ihrer Künstlerschaft, umringt von bewundernden Freunden, sondern als eine Menschenseele, einsam im Raume, einsam wie er, einsam wie jeder Denkende – und dabei erfüllt von der Sehnsucht nach Erlösung von dieser Einsamkeit. Er fühlte ihren Blick, 53 wie aus weiter Ferne, und auch in diesem Blick lag ein Ruf.

Da erfaßte ihn die Angst um sie riesengroß. Sicher war sie von Gefahr und Weh umlauert! Und er verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte er sie nur so können entschwinden lassen? Fort in dunkle Ungewißheit, allein! Wer würde sie in der Dunkelheit führen und schirmen? Und plötzlich stand es vor ihm wie ein Gebot: »Du mußt es sein. Und sollte auch ihr Lebensweg münden in die unvermeidliche Straße des Leidens, so bist du bestimmt, sie darauf zu geleiten und zu schützen.«

Schlaflos verbrachte er den Rest der Nacht. Und wehrte sich nicht mehr. Er würde ihr nacheilen. Er mußte sie fragen. Was er sie eigentlich fragen wollte, hätte er nicht in Worte zu fassen vermocht; aber er mußte wissen, ob sie ihn wirklich gerufen hatte, wie er diese ganze Nacht gewähnt. Und wenn sie ihn gerufen, ja dann – – weiter dachte der Denker nicht.

Mit dem frühesten Zug war er aufgebrochen und ihr nach in die andere Stadt gefahren. In einem 54 seltsamen Zustand befand er sich dabei. Tat alles wie ein Nachtwandler. Nun stand er in ihrem Gasthaus und ließ sich bei ihr melden.

Er wurde sofort hinauf gebeten.

Und mit beiden Händen, ihm entgegengestreckt, eilte sie auf ihn zu: »Da sind Sie! Da sind Sie! Ach, ich wußte ja, daß Sie kommen würden!«

»Aber ich wußte es ja bis vor wenigen Stunden selbst noch nicht?«

»Ich wußte es, weil . . . wenn Sie nicht kamen . . . ich gekommen wäre.«

So hatten sie sich gefunden.

Sehr eilig war es dann ihnen beiden. So schnell als gesetzliche Bestimmungen es nur zuließen, wollten diese zwei Menschen zusammengetan werden, die sich vor wenigen Tagen noch nicht kannten, und über die dieselbe Macht gekommen war, die auch Flüsse, von fernen entgegengesetzten Gegenden her, zu einem Punkte hintreibt, wo sie aufjauchzend, als erkennten sie sich, ineinanderfluten, um dann vereint, ein Strom, den Lauf zum Meere des Endes zu nehmen. 55

Wie in einem Märchenland verlebten sie die Wochen bis dahin. Er brachte ihr all seine Gedanken, und sie schenkte ihm all ihre Lieder, und zusammen bauten sie ein phantastisches Schloß, das sie Zukunft nannten.

Aber es mußte doch auch erörtert werden, in welchem irdischen Haufe sie denn in Wirklichkeit in der gemeinsamen Zukunft zunächst weilen wollten. Er schlug seine Einsiedelei vor. »Dort hätten wir dann, was mir bisher als Köstlichstes auf Erden erschienen ist«, sagte er, »Hochgebirge und Musik.«

»Das mußt du mir erzählen, warum du gerade sie beide allem vorzogst«, bat sie.

Und er sagte: »Weil ich ihnen dankbar bin, daß sie mich oft über mich selbst und allen Jammer unserer irdischen Niederungen hinausgehoben haben. Das Hochgebirge anzuschauen, hatte etwas Befreiendes. Es stand da jenseits von alledem, was uns trübt und bekümmert – und dabei doch nicht fremd. Denn ein mit meiner eigenen Natur Verwandtes erkannte ich ja darin, aber so, als sei dort alles überwunden, als 56 hätten sich Leid und Zerrissenheit zu Ruhe und Erhabenheit gewandelt.«

»Und die Musik?« fragte sie.

»Bei ihren höchsten Schöpfungen«, antwortete er, »hatte ich auch die Empfindung, da ist alle Qual überwunden und zum Kunstwerk gebildet worden. Darum war sie mir auf ihre Art auch eine Erlösung. Aber«, fuhr er zärtlich fort, »jetzt weiß ich, daß es noch ein Drittes gibt, das über das Ich hinauszuheben vermag, – das ist eine Liebe so groß, daß wir ganz darin aufgehen. Und die hast du mich gelehrt – darum meinte ich, du und dein Gesang, ihr gehörtet hinauf zu meinen Bergen.«

Die Sängerin aber führte dagegen an, daß sie ja in seiner bisherigen Welt schon gewesen sei, jedoch er die ihre noch gar nicht kenne, und daß sie so sehr wünsche, ihm diese nun zu zeigen. Und es mochte sie dabei, ihr kaum bewußt, ein geheimer Groll gegen jene eisigen Gebirgseinsamkeiten leiten, die ihr Symbol einer Stimmungswelt schienen, aus der sie ihn doch gerade zu befreien hoffte. Die volle, 57 Daseinsfreude erweckende Schönheit des Südens, die paßte zu dem Leben, das sie ihm zu gestalten sich sehnte! – Sie erzählte, wie sie vor einigen Jahren, auf einer Reise durch die Winterstädte der südlichen Küste, zufällig an dem weißen Hause vorbeigekommen sei: »Und gleich als ich es sah, wie es so träumend lag in dem alten Garten, sagte mir eine innere Stimme: ›Dies laß dein Heim werden.‹ Es war wohl die Ahnung, daß wir beide gerade da einst glücklich sein sollten.«

So ward denn beschlossen, daß sie gleich nach der Trauung hinabfahren würden an die Küste des blauenden Meeres.

Bald war der Tag gekommen. Über dem See, aus blassem Dunst hervorragend, standen einzelne Gebirgsspitzen am Himmel, traumhaft fern und unwirklich und von einer Einsamkeit umwoben, die uralt schon gewesen, als zum erstenmal Menschenpaare Erlösung von der Einsamkeit ineinander gesucht. Geleitet von dem Arzt und den Freunden, bei denen sie sich kennengelernt, traten die beiden vor den Altar, in derselben Kirche, wo die Stimme der Unsichtbaren 58 zum erstenmal in des Mannes Leben hineingetönt hatte. Und machtvoll wie Schicksalssprache umbrauste sie in dem feierlichen Raume der alten Orgel Sang.

Das lag nun schon weit hinter den beiden. Fern wie alles, was früher einmal gewesen. Das Bewußtsein, daß sie nun für immer zusammengehörten, war das einzig Nahe, Bestehende. Das begleitete sie und erfüllte mit seiner beinah beängstigenden und doch so berauschenden Neuheit diese Fahrt zwischen ragenden Felsenmauern und durch tiefstes Bergesinnere hinab zu südlicher Frühlingswelt. Doch während die Frau sich jetzt ganz in dem Nieerlebten dieser Augenblicke verlor, zitterte in des Mannes Seele noch etwas von dem schicksalhaften Klang der Orgelsprache, und es war ihm, als schwinge durch die Lüfte ihm nach die ehern gesprochene Mahnung an das Ungeheure, das er auf sich genommen hatte: die Sorge um ein anderes Menschendasein. Er begriff es selbst kaum. Nur durch jenes jauchzende: »Kamst du nicht, so wär ich gekommen« hatte ja er, der grübelnd Wägende, den Mut dazu gefunden, war aus Zweifeln und 59 Verzweifeln, aus Abkehr vom Leben mitten ins Leben hineingerissen worden. Und staunte nun zagend vor dem, was dadurch entstanden und was sich zusammenfaßte in diesem einen Wundersamen, daß er, der schwermütige Einsiedler, hier fuhr mit dieser Tochter froher Kunst, die sich ihm vertrauensvoll zu eigen gegeben. – Was würde er ihr bringen? – Eine große Liebe wallte in ihm auf. Zärtlich beugte er sich zu ihr und sagte leise und innig: »Wenn je ein Mensch es vermochte, einem anderen das Leid fernzuhalten, so will ich dieser Mensch für dich sein.«

»Was sprichst du von Leid, Liebster,« antwortete sie verträumt, die Hand in der seinen, »ich weiß ja so bestimmt, du bringst mir eine Sternenkrone.«

Doch plötzliche Angst überkam ihn bei den Worten, und er entgegnete rasch: »Oh, daß die Sterne nie zu Dornen werden möchten! In mir ist ein banges Ahnen, du könnest Schmerz, der dir heute noch unbekannt, gerade durch mich erst erfahren. Denn über uns steht höhere Macht und wandelt oftmals unser Tun ins Gegenteil unseres Wollens.« 60

»Und wenn auch!« sagte sie. »Was sollten mir Schmerz und Leiden? Ich habe ja dich und du selbst bist mein Glück!« – Und in ihren angeborenen Frohsinn verfallend, fuhr sie fort mit leisem, süßem Lachen: »Ja, ich brauch' dich gar nicht nach deinem Namen zu fragen, wie Elsa einst Lohengrin, sondern ich selbst geb' ihn dir: mein Glück, mein vollkommenes Glück. Und magst du noch so sehr sagen, daß Glück rasch vergehe und mit Schmerzen erkauft werde – ich will schon sorgen, daß du mir bleibst.«

Und mehr und mehr wurde er ihr, was sie ihn da zum erstenmal scherzend genannt. Denn wenn er anfänglich auf dieser Reise noch etwas verzagt gewesen, in dem Haus am blauen Meere da schwanden alle Zweifel. Er wußte nun, daß er wahrlich der Berufene sei, ihrem Leben höchste Weihe, ihrer Kunst tiefste Verinnerlichung zu verleihen. Es lag jetzt eine zärtliche Verklärtheit über ihr, die nur ganz große Seligkeit zu verleihen vermag, und diese Wandlung offenbarte sich auch in dem, was ihr Persönlichstes war – in ihrem Gesang. Ihre Stimme hatte einen 61 neuen weichen Klang von schmelzender Schöne. Nicht mehr unberührte Fröhlichkeit allein tönte jetzt aus ihr – es war, als vibriere darin die Rührung über das Wunder, das an ihr geschehen. Jetzt erst verstand ja die Frau, selbst erlebend, die vielen oft gesungenen Lieder der Liebe.

Er sah und hörte voll staunender Freude, was sein Werk war. Zum Schöpfer an ihr fühlte er sich durch seine Liebe geworden. Vor diesem völlig neuen Gefühl aber begannen ihn Zweifel zu beschleichen, ob nicht Irrtum gewesen, was er bisher gelehrt. Glück brauchte vielleicht doch nicht ein flüchtiges Phantom und Lähmung bester Kräfte zu sein. Er sah es ja jetzt an ihr, sah es staunend an sich selbst: stärkste Wirklichkeit konnte es sein, Hebung und Förderung aller Fähigkeiten. Was vermochte er nicht, seitdem er, durch die Liebe zu ihr, das Glück zum erstenmal wirklich besaß!

Als er sie kennengelernt, hatte er in einer Zeit müder Entmutigung gestanden. Überall grinste ihn die große Zwecklosigkeit an. Immer wieder höhnte 62 die Frage: Wozu das Mühen? Nichts hat ja Wert.

Unmerklich änderte sich das nun alles. – Durch das Geschickhafte, das für ihn im späten, unverhofften Finden dieser einen Frau lag, begann er hinter den Geschehnissen doch einen Sinn, eine Lenkung zu ahnen. Zwecke sah er wieder und Ziele schimmern. Traute sich in neuerstandener Zuversicht auch zu, sie zu erreichen, sie zu erfüllen. Wie in den fernen Tagen frühen Strebens, wo Enträtselung bisweilen blitzgleich durch die Wolken geleuchtet hatte, wurden ihm wieder Augenblicke seliger Visionen. Aber hatte damals der Jugend frohes Vertrauen zu sich selbst ihm für Sekunden Flügel verliehen, jetzt hob ihn ein anderes: Liebesschwingen trugen ihn. Vertrauende Liebe. War Liebe vielleicht selbst des Rätsels Wort? – Die ganze Welt war ja für ihn verwandelt, weil sie diese eine durch seine Liebe und seinen Glauben verklärte Frau enthielt: sie barg also doch etwas Wertvolles, etwas, dem es lohnte, alle Kräfte, alle Gefühle zu weihen. So erstand neue Schaffenskraft, 63 neue Arbeitsfreude. Woran er früher für sich allein, im lähmenden Bewußtsein eigener Unvollkommenheit, verzweifelt – das gelang ihm jetzt durch sie, weil er sie mit einer vom Ich erlösenden Liebe liebte und an sie glaubte mit einem Berge versetzenden Glauben, den für sie alles möglich dünkte.

Er deutete dies alles um, rechnete es ihr als Verdienst an, und eine beinah andächtige Dankbarkeit gegen sie erfüllte ihn. »Holde Fraue wundersam«, heilige Erlöserin von der eigenen zweifelnden Zerrissenheit war sie ihm in solch ekstatischen Augenblicken – und außerdem die zärtlich Geliebte aller Stunden. Und da sie zu jenen Frauen gehörte, die immer zu dem zu werden trachten, was der Mann, der sie liebt, in sie hineindichtet, suchte sie, voll demütig hingenommenen Glückes, zu sein, wie seine anbetenden Augen sie sahen. Es wurde ihr dies auch eigentlich leicht, weil, was er, gesteigert und in einer Art verzückter Vision, in ihr erblickte, einer Seite ihres Wesens tatsächlich entsprach. Wohltuende Harmonie, Freude zu 64 verbreiten, war ihr überhaupt Bedürfnis, und noch ehe sie ihn gekannt, hatte ja seiner Bücher schmerzlicher Grundton den Wunsch in ihr erweckt, gerade von ihm die tiefe Schwermut scheuchen zu können. So mischte sich bisweilen in ihre Seinsart zu ihm ein ganz leiser Anflug sorgender Mütterlichkeit. Aber sie besaß ein zu unbeirrbares Gefühl ihres persönlichen Stils, war zu sehr Schönheitsschwung bedürfende Künstlerin, um durch ein zu starkes Hervortreten solchen Umsorgens die eigene poetische Lebensatmosphäre je mindern zu lassen. Wie immer aber sie zu ihm war, war sie es eigentlich unbewußt, einer sicheren inneren Stimme folgend. – Er, der Analysierende, sagte ihr einmal voll zärtlichen Verstehens: »Sicher waren Frohsinn dein Vater, Güte deine Mutter.« – Und sie antwortete mit geheimnisvoll schelmischem Lächeln: »Vielleicht – aber laß mich nun nicht klassifiziert und erledigt sein, weil du die Formel für mich gefunden – in mir sind noch manche Möglichkeiten.« – Instinktmäßig wehrte sie sich dagegen, ihm zum alltäglich Gewohnten, zum endgültig Ergründeten zu werden. 65 Und dabei half ihr ihre Kunst, die ihr stets neue Gestalten verlieh.

Sie hatten bald zu arbeiten begonnen, waren es ja beide von ihrem früheren Leben nicht anders gewohnt. Jeder hegte Bewunderung für des anderen Tätigkeit und empfand sie als gleichberechtigt. Daraus entwickelte sich eine über alles Kleinliche erhebende gütevolle Freundschaft. Und die Arbeit wirkte nicht trennend. Die Mitteilsamkeit, die zu der Sängerin Eigenart gehörte und die ja auch im Wesen selbst ihrer Kunst lag, erstreckte sich auf den Mann. Wie sie über ihre Musik, so gewöhnte er sich bald daran, über die Probleme, die ihn beschäftigten, mit ihr zu reden. Nicht mehr ein einsamer, in der Leere ungehört verhallender Ton dünkte er sich jetzt, es antwortete ja dem eigenen schwermütigen Klang verklärender Laut, und voll Wechselwirkung tönte des Lebens nun zweistimmig gewordenes Lied.

Führte er sie die tiefdringenden Wege des Denkens, die er bisher allein gewandelt, so lernte er dafür die sichtbare Welt mit ihren Augen sehen. Und nicht 66 nur sie sehen, sondern wirklich erleben. Es ging ja von seiner Gefährtin eine so tätige Herzenswärme aus, daß sie auch ihn zu ergreifen begann. Mitleid hatte er ja immer schon für alle Geschöpfe empfunden, aber etwas theoretisch Fernes hatte ihm der Begriff bedeutet. Nur ein Erkennen der Qual, die der Lebenswille in jeder seiner Verkörperungen von neuem schaffen mußte. Alles wirkliche Helfenwollen schien demgegenüber ein aussichtsloses Beginnen, denn es handelte sich ja nicht um einzelne Unglücksfälle, sondern das Dasein selbst war das Verhängnis. Wozu also in zermürbender Selbstpeinigung sich immer von neuem mit eigenen Augen von all dem Leiden überzeugen wollen? Es zog ja nur ab von erlösender Versenkung, heftete gar wieder auf das Rad des Geschehens. – Jetzt aber sah er eine andere Art der Mildtätigkeit, als er sie in anonymer Zurückhaltung bisher geübt. Die Frau spendete nicht nur Almosen, sie setzte sich selbst ein, wo ihr ein Stück des großen Weltenleids begegnete; und sie schien durch dieses Geben aus Liebesfülle nicht nur den von 67 Schmerz Betroffenen wohlzutun, sondern selbst eine seltsame Seligkeit zu empfinden. Bei aller Teilnahme bewahrte sie doch eine ruhige, stärkende Heiterkeit.

Sie scheute sich auch nicht, ihres Mannes bisherigen Anschauungen entgegenzutreten und die ihren zu verteidigen: »Wenn uns etwas für andere zu tun aussichtslos erscheint,« sagte sie, »ist es nicht vielleicht ängstliche Bequemlichkeit und daß wir sie nicht genügend lieben? Gerade wir beide aber können anderen, Ärmeren, aus unserm großen Herzensreichtum ja nie genug abgeben.«

Und als er sie darauf überzeugen wollte, daß unüberwindliches Gesetz die Menschheit zu grausam sinnlosem Leiden verurteile, antwortete sie mit dem Schwunge vollster Überzeugung: »Aber das wird sich im Lauf der Zeiten durch Fortschritt unserer selbst doch wandeln! – Und wieviel ließe sich nicht schon heute bessern, wenn nur ein jeder jeden anderen wirklich so liebte wie sich selbst. Da wären alle dem Glücke schon um vieles näher, denn sich selbst tut doch keiner absichtlich etwas zuleide.« 68 Sie hatte eine Reihe schlichter Schützlinge, deren kärgliche Existenzen sie miterlebte und die sie stets bestrebt war, in freundlichere Bahnen zu leiten. Es konnte nicht ausbleiben, daß sie an manchen von ihnen Enttäuschungen erlebte, und der Mann wies sie gelegentlich auf solchen Unwert hin. Aber sie antwortete: »Gerade ihr Schlechtsein ist ja schon eine Schuld, an der wir mittragen, denn hätten sie früher mehr Liebe gefunden, wer weiß, ob sie nicht besser geworden wären.«

»Möglich,« sagte er, »aber sie sind doch nun einmal schlecht, tückisch und des Grolles der Minderwertigen voll, wie kannst du sie da lieben?«

»Ich liebe sie ja nicht, weil, sondern obgleich sie so sind«, erwiderte die Frau. »In ihnen allen steckt doch sicher auch noch Wertvolles, und dem möchte ich zur Entfaltung helfen. Gotteskinder sind doch auch solche Seelen.«

Er begriff, daß solch Fühlen ein wesentlicher Teil ihrer selbst war und Anspruch auf Geltenlassen hatte. 69 Aber er sorgte sich um sie bei solchen Berührungen mit den Elenden der Erde.

Besondere Lieblinge hatte die Barmherzige unter den ihrer Bedürfenden. Da war vor allem ein junges, alleinstehendes Mädchen, das, mit verkrüppelten Füßen zur Welt gekommen, nur mühsam humpeln konnte. Heimarbeit hatte sie der Armen verschafft und diese überall empfohlen, so daß sie sich nun ihr Leben verdienen konnte. – Und ein seltsames Heim war es, in dem das Mädchen arbeitete: ein Stübchen in einem hohen, altersschwarzen Hause, das aber an der schönsten Stelle der Strandpromenade stand. In spitzem Winkel vorspringend, verschärfte es noch die Plötzlichkeit der Biegung, die die Straße hier beschrieb. Als ein Rest aus alten Tagen, da es hier nur armselige Fischerdörfer und noch keine Prachtbauten gegeben, erhob es sich in frechem Schmutze zwischen den wohlgepflegten Villen ringsum. Und dem rissig verfallenden Hause gegenüber, da, wo auf der anderen Seite der Straße rötliche Felsmassen einen weit ins Meer ragenden Vorsprung bildeten, reckten aus dem 70 zerklüfteten Gestein Gruppen alter, verwitterter Strandkiefern ihre abschilbernden Stämme, ihre weit über das Wasser hängenden verschnörkelten Äste. Auch sie Überbleibsel früherer Zeiten, da die jetzige Pflanzenpracht noch unbekannt an dieser Küste gewesen. Während aber die alten Stämme ob ihres malerischen Reizes geschätzt und wohl gehütet wurden, hätte die Ortsbehörde das alte Haus gern gekauft und abgerissen. Doch der Besitzer, ein verbittert mürrischer Kauz, wehrte sich eigensinnig dagegen, fand ein hämisches Vergnügen darin, den vornehmen Nachbarn zum Trotz, sein Bauwerk zu erhalten und die einzelnen Quartiere an möglichst schäbige Mieter zu vergeben.

Zu dieser verkrüppelten Arbeiterin wurde die Sängerin eines Nachmittags durch eine Stubennachbarin gerufen: Eine Rauferei habe in dem Hause stattgefunden, und das Mädchen, das auf den humpelnden Füßen den Streitenden nicht rasch genug auszuweichen vermocht, sei versehentlich mit einem Dolche schwer an der Hand verletzt worden.

Eilend hatte sich die Sängerin auf den Weg 71 gemacht. Mit Selbstüberwindung war ihr der Mann dann gefolgt. Er hatte eine Scheu vor solchen Anblicken, hätte auch die Frau am liebsten davor behütet, in einer dunklen Ahnung, es könne ihr daraus noch Schlimmes erwachsen. Unschlüssig blieb er vor dem düstern Hause stehen, das sich so unheilvoll dräuend zwischen den blumenprächtigen Villengärten vorschob. Er zögerte einzutreten. – Aber was er dann in dem ärmlichen Stübchen der Arbeiterin fand, war ein völlig unerwartetes Bild, dessen rührender Reiz ihn lange noch begleitete. Mit halb geschlossenen Augen lag das verwundete Mädchen da, ein seltsam verzücktes Lächeln auf den Lippen, und seine Frau saß am Bette, hielt der Kranken verbundene Hand und sang mit leiser, einwiegender Stimme ihre allersüßesten Lieder. Diese Stimme, die die Sängerin einst ein Geschenk des Himmels genannt hatte, verschenkte sich hier selbst weiter als Klang gewordene erbarmende Liebe. Und ihre Töne umspannen die Leidende wie mit einem feinen silbernen Netz, sonderten sie ab von der schmerzvollen Wirklichkeit, lullten sie ein, als breite sich eine 72 weiche, wärmende Hülle um frostzitternde Glieder. – Eine Vision der durch die Musik Leid und Tod überwindenden Liebe, so schien es dem Gelehrten.

Nachdem die beiden dann später die Kranke zusammen verlassen hatten, blieben sie auf der anderen Seite des Weges stehen und schauten hinaus auf den weit vorgelagerten Felsenvorsprung, wo der Strandkiefern alte Stämme rötlich im Abendsonnenschein glommen. Und der Mann, noch ganz ergriffen, fragte: »Wie kamst du nur darauf, dort zu singen?«

Die Künstlerin antwortete: »Als ich ankam und etwas mit der Armen sprach, sagte sie, meine Stimme sei ihr so angenehm: da dachte ich, vielleicht tut es ihr wohl, wenn ich sie in den Schlaf singe.«

Da sagte der Mann nachdenklich: »Verwundete haben mir erzählt, daß, als sie das Bewußtsein verloren, von allen Sinnen das Gehör am längsten wach geblieben sei. – Es müßte schön sein, zum großen Schlummer einzugehen, mit deiner Stimme als letztem Klang im Ohre.«

Es war der Frau, als glitte eine Wolke über die 73 Lichtfülle des südlichen Tages. Unwillkürlich zog sie bei den Worten den Arm des Mannes, auf dem ihre Hand ruhte, fester an sich.

Aber der Schatten, den sie zu fühlen geglaubt, hatte kaum Zeit, ein Eindruck zu werden, denn im selben Augenblick begegneten ihnen Bekannte auf dem belebten Weg am Meeresstrand und hielten sie an. Sie kamen gerade vom Hause der Sängerin, wo sie diese vergeblich gesucht, und waren nun froh, sie zu treffen. Denn zum Besten einer überschwemmten Gegend war eine Wohltätigkeitsaufführung geplant, und sie wollten sich die Mitwirkung der Künstlerin sichern.

Es war das erstemal seit ihrer Verheiratung, daß sich solch Ansinnen an sie richtete, und sie hätte es gern noch verschoben, das frühere Leben wieder aufzunehmen, aber es war ein Zweck, dem sie sich, ihrem ganzen Wesen nach, nicht entziehen konnte. Hilfsbereitschaft war ihr innerstes Gebot.

Andere Bitten, andere Gelegenheiten folgten bald. Denn sie war eben eine jener, auf die Anspruch zu 74 haben die Welt sich gewöhnt hatte. All das führte mit mancherlei Menschen zusammen. – Dem Manne, der bis dahin so abgeschlossen gelebt hatte, war dies Treiben fremd, aber er ertappte sich bald auf ihn selbst überraschenden, warmen Gefühlen für diese Leute, weil sie alle ja offenbar so überzeugte Freunde und Bewunderer seiner Frau waren. Er gelangte auf diesem Umweg zu einer Gemeinsamkeit mit anderen.

Hatten sie jedoch einmal besonders zahlreiche Besucher empfangen, so sagte sicher einer von beiden nachher mit erleichtertem Aufatmen: »Nun wollen wir uns aber mal belohnen!«

Dann schritten sie zusammen aus der kühl dämmernden Halle, wo der Flügel stand, hinaus in den Garten. Und sie gingen unter den gefiederten Mimosenbäumen, von denen die in Träubchen hängenden rundlichen Blüten wie ein Regen gelb schimmernder Flöckchen über sie niederrieselten. Als streuten unsichtbare Hände Gold auf sie herab. Und wie es aus der lichten Höhe floß, so trieb es aus der Erdentiefe allerwärts in goldener Üppigkeit zu ihnen empor. 75 Dicht gedrängt bedeckten der Ranunkeln samtene Kittelchen den Boden, vom schärfsten Chrom und Kadmium bis zum tiefsten Sienna getönt. Arum mit grellgelben Blütenkolben stand da, heiß wie im Fieber. Leuchtende Ixien, gelbe Freesien, goldene Tazetten vor hohen Dickichten schwer duftender ockriger Azaleen. Zitronenfarbige, orangegefleckte Falter umschwirrten in Schwärmen all die lichtstrahlenden Blumen, füllten die ganze Luft mit dem Tupfenspiel ihrer glänzenden Flügel. Wie eine Fanfare von Goldgelb war dieser Teil des Gartens, als habe er die Farbe der Sonne aufgefangen und schmettere sie ihr nun jauchzend zurück. – Unwillkürlich mußten die Augen sich schließen, geblendet von solcher Überfülle goldenen Flimmerns – wie vor Höhepunkten der Wonne, die offenen Auges nicht zu ertragen.

Nach einigen Schritten aber des blinzelnden Weitergehens lag vor beiden selig Wandelnden dann plötzlich ein weites Beet schwarzer Iris. Wie lange Reihen von Frauen in Trauerschleiern standen die seltsamen Blumen auf ihren hohen Stengeln. Und 76 nach all dem jubelnden, freudigen Gelb war es jedesmal dasselbe unheimliche Gefühl, diese düsteren schattenhaften Blüten zu erblicken, wie, wenn mitten im Taumel frohen Festes ein Wort fällt, das den schimmernden Wahnschleier zerreißt, und es ist, als fühlten die eben noch Berauschten das leise Streifen einer unsichtbaren Hand: Vergeßt nicht, ich bin doch da.

Die Künstlerin hatte ihren Garten stets geliebt und eine begeisterte, aber nachdenkenslose Freude an Formen, Farben und Duft der Blumen empfunden. Der Gelehrte fühlte das alles in seiner stilleren Art wohl ebenso, aber er besaß außerdem unendlich viel tatsächliche Kenntnisse über die Erscheinungen der Natur. Er erzählte ihr, von wo die Pflanzen stammten, die sie liebte, von Sagen und Aberglauben, die sich an sie knüpften. Er zeigte ihr die seltsam nahen Beziehungen zwischen Blumen und Insekten, diesen unbewußten Mittlern der Befruchtung. Und das physische Gebiet verlassend, sprach er von den Theorien mancher Forscher über die Art der Seele, die vielleicht in den Pflanzen wohne. Und dieser Gedanke war der Frau 77 lieb, erklärte ihr die Wesensverwandtschaft mit manchen Blumen, die sie stets empfunden. Beugte sie sich dann über eine Blüte, deren Eigenart er ihr eben gedeutet, so dünkte es auch ihn, als neige sich Schwester zu Schwester.

Und noch andere Verwandte besaß die Sängerin in ihrem Garten: das waren die vielen Nachtigallen. die sich Nester gebaut hatten aus den Fäden der Pritschardiapalmen, so zart, daß man nicht wußte, waren die Insassen, war die Behausung vergänglicher, und die des Daseins Freud und Liebe, unbekümmert um seine Kürze, doch in schmelzend süßen Liedern priesen.

Ja, viel zu kurz waren die Tage, viel zu rasch verrannen die Stunden. Aber mit einer in der Jugend seltenen Weisheit ließ die Frau sie nicht in sorgloser Verschwendung vorbeigleiten. Perlen waren ja diese Stunden! Und sie begann bald, sie in ihrem Gedächtnis aneinanderzureihen zu einer schimmernden Kette, auf daß ihr Glanz noch spätere Jahre bestrahle. Jetzt, wo doch alles erst Erleben war, freute sie sich schon darauf, sich dereinst mit ihm zu erinnern. Ein kleines 78 Tagebuch führte sie, schrieb getreulich die Begebenheiten dieser seligen Zeit auf, welch besonders liebe Worte er ihr gesagt, und an welchen Orten sie ihr Glück am stärksten empfunden. »Wenn wir zusammen alt geworden sein werden,« sagte sie, »wollen wir darin blättern und alles von neuem erleben.« – Er aber dachte: »Wann ist man eigentlich alt? Ich glaubte es längst schon zu sein, aber mir ist doch bisweilen, als würde ich jetzt erst jung.« Und er täuschte sich nicht, denn früheres absonderungssüchtiges Wesen war mehr und mehr von ihm abgeglitten, und er hatte tatsächlich, ohne es vielleicht selbst ganz zu wissen, ein völlig neues und darum noch junges Leben begonnen.

So knüpften sich Zeiten an Zeiten gleich Maschen schimmernden Gewebes. Manche erstrahlend in höchstem Sonnenglanz, andere getaucht in des Mondes schmeichelndes Licht. Und die beiden, die daran woben, hätten oft kaum zu sagen vermocht, waren es Wochen, waren es Jahre, die so verrannen. Denn bei allem tatenfrohen Schaffen, beim stärksten Empfinden greifbarer, beseligender Wirklichkeit war da 79 doch immer zugleich ein traumhaftes Gleiten. Wie wenn sie in der blühenden südlichen Heide ruhten, zwischen würzigen Kräutern, Zistrosen und Polstern wilder Myrte, und hoch droben die weißen Wölkchen in blauender Unendlichkeit zogen. Ein sanftes Wiegen des Lebensnachens. Wie wenn sie aus treibendem Kahne hinabschauten in die Tiefen des opalenen Meeres, und drunten zwischen rosenroten Algengespinsten der Medusen blaßlila Glocken vorüberschwammen.

In dieses Leben, das ein Träumen war und wo zugleich der Traum lebendigstes Leben geworden, trat als Gast der befreundete Arzt, den die beiden, seit sie sich gefunden, nicht wiedergesehen hatten. Mit einer erwartungsvollen Spannung kam er. Experimenthaft war ihm ja, gleich so manchen anderen, dieser rasch geschlossene Bund erschienen. Wie die noch unerprobte Mischung zweier an sich guten Tinkturen.

Und die beiden zeigten ihm ihr Reich, ließen ihn blicken in ihr Leben.

Sie führten ihn auf schönen Wegen und noch schöneren Weglosigkeiten durch das südliche Land. 80 Aber immer war da die Bläue des Meeres und der Duft zahlloser Pflanzen. Sie schritten durch blumenerfüllte Gärten und durch einsame Schluchten, an leis gleitenden Bächen entlang, die Oleanderbüsche säumten. Zu hochragenden, weit ausblickenden Wachttürmen aus fernen Sarazenenzeiten stiegen sie empor und klommen auf schwer zugänglichen Felsenpfaden zu uralten Dörfern, festungähnlich und wie mit dem Gestein verwachsen. Hinab auch in weithin leuchtende Felder, wo emsige Menschen Millionen von Blumen pflückten, die alle zu Wohlgerüchen verarbeitet wurden. Und dann hinein in die stillen Haine immergrüner Eichen. Dunkler Efeu umklammerte ihre Stämme, wilde Klematis umspannen verwebend ihre Kronen mit langen Ranken. Und der Forscher mußte sich da stets erinnern, wie er seiner Frau Stimme zum erstenmal gehört und dabei an Waldwesen gedacht hatte, die hoch oben zwischen Lianen schwindelfrei schaukeln.

Manchmal auch rasteten sie unter den letzten Riesen einer früheren Pineta. Harzig quoll es in der 81 würzigen Wärme aus den uralten Stämmen. Vor den Ruhenden, in der Sonne flimmernd, lag weites Heideland. Große violette Flecken bildete darauf Lawendel, und in langen weißen Rispen blühten Asphodele auf hohen Stengeln. In frohem Grün glänzten der Pistazien Blätter, dunkler polsterte den Boden der wilden Myrte Laub. Erika mischte den Bittermandelatem ihrer Myriaden weißer Glöckchen dem Duft von Thymian und Rosmarin. Einzeln standen Orchideen mit Spinnen oder Bienen gleichenden Gesichtern. Und in der Luft war ein einschläferndes Surren von vielen Insekten, ein blendendes Tupfenspiel grell aufleuchtender Falterflügel.

Hatten sie so, ins Helle blinzelnd, geruht, so sammelten sie der Pinien rundliche Zapfen und trugen sie heim.

Allabendlich entfachten sie, voll nordischer Freude am Herdesschein, ein Feuer im breiten Kamin der großen Halle. Drin knackten dann die Pinienzapfen. Und die drei saßen im Halbdunkel herum, sprachen zusammen in leise hingeworfenen Sätzen. Gedanken 82 blinkten auf, wie vor ihnen in den Kohlen ab und an ein helleuchtender Punkt, einem winzigen Sternchen gleich, blitzte und versank.

Doch auch schweigsam hindämmernd konnten sie verweilen. Kannten sich gut genug. In solchem Schweigen erhob sich dann bisweilen die Frau. Lautlos, mit weißem, schleppendem Gewande glitt sie an den offenstehenden Flügel, und durch den dämmernden Raum zog ihrer Stimme süßer Klang. Draußen in der lauen Nacht lag der Garten wie silbernes Traumland. Des Mondes Strahlen flossen zwischen den Zweigen der Bäume, über die schlafenden Blumengesichter und durch die offene Tür bis hinein in die Halle, bleich und fremd gegen das verglimmende Rot im Kamin. Sie umwoben die weiße Gestalt, daß sie war wie eine übernatürliche Erscheinung in dem bläulichen Lichte. Übernatürlich auch ihr Singen. Als schwebe die Stimme empor an des Mondes Strahlen, hoch, hoch hinauf, weit, weit fort. Nicht Worte menschlicher Sprache mehr formend. Reinster Ton nur. 83

Und der Forscher sagte zu dem Freunde: »Wenn sie so singt, ist mir, als vernähme ich eine okkulte Sprache, und als lauschten ihr von irgendwo unsichtbare Adepten.«

Der Arzt nickte und antwortete: »Vielleicht ist Musik das eine, womit wir die Wesen höherer Welten bisweilen zu erreichen vermögen. Wir kennen ja nur die eigenen, meist stumpfen Wahrnehmungsfähigkeiten, aber es mag wohl sein, daß feiner Geartete etwas von uns Kommendes bemerken, ohne daß wir es wissen.«

Zu all ihren liebsten Plätzen führten die beiden den Gast. – Auch hinaus auf die weit vorragenden roten Felsen, wo sie jäh abstürzten in die saphirene Flut, ausgehöhlt durch des Meeres stete Urbewegung. Dort standen die drei unter den alten Strandkiefern, die mit bizarren Ästen sich weit vorbeugten über die blaue Tiefe. Möwen flatterten mit breitem Schlag der weißen Schwingen, wiegten sich auf der Stelle, stießen pfeilschnell nieder, schnappten Beute aus den Wellen. Plötzlich hoben sich dann auch wohl seltsame 84 Kobolde aus dem Wasser, schnellten in die Höhe, schienen sich in der Luft zu kugeln, schossen wieder hinunter in die Tiefe – doch bald tauchten sie wieder auf, weiter draußen jetzt, in der Ferne, eine ganze Herde spielender Delphine.

Auch zu manchen ihrer Schützlinge brachte die Sängerin den Arzt. Vor allem zu der verunglückten, noch immer kränkelnden Arbeiterin, an deren Lager sie einst gesungen hatte. Sie hoffte, daß er doch noch Mittel der Herstellung wissen würde. – Von den ins Meer hineinragenden Felsen schritt sie mit ihm, durch das Gewühl rasch rollender Gefährte, hinüber zur anderen Seite der Straße. Und sie betraten das verwahrloste Haus, das, in böser Ecke vorspringend, die plötzliche Biegung des Weges noch verschärfte. – Aber auch der Freund konnte nur Linderndes verschreiben und im übrigen bestätigen, was andere vor ihm gesagt, daß des Mädchens Hand dauernd arbeitsunfähig bleiben werde.

Als sie heimkehrend dem Forscher dies Ergebnis mitteilten, sagte er: »Das ist also wieder mal ein 85 Fall, wo der Tod eine Barmherzigkeit gewesen wäre.«

Aber die Frau sah ihn verständnislos an. Leben erschien ihrer unbefangenen Ursprünglichkeit als das eine Gut, das alle anderen in sich schloß und das es zu erhalten galt. Es auch nur mit Worten anzutasten, dünkte sie Frevel, und sie sagte betreten: »Oh, wie kannst du so reden! Wer folgerichtig so dächte, müßte ja dazu kommen, dem Tod nicht immer kämpfend entgegenzutreten, sondern ihn bisweilen, dem eigenen kleinen Ermessen nach, ungehindert gewähren zu lassen!« – Und sie wandte sich hilfesuchend an den Arzt: »Sagen Sie es ihm doch, wie entsetzlich das wäre, denn wie wenig weiß doch in Wirklichkeit auch die größte Weisheit, während das Leben immer noch ungeahnte Möglichkeiten und Auswege kennt.«

Der Gast lächelte über ihren Eifer. »Wir Ärzte«, antwortete er, »sind ja berufsmäßige Streiter auf seiten des Lebens, auch da, wo wir aus Erbarmen des Todes Werk vielleicht nicht aufhalten möchten.«

Und der Forscher fiel ein: »Was ich sagte, war 86 wohl nur Theorie. In Wirklichkeit würde doch jeder zuspringen und retten wollen, ohne zu wägen.«

Die Frau war durch diese Worte schon wieder in ihre natürliche, sonnige Fröhlichkeit versetzt, und sie sagte mit stolzem Vertrauen: »Oh, von dir weiß ich das ja ganz genau. Du würdest, trotz deines vielen Grübelns über Unwert und Zwecklosigkeit aller Dinge, dich im entscheidenden Augenblick doch immer ohne alles Bedenken einsetzen.«

Des Morgens liebte es die Sängerin, leise summend durch das Haus zu schreiten und in allen Räumen die vielen Sträuße zu ordnen. Mit sicherem Blick wählte sie Blattwerk und Blüten, die zueinander stimmten. Aber sorglich prüfte sie auch, welche Blumen des vorherigen Tages noch verwendbar seien und ließ sich nie durch des Gartens sprießende Fülle verleiten, brauchbare der neueren halber zu verwerfen. Denn es lag in ihrem Wesen neben freigebigst breiter Künstlerschaft ein dem Vergeuden abholder Zug, eine bejahende Liebe zum Vorhandenen, die nichts verlorengehen lassen wollte. Und vielleicht trug dies 87 bei zu dem Gefühl von Behagen und sicherer Geborgenheit, das sie um sich verbreitete.

Während die Frau derart in Anmut waltete, saßen die beiden Männer in des Hausherrn Arbeitszimmer, und bisweilen drangen zu ihnen einige leise Töne des Gesanges, womit jene ihr Tun begleitete. – Da sagte einmal der Gast, wie sehr es ihn freue, mit eigenen Augen zu gewahren, daß das, was von dem Freund und der Freundin einst so rasch beschlossen worden, sich so wohlgestaltet habe.

»Ja,« antwortete der Forscher, »mir ist wirklich manchmal, als seien wir beide dem Schicksal entronnen. Aber dann beschleicht mich doch auch wieder eine Bangigkeit: Kann es denn möglich sein, dem Gesetz des Leidens dauernd zu entgehen?«

»Das glaub' ich nicht,« erwiderte der Arzt, »und zwar, weil Leiden auf unserer jetzigen Entwicklungsstufe offenbar noch etwas Notwendiges ist – und daher im höchsten Sinne kein Übel.«

»Aber«, entgegnete der Hausherr, »wie reimt sich das mit deiner eigenen Tätigkeit? Gerade du hast 88 doch Jahre mit der Vervollkommnung schmerzbetäubender Mittel verbracht!«

»Meine persönliche Veranlagung, der ich folgen mußte, wies mich zu dieser Aufgabe,« antwortete der Arzt, »aber letzten Endes erreichte ich, wie all meine Vorgänger in diesem Fach, doch immer nur eine momentane Kräfteersparnis der Patienten, die sie im weiteren Leben vermutlich werden einsetzen müssen, um neue Leiden auszuhalten – auf Gebieten, wo unsere Mittel nichts vermögen.«

»Grauenhaft!« rief der Forscher. »Und damit gibst du ja die verzweifeltsten Behauptungen zu.«

»Das Denken führt wohl immer zuerst zur Verzweiflung, und jeder Wertvolle muß sie einmal erlebt haben,« sagte der Gast, »aber sie darf nicht unfruchtbar bleiben. Es muß dann der Augenblick der Gnade und Erleuchtung kommen, der die Gabe der Gestaltung gewährt und so erlöst.«

»Mir scheint, der folgerichtige Schluß müßte doch eher sein, daß nur im Streben nach Nichtmehrsein Rettung liegen kann.« 89

»Nein,« entgegnete der Gast, »dies Streben zur Richtschnur des Lebens machen zu wollen – etwa durch Befolgung eines der von dir studierten Systeme –, erschiene mir falsch, weil eben unfruchtbar. Und eigentlich auch ein bißchen kläglich. Ich meine: nicht in Verlöschung, sondern einzig in möglichster Vollendung unserer Persönlichkeit sollen wir unser Ziel sehen. Gerade im Bemühen darum – wenngleich der Weg über den Schmerz führt – liegt ja auch dasjenige Maß an Befriedigung, was dieser Ebene entspricht. Wir müssen nur zur Einsicht gelangen, daß das Leiden dabei nie zwecklos sein kann, sondern wahrscheinlich unsere eigentliche Lebensarbeit bildet. Jeder Schmerz will ja etwas von dem, den er trifft. Wir sollen ihn aufnehmen, ihm lauschen und seine Botschaft ausführen. Dann haben wir ihn überwunden. Und damit ist wohl sein und unser Zweck erfüllt.«

»Mag sein,« sagte der Forscher, »und für uns selbst läßt das Heroische sich ja stets akzeptieren. Aber für eine andere? – Da täte es doch zu unerträglich weh.« – Und dann setzte er unvermittelt hinzu, als suche er 90 Beruhigung für eine große Bangigkeit: »Aber jetzt, nicht wahr, jetzt wenigstens ist sie doch wirklich glücklich? – Mir scheint oft, es steht ihr auf der Stirn.«

»Es steht ihr nicht nur auf der Stirn,« bekräftigte lächelnd der Freund, »sondern es leuchtet in ihren Augen, klingt aus ihrer Stimme und spricht aus jeder ihrer Bewegungen. Und damit bestätigt sie meine Auffassung. Denn sie ist so, weil sie durch dich das gefunden hat, was mir ja gerade als das uns hier mögliche Maß an Glück erscheint: Entfaltung innerster Eigenart.«

»Und die wäre bei ihr?«

»Künderin aussöhnender Harmonie zu sein. Drum hat sie auch recht, wenn sie dich bisweilen im Scherz ihr vollkommenes Glück nennt, denn gerade du in deiner schwermütig grübelnden Eigenart bietest ihr den Anlaß zur Erfüllung ihrer Mission: die Kunst der Auflösung schmerzlicher Septimen in wohllautende Akkorde zu lehren. – Und«, fügte er leise lächelnd hinzu, »mir scheint, es ist ihr das schon recht gelungen.« 91

Der Forscher nickte. »Damit hast du recht. Sie hat mich tatsächlich schon in manchem gewandelt, so daß mir manchmal beinah scheint, als sei ich vielleicht gar kein echter Pessimist mehr.«

Der Arzt fiel lachend ein: »Nein, auf den Namen hast du keinen Anspruch mehr und eigentlich seit dem Abend nicht, wo du deine Frau zum erstenmal sahst. In der Art, wie du damals dem Interesse an ihr nachgabst, hast du dich da schon praktisch von dieser Lehre abgewandt – ohne es vielleicht selbst zu wissen. Und dann später, als ihr beide beim Klang der alten Orgel aus unserer heimatlichen Kirche tratet und hierher an diese sonnige Küste fuhrt – das war erst recht nicht die Tat eines überzeugten Pessimisten.«

»Ich habe doch mehr, als du denkst, gerungen und mir vorgehalten, ob das Schicksal mich nicht vielleicht gerade dazu benutzen wolle, ihr Leiden zu bringen, das ihr bisher fremd geblieben. Du kannst mir glauben . . . ich hab' ehrlich versucht abzustehen . . . aber . . . ich konnte einfach nicht.« 92

»Gottlob!« sagte lachend der Arzt. »Und du brauchst dich auch gar nicht vor mir zu entschuldigen, daß einmal etwas stärker war als du und deine Theorien, so daß du vor dem Leben nicht fliehen konntest. Es zu bewältigen, ist ja doch die Aufgabe von uns Westländern. Wir sind nun einmal nicht tatenlose Grübler des fernen Ostens. – Und mir scheint, seitdem du dein Leben wirklich lebst, dünkt es dich so schön, daß es kaum zu vervollkommnen wäre.«

Der Mann sagte halb verlegen: »Sie hat eben einen so ansteckenden Glauben nicht nur an ein Recht auf Glück, sondern beinah an die Pflicht des Glücklichseins. Hätt' ich früher solche Lebensauffassung gehört – ich glaube, ich wäre vor dem Unverstand erschrocken, aber ich sehe ja stündlich, wie beflügelnd sie in ihr wirkt.«

»Es geht eben von deiner Frau der überzeugende Zauber derer aus, die mit dem Begriff des Glücklichseins nicht materiell selbstische Vorstellungen verbinden, sondern in ihm ein Übereinstimmen mit höchster Weltordnung durch Wesensvollendung sehen, denen 93 daher seine Verwirklichung gerade als ihr bestes vorschwebt, als Erfüllung heiligsten Gebots.«

»Aber woher soll ihnen dies Gebot kommen?«

»Vielleicht aus fernen Welten, nach denen sie sich heimwehvoll sehnen. Heimwehmenschen möchte ich sie drum nennen. In so gearteten Wesen muß wohl ein dunkles Bewußtsein der Urkraft wohnen, die niederströmte, um sich auch in ihnen zeitweilig zu verkörpern, und sie streben nun nach Verwirklichung ihrer Bestimmung durch eigene Rückkehr und Rückführung anderer auf die höhere Ebene, die vergessene Heimat, aus der jene Kraft sich einst in sie ergoß. Sie ahnen ein Reich, wo reine Güte und daher Glück herrschen, und möchten dessen Seligkeiten schon auf Erden herstellen – nicht nur für sich, sondern für jeden – durch die Macht allumfassender, glückschaffender Liebe.«

»Ja,« sagte der Forscher, »die Heimwehstimmung, die Rückkehrsehnsucht verstehe ich wohl, denn auch mir liegt das Eigentliche hinter allem, was wir hier als Sein kennen. Aber unsere Welt so gestalten wollen, 94 wie es doch nur in der Nichtwelt, im Anderswo sein kann – welche Verblendung, welch Traum!«

»Und wenn schon Traum«, entgegnete der Freund. »Jeder, der des Lebens Traum um etwas schöner zu träumen vermag als die vor ihm, ist ein Förderer. Sein Traumvorbild wird nachgeträumt werden und . . . schließlich überholt. Überträumer! – Sind nicht alle Erlöser das gewesen?« –

So zogen die Tage vorüber. Des Arztes Ferien näherten sich ihrem Ende. An Rückkehr mußte er denken. Tag und Stunde der Abreise waren festgesetzt. Die Freunde wollten ihm das Geleit bis zum Bahnhof geben.

Sie hatten noch zuletzt zusammen in der großen Halle des weißen Hauses gesessen, und es war dem Scheidenden, als ob sich das wohlige Behagen der verflossenen Wochen, das süß träumende und beinah etwas wehe Miterleben fremder Seligkeiten in diese letzte Stunde noch einmal zusammendränge. »Es fällt schwer, sich von euch und eurer Welt des Glücks 95 zu trennen«, sagte er, als sie dann aufbrachen und auf der Türschwelle standen.

»Nun, hoffentlich trittst du recht bald hier wieder bei uns ein«, antwortete der Hausherr.

»Ja, tun Sie das, Sie lieber Zuschauer«, bekräftigte herzlich die Frau. Und lächelnd zu ihrem Manne aufblickend, setzte sie hinzu: »Das Schauspiel des Glücks werden Sie hier immer finden – es ist ja kein vergängliches.«

So schritten sie hinaus in den Teerosenduft des nachmittäglichen Gartens. – Altersgeschwärzte Stufen stiegen sie dann empor, schlugen oben den Weg ein längs dem hochgelegenen Kirchhof. Heiß strahlte die Sonne auf sein graues Umfassungsgemäuer. Aus den Fugen sproßten kleine grüne Farrenschleier, Thymian und Büschel wilder violetter Levkoien. Ein uralter Feigenbaum drängte mit pythonhaften Wurzeln die Quadern auseinander, reckte verschnörkelte Äste weit über die Brüstung. Großblättrige Wigandien beugten sich nieder, ließen ihre Blüten herabregnen, daß der Boden zu veilchenfarbenem Teppich wurde. 96 Wabernd rote, gleißend gelbe Schlinggewächse lohten an dunkeln Zypressen empor, quollen über in blendenden Kaskaden, rieselten bis hinab zur Straße. – Als habe sich all der dort oben gefangenliegende Tod zu jauchzendem Lebenswillen gewandelt.

Und wie im Garten der Gestorbenen, so blühte es um die Häuser der Lebenden. Mit magischem Violett überzogen Bougainvilliers ganze Wände, rosa umhüllten Pelargonien die Säulen der Veranden, Banksien behingen mit weiß und gelben Blütenzöpfen Geländer und Terrassen, wuchernde Rosen spannten purpurne Bögen. Überall Flimmern metallisch glänzender Blätter, Leuchten smaragdener Tiefen, Aufsprühen blendender Blütengarben, Zerstäuben im Licht. Überall auch betäubendes Duften von blühenden Orangenbäumen und schlanken Tuberosen, von hochwachsendem Heliotrop, blütenbesäten Diosmabüschen und Pittosporumdickichten.

Dann von aller Pracht der Erde hinab an den Strand zu den Wundern der See. 97

Aus opalisierenden Unendlichkeiten in steter Urbewegung heranwogend, schimmerte das Meer in der Ferne wie der Schmelz alter venezianischer Spiegel. Leuchtete vom rosa Schein, den die mählich sinkende Sonne auf die langgedehnte Gebirgskette warf. Schwoll heran, aufblauend zu ultramarinen Durchsichtigkeiten, überglitten von opaken Türkisstreifen. Vertiefte sich endlich zu saphirnen Abgründen da, wo die roten Felsen der Küste steil abstürzten. Und aus diesem zerklüfteten Gestein, das jetzt, von der Sonne getroffen, wie Topas und Granate glühte, ragten die alten Strandkiefern empor, reckten die ringelnden Äste weit über das Meer. Spähten hinab in die Geheimnisse seiner bunten Algengründe. Lauschten seinem leisen Wellengesang.

Fußgänger und Spazierfahrer hatte der goldene Nachmittag an diesen schönsten Punkt der Strandpromenade geführt. Reihen von Wagen rollten um die scharfe Biegung der Straße da, wo das Haus der Arbeiterin bös und trotzig vorsprang. Gruppen genießender Menschen schlenderten auf dem Fußsteig 98 einher, bestiegen auf schmalem Pfade die weit ins Meer vorgelagerten Felsen.

Die drei Wandernden blieben stehen, und der Arzt, der auf die Uhr geschaut, sagte: »Es ist noch viel Zeit bis zum Abgang meines Zuges, wir könnten noch etwas dort hinaus auf die Felsen.« – Schon hatte er den steilen Pfad betreten und reichte der nach ihm schreitenden Frau die Hand zum Aufstieg auf dem glatten Gestein.

Der Forscher wollte ihnen eben folgen, da zwang ihn etwas, daß er den Kopf wenden und noch einmal zurückblicken mußte. Und er sah, wie an dem Haus auf der anderen Seite der Straße die Tür sich eben öffnete und die Arbeiterin heraustrat. Mit der gesunden Hand einen großen Strauß gegen sich pressend, nickte sie ihm freudig zu, und er begriff, daß sie hier wartend gestanden, um dem scheidenden Arzt, der ja auf diesem Wege zum Bahnhof vorbeikommen mußte, die Blumen als Abschiedsgabe zu reichen. Eine Pause im Vorbeirollen der Fuhrwerke wartete die Verkrüppelte ab, dann begann sie, immer noch freudig lächelnd, 99 zu humpeln, um den Fahrdamm zu durchqueren. – Aber im selben Augenblick sauste in rasender Fahrt ein Wagen um die Ecke. Mit ihren ungelenken Gliedern war kein Entkommen möglich. Ein Grauen verzerrte die eben noch fröhlichen Züge. Ein angstvoll gellender Schrei tönte. – Doch von der Seeseite der Straße hatte der Forscher die Gefahr erkannt. Einen Blick noch warf er hinauf zum Felsen, wo seine Frau bei dem durchdringenden Schrei sich umgewandt hatte und nun wie versteinert stand. Eine Sekunde tauchten ihre Blicke ineinander. Dann stürmte er blitzschnell vor. Hatte das strauchelnde Mädchen ergriffen, zur Seite gerissen. Gerettet. Wollte selbst zurückspringen. War aber schon von den Rädern gefaßt. Stürzte. Fühlte eine ungeheure Last. Einen unerträglichen Schmerz. Dachte in blitzschnellem Erinnern: »Lehrten die östlichen Weisen nicht, daß Schmerz ausschaltbar sei?« Hörte sich dabei aber schon selbst aufbrüllen. Dann aus weiter Ferne das Rufen vieler Stimmen. Die eine heißgeliebte. Andere, fremde. – Fühlte nichts mehr. Nur ein Versinken in 100 purpurne Abgründe, wo alles erlosch. Hörte nun auch nichts mehr. Lag regungslos.

Im Staube der Straße ein zermalmtes Etwas, das eben noch, ein kraftvoller Mensch, aufrecht im Lichte der Sonne gestanden.

Im Zimmer der Arbeiterin, die fassungslos schluchzte, hatte der Arzt dem Freunde den ersten Notverband angelegt. Dann trug man ihn durch die im Brande des Sonnenuntergangs lohende Welt heim auf einer Bahre. Frau und Freund schritten zu beiden Seiten. Sie sprachen kein Wort. Aber als sie dann mit dem Verletzten durch die Gartentür in die Halle traten, die sie vor ein paar Stunden so anders mit ihm verlassen hatten, ergriff sie beide die Erinnerung übermächtig. Die vorhin hier scherzhaft gesprochenen Worte schienen noch in der Luft zu hängen. »Das Schauspiel des Glücks werden Sie hier immer finden, es ist ja kein vergängliches«, hatte die Frau beim Abschied gesagt. Was war aus dem Glück geworden? – Sie schluchzte auf. Ohne es selbst zu wissen.

Eine Untersuchung wurde vorgenommen. Und 101 wie der Verunglückte vor Schmerz, so biß der Arzt vor Mitleid die Zähne zusammen. Dieser stahlharte Körper, der Jahrzehnte noch hätte rüstig bleiben können, in wenigen Sekunden zerstört durch das, was Zufall genannt. Und die einzige schwache Möglichkeit, nicht den früheren Menschen wiederherzustellen, aber doch das Leben vielleicht zu verlängern, eine sofortige Operation.

Die Frau atmete auf, als der Arzt es ihr sagte. So war doch noch Hoffnung! – Das war das einzige, was sie aus den Worten hören wollte. – Und sie klammerte sich an ihn: »Sie werden ihn retten, nicht wahr, Sie werden ihn retten!«

Dann mußte der Kranke selbst befragt werden. Und er, dessen Gedanken in der kurzen Zeit gar weite Wege durcheilt hatten, begriff besser als die Frau, wie wenig Aussicht das Unternehmen bot. Er fühlte sich schon ganz als ein Entweichender, in seltsamer, nie gekannter Schwäche sich Lösender. Eine einzelne Welle, die zurückebben wollte in die große Lebensflut, aus der sie zu kurzem Laufe aufgestiegen. Und er fühlte, 102 daß dies Zurückgleiten und Versinken nicht schwer sein würde. Barmherzig wäre es, der Welle frühes Enden nicht zu wehren. – Aber da blickte er in das Antlitz seiner Frau – und las darin den einen brennenden Wunsch, daß er leben möge, daß der Versuch gewagt werde. – Was sein Scheiden für sie bedeuten würde, war ihm in physischem Schmerz und übergroßer Schwäche bisher nicht gegenwärtig geworden. Nun stand es plötzlich vor ihm. Unheilvoll. Quälende Unrast ergriff ihn. Sorge um sie. Riesengroß. In welch blindem Wahn hatte er noch vor wenigen Tagen gestanden, als er dem Freunde gesagt, er glaube mit ihr dem Schicksal entronnen zu sein! Und daß es vielleicht doch begnadete Wesen gäbe, für die das Gesetz des unvermeidbaren Leidens nicht gelte! – Ach, alles erfüllte sich nun doch, was er in banger Ahnung einst erschaut, damals, als er sie zum erstenmal sehen sollte, und ihn eine innere Stimme fortgewarnt hatte. Keine Sternenkrone, nein, den schwersten, schmerzhaftesten Dornenkranz mußte er ihr reichen. Irrtum, daß er berufen gewesen, sie vor des 103 Lebens Leiden zu schützen – gerade durch sein Nichtmehrsein, sein Entschwinden würde sie es nun in herbster Gestalt kennenlernen müssen. Würde allein stehen. – Hilflos sah er sie, im Dunkeln, eine einsame Seele – wie er sie in jener Sturmesnacht droben in seiner Einsiedelei zu sehen gewähnt. – Was würde aus ihr werden? Aus ihr, die er so sehr zu umhegen gehofft. – Es war nicht auszudenken. Gab es irgend etwas, das den Schimmer einer Hoffnung bot, sich für sie zu erhalten, so war er ihr schuldig, es zu versuchen. So gab er seine Zustimmung.

Ein Arzt des Orts, ein Krankenwärter wurden eilig zur Hilfe gerufen. Ein leerstehendes Zimmer des Hauses schnell gerichtet. Im Betäubungsschlaf trugen sie ihn hin.

Trotz all ihres Flehens ließ man die Frau nicht mit hinein. Draußen auf dem Flur kauerte sie nieder, drückte das Ohr an die Tür, ob sie etwas von drinnen vernähme, und schauderte dabei vor der Möglichkeit eines Schmerzenslauts. Aber sie hörte nur ein Sausen im eigenen Kopfe, das wie Meeresbrandung 104 klang, fühlte ein so furchtbar angstvolles Pochen des Herzens, daß ihr war, es klopfe vernehmlich gegen die geschlossene Tür. – Und immer wieder formten sich ihr die Worte auf den Lippen: »Laß ihn leben! Laß ihn leben und wenn auch nur ein paar kurze Jahre – aber die laß ihn noch leben!« – Denn Leben, das war das eine, was alles enthielt, und mochte es auch Krankheit und Pflege heißen, so konnte es selbst dann noch für sie beide Seligkeit bedeuten. – Der fromm vertrauende Glaube, der bis dahin einen selbstverständlichen Bestandteil ihres Wesens gebildet hatte und der vom jähen Entsetzen der letzten Stunden betäubt worden, erwachte nun wieder, erfüllte sie ganz. – Alles hatte ihr ja väterlich waltende Vorsehung zur rechten Stunde beschert. Auch diesen einen, durch den ihr vollkommenes Glück geworden. Es konnte doch unmöglich der Allmacht Wille sein, ihn ihr zu entreißen. Er würde ihr bewahrt bleiben. Sie glaubte es ganz deutlich zu fühlen. – Und plötzlich entsann sie sich des Volkslieds vom »Sternli in Gottes Huet«, das sie einst droben in der Alpeneinsiedelei gesungen 105 hatte. Er und sie waren ja auch zwei solch kleine Sterne in Vatershand, und sicher wachte Er über ihnen und würde sie gewiß nicht fallen lassen. Eine große Ruhe und Zuversicht kam bei dem Gedanken über sie. – Und sie vergaß ganz, daß doch allnächtlich Sterne fallen, einen Augenblick ihre kurz glimmende Spur am dunklen Himmel zeichnend und dann im Unbekannten versinken.

Jetzt öffnete sich die Tür. Der fremde Arzt trat heraus. Die Frau war aufgeschnellt. »Nun?« fragte sie atemlos.

»Die inneren Verletzungen haben sich leider als noch über unsere Befürchtungen hinaus schlimm erwiesen«, antwortete er. »Aber«, setzte er ausweichend hinzu, als er die weitere Frage in ihren entsetzt aufgerissenen Augen las, »wo Leben, ist ja Hoffnung.« Und dann fuhr er eilig fort: »Ich kann nicht länger verweilen – und mein Hiersein hätte auch keinen Zweck – was wir tun konnten, um die Herztätigkeit zu heben, ist geschehen – und – sein Freund wird ja bei ihm bleiben.« 106

»Und ich?« fragte die Frau. »Sicher wird man mich jetzt doch zu ihm lassen?«

»Ich wüßte in der Tat nicht, warum Ihnen das jetzt noch verwehrt werden sollte. Schaden kann es ihm keinesfalls mehr.«

Damit war er die Treppe hinabgeeilt.

Die Frau trat in das Krankenzimmer. Angstvoll wie sie ihn wiederfinden würde. Und faßte dann doch Mut. Denn mit offenen, bewußt blickenden Augen lag er jetzt gebettet. Mit Augen, die sie erkannten und zu sich riefen.

»Singende Blume!« kam es in zärtlichem Flüstern über seine Lippen, als sie sich zu ihm beugte. – Singende Blume – der Schmeichelname, den er ihr zu geben pflegte. Ein so tiefes, so wehes Glück zog bei dem Wort durch ihre Seele, daß sie darob übersah, wie blaß die Lippen, wie schemenhaft die Züge geworden, mit den tiefen blauen Leidensschatten um Augen und Nase.

Der Freund trat heran: »Setzen Sie sich zu ihm,« 107 sagte er traurig, »und geben Sie ihm die Hand. Ich bleibe dort am Fenster.«

So saß sie da. Seltsam weich, wie knochenlos, ruhten seine Hände in den ihren. Und jetzt in der Stille gewahrte sie die Verheerungen, die über sein ganzes Wesen gekommen, die Hilflosigkeit, in der er lag. Und Mitleid stieg in ihr auf, daß es sie schier erwürgte. Schweißtropfen perlten auf seiner hohen gewölbten Stirn. Immer wieder tupfte sie sie leise ab. Und es war ihr dabei, als spräche er etwas in eintönig leiser Wiederholung vor sich hin. Sie lauschte angestrengt, ob da vielleicht noch ein Wunsch sei, den sie erfüllen könne. Und sie glaubte zu vernehmen: »Leid? unentrinnbar – Erkenntnis? unfindbar.« Doch es war nur wie ein Hauch. – Einmal noch bewegten sich die Lippen. Ein tiefes Seufzen entrang sich ihnen. Und ganz deutlich hörte sie da die Worte: »Kyrie eleison! Kyrie eleison!« – Aber sie wußte nicht, war das sein weher Ausdruck der bangen Einsamkeit letzter Stunde, oder stieg der 108 Ruf nach Erbarmen wie ein Stöhnen aus ihrem eigenen Herzen?

Eine Erschlaffung kam über die Gestalt. Das Zusammensinken des Entwerdens. Ein Neues, Fremdes legte sich auf das Antlitz. Eine Frage blickte aus den weit geöffneten Augen; ein Erstaunen – beinahe spöttisch – glitt um die Mundwinkel: Ist's weiter nichts, dies Allergefürchtetste? –

Der Arzt war herangetreten. Er tastete nach dem Puls. »Vorbei«, sagte er leise und legte mitleidig die Hand auf die Schulter der Frau.

In ihr aber war noch nicht Schmerz, nicht Verzweiflung, nur eine plötzlich erwachte Erinnerung. »Es wäre schön, beim Klang deiner Stimme in den letzten Schlaf zu sinken«, hatte er ihr einst gesagt. Dessen entsann sie sich jetzt. Da kniete sie neben ihm nieder, und dicht an ihn gelehnt, begann sie zu singen. Sie wußte nicht, was sie sang, aber die Worte formten sich von selbst: »Dank, Dank, hab Dank für jede Stunde, für jede Sekunde, hab Dank für mein ganzes, vollkommenes Glück.« Immer von neuem 109 wiederholte sie dieses eine, das sie ihm noch sagen, ihm mitgeben wollte. Und dann wandelte sich allmählich der Gesang. Nicht irdische Worte mehr formend. Reinster Ton nur. Sie sang jetzt, wie sie vor wenigen Abenden im Mondschein gesungen. Der Arzt sah das damalige Bild deutlich vor sich, und er entsann sich, wie der jetzt so still Gewordene gesagt hatte: »Klingt es nicht wie eine okkulte Sprache, der vielleicht Unsichtbare aus jenseitigen Welten lauschen?« – Nun gehörte er selbst wohl zu jenen. – Plötzlich verhallte die Stimme. Ein Schauern ging durch die Frau. Sie hatte gefühlt, wie die Hände des Mannes in den ihren erkalteten. – Da blickte sie noch einmal in die lieben Augen, und so, wie sie bisweilen des Morgens, um ihn zu wecken, seine Augenlider geküßt hatte, so drückte sie sie jetzt mit ihren Lippen nieder, um sie für immer zu schließen.

Ganz allein ordnete sie dann alles um den Entschlafenen, wehrte den Händen, die ihr helfen wollten. Sie tat es alles feierlich und ohne Tränen. Die Anstrengung, die das Singen von ihr gefordert hatte, 110 war so ungeheuer gewesen, daß sie davon in eine seltsame Entrücktheit versetzt worden war, die alles als unwirklich erscheinen ließ. Es war, als sei nicht nur sein Geist entwichen, sondern auch der ihre, und als schaue der nun zu, wie ihr Körper sich mechanisch bewegte und allerhand Handlungen verrichtete.

Einmal hielt sie inne und lauschte hinaus ins Dunkle. Die Uhr schlug auf einem nahen Kampanile. Die Nacht war schon im Schwinden. Bald mußte der Tag aufdämmern. Und sie sagte sich: »Der erste Tag, den er nicht erlebt.« Aber obschon sie es sich sagte, konnte sie es doch nicht fassen. Es schien so unmöglich, daß sie noch da sei und feststellte, daß er etwas nicht mehr miterleben würde. So ganz eins hatte sie sich mit ihm gewähnt, daß sie nie an die Möglichkeit von Trennung gedacht. Und erfuhr nun, daß auch die allernächste menschliche Gemeinschaft stets eine Teilbarkeit bleibt, und daß, wenn zwei sich noch so sehr lieben, sie hienieden doch nie zu einer Einzigkeit werden können.

Das erste Frühdämmern begann eben die 111 Finsternis zu lichten, als sie hinabging in den Garten, um für den Toten Blumen zu holen. – Wolken verhingen den Himmel, schwer und beklemmend, als solle es nach den langen, schönen Wochen nun trübes Wetter geben. Es raschelte leis in den Zweigen der Bäume. Vereinzelte Vogelstimmen piepten wie im Traume. – Zu den Blumenbeeten schritt die Frau, schnitt Heliotrop und Rosen, Levkoien und übergroße Nelken. – Und währenddessen ging ein Wogen durch die Wolkenballen, leuchtende Flecken tauchten auf zwischen den düstern Massen, zerrissen sie an einzelnen Stellen, enthüllten dahinter flammende Himmelsweiten. Als würden schwere Schleier gelüftet, die eine Feuersbrunst verbargen. – Bis an den äußersten Teil des Gartens, wo er, von hoher Mauer getragen, dicht an das Meer reichte, war die Frau gekommen, hatte blühende Orangenzweige, dunkle Myrtenreiser und glänzenden Lorbeer zu ihren Blumen gefügt. Nun blieb sie an der Brüstung stehen und starrte hinaus. – Über des Wassers stahlfarbene Fläche breiteten sich anwachsend brandrote Flecken. Die fernen 112 Inseln glühten auf, die Gipfel des Küstengebirges lohten. Zu den vereinzelten Vogelstimmen gesellten sich jetzt unzählige andere, schwollen an, schmetterten jubilierend von überall. Vor dem wachsenden Licht verblaßten die letzten Wolkenfetzen, verdunsteten im Raume. – Plötzlich war es strahlend hell.

Der erste Tag der Einsamkeit hatte begonnen.

Aber diese ersten Tage waren nicht die schwersten. Denn wenn auch der Arzt ihr helfend beistand, so gab es da doch so viel, das nur sie ordnen und entscheiden konnte, daß sie zum inneren Erleben kaum kam. Und Teilnahme drängte sich heran. Beinah überwältigend. Von allen, die den Forscher geschätzt hatten, die die Künstlerin liebten und bewunderten. Sie mußten angehört werden, Dank erhalten. – Wie versteinert tat die Frau es alles. Mechanisch. Sie, deren Hauptreiz ursprünglichste Natürlichkeit war, hatte jetzt etwas von einem aufgezogenen Uhrwerk. Von einer Figur, auf deren Lippen ein gequältes Lächeln festgefroren. Sie ging durch diese Tage in einem seltsamen Gefühl von Unwirklichkeit, von Nichtverstehenkönnen. 113 Wunderte sich, wenn sie an einem Spiegel vorüberschritt, über die schwarze Gestalt, die aus seinen Tiefen fremd starrte. Hatte das allzu jäh Geschehene noch nicht mit dem Bewußtsein erfaßt. Konnte in dem stillen Mann zwischen den vielen Blumen noch immer keinen Toten erblicken. Einen Schweigenden nur, der, geschlossenen Auges, in das Schauen höchster Wissensoffenbarung versunken.

Sie sah, wie durch Traum gelähmt, den Sargesdeckel sich über ihm schließen. Folgte dem Sarg die altersgeschwärzten Steinstufen hinauf zum hochgelegenen Kirchhof. Sah ihn tief in der Erde verschwinden, bedeckt mit violetten Blüten, die von den Wigandien niedertropften. Drückte zahllose Hände. Kehrte zurück in das leergewordene Haus. Und konnte es nicht fassen, nicht glauben, daß das alles Wirklichkeit sei. Hatte das Gefühl schwerlastenden Alps, den abzuschütteln und zu erwachen immer noch nicht gelingen wollte.

Später erst kam das Verstehen.

Durch ein Geringfügiges zuerst. Eine Schublade 114 zog sie auf. Zufällig. Und sah darin den Entwurf zu einer Arbeit liegen, von der er ihr kurz vor dem Unheilstage gesprochen hatte. Tiefvertraut starrten die Schriftzüge sie an. Ein Etwas von ihm. Ein Allerpersönlichstes. Und plötzlich überkam sie in schmerzlichster Offenbarung das Begreifen, daß die Hand, die diese Bogen beschrieben hatte, erstarrt in der Erde ruhte. Nie wieder würde sie die Feder halten, nie mehr an diese Zeilen weitere reihen. Das Gefühl der Endgültigkeit überwältigte sie, warf sie nieder, daß sie zusammenbrach, laut schluchzend zum erstenmal.

So fand sie der Arzt.

Mit tränenüberströmtem Gesicht zeigte sie ihm die gefundenen Blätter. »Sehen Sie, das alles plante er,« sagte sie, »was hätte er nicht noch leisten können! Neue große Werke. Und nun zu denken, daß all das nie entstehen wird, was allein er zu schaffen vermochte, weil er sein kostbares Leben gegeben hat, um jenes kläglich verkümmerte Dasein zu retten. – Ach, wo liegt da ein Sinn?« 115

»Vielleicht findet sich doch ein Sinn,« antwortete der Arzt, »aber wir müssen dazu absehen von unserer gewohnten Überschätzung der Werke des Intellekts. Nur der Weg, das Streben haben ja Wert. Nie das Werk selbst.«

»Aber er war ja auch noch auf dem Wege«, unterbrach sie ihn. »Sehen Sie hier diese vielen durchstrichenen und neu geschriebenen Stellen. Sein Geist korrigierte immer wieder die eigenen Äußerungen. Er war doch noch ein Suchender.«

»Das bleibt jeder Ehrliche wohl bis zuletzt«, erwiderte der Freund. »Mit demjenigen Persönlichkeitsmaterial, über das ein jeder von uns nur verfügt, können wir in diesem Leben ja nie zu letzten Endgültigkeiten gelangen. Und er selbst hat das am deutlichsten und schmerzlichsten empfunden. Erinnern Sie sich nur, wie er zuletzt murmelte: ›Erkenntnis unfindbar!‹ – Und auch früher hat er es oft ausgesprochen. Einmal sagte er mir: ›Erkenntnis müßte doch vor allem mit Kenntnis unserer selbst beginnen, aber sogar die einfachste, physische ist uns versagt. 116 Die Unmöglichkeit, je das eigene Antlitz selbst zu sehen, scheint wie ein Hinweis, daß wir hienieden von lauter Begrenzungen umgeben sind und sein sollen.‹«

»Ach, er hätte doch sicher noch viele überwunden!« sagte sie. »Manchmal war mir sogar, als stände er überhaupt vor einer großen Wandlung.«

»Mir scheint, diese Wandlung war schon vollzogen,« sagte der Arzt, »er war bereits in eine neue Entwicklungsphase eingetreten, und zwar, glaube ich, seit dem Tage, wo er Sie zum ersten Male sah.«

Sie horchte gespannt auf. Und er fuhr fort: »Ich hab ihn ja solange gekannt. Er war früher einer, der nur im Wissenwollen seinen Zweck sah. Was ihn darin stören konnte, schob er beiseite. Rücksichtslos oft. Mit der Unerbittlichkeit derer, die sich einer Mission bewußt zu sein glauben. Aber man kann sich in seiner Mission irren, oder auch, die eine Mission ist bereits von uns hinreichend erfüllt, wir wissen es selbst nur noch nicht recht und halten noch daran fest, während wir bereits zu einer neuen berufen sind. Ja, es kann sogar sein, daß gerade das, was wir bisher als 117 Störung empfanden und als lästige Ablenkung beiseiteschoben, uns nun das Wesentliche werden soll. So könnte es wohl sein, daß es gar nicht mehr seine Aufgabe war, weitere Bücher zu schreiben. Vielleicht bedingte es sein Weg zur Vollendung, nicht mehr Taten der Wissenschaft, sondern nur noch Werke der Liebe zu vollbringen. Und da dürfen Sie sich stolz sagen: Gerade auf diesem Gebiet hat er sich von einer ganz neuen, wundervollen Seite offenbart und – durch sein Sichhingeben für ein anderes Dasein – die Prüfung glänzend bestanden.«

»Aber das Entsetzliche ist, daß ich vielleicht dazu beigetragen habe, ihn dazu zu bringen«, sagte sie mit weit geöffneten, grauenerfüllten Augen. »Denn . . . es ist ja wahr . . . mein Einfluß mag mitgesprochen haben . . . ich suchte ihn aus seiner Absonderungssucht herauszureißen und ihm die Menschen näher zu bringen, auf daß er sie lieben lerne . . . aber . . . es sollte ihn ja reicher machen . . . glücklicher . . . nicht dazu führen! Mein Gott, nicht dazu!«

»Sie haben gewollt, was Ihnen als Bestes für 118 ihn erschien. Was für Folgen aus unseren Taten oder Worten entstehen, entzieht sich ja unserer Macht. Aber auch wenn wir diese Folgen gar nicht verstehen und sie gerade dem zuwiderlaufen, was uns vorschwebte, müssen wir annehmen, daß sie doch jedesmal das Beste sind – eben weil nicht wir sie bestimmen, sondern höhere Einsicht sie fügt.«

Doch sie hörte kaum auf ihn und sagte verzweifelt starrend: »Nie werd' ich aufhören, mich darob bitterlich anzuklagen, warum, warum riß ich ihn je aus seinen Bahnen!«

»Dann müßte auch ich mir vorwerfen, ihn überredet zu haben, an jenem Abend mit zu unseren Freunden zu kommen, wo er Sie traf«, sagte der Arzt traurig. »Aber das alles ist ja nicht Zufall und nicht freie Wahl – das ist Erfüllung unergründlichsten Gesetzes. Sie konnten nach Ihrer ganzen Eigenart gar nicht anders zu ihm sein – und Sie sind, wie Sie nun mal waren, nur Werkzeug gewesen.«

»Werkzeug? Wozu?«

»Vielleicht gerade, um ihn zum höchsten 119 Heroismus zu leiten, dem willigen Opfern des durch Sie erst liebgewonnenen Lebens.«

Sie faßte sich mit beiden Händen an den Kopf: »Aber konnte seine Bereitschaft dazu denn nicht genügen? Mußte das Opfer wirklich gebracht werden? – Mich verfolgt jetzt doch die Frage: Warum hielt ich ihn in jenem furchtbaren Augenblick, da er von der Straße zu mir aufschaute, nicht mit der Bitte meines Blickes, mit der flehenden Gebärde meiner Hände zurück, damit er nicht vorspränge?«

»Ich glaube bestimmt, er hätte es doch getan«, sagte der Arzt. »Es gibt Alternativen, vor die nie gestellt zu werden wir wohl hoffen mögen – aber stehen wir erst vor ihnen, so können sie nur heroisch entschieden werden. Das Weiterleben im Bewußtsein, der Forderung des vielleicht einzigen großen Augenblicks im Dasein nicht genügt zu haben, wäre ja viel schwerer als das Sterben.«

»Ach,« stöhnte sie dumpf, »trotz allem werde ich nie begreifen, warum er so zugrunde gehen mußte.«

»Das ist kein Zugrundegehen, wenn einer unserer 120 Kurzsichtigkeit entrückt wird. Er hatte wohl seine diesseitige Entwicklungsmöglichkeit erreicht. – Und – lassen Sie mich auch das eine einmal sagen: so sehr ich um jeden Kranken mit dem Tode kämpfe, nie doch riefe ich, wenngleich ich es könnte, einen Gestorbenen je zurück – denn . . . erst wer nicht mehr ist, wird ja er selbst sein.« –

Doch des Freundes Worte vermochten nicht, sie zu beruhigen. Allzu aufgewühlt war sie im tiefsten Innern.

Und jetzt, wo sie erwacht aus der ersten Erstarrung, die ihre Sinne betäubt gehalten hatte, glaubte sie, wie aus den beschriebenen Bogen, so aus allen Dingen Stimmen zu hören. Die leblosen Gegenstände, die ihm gehört, hatten einen klagenden Ausdruck. Sie alle fragten: »Wo ist er, dem wir dienten?« – Überall flüsterte es von dem, was gewesen, was noch hätte sein können und nun nimmermehr sein würde. – Da hing im Flur sein Hut, den sie nicht ansehen konnte, ohne darunter zugleich sein Haupt zu erblicken, sein Gesicht mit dem beglückten Lächeln, das es für 121 sie stets angenommen – und das sie doch nie in Wirklichkeit mehr schauen würde. Handschuhe lagen da, die noch die Form seiner Hände bewahrten – der Hände, die sie mit all ihrer heißen Liebe nicht warm zu erhalten vermocht, die in den ihren erkaltet waren. An der Wand lehnte der Stock aus seiner Gebirgsheimat, den er auch hier gern gebraucht hatte, wenn er mit ihr hinauf in die blühenden Maquis gestiegen war. Und draußen in der Bucht, an des Gartens Mauer, lag angekettet sein Boot. Oftmals hatte er sie darin hinausgerudert auf die See, bei sinkender Sonne und auch spät abends bei Meeresleuchten, wenn des Kieles Spur einen schimmernden Streifen im nächtlichen Wasser zeichnete und es von den Rudern silbern tropfte. Kaum zu ertragen waren all die Bilder, die Erinnerung heraufbeschworen, ihre schmelzende Süße und zugleich das wehe Wissen um unwiderbringliches Vergangensein. Bei jedem Blick aus alles Schöne der südlichen Welt, immer nur das Denken an die Augen, die es nicht mehr sahen. Kein gemeinsames Bewundern mehr. Ein Alleinsein in 122 allen Gefühlen, in allen Gedanken. – Immer bewußter ward sie, wie einsam sie geworden. Vor diesem zunehmenden Begreifen wich das seltsam Automatenhafte von ihr, wandelte sich zu tiefster, verzweifelnder Trauer. Und hatten ihre Augen anfänglich nur wie versteinert gestarrt, so weinten sie jetzt ganze Nächte lang.

Obschon seine Ferien längst vorüber, hatte der Arzt die Frau in dieser ersten Zeit nicht zu verlassen vermocht. Mehr im Gedanken an den toten Freund und aus eigenem heißen Mitempfinden als aus dem Wahne, ihr wirklich helfen zu können. Wußte ja, daß sie nicht zu den Seichten gehörte, von denen fremde Gegenwarten den Schmerz zu scheuchen vermögen, sondern daß sie ihn, wenn überhaupt, nur aus der Kraft eigenster Tiefe bewältigen konnte. – Nun aber durfte er nicht länger zögern, mußte sich losreißen. Reiste ab. – Vorher war es ihm noch gelungen, für die verkrüppelte Arbeiterin Aufnahme bei freundlichen Nonnen zu finden, wo von ihren armen Händen nicht Arbeit mehr, sondern nur frommes Falten zum Gebet 123 verlangt werden würde. – Und die Ortsbehörde, aufgerüttelt durch des berühmten fremden Forschers jähes Ende, hatte nun doch vermocht, den Besitzer des Unheilhauses zum Verkauf zu nötigen. Es war dem Arzt eine Beruhigung, als er auf dem Wege zum Bahnhof sah, daß mit dem Abbruch bereits begonnen worden. So würde die Frau, wenn sie erst hier wieder ging, nicht durch des Mädchens, nicht durch des Hauses Anblick gemahnt werden können.

Aber einstweilen ging sie nirgends hin. Irrte nur immer wieder, wie suchend, durch die leeren Zimmer, wähnend, bald hier, bald dort müsse sie ihn plötzlich finden. Erinnerte sich, wie, wenn er früher allein ausgegangen war, jedesmal, daß sie ihn heimkehren sah, eine so überwältigende Seligkeit ihr Herz erfüllte, daß es kaum noch zu schlagen vermochte und sie ihm in die Arme flog, weinend beinah vor Wiedersehensglück.

Oft auch weilte sie abends lange im erdunkelnden Garten. Unmittelbar vor ihr waren die Kieswege und einzelne heller gefärbte Büsche noch zu 124 unterscheiden, aber die Wipfel der Bäume verschwammen zu einem einzigen dräuenden Schatten. Greifbar, einem ungeheuren Vogel gleich, hing die Nacht in den Lüften, sank herab – wie das Unheil naht – mit unhörbarem Flügelschlag. Die trauernde Frau fühlte sich dichter und dichter von ihr umgeben, tiefer und tiefer hinabgedrückt in Finsternis und Verzweifeln. – Und so nahe doch noch die Zeit, da das Kommen der Nacht Seligkeit gewesen, da sie ihr als die freundlichste aller Göttinnen erschien, die den Blumen süßeren Duft als je der Tag verleiht, den Leuchtkäferchen Licht und den Nachtigallen wonnigste Weisen schenkt; die, wie sie am Himmel die Sterne entzündet, so auf Erden tausend und tausend kleine Glücksfeuer in den Herzen der Menschen entfacht. – Glanzdurchwobenes Zauberland stieg vor ihr auf, winkte, vom jenseitigen Ufer eines unüberbrückbaren Flusses, mit all seinen Seligkeiten in ihre öden Tage, ihre leeren Nächte. – Wie hatte seine Liebe sie doch mit Gaben überschüttet! Wie vor allem hatte er sich an ihr gefreut – an ihrem Lächeln wie an jedem 125 ihrer Gedanken, ihrer Lieder. Das vermißte sie am allerbittersten im Allertiefsten ihres Wesens. Nun, da der entschwunden, der allem, was sie war und hatte, durch seine Freude daran erst Wert zu verleihen gewußt, dünkte sie sich bettelarm geworden. Ihr eigenes Nochdasein erschien ihr wie die zufällig stehengebliebene Fassade eines Hauses, das durch Erdbeben verschüttet worden. Der Kern, das Eigentliche, Zweck- und Haltgebende – dahin, vernichtet, ein Trümmerhaufen. Das Übriggebliebene nur auf Abbruch wartend – unnütz, gleichgültig – alles, alles. –

Ihr einziger täglicher Weg führte die Einsame zwischen altersschwarzem Gemäuer hinauf zum hochgelegenen Kirchhof. Dort schmückte sie das Grab immer von neuem mit den Blumen, die die wechselnden Jahreszeiten brachten. Da konnte sie stundenlang kauern, preßte das Gesicht auf die Ranken und Kränze, tastete mit den Händen hinein in die grünen Gewinde, als könne sie ihm, der dort unten ruhte, dadurch etwas näher kommen. Und empfand es zugleich doch immer wieder als etwas so Unfaßbares, daß er 126 wirklich da sein solle. Leise flüsterte sie seinen Namen hinab, ihn flehentlich rufend. So viel war es, das sie ihm sagen, das sie ihn fragen wollte. Denn so innig verwoben sie auch zusammen gelebt, dünkte es sie jetzt doch in ihrem schmerzlichen Entbehren, als wisse sie eigentlich gar nichts von ihm, als habe die gemeinsame Vergangenheit aus lauter ungenutzten Gelegenheiten bestanden. Unbekannte Schätze hatte dies frühe Grab ihr und der Welt geraubt.

Sie suchte alles, was sie von ihm wußte, was sie ihn hatte sagen hören, in ihrem Gedächtnis festzuhalten; sie durchflog das Tagebuch, das sie mit ihm zusammen im Alter hatte lesen wollen; sie schrieb manches aus frischer Erinnerung noch hinzu. Aber sie sehnte sich, mehr über ihn zu erfahren aus seinen früheren Jahren; hineinzublicken in all das, was er damals gedacht, und wofür sein Name in der Welt stand.

Da begann sie die vielen Nachrufe zu lesen, die andere Gelehrte dem Toten gewidmet und die der Arzt, diesen Augenblick wohl voraussehend, gesammelt 127 und beim Abschied auf ihren Tisch gelegt hatte. In zusammengedrängter Form sah sie da seine Gedanken wie das Gerüst eines Gebäudes erstehen. Aber es genügte ihr nicht. Eine fremde Wiedergabe blieb es doch immer. Mehr, Unmittelbareres verlangten ihr führerlos gewordener Geist, ihr verwaistes Herz. In seinen Werken selbst, im Klang seiner eigenen Worte, da vielleicht würde sie den Verlorenen wiederfinden.

Sie schritt zu seinem Arbeitszimmer, wo sie wußte, daß die Bücher standen. Als sie über die Schwelle trat, mußte sie stehenbleiben, nach Atem ringend. Erstickt beinah von aufsteigendem Erinnerungsweh. Von allen Seiten tastete gerade hier Vergangenes nach ihr. Der ganze Raum schien noch so erfüllt von ihm, daß sie seine Gegenwart überall zu fühlen wähnte. Da stand der große Sessel am Fenster, in dem er zu lesen pflegte. Dort der Schreibtisch. Und in einer plötzlichen Vision glaubte sie ihn deutlich greifbar in dem Stuhle davor sitzen zu sehen. Und wie sie es früher oft getan, trat sie jetzt leise heran und breitete die Arme von rückwärts um den Stuhl, den Sitzenden 128 zu umfassen. – Er hatte dann stets freudig überrascht von der Arbeit aufgeschaut und sie zu sich gezogen. Den Kopf an den seinen gelehnt, hatte sie über seine Schulter herabgeblickt auf das, was er schrieb. – Aber heute zerrann die Gestalt, Luft nur umschlossen ihre sehnsüchtigen Arme, – an dem leeren Stuhle niedergesunken, weinte sie bitterlich.

Und dann allmählich besann sie sich wieder, weshalb sie eigentlich gekommen, und griff nach einem der Bücher. Die Überschriften einiger Abschnitte las sie zuerst: vom Leid und seiner Entstehung, vom Weg, es aufzuheben. Und sie entsann sich, wie sie dies Buch vor Jahren zuerst gelesen, als sie den Mann, der es geschrieben, noch nicht kannte. Wie sie damals, in jugendlich unberührtem Frohsinn, sein düsteres Weltbild verworfen hatte, wie zugleich aber der Wunsch entstanden war, die tiefe Schwermut von dem Schreiber scheuchen zu dürfen. Wie sie ihn getroffen, und was dann alles gekommen, zog in Bildern an ihr vorüber, bis zum Entsetzen seines jähen Endes. Und sie fühlte, daß dies letzte Erleben sie so völlig 129 erschüttert und gewandelt hatte, daß sie seiner damals bekämpften hoffnungsbaren Anschauungsart heut nicht mehr fremd gegenüberstand, sondern daß gleiche innere Zerrissenheit und Verzweiflung über des Schicksals sinnlose Grausamkeit, wie einst ihn, so heute sie erfüllten.

Sie las wochen-, monatelang. Und wie ihr eigenes Glück, so lag bald ihre einstmalige Glaubenswelt in Trümmern. Nur froh-zuversichtliche Naturanlage, noch unbelastetes Vertrauen war das alles ja gewesen. Kein im eigenen Schmerz erprobter Besitz. Jetzt, wo das größte Mysterium sich zum erstenmal vor ihr vollzogen und, durch das Entreißen des Liebsten, ihr selbst tiefstes Weh gebracht hatte, wankten alle fest gewähnten Stützen. Sie, die nicht weh zu tun vermochte, die so gern Freude schenkte, dünkte es unfaßbar, daß es Allmacht sein sollte, die solche Qual verhängen konnte. Herrschte da nicht eher Zufall, Willkür? – Ihr Inneres empörte sich gegen dies Ausgeliefertsein an unbekannte Gewalt, dies Unbefragt-ins-Leben-treten-müssen, nur um dann unbefragt in den Tod 130 gestoßen zu werden. Dasein hegend zu erhalten, war ihrer Wesensart ureigentümlich, doppelt grauenvoll empfand sie des Todes Zerstörung. Ohnmächtig hatte sie den Liebsten davor nicht zu bewahren vermocht, hatte zuschauend das Furchtbare über ihn ergehen lassen müssen, wie sie selbst jetzt – rettungslos, unabänderlich – das Abgeschnittensein erdulden mußte. Den Schmerz aller Schmerzen. –

Bei den bittersten Stellen seiner Bücher war allemal ihr Zustimmen am leidenschaftlichsten. Hatte sie solche gefunden, die ganz aus ihrem eigenen gemarterten Herzen zu kommen schienen, so brach sie oft plötzlich ab, im jähen Bedürfnis ihm zu sagen: »Heut verstehe ich dich, denke und fühle ganz so wie du.« – Dem Lebenden hatte sie widersprochen, der Tote überzeugte sie. – Aber wie es ihn wissen lassen? Wo die Brücke finden zu dem ungreifbar, unsichtbar Gewordenen? –

Sie sann nach: die Gedanken waren an keine Stelle gebannt, sie vermochten überall zu sein, ja sogar sich in der Vorstellung Welten zu schaffen, die es in den der Erfahrung bekannten Teilen des Raumes 131 nirgends gab, und dort ganz so daheim zu weilen wie in vertrautester Umgebung. Doch immer blieb bei solchem Fluge der Gedanken der Körper ein sie an dem Faden Haltender, der ihn zwar lang abrollen ließ, schließlich aber doch immer wieder zu sich zurückzog. – Ganz Gedanke werden – das müßte zu denen führen, die selbst keinen Erdenleib mehr besaßen und vielleicht – in unirdischer Substanz verkörpert – in jenen aus dem Flug erblickten fremden Welten weilten.

Nun las sie alles, was sie erreichen konnte, über die vielen verschiedenen Versuche, die die gequälte Menschheit zu solchem Ziele unternommen. Las von den seltsamen Übungssystemen, die in fernen östlichen Ländern Fakire, geschorene Bettelmönche und einsame Grübler befolgten. Diese Schilderungen zogen sie mit unheimlicher Gewalt an. Sie versenkte sich immer tiefer darin. Begann bald selbst die Anweisungen zu befolgen. Vielleicht war da ein Ausweg zu Entrückung, zu Vereinigung. Es mußte doch möglich sein, sich die Fähigkeit zu Dingen zu suggerieren, die man in Wirklichkeit nie noch vollbracht, und 132 sich durch den felsenfesten Glauben an diese Möglichkeit neue Organe zu schaffen, Werkzeuge von solch durchdringender Kraft und zugleich Feinheit, daß sie in die Ferne wirken und die dort Weilenden erreichen konnten.

Es gab Abende, die sie besonders verheißungsvoll dünkten, da kniete sie nieder vor dem Kamin der Halle, übte sich, bei tiefem Atmen, alle ablenkenden, zersplitternden Gedanken zu bannen. Sie verschränkte die Arme, starrte unverwandt in die Glut der Pinienzapfen, zwang die Augenlider nicht ein einziges Mal zu sinken, wiederholte ein Wort – seinen Namen – ununterbrochen, stundenlang, bis wirklich eine Art Entrücktheit, eine Ausschaltung gewohnter Lebensform über sie kam und ihr oftmals war, als ob es nur noch einer allerletzten Spannung bedürfe, um dem Leib wie einem beengenden Kleide zu entschlüpfen. Aber Erschöpfung übermannte sie dann, und die Sinne schwanden. Und es konnte geschehen, daß der Frühsonne Strahlen sie noch da fanden, bleich und bewußtlos vor der erloschenen Feuerstelle liegend. – 133 Doch trotz solchen Scheiterns versuchte sie mit Anspannung allen Willens immer wieder und wieder die Grenzen zu durchbrechen, die die Welten der Toten und Lebenden scheiden. Stundenlang hielt sie die gefalteten Hände empor, den Gestorbenen beschwörend, daß er sich ihrer erbarmen, ihr ein Zeichen geben möge. Und sie glaubte dann wirklich seine Stimme zu vernehmen, ging einher wie eine Halluzinierte, lächelte verzückt, redete vor sich hin, griff ins Leere – als stände da einer, den nur sie erblickte. Doch gar bald verflatterte allemal die Vision, ließ sie zurück, erdengebannt. Fern blieb sie dem höchsten Ziele, selbst ganz Geist geworden, jenem anderen vorangegangenen nachzuschweben.

Da legte sie sich neben das Grab mit ausgebreiteten Armen, wie gekreuzigt und stellte sich in angestrengtester Versenkung vor, daß ein Wagen heranrolle, daß die Räder sie faßten, eine ungeheure Last sie zerquetsche, daß sie den gleichen Tod stürbe wie er. Und so stark war bisweilen der Wahn, daß sie wirklich starr und kalt wurde, daß sie sich gestorben dünkte. 134

Der Kirchhofhüter hatte ihr längst einen eigenen Schlüssel gegeben, ließ sie kommen und gehen, wie sie wollte, sah in ihr eine harmlose Irre. Manchmal aber dünkte sie ihn ein übernatürliches Wesen, eine Erscheinung. Das war, wenn sie am Grabe sang. Denn hier allein noch tönte die berühmte Stimme. So herzbrechend traurig, so sterbenssüß, daß die Vorübergehenden draußen an der Kirchhofsmauer stillstehen blieben und andächtig lauschten. – Drunten in der Halle des weißen Hauses blieb der Flügel jahraus, jahrein geschlossen. Da sang sie nicht mehr. Hatte es auch schroff abgelehnt, als Bitten sich an sie gewagt, doch wenigstens für gute Werke wieder zu wirken. Nur dem Toten sollte ihre Stimme gehören. Vielleicht konnte sie ihn damit erreichen.

Das ging so eine viel längere Zeit, als die Menschen in der Hast der Tage gewohnt sind, einem großen Kummer einzuräumen. Viele drängten sich heran, wollten sie aufheitern, ihr über den Schmerz hinweghelfen – als sei er ein lästiger Hügel, den es schnell zu überschreiten gelte, um wieder auf behagliche Fläche 135 zu gelangen. Sie wehrte dem allen ab. Wenn sie auch noch ihren Schmerz verlöre, was bliebe ihr dann? Ein Letztes von ihm war er ja. Und in allem Leid kam ihr ja nie der Wunsch nach Vergessen und Wieder-glücklich-sein: Nichtmehrsein, Dasselbe-wie-er-sein – was und wo immer auch das sein mochte – das war, was sie ersehnte. – Man wunderte sich, bemitleidete sie. Die aber, an denen die Eindrücke nur vorübergleiten, wollten es nicht recht Wort haben, daß es ein so langes Trauern geben könne; sie sprachen von geistiger Anomalie, meinten, vielleicht sei es gar Reklame.

Die Frau vernahm davon nichts, lebte abgesondert in ihrer Welt verzweifelnden Grames. Aber zu dem Arzte drang Kunde von ihrem seltsamen Gebaren. Und auch die Briefe, die sie ihm bisweilen sandte, wirre Schmerzensschreie zumeist, begannen ihn zu beängstigen. Er hatte sich lange nicht freimachen können, nun beschloß er, baldmöglichst die Reise anzutreten und nach der Unglücklichen zu schauen.

Während er noch seine Vorbereitungen traf, war 136 indessen über die Einsame eine Wandlung gekommen. Nach allen visionären Verzückungen eine Ernüchterung, nach mühsam geschaffenen Entrücktheiten ein Ekel, eine Erschöpfung. Was halfen diese Zustände gewollter Sinnesbetäubung, diese absichtlichen geistigen Verirrungen? Es folgte ihnen ja doch stets wieder das Erwachen zur trostlosen Wirklichkeit. – Endgültige Vernichtung, die allein brächte Erlösung. Sie, die einst ganz Wille zu Erhaltung und Verweilen gewesen, war jetzt ganz Sehnsucht nach Erlöschen geworden. – Aber wie es finden? Ursprüngliche Gesundheit hielt sie trotz allem ja immer noch aufrecht. – Allerhand Möglichkeiten, Bilder, wie es sein würde, tauchten vor ihr auf. Sie entsann sich einer einsamen Stelle des Bahndammes, wo die Schienen in einem Tunnel verschwanden – da würde es leicht sein, ein Versteck zu finden und sich dem ersten heranbrausenden Zuge entgegenzuwerfen. Auf das angekettete Boot blickte sie – mit dem ließe sich wohl an böigen Tage hinausrudern, um nie wiederzukehren. An die Gletscherspalten seiner eigenen Heimatberge dachte sie – 137 da war schon so mancher für immer hinabgeglitten. Alles wurde ihr zur Lockung, die jäh abstürzenden Schächte naher Porphyrbrüche, die weit überhängenden Felsenvorsprünge, die das Meer rastlos unterwühlt. – Mehrmals machte sie sich auf den Weg – und kam dann doch wie beschämt heimgeschlichen. Was hielt sie nur immer wieder im letzten Augenblick zurück? Konnte es Feigheit sein? Aber leben war ja doch viel schwerer als sterben. Oder war es eine verstummte Stimme, die aus jenseitigen Fernen warnte: »Warte, noch ist nicht deine Zeit erfüllt.«

So fand sie der Arzt.

In einem nahen Gasthof war er abgestiegen. Kam gleich noch am selben Abend zu ihr in das weiße Haus.

Am Kamin der großen Halle saßen sie sich gegenüber. Die verkohlenden Pinienzapfen knackten und glühten. Draußen über dem Garten lag Mondschein wie einst. Mit bläulichen Lichtstreifen langte er durch die offene Tür bis tief in das Zimmer. Umtastete die Gestalt der Frau, als wolle er sie hinaufziehen in 138 seine tote, bleiche Welt. – Der Freund wollte behutsam fragen, wie es ihr ergangen, und womit sie all die Zeit angefüllt. Aber sie erzählte sofort alles. In einer plötzlichen Hemmungslosigkeit. Vom unabweislichen Bedürfnis nach Entlastung überwältigt. Sie enthüllte das ganze seltsame Leben, zu dem sie des Schmerzes Übermaß geführt, beschrieb auch ihre Versuche, es zu enden, und wie sie nicht vermocht hatte, sie auszuführen. Behielt nichts zurück. – – Lange, lange sprach sie so. Nun schwieg sie. In einer Gebärde tiefster Erschöpfung waren ihr die Arme schlaff herabgesunken. Die Hände hingen geöffnet, zeigten die innere Fläche.

Und der Lauschende hätte diese müden, leeren Hände gern ergriffen, die Frau an sich gezogen und leise gestreichelt. Was ließ sich solchem Leid denn auch anderes bieten als etwas menschliche Wärme und Zärtlichkeit. Aber wie würde sie es aufnehmen? – Vielleicht nur das letzte, das ihr blieb, das freundschaftliche Vertrauen zu ihm, auch noch verlieren. – Vorgebeugt, das Gesicht mit der Hand beschattend, 139 fragte er: »Und was, denken Sie, soll nun werden? Es kann doch nicht so weitergehen.«

»Was weiter?« wiederholte sie. »Ja, da ich nicht vermocht habe, das Leben zu verlassen, so werde ich wohl warten müssen, daß es mich verläßt. Mich endlich freigibt. – Ich habe ja bisweilen ein so seltsames Gefühl, als läge ich angekettet in einem dunklen Kerker, und durch ein vergittertes Fenster dränge ein Sonnenstrahl und spräche: ›In welche Finsternis bist du denn geraten? Komm heraus, du gehörst ja zu mir.‹ Oft auch komme ich mir vor wie eine Verirrte, die ganze Welt erscheint mir so öd und fremd – und ich sehne mich zurück in eine wunderschöne Heimat, auf die ich mich nicht besinnen kann und von der ich doch dunkel ahne, daß sie einst mein gewesen. Nicht Unrecht, nicht Leid kann es dort gegeben haben. Kein Sterben mehr. Jeder liebte den anderen wie sich selbst, freute sich seiner Wesensentfaltung. Das vollkommene Glück muß dort zu Hause sein. – Ich träumte einst davon, mein Stückchen Welt ein bißchen danach zu 140 bilden – schön sollte es werden – aber es gelang ja nicht. Trennung kam – Sterben.«

Ermattet sank sie zusammen, und dann, nach einem Schweigen, sagte sie hoffnungslos: »Warten werde ich, lieber Freund. Was soll ich auch sonst? Warten, hindämmern – stumpf werden.«

Der Arzt antwortete erst nach einer Weile, mühsam: »Und wenn wir wirklich Verirrte sein sollten, herausgeschleudert aus der ursprünglichen Heimat – vielleicht durch eine Schuld, eine Gier – und es des Lebens Aufgabe ist, den Weg dorthin zurückzufinden, so glaube ich doch nimmer, daß er in Abstumpfung bestehen kann. Nicht Minderung, nein, Steigerung, Intensivierung unseres Ichs führt hinan. Drum liegt in jeder Fähigkeit zu außergewöhnlicher Gefühlsstärke allemal eine Begnadung, und zwar nicht etwa nur im Vermögen, Glück besonders stark zu empfinden, sondern beinah mehr noch in der Befähigung zu besonders tiefem Leid. Die Gabe, Schmerz intensiver als andere zu fühlen, ist ein seelisches Adelsdiplom, das hoch über den Haufen erhebt, über die Herde, von 141 deren Fell der Regen alsobald abläuft, und die heute kaum noch weiß, was sie gestern empfand. Aber den durch solche Verleihung Auserlesenen erwächst die Verpflichtung, sich von ihrer Begabung zum Schmerz nicht in die Irre führen zu lassen. Lernen sollen sie, seine wahre Lehre zu vernehmen, auf daß er ihrer eigentlichen Bestimmung diene, ihnen ein Heimhelfer werde. Gelingt das, dann gilt in Wahrheit, daß uns nichts so groß macht wie ein großes Leid. Doch mir will scheinen, gerade daran fehlt es hier bei Ihnen, und ich treffe Sie an als Sklavin Ihres Kummers. Das ist Ihrer nicht wert und auch nicht dessen, um den Sie weinen. – Ihr Leiden muß doch zu den erhebenden gehören, die sich bewußt in Tat umsetzen. Schütteln Sie die Ketten ab, rufen Sie Ihr altes, lebensmutiges Ich wach, besinnen Sie sich auf Ihre früheren Aufgaben!«

»Frühere Aufgaben, die jetzt noch beständen?« fragte sie. »Was könnten die wohl sein?«

»Ich wüßte viele«, antwortete er. »Aber nehmen Sie nur die eine: all jene, an deren Leben Sie 142 teilnahmen, für die Sie sorgten! Was wird aus ihnen?«

»Ach,« antwortete sie mit müder Abwehr, »es wird weiter für sie gesorgt. Reichlich. Ich lasse ihnen geben, ganz wie früher. Aber das eine Aufgabe? . . . Des Lebens wert? . . . Ach nein.«

»Sie lassen ihnen geben,« sagte er, »aber damals, erinnere ich mich, da gaben Sie selbst. Und das ist etwas ganz anderes – für den Spender wie für den Empfänger –, weil zugleich Liebe geschenkt wird.«

»Ich habe keine Liebe mehr zu verschenken,« sagte sie traurig, »all meine Liebe liegt begraben droben auf dem Kirchhof – bei ihm.«

Doch der Freund begann von neuem: »Ich nannte diese eine Möglichkeit auch nur als erste, weil sie mir Ihrer Natur, so wie ich sie gekannt habe, am meisten zu entsprechen schien.«

»Nein,« antwortete die Frau, »solch Dilettieren in sogenannter Wohltätigkeit, das würde mir heut nicht mehr genügen. Für Glückliche paßt das als eine Art Entschuldigung ihres Glücks. Ein Versuch, 143 die eigene Bevorzugung zu rechtfertigen. – Im Unglück braucht man mehr. Etwas Absolutes. Ein Auslöschen des Bewußtseins gesonderter Persönlichkeit. Ein Sichverlieren in Unermeßlichem. Das ist ja auch das, was ich letzten Endes bei all meinen anderen kläglichen Unternehmen in diesen Schmerzensjahren erstrebte. – Vielleicht wäre ein Weg, alles hinzugeben. Jeden Besitz, jede Differenzierung abzulegen. Untertauchen. Aufgehen in der Masse. Sich völlig opfern.« –

»Das Falscheste wäre das!« rief der Arzt. »Nur das alte Wort sündhaft kennzeichnet es genügend. Verbrecherisch. Wie alles, was Werte mutwillig vernichtet. Und zwar unersetzliche. Denn die einzelne Persönlichkeit kann hienieden ja nie genau so wiederkehren, wie sie in ihrer Einmaligkeit vor uns steht. Das eigene innerste Ich, das sollen wir im höchsten Sinne lieben, als das einzige, das uns wirklich gegeben ist.«

»Dazu habe ich Besseres zu sehr geliebt«, antwortete leise die trauernde Frau. 144

Nun schwiegen sie beide. Im Kamin verglommen die letzten Pinienzapfen. Grau lag der Herd. Es war spät geworden. Der Arzt stand auf. Sich reckend, strich er über die emporstrebenden Haare und sagte, einen Gedankengang laut fortsetzend: »Und doch! Es muß gelingen, noch etwas Schönes in ihr Leben zu bringen.« Setzte dann leise hinzu: »Es gibt ja nichts, was ich darum nicht gäbe.«

Sie lächelte nur vor sich hin. Ungläubig. Schwermütig.

Am nächsten Tag, bei Morgengrauen schon, holte man den Arzt zu ihr. Sie war in der Nacht schwer erkrankt. Als er dann in dem Zimmer, in dem sie lag, bei ihr stand, sagte sie, ihm die Hand reichend, halb wehmütig, halb bitter: »Etwas Schönes, sagten Sie, solle in mein Leben kommen – nun ist es Krankheit geworden.«

Scheinbar leicht und fröhlich antwortete er: »Nun und warum nicht? – Das uns Ersprießliche kommt ja oft unter ganz anderer Gestalt, als wir erwarteten. So kann eine Krankheit manchmal den Umweg zu 145 völliger Neuerstehung bilden. Sie werden wieder gesund werden – in allem.«

»Was nützt mir Gesundheit! Das Leben selbst ist das Leiden – ganz, wie er es gelehrt hat. Ich wollte es nicht glauben, nun hab' ich es erfahren in dem eigenen Schmerz um ihn.«

»Aber gerade nach dieser Krankheit werden Sie den Schmerz ertragbarer und das Leben wieder leichter finden, denn solche Krankheit legt die Empfindungsnerven für alles andere eine Zeitlang still. So kann Krankheit zugleich Heilung sein. Das wird auch Ihnen geschehen.« Eindringlich sprach er, hypnotische Kraft in die Worte legend. Aber er fühlte sich nicht so zuversichtlich, wie er vor ihr scheinen wollte. Sein Seherblick, der ihn selten trügte, sagte ihm, daß ein schwerer Sturm heraufzog, und daß es all seiner Umsicht und Unerschrockenheit bedürfen würde, um dies arme, schon so schwer havarierte Lebensschiff hindurchzusteuern.

In ihr war anfänglich noch ein erstauntes Beobachten. Nach all der Seelenqual nun so viel 146 Körperpein! Und welch merkwürdige Wichtigkeitszunahme aller physischen Dinge! – Dann aber erlosch die Fähigkeit zu beobachten zeitweise ganz, flackerte nur ab und zu auf unter besonderem Anreiz. Jeder Atemzug eine Arbeit. Jede Bewegung eine Marter. Und Regungslosigkeit doch die ärgste. Eine Unrast in allen Gliedern. Ein Hämmern im Kopf. Ein Pochen bis in die Fingerspitzen. Eisige Schauer. Glutheiße Wellen.

Sie fühlte, wie das Fieber stieg, wie es in ihr siedend kochte. Sie sah den Arzt das Thermometer betrachten. – »Gesungene Fieberkurven,« murmelte sie, »erinnern Sie sich? Aber diese steigen selbst für meine Stimme wohl zu hoch. Nicht wahr?«

Und wieder zwang er sich, scherzend zu antworten: »Aber gar nicht. Und wenn Sie erst wieder gesund sind, zeig' ich sie Ihnen. Dann sollen Sie's versuchen.« – Und begann doch zu bezweifeln, ob er ihr je noch etwas würde zeigen können.

Aber zugleich dünkte es ihn wie eine Fügung, daß er gerade jetzt gekommen, denn er wußte wohl, daß er 147 um sie mit der Krankheit rang, wie kein anderer gerungen hätte. Nur manchmal legte es sich wie Lähmung auf ihn, daß er bei ihr selbst so gar keine Hilfe fand! Jeder Lebenswille schien erloschen. Ein armes Menschenwrack, ließ sie sich von den Wellen hin und her schleudern, immer weiter dort hinaustreiben, von wo es keine Rückkehr gab.

In vorübergehender Besinnung sah sie sein sorgenvolles Antlitz zu sich gebeugt. Und sagte leise: »Sie mühen sich so sehr, lieber Freund; ich fühle, wie Sie mich halten wollen – aber lassen Sie mich doch gehen . . . glauben Sie mir . . . Gott hat es gnädig mit mir vor.«

»Ich weiß nicht, was er vorhat,« antwortete der Arzt, und seine Stimme klang beinah rauh, »ich weiß nur, daß ich mein bißchen Können habe, damit ich es hier einsetze. Kämpfer des Lebens sind wir Ärzte.«

»Auch wenn Ihnen das Gegenteil barmherziger scheinen muß?«

»Sicher auch dann, denn darüber steht uns kein Urteil zu.« 148

Die Worte erinnerten sie an etwas sehr Fernes, das sie irgendwo früher einmal vernommen. Damals wohl, als sie selbst noch viel hielt vom Wert des Lebens. Das lag freilich weit zurück. – Doch schon waren die kurzen Augenblicke hellen Verstehens entschwunden. Dichter, beklemmender legten sich die grauen Schleier auf sie. Tiefer sank sie hinab in der Krankheit unheimlichen Schlund.

Kein Erkennen, kein Begreifen mehr. Nur noch ein wirres Empfinden vorbeihuschender Eindrücke. Ein ständiges Verwechseln. Wohlbekanntes, das sich plötzlich beängstigend ändert, fremd grinst. Leblose Dinge, die schlaue Augen bekommen, böse blinzeln. Schubladenspalten, wie zahnlose Mäuler tückisch tuschelnd. Am Fenster Vorhänge, die sich blähen, als bärgen sie Verschwörer. – Helligkeit, Dunkelheit kommen und gehen, lassen sich nicht mehr zählen. Lang scheint Kranksein. Und die einzelnen Abschnitte doch kurz. Immer zu rasch kehren die Stunden wieder, wo so viel schmerzhaft Lästiges mit ihr geschieht, wo sie grausam zurückgerufen wird, nicht weiter hinüber 149 dämmern darf in schon andere Welten. Alles Zeitempfinden schwindet, aller Raumbegriff. Welt – nur noch dies eine Leidenszimmer. Und war doch einst so groß? – – Aber plötzlich . . . des Zimmers Wände versunken. Fort. Entglitten. Die Welt ein ungeheures Meer. Schwarz, schwarz flutet es heran. Brandet ringsum in weißem, aufklatschendem Schaum. Aber das Meer nicht Wasser . . . lauter dichtgedrängte Menschenköpfe. Der Gischt . . . lauter weiße Hände. Sie heben sich, schlagen gegeneinander, schlagen, schlagen. Spenden sie Beifall? Wem nur? – Ein Wirbel steigt auf aus dem Schaume, formt sich zu drei wehenden Gestalten. Wie Kaskaden überschlagen sie sich. Zerfließen. Kunst, Liebe, Glück . . . eben noch greifbar nahe . . . alle drei . . . zerronnen.

Hundertfältiges Interesse für die Berühmte ist erwacht. Besorgte Freunde erkundigen sich teilnahmvoll. Draußen am Hause fahren sie vor in Wagen und Automobilen. Und im Zimmer oben sieht die Kranke abends das Licht der Laternen und Scheinwerfer durch die weit geöffneten Fenster heraufleuchten. Helle, 150 huschende Flecken erstehen dann plötzlich, Schatten gleiten über Wände und Decke, wenn unten Fuhrwerke kommen und gehen.

In halblichtem Augenblick hat sie es eben noch verstanden. Aber jetzt plötzlich wird alles wirr. Schwer. Unbegreiflich. Angstvoll. Waren da nicht Menschen, die zu ihr wollten? Wo sind sie geblieben? Sie kommen nicht die Treppe herauf . . . sie treten nicht ein . . . wo . . . wo sind sie versteckt? Würgende Angst. Entsetztes Suchen. Plötzliches Wissen: auf das Dach sind sie gestiegen! Jetzt stecken sie Fackeln durch die Decke. Helle, huschende Flecke leuchten an ihr auf. Nun gleiten sie selbst von oben herab. Graue, verzerrte Gestalten. Die Fackeln erlöschen. Es wird dunkel. Schatten drängen heran. Von überall. Immer näher. Immer dichter. Benehmen den Atem. Hitze. Ersticken. Grauen. Hilfe! Hilfe!

Irgendwo Stimmen. Eine traurige, oh, so traurige, sagt: »Wir müssen's versuchen.«

Versuchen? Was ist denn noch zu versuchen? Ist's denn nicht gleich vollendet? 151

Ein plötzlicher stechender Schmerz geht durch die Welt. Oder war's durch den eigenen Körper? Ein neuer fremder Geschmack brennt auf der Zunge. Etwas Eisiges hat sich um die Stirn gelegt, zwingt die glühenden Augen, sich zu schließen.

Nach einer Weile. »Ist das deine Hand?« fragt sie den Schatten, der, von der Decke herabgeglitten, an ihrem Lager hockt.

Das tiefgebeugte Haupt neigt sich bejahend.

Kühlende Beruhigung rieselt von der Stirn in die siedenden Glieder. Wachender Schmerz wird mählich zu Traum.

»Deine Hand tut wohl.«

»Ich tue immer wohl.«

Durch die halb schon Entrückte geht ein Verstehen: »So bist du der Tod und kommst, mich zu erlösen – endlich.«

Er schüttelt das Haupt. »Erlöste dich gerne. Bin ja der Erbarmer. Und darf doch nicht. Stehe auch unter höherem Willen. Muß solche davonführen, an die sich Hände der Liebe verzweifelnd klammern, 152 andere dalassen, um die keine Träne je fiele. Nach Erdenermessen scheint die Wahl unbegreiflich. Sie geschieht wohl nach dem Bedarf jenseitiger Welt. Aber es ist oft so traurig, daß ich wünschte, es gäbe einen Tod, den Tod zu erlösen.«

Die Kranke bewegt sich widerstrebend unter der eisigen Hand, klagt stöhnend: »Und mich nicht? Mich wirklich nicht? Hab' ich denn nicht genug gelitten?«

»Gelitten wohl – zu viel sogar,« tönt es in sanfter Stimme, »doch bloßes Leiden berechtigt nicht, mich zu rufen. Nichts noch hast du aus all dem Leiden geschaffen. Und das gerade verlangt der unerbittliche Wille. Eines jeden Daseins höchster Schmerz ist zugleich sein Gipfel und äußerste Erfahrung. An ihm soll es den eigenen Wert offenbaren. So allein erwirbt sich die größte Gunst der Tod. – Denn der Tod will verdient sein – gerade im entgegengesetzten Sinne, als die Menschen wähnen.«

Die Stimme wie ein Streicheln – und die Worte tun doch so weh. Die Glieder zucken in Abwehr. Das 153 müde Herz vermag kaum noch zu schlagen. Neue Kälte legt sich um die Stirn. Wieder der plötzliche scharfe Stich, wieder der fremde Geschmack auf der Zunge.

»Wie bitter, wie bitter das alles von dir – den ich so ersehnt habe«, seufzt sie. »Und ich habe ja nichts mehr zu offenbaren – bin ganz leer, ganz arm.«

»Du glaubst nur, es zu sein«, erwidert der Schattenhafte. »Bist in Wahrheit durch das große Weh reicher noch geworden. Kannst anderen heute bringen, was du zur Zeit deines Glückes ihnen brachtest.«

»Was war das denn?« fragt sie müde, suchend. »Ich hab es vergessen.«

»Reinste Freude – schöner noch und tiefer als einst.«

»Wie kann ich bringen, was ich nicht besitze? Meine Freude liegt begraben.«

»Sie kann aufgeweckt werden.«

»O Tod, wer vermöchte das!«

»Nur du selbst. Durch deine Kunst. In ihr nähert ihr Menschen euch der Gottheit, denn durch sie 154 könnt ihr erschaffen. So schaff' dir von neuem, was dein ureigenstes Glück ist: selbst eine Freude zu sein.«

»Aber womit? Womit?« entringt es sich ihr angstvoll.

»Durch dein Allerpersönlichstes, durch die Erinnerung an die Sprache einstmaligen Heimatlandes, die dir als größte Begnadung verliehen.« Und wie ein Befehl – hart, scharf – treffen sie plötzlich die Worte: »Singen sollst du! Singen!«

Sie stöhnt auf: »Singen? – Oh, erinnere mich nicht daran! – Wie habe ich gesungen! Erst allen – in Frohsinn, daß es wie lachendes Spiel war. Dann ihm – in Liebe, wo jeder Ton von Seligkeit sagte.«

»Aber nie noch hast du in Schmerzen gesungen. Und das ist ein ganz anderes Singen. Was du bisher geschaffen, war verwehender Schall – nur was in Schmerzen erstanden, wird bleibendes Lied.«

»Weißt du denn nicht, daß mir das Herz gebrochen?«

»Um so süßer wird deine Stimme zu anderen 155 sprechen. Glaub' mir, die verzweifeltsten Weisen sind zugleich die schönsten, und es gibt ihrer unsterbliche, die wie lauter Schluchzen klingen.«

Stille kommt mählich über die gequälten Glieder. Zunehmende Kühle rinnt durch die Adern. Ruhiger pocht das flackernde Herz. Unter dem eisig zwingenden Druck auf der Stirn formen sich im Hirne Gedanken der Ergebung.

»Ich will es versuchen«, haucht sie.

Ihm zugewandt liegt sie jetzt seitwärts, mit weich gelösten Gliedern. Seine Gestalt erhebt sich verblassend.

»Du willst jetzt gehen,« sagt sie, »aber laß mir die Gewißheit, daß du mir nahe bleibst.«

»Es trägt mich ja ein jeder von seiner Geburt an in sich. Und du vermagst es selbst, mir die Wohnung in deinen Gedanken zu weiten«, klingt es zurück. »Jede innere Mahnung, jede Hoffnung auf Höchstes, alles, was du als dein Geläutertstes empfindest, das ist dein Denken an mich, ist mein verheißendes 156 Antworten. Nur das Wissen um mich gibt dem Leben Richtung. Sinnlos wäre es ohnedem.«

»So laß mich jetzt, ehe du entschwindest, wenigstens dein Antlitz schauen«, fleht sie zu ihm.

Doch abgewandt bleibt er, ist nur noch ein Dunstgebilde. Und von ferne tönt es: »Das Antlitz des Todes hat niemand noch geschaut: er hat kein eigenes. Für jeden, den ich davonzutragen komme, nehme ich die Züge des Liebsten an, den ich ihm schon rauben mußte. Dem einen erschein' ich als Vater, dem anderen als Gatte, als Kind. Zu dir werde ich im Augenblick deines Sterbens mit dem Antlitz jenes treten, nach dem du jetzt in Sehnsucht vergehst, und meine Arme werden sanft sein wie Arme der Liebe.«

»Laß es bald sein, bald«, zieht es ihm nach, wie ein Seufzen. – –

Regelmäßig der Atem. Friedlich geworden die verkrampften Züge. Ganz kühl jetzt die spröd verbrannte Haut. – Der eisige Druck wird von der Stirn genommen. Eine wärmende Hülle breitet sich über die entspannten Glieder. Die Stunden der Nacht 157 schreiten weiter. Jede bringt etwas Heilung, jede trägt etwas Krankheit davon. Tief, tief ist der Schlaf.

Frühmorgen dringt ins Zimmer. Immer noch wacht bei ihr der Arzt. Nun regt sie sich. Öffnet die Augen. Blickt ihn erstaunt an.

»Sie sind hier? – Aber es war doch der Tod, der da stand?«

»Vielleicht auch er, aber – war er hier – jetzt ist er fort.« Es klingt froh, beinah ausgelassen.

»Und . . . er sagte . . . ich solle . . . wieder singen.«

»Ja, wenn schon der Tod kommt, mit uns zu reden, muß er doch etwas Gutes zu raten haben.«

»Ich glaube wirklich, ich werde es sehr bald wieder können. Ich fühle mich schon ganz gesund.«

Es ging dann doch nicht so rasch, wie sie an jenem Morgen wundersamer Genesung erwartet hatte. Instinktiver Lebenswille jungen, wieder gesundenden Körpers hatte da allzu laut gesprochen. Aber allmählich kehrten die Kräfte wieder. Eine Grenzlinie bildete die Krankheit im Bewußtsein. Die 158 allbeherrschende Verzweiflung, die vorher gewesen, war in ihrem auflehnenden Zerstörungswillen gebrochen. Höherem Gesetze sich fügend, fand ihres Schmerzensschreies Mißton Auflösung im Klang der Entsagung. Trauer – tiefe, tiefe – blieb freilich traumgleicher Hintergrund des fürderen Lebensgebildes, aber doch – ertragbarer jetzt die langen Tage, die leeren Nächte.

Und schließlich tönte die berühmte Stimme wieder durch die Welt. Wurde mit Jubel und zugleich Staunen begrüßt. Denn sie hatte sich sehr verändert. Das einstige lerchenhaft Frohe war gänzlich aus ihr geschwunden. Dafür hatte sie tiefe, dunkle Klänge gewonnen, die aus Abgründen von Qual zu steigen schienen. – Und es war ja auch ein Singen in Schmerzen. – So wehevoll aber die Stimme geworden, war sie doch eine Freudenbringerin. Denn wer sie vernahm, glaubte in ihr das eigene Leid zu hören, als habe die Stimme es in sich aufgenommen und trüge es nun mit sich, weit, weit fort in himmlische Höhen. Zur Befreierin wurde sie vielen.

Aber bitterschwer war es oft, sich auf der Stufe zu 159 halten, zu der sie Krankheitshellsicht emporgehoben hatte! Die Kraft dazu gab der Einsamen nur das Wissen um die Nähe des einen, der in jener Krankheitsnacht zu ihr gesprochen: Sie schritt den Rest des Lebenspfades an der Hand des Todes. – Doch davon wußten die Menschen nichts. Sie wunderten sich nur über die Wandlung der Stimme, sprachen und schrieben davon, und Kenner meinten, die Sängerin habe die lange Pause offenbar zu einer ganz besonderen neuen Schulung benutzt und so diese wundersamen, an die Herzen greifenden Töne erlernt. – Es war aber keine neue, sondern die uralte, schwere Schule bittersten Herzeleids, in die sie gegangen, in der sie noch immer stand. Mehr und mehr wurde sie in ihr zu einer Gewandelten, Verklärten, mehr und mehr durchleuchtet von der Serenität derer, die sich dem Schwersten, das sie treffen konnte, gewachsen erweisen. Nicht nur das bloße angeborene Wohlwollen herzenswarmer Anlage wohnte jetzt in ihr, sondern das wissende Erbarmen derer, die selbst am Kreuze hängen. Von ihrem hohen Leidenspfahle aus grüßte 160 sie, die so Gemarterte, alle im Schmerze Ringenden: »Ob heute abend, ob morgen – einmal sicher werden wir in überweltlicher Heimat zusammen sein. Und alle Erkenntnis, die wir hier erworben, werden wir dorthin bringen. Erträgnis mühseliger Schmerzensfahrt. Ruhen werden wir dürfen – und nach Zeiten von neuem ausströmen als gesteigerte Kraft – selbst dann Ersehntes formen, das bisher ungestaltbar – selbst einst Weltenschaffer.« – –

So gingen die Jahre. Allmählich erlosch die Stimme. Jüngere, Neuberühmte tönten an ihrer Statt. Die Sängerin wurde vergessen. Ihr Name nur noch erwähnt, wenn man von Einstmaligen sprach. Jeder Tag, jede Minute brachte ein Sterben, ein Vergehen und Anderswerden. Viele Verschiedene wurde sie, wie ein jeder im Laufe des Daseins. Immer stiller verrann das Leben in dem weißen Haus am blauen Meere. Verrieselte. Versiegte.

Dann noch einmal ein Krankenlager hinter den von Rosen umsponnenen Mauern. Ein einsames Krankenlager. Der grausame Freund, der sie einst 161 ins Leben zurückgerufen, selbst nun unerreichbar. Kaum noch teilnehmende Frager aus den Kreisen der vorbeihastenden, großen Welt. Nur um die Sicherheit eigener Zukunft bangende Almosenempfänger klopften an, erkundigten sich angstvoll. Und gingen beruhigt von dannen. Längst war für sie gesorgt. Alles Ererbte, alles Ersungene, das weiße Haus selbst den Elenden der Erde vermacht. Nichts Irdisches mehr zu ordnen.

Die Einsame wartete. Sann nach. Überdachte das schwindende Leben. Noch einmal sah sie glanzdurchwobenes Zauberland schimmern, das Liebe ihr einst schuf und das so rasch versank. War es wirklich ein so sehr Gutes gewesen, ihres Daseins Melodie nachher noch um diese letzten Sätze zu verlängern? Wäre sie nicht erlesener gewesen, wenn sie gleich damals hätte verklingen dürfen? – Müßig fragen. Nahe, nahe war sie ja nun doch dem Schlußakkord. – Schmerz, Krankheit, scheinbares Genesen, nur um neue Kräfte zu sammeln zu weiterem Schmerz und neuer Krankheit, zum Erlernen der schweren Lehre, 162 das eigene Nichtglück opferfreudig selbst zu wollen – das waren eben wohl die notwendigen Etappen auf der breiten Leidensstraße, die die Myriaden wandern müssen, bis sie endlich im Staub des Wegerandes niedersinken dürfen. – Hart, unbegreiflich schien es, aber sie fühlte, all dem unbegreiflich Scheinenden lag etwas ganz Einfaches zugrunde. Das man nur noch nicht sehen konnte – so wenig wie das eigene Antlitz. All das würde sich offenbaren, sobald die Seele von sterblicher Hülle befreit. Das wahre Sein lag ja jenseits aller irdischen Gebundenheit. – Seit jenem Gespräche in schwerer Krankheitsnacht hatte sie Ziele und Zusammenhänge zu ahnen begonnen. Bald würden sie sich ihr strahlend hell entschleiern. Bald, bald – der Augenblick nahte. – Da öffnete sie die Lippen und sang ein letztes Mal. Leise, mit gebrochener Stimme. Nicht Worte menschlicher Sprache formend. Reinste Töne nur. Unsichtbaren eine Verkündung: »Öffnet das Tor – ich auch kehre endlich nun heim.« –

Die Stimme erstarb. – Die Augenlider sinken, 163 herabgedrückt von wesenlosen Händen. Jetzt ist sie selbst nur noch ein Lauschen. Wann wird ihr Antwort? – Ein Pochen. Leise. Dann lauter werdend. Pochen gegen ein verschlossenes Tor. Eilendes Atmen, angstvolles Hämmern im Herzen – Pochen gegen das Tor. Da – der Atem erloschen. Das Hämmern – vorbei. Das Tor springt auf. Einer hat es geöffnet. Einer, der des Liebsten Züge trägt. Seine Arme umfangen sie – wie einst – haben sie über die Schwelle gehoben. – Wundersam weiche Weisen wehen ihr entgegen. Töne, wie sie nie noch vernommen. Kann Gesang so klingen? Das die Sprache, die auf Erden nur gestammelt? Heimatsprache? – Heimat. Wieder sein, was selbst einst gewesen. Das Vergessene, wiedererlernt. Das Verlorene, wiedergefunden. Vollkommenes Glück . . . Heim . . . Heim.

 


 


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