Ludwig Hevesi
Regenbogen
Ludwig Hevesi

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Ein Pechvogel.

1889.

Eines Tages stand ich im Laden eines Rahmenfabrikanten in der Kärntnerstraße zu Wien. Während ich meinen Einkauf machte, trat hinter mir jemand ein und eine mir unbekannte Stimme fragte die Verkäuferin:

»Pachdong« – das sollte wohl »Pardon« bedeuten – »Pachdong, mein Fräulein, haben Sie auch Rahmen mit H?«

»Wie beliebt?« fragte das Mädchen zurück.

64 »Ich brauche für diese Photographie einen eleganten Rahmen, aber nicht ohne H, wenn ich bitten darf.«

»Also mit einem Buchstaben H versehen? . . . Das haben wir leider nicht fertig, aber es kann gemacht werden. Wünschen Sie das H in Gold?«

»Eigentlich nicht. Nein, nicht in Gold.«

»Also geschnitzt, in der Holzfarbe?«

»Eigentlich auch nicht, doch . . . man könnte immerhin sagen: in derselben Art, wie das Übrige.«

»Und an welcher Stelle soll das H angebracht sein?«

»An welcher Stelle? Mein Gott, das ist klar . . ., nach dem A.«

»Ach so,« rief das Mädchen, »Sie meinen also ein Monogramm AH.«

»Doch nicht, mein Fräulein,« rief die Stimme lebhaft, »das auf keinen Fall! Sie verstehen mich nicht.«

Ein etwas reizbarer Commis, der nebenan beschäftigt gewesen, kam plötzlich seiner Kollegin zu Hilfe und fuhr scharf darein: »Mein Herr, wir verstehen ganz wohl, sobald man sich . . . verständlich ausdrückt.«

65 »Nowaja Semlja!« rief die Stimme mit einer Betonung, welche offenbar sagen wollte: »Da hast du's!« Dann hörte ich hinter mir knarrende Schritte, die den Laden verließen. Als ich bald darauf ein Gleiches that, sah ich auf dem Bürgersteig einen halbfein gekleideten Herrn stehen, der eine Photographie in der Hand hielt und bald diese, bald das Geschäftsschild betrachtete. Sein bartloses Gesicht hatte einen Ausdruck, als fühle er sich sehr unglücklich. Unwillkürlich blieb ich stehen, gleichsam um ihn zurückzuhalten, falls er sich aus Verzweiflung sollte in den Abgrund stürzen wollen, der allerdings da herum gar nicht vorhanden war.

Er stieß einen Seufzer aus und redete mich an, indem er auf das Geschäftsschild wies: »Pachdong, mein Herr, verstehen Sie Orthographie?«

Etwas erstaunt entgegnete ich: »Ich glaube wohl.«

»So lesen Sie, bitte, was auf diesem Schilde steht. ›Ramen in allen Sorten und Größen.‹ Ich bitte Sie, ›Ramen‹ ohne H geschrieben. Ich brauche notwendig einen für das Bild meiner lieben Braut, aber sie haben da keinen Rahmen mit H, und einen fehlerhaften mag ich nicht, dazu liebe ich dieses 66 Mädchen zu sehr. O, es ist ein Ideal, mein Herr, ein Bild von einem Mädchen!« Er hielt mir die Photographie unter die Augen. Sie stellte eine schlanke Dame vor, in modischer Tracht, aber von rückwärts gesehen. Das Leibchen war herzförmig ausgeschnitten, man sah einen tadellosen Rücken. Dann steckte er das Bild in die innere Rocktasche und seufzte wieder: »Ich bin, wie man so sagt, ein Pechvogel.« Er lüftete seinen hellgrauen Cylinder, machte mir eine steife Verbeugung und ein unendlich trauriges Gesicht dazu und schritt stelzbeinig von dannen.

»Ein Narr,« sagte ich mir und ging meiner Wege.

* * *

Einige Monate später befand ich mich im Kabinett eines mir befreundeten Zahnarztes. Er bearbeitete im Nebenzimmer seine Patienten und kam, wenn er diesen eine Pause zum Aufatmen gönnen mußte, auf Minuten zu mir herein, um ein wenig weiter zu plaudern. Als er nach einer solchen Pause wieder hinausging, um sich einem neuen Zahne zu widmen, wurde ich plötzlich aufmerksam. Durch die halboffene Zwischenthür hörte 67 ich eine Stimme, deren fatalen Klang ich schon einmal gehört haben mußte. Wo? das erriet ich einstweilen nicht. Sie klang wie die eines tief niedergedrückten Menschen, der soeben von einem Unglück zum anderen übergeht.

»Guten Vormittag, lieber Freund,« seufzte der Leidende, »Sie sehen in mir den ausgemachten Pechvogel. Glauben Sie mir, ich hätte Sie gerne verschont, aber Sie kennen ja mein altes Verhängnis . . . Seit acht Tagen plagt mich ein böser Zahn jahrelang. Ich konnte den ganzen Tag nicht schlafen und mußte schließlich etwas dagegen thun. Ich ging also in die Leihbibliothek und ließ mir . . .«

»Entschuldigen Sie, lieber Freund,« unterbrach ihn der Arzt, »erst wollen wir Sie doch von Ihren Schmerzen befreien, Sie erzählen mir dann die Geschichte zu Ende.«

In wenigen Augenblicken war denn auch alles vorbei, der Zahn genommen, der Schmerz wie abgeschnitten. Nichtsdestoweniger fuhr der Patient im Tone schmerzlicher Ergebung fort: »Ich ging also in die Leihbibliothek und ließ mir Bocks Buch vom gesunden und kranken Menschen geben, wo ich ein Mittel gegen Zahnschmerz zu finden hoffte. 68 O, es ist ein ausgezeichnetes Buch, es hat mich auch vollständig kuriert. Hören Sie nur. Ich schlage also vor allem das Sachregister am Ende auf, Buchstabe Z. Da finde ich richtig: ›Zahnschmerz, Seite 40l‹. Ich betrachte diese Stelle aufmerksam und finde, daß 401 eine sehr schöne Nummer ist und sich ohne besondere Mühe in die Nummern 40, 10 und 1 zerlegen läßt. Ich schlage also das Buch wieder zu, gehe in die nächste Lottokollektur und setze diese Nummern. Ich warte drei Tage in einer Aufregung, welche meinen Zahnschmerz noch steigert. Endlich findet die Ziehung statt und heraus kommen die Nummern 40, 10 und 4. Ich aufgelegter Unglücksvogel! Alles mißlingt mir ja. Warum hatte ich nicht 4 statt 1 gesetzt? 4 ist eine so schöne, viereckige Nummer, sie setzt sich ja sozusagen von selbst. Aber das ist ein Erbmalheur; hätte ich 4 gesetzt, so wäre 1 erschienen. Kurz und gut, ich habe nur ein Ambo gewonnen. Vier Gülden. Gerade hinreichend, um mir dafür den bösen Zahn ziehen zu lassen. Hier sind die vier Gulden, lieber Freund.«

»Was fällt Ihnen ein?« rief der Arzt lachend. »Wir stehen doch nicht auf dem Guldenfuße 69 miteinander. Einem alten Freunde reißt man immer gern einen Zahn; es war mir ein lebhaftes Vergnügen, das ich mir doch nicht bezahlen lassen kann.«

»Auch gut, ich kann Sie ja nicht zwingen,« entgegnete die Stimme, noch viel unglücklicher als vorher, »aber gestehen Sie wenigstens, daß Bocks Buch vom ungesunden und kranken Menschen ein gutes Buch ist. Es versieht einen sogar mit dem Honorar für den Arzt. Guten Mittag, lieber Freund. Nowaja Semlja!«

Er ging und mein ärztlicher Freund kehrte zu mir zurück. Ich erzählte ihm, daß ich dieser Stimme schon einmal begegnet sei; mittlerweile war mir die Geschichte wieder eingefallen.

»Du kennst den Doktor Taube nicht?« rief er erstaunt. »Eine so stadtbekannte Figur. Ein Original vom reinsten Wasser. Eine Existenz, wie sie nur in einer gemütlichen Großstadt vorkommen kann. Warte, ich will dir einiges von ihm erzählen.«

In diesem Augenblicke wurde er abgerufen, um einen auf diese Stunde bestellten Zahn zu plombieren. Die Arbeit dauerte mir zu lange und ich entfernte mich durch eine andere Thür.

* * *

70 Ich hatte damals viel zu thun und dachte nicht weiter an den Doktor Taube. Aber kurze Zeit nachher geriet ich einmal ins »Lamm«, wo ich in aller Muße gut zu speisen gedachte. In einer schönen Nische war ein Stammtisch gedeckt, dem ich durch einige Bekanntschaften gleichsam als auswärtiges Mitglied angehörte. Ich war angenehm überrascht, als einer der Herren, Direktor v. M., eintrat und den Doktor Taube mitbrachte, der den anderen Herren längst bekannt schien.

»Ich empfehle mich, meine Herren,« sagte Doktor Taube sehr zerknirscht, indem er sich an der Seite des Direktors niederließ. Alles lachte.

»Gehen Sie denn schon?« fragte Bankier Z.

»Noch nicht, aber nur zu bald,« entgegnete jener traurig. »Ich finde es ganz verkehrt, sich beim Fortgehen zu empfehlen; man sollte das stets beim Kommen thun, da man ja das Wohlwollen der Leute am dringendsten braucht, solange man sich unter ihnen befindet.«

Dann wandte er sich seiner Suppe zu, rührte sie längere Zeit liebevoll um und nahm einen Löffel voll zu sich. Langsam, sehr langsam schlürfte er sie hinab, es war Mock Turtle. »Gute Suppen 71 sind noch seltener als gute Menschen,« sagte er schwermütig, indem er den Löffel wieder in den Teller zurücklegte und sich erhob. Mit dem Worte »Pachdong« wollte er sich sachte an seiner Nachbarschaft vorbeidrücken.

»Was ist's? Wohin, Doktor?« rief alles betroffen.

»Ich habe das Meinige gethan,« entgegnete er im Tone höchlichen Bedauerns, »Herr Direktor v. M. war so liebenswürdig gewesen, mich auf einen Löffel Suppe einzuladen . . . das sind seine eigenen Worte . . . ich habe dieses Quantum Mock dankbar zu mir genommen, auf mehr habe ich kein Recht, also gehe ich.«

»Aber Doktor!« rief der Direktor, »das war ja nur eine Redensart; man pflegt so zu sagen. Sie wissen es ganz gut, wie sehr es mich freut, Ihnen möglichst viel Freude zu machen. Wir bleiben noch ein paar Stunden beisammen sitzen.«

Mehrere Hände faßten Doktor Taube an mehreren Ecken und Enden und setzten ihn mit freundlicher Gewalt wieder auf seinen Stuhl.

»Nowaja Semlja!« rief er mit einer Betonung, daß jedermann verstand, er meine damit: ›Das 72 ist etwas anderes,‹ und fuhr fort, seine Suppe zu verzehren.

»Nowaja Semlja,« flüsterte mir ein alter Bekannter, der pensionierte Rittmeister D. zu, »das ist so eine Redensart, die er sich selbst gemacht hat. Eine Art allgemeines Empfindungswort, dem er durch die Betonung jedesmal genau den Ausdruck verleiht, daß man versteht, was er darunter verstanden haben will.«

Als Doktor Taube die Suppe mit Appetit verzehrt hatte, glitt ein Schimmer bitteren Selbstbedauerns über sein Antlitz. Aber er gab dieser Stimmung nicht nach, sondern raffte sich gewaltsam auf.

»Gerson!« rief er.

Der Kellner trat höflich herzu und bemerkte schüchtern: »Mein Name ist Charles, Herr Doktor, es heißt niemand von uns Gerson.«

»Sie verstehen nicht Französisch, Charles,« entgegnete Doktor Taube sanft, »ich meinte ›garçon‹, sprach es aber mit dem mir eigenen Pariser Accent aus . . . Nun denn, geben Sie mir, bitte, etwas Salm.«

»Sehr gut, Herr Doktor; womit, wenn ich bitten darf?«

73 »Mit . . . nichts.« Aber als der Kellner auf den Flügeln seines Fracks davonschwebte, rief er ihm klagend nach: »Mit viel Nichts, Charles, ich bin heute hungrig.«

»Haben Sie längere Zeit in Paris gelebt, Herr Doktor?« fragte ich ihn.

»Ach nein,« seufzte er, »wo wäre ich so glücklich gewesen? Aber von einem Glücklicheren habe ich einen Hund geerbt, den er aus Paris mitgebracht hatte. Einen reizenden Seidenpintscher. Wäre er nicht vierfüßig gewesen, ich würde ihn einen Engel nennen. Dieses Tierchen verstand nur französisch, und zwar auch nur, wenn es sehr gut ausgesprochen wurde. Sonst folgte es nicht. Ihm zuliebe mußte ich es also lernen, wenigstens so weit sein eigenes Verständnis ging. Das erste Wort, das ich lernte, war ›amour‹. So hieß er nämlich. Und so lernte ich durch ihn sogar die Liebe kennen. Er ist leider, ehe ich es noch in der Sprache weit genug bringen konnte, von einem Fiaker überfahren worden. Seitdem hasse ich die Fiaker und fahre nur noch auf der weit billigeren Tramway.« Seine Stimme war ganz düster geworden. Dann fügte er feierlich wie ein Gelübde 74 hinzu: »Wenn er noch lebte . . . o mein Herr, Ihr ganzes Vermögen würde ich darum geben. Ich habe eben auch mit Amour Unglück gehabt.«

»Sagen Sie, lieber Doktor,« hub Bankier Z. an, »wie viel Pech haben Sie eigentlich in Ihrem Leben gehabt, alles zusammen?«

»Ich könnte Ihnen das ganz genau sagen,« erwiderte er, »wenn ich es wüßte. So viel aber kann ich Ihnen versichern: wenn der ganze transatlantische Ozean Bier wäre und in Fässer gefüllt werden müßte, könnte ich aus Eigenem alle diese Fässer verpichen. Ich bin ja auch stolz darauf, der größte Pechvogel meiner Zeit zu sein.«

Als er seinen Salm verspeist hatte, bestellte er im zerknirschenden Gefühle seines Unglücks ein Entrecôte aux pompes funèbres...; aux pommes frites, verbesserte er sich. Dann blieb er tief in sich und seinen Teller versunken, bis mehrere Flaschen Sekt geleert waren. Dann sagte er plötzlich: »Sie fragen, wann mein Unglück begann?«

Zwar hatte das niemand gefragt, aber dennoch sagte alles: »Ja wohl.«

»Mein erster Unfall war,« fuhr er fort, »daß ich nicht am Sonntag geboren wurde; so konnte 75 ich trotz alles Bemühens kein Sonntagskind werden. Dazu kam noch die unangenehme Verschärfung, daß ich gleich als Knabe auf die Welt kam. Wäre ich ein Mädchen geworden, so hätte mich mein größtes Unglück nicht betroffen: ich hätte meine Frau nicht heiraten können.«

Mir fiel jene Photographie ein, die damals, in der Kärntnerstraße, seine Braut vorstellen sollte.

Ein Murmeln des Bedauerns lief langsam um den Tisch.

»Gerson!« rief Doktor Taube, »ein anderes Champagnerglas, bitte; jemand hat hier eine Thräne hineinfallen lassen.« Und als »Gerson« das Glas wegnehmen wollte: »Warten Sie noch einen Augenblick, ich will es nur erst austrinken.«

In größter Spannung sahen wir ihm zu, wie er dies bewerkstelligte. Dann fuhr er fort:

»Doch Sie können noch nicht begreifen. Erst muß ich Ihnen zeigen, wie von zwei Menschen, die unter demselben Stern geboren wurden, der eine ein Glückspilz, der andere ein Pechvogel sein kann. Glauben Sie, daß ein Pilz und ein Vogel Zwillinge sein können? Ich und mein Bruder Hans waren das. Wir waren thatsächlich Zwillinge. 76 Firma: Castor und Pollux. Dann kam das Kriegsjahr 1866. Wir hatten beide gedient, waren beide Offiziere. Dennoch war ich nicht mehr wehrpflichtig, er aber war es noch. Er war nämlich um ein Jahr älter als ich.«

Alles horchte auf. Einige lächelten laut.

»Nowaja Semlja!« rief er mit einer Betonung, als sagte er: ›Warten Sie nur einen Augenblick.‹ Ich erblickte nämlich das Licht zuerst, und zwar am 31. Dezember 1833 um 11 Uhr nachts. Zwei Stunden später folgte er meinen Spuren, also am 1. Januar 1834 um 1 Uhr morgens. Begreifen Sie nun? Ich war um ein Jahr älter, hatte daher um ein Jahr früher ausgedient. Er mußte noch den Krieg von 1866 mitmachen und fiel bei Königgrätz.«

Der merkwürdige Fall hatte am Tische Sensation gemacht. Es entstand eine kurze Pause. Dann wagten einige den Einwurf: »Aber, lieber Doktor, dann haben Sie ja das Glück gehabt und er das Unglück.«

»Nowaja Semlja!« rief er im Tone von: ›Warum nicht gar!‹ Mein Bruder Hans war nämlich Bräutigam. Durch seinen Tod blieb seine 77 Braut gleichsam Witwe. Ich war sein Zwillingsbruder und wir sahen uns so ähnlich wie zwei Billardkugeln. Sie können ja wohl Billard spielen, Sie werden mich also verstehen. Nun denn, sie nahm mich für ihn. O, meine Herren, wenn ich in jener verhängnisvollen Nacht zu meinem Bruder gesagt hätte: ›Lieber Hans, geh du voraus, dann brauchst du nicht bei Königgrätz mitzufechten,‹ so hätte er mir vermutlich gefolgt und ich wäre heute ein glücklicher Mensch . . . Gerson! Geben Sie mir 78 eine Omelette. Ich hörte einmal einen Engländer sagen: Hamlet aux confitures.«

Zufällig betrat in diesem Augenblicke eine andere Gesellschaft den Saal und nahm unfern von uns Platz. Eine Dame war mit, eine hübsche kleine Person, mit sehr hohen Hacken an den Schuhen. Sie lenkte die Aufmerksamkeit des Erzählers auf sich. Sinnend betrachtete er sie und sagte dann: »Merkwürdig, daß alle Damen gern groß wären, selbst die kleinsten.«

Dann, als die Dame uns ihr Gesicht zuwandte, sprang er sichtlich erschrocken auf. »Nowaja Semlja!« rief er; es klang wie: ›Alle Wetter!‹ Und dann im Flüsterton: »Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich muß augenblicklich fort. Jene Dame . . . Ich kann nicht in einem Zimmer mit ihr weilen. Leben Sie nicht unwohl!«

Und wie ein Aal schlüpfte er an den Nachbarn vorbei und zum Saale hinaus.

»Das wird doch nicht seine Frau sein?« fragte ich den Bankier Z.

»Ich glaube, er ist überhaupt nie verheiratet gewesen,« entgegnete dieser.

»Aber die Braut seines Bruders?« warf ich ein.

79 »Er hat überhaupt nie einen Bruder gehabt,« sagte Direktor v. M.

Ich sah die Herren erstaunt an. Zwei Stunden lang hatte es Doktor Taube so fortgetrieben, wie ich hier nur durch Erwähnung einzelner seiner Reden andeuten konnte. Und nun sollte das alles nicht wahr sein?

»Ja wohl,« sagte Rittmeister D. »der Doktor ist eine seltsame Figur. Eigentlich etwas wie eine katilinarische Existenz, deren Voraussetzungen sich im Dunkel verlieren. Aber man kann ihm nichts Schlimmes nachsagen. Eine verdorbene Laufbahn hat er jedenfalls hinter sich. Jetzt lebt er von seinen Schnurren, eine Art Hofnarr für alle Welt. An vielen guten Tischen ist er gern gesehen. Man ladet ihn ein zur Unterhaltung der anderen Gäste. Und immer bringt er irgend eine neue Ungeheuerlichkeit mit, hat alle Taschen voll Münchhausiaden, lügt wie gedruckt und noch viel besser. Wenn er sich im Gasthause an den Tisch eines Bekannten setzt, ist es selbstverständlich, daß dieser seine Zeche bezahlt. Einer Einladung oder Übereinkunft bedarf es dazu nicht. Im »Café Stolz« ist ihm ein ewiger Freitisch gewährt, denn viele Leute, die sich 80 langweilen, gehen eigens dahin, um sich durch seine Possen erheitern zu lassen. Er hat manchmal eine ganze Zuhörerschaft um sich. Meistens in der Stunde vor dem Theater. Und dieses Jahr ist er besonders unterhaltend, da er sich auf den Weltschmerzler hinausspielt. Er läßt sich als Pechvogel sehen, den jedes Unglück getroffen hat, trifft oder noch treffen wird. Natürlicher erfindet er Fatalitäten, wie sie noch keinen andern betroffen haben, z. B. die mit seinem Zwillingsbruder. Es wundert mich nur, daß die zwei keine Drillinge waren.«

»Ich werde ihn morgen wieder mitbringen,« sagte Direktor v. M., »er muß uns sagen, warum er vor jener hübschen Dame so erschrocken ist . . . Charles, kennen Sie die Dame?«

Charles kannte sie nicht, es waren Fremde, die nicht im Hause wohnten.

* * *

Am anderen Mittag war Doktor Taube richtig wieder da. Direktor v. M. hatte ihn bewogen, in zwei Häusern, wo er geladen war, abzusagen und »zum Lamm« zu kommen.

Das erste, was er that, war, nach dem Sessel 81 zu schauen, auf dem jene Dame gestern gesessen. »Gerson!« rief er, »bitte, geben Sie mir jenen Stuhl her, ich will selbst darauf sitzen, damit es die Dame von gestern nicht wieder thun kann.«

»Aber wer war denn diese erschreckende Dame?« fragte der Rittmeister.

»Ich kenne sie gottlob nicht,« gab er zur Antwort. »Wozu auch? Ist es nicht genug, daß sie mich ein Vermögen gekostet hat?«

»Sie scherzen schon wieder, Doktor,« mahnte der Bankier Z.

»Nowaja Semlja!« rief er in einem Tone, als meinte er: ›Ein Scherz ist so weit von mir entfernt, wie der Vollmond von Neu-Lerchenfeld‹. »Ich nahm mir gestern eigens einen Dienstmann, der zwei Stunden lang für mich schaudern mußte bei dem Gedanken an dieses Zusammentreffen . . . Ich will niemanden beleidigen, aber dieser Sherry könnte schlechter sein . . . Wie gesagt, gesehen habe ich die Dame nie zuvor, doch ist sie mir viermal im Leben begegnet und hat mich jedesmal ein Viertel meiner damaligen Habe gekostet . . . Gerson! Bitte, bestellen Sie mir einen Backenbart mit grünen Erbsen.«

82 Der Kellner sah ihn verdutzt und fragend an.

»Pachdong,« flehte Doktor Taube, »ich meinte eine Kotelette. Ich interessiere mich nämlich jetzt für Sprachreinigung und rotte täglich gleich vor dem Frühstück mehrere Fremdwörter aus . . . Nun denn, mein Regiment lag damals in Makao. Pachdong, es lag in Galizien und wir spielten dort viel Makao. Diese Stadt ist ein schönes Hazardspiel, in dem ich selbst Hosen verlor, die ich mir erst nächstes Jahr . . . noch lange nicht bestellen werde. Ich hätte statt Hosen allerdings auch Unaussprechliche sagen können, aber das wäre eine Lüge gewesen, denn ich kann sie ja doch aussprechen. Eines Abends also gab Hauptmann P. die Bank. Ich verlor rasend und verdoppelte immer meine Einsätze. Schließlich hatte ich nur noch vier Millionen in der Westentasche, den Rest meines Vermögens. Ich setze die eine, er schlägt sich neun auf und dazu Pique-Dame; er gewinnt. Ich setze die zweite, Pique-Dame kommt wieder. Die dritte, vierte . . . sie kommt noch zweimal wieder. Es war unglaublich. Ich war ruiniert durch diese eine Karte . . . Die Dame aber, die mich gestern so erschreckte, muß das Original jener Pique-Dame gewesen sein. 83 Ich werde das Gesicht nie vergessen; diese schwarzen, von rechts nach links gezogenen Augenbrauen, die dunkle Lockenfrisur, die merkwürdig gewöhnliche Nase, das Kinn gleich unter dem Munde. Mir war, als sähe ich ein Medusenhaupt. Einer der pechschwarzen Tage meines Lebens tauchte in meiner Erinnerung auf, ich floh teils von hinnen, teils von dannen.«

»In der That, Sie schienen sehr unangenehm überrascht,« sagte Rittmeister D.

»Nowaja Semlja!« rief Doktor Taube genau so, als riefe er: ›Alle Hagel!‹ – was durchaus nicht so klang wie gestern, da es ›Alle Wetter!‹ bedeutete. Es war ein feiner Unterschied, zum Gröberen hin, nicht zu verkennen. »Nowaja Semlja! Ich war überrascht wie . . . wie . . . Es fällt mir gerade kein hoher Grad von Überraschung ein . . . Sagen wir: ich war überrascht wie einer, der in der sauce hollandaise unversehens einen Pflaumenkern findet . . . Mich schauderte. Gerson! Bitte, bringen Sie mir eine Gänsehaut, aber gleich! . . . Sie können sich denken, meine Herren ohne Damen, daß ich mein Unglück trug wie einen eleganten Rock vom ersten Schneider; es saß mir 84 wie angegossen, es warf nirgends eine Falte, nur die Schöße dauerten mir etwas zu lang. Da traf mich ein noch größeres Unglück: ich beerbte meinen Bruder. Er hatte ein ansehnliches Passivvermögen und ich war sein Universalerbe. Ich bezahlte seine Schulden mit den meinigen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit. Die Mitgift seiner Braut wurde dadurch glücklicherweise nicht geringer, denn sie hatte keine. Sie war die Tochter eines gewesenen Finanzmannes, der sich später mit Erfolg dem Bettelstande gewidmet hatte O, sie war schön! Sie war mir zwar nicht so ähnlich wie mein Bruder, aber ich liebte sie doch, mit einer Leidenschaft, wie ich sie nicht einmal für meine Schwägerin empfunden hätte. Wir heirateten in Königgrätz und dachten dabei an einen, der unter der Erde lag, unter einem der vielen Hügel. Dann machten wir eine Hochzeitsreise. Ich suchte den Ort aus, wo wir am billigsten leben konnten. Das war Ostende.«

»Das teuere Ostende?« rief Bankier Z. unwillkürlich.

»Ostende ist die billigste Stadt, die es giebt,« entgegnete Doktor Taube sehr niedergeschlagen, »die 85 Leute wissen sich nur nicht ihre Zeit zu wählen. Wir heirateten Ende November und um diese Zeit befanden wir uns in Ostende sehr wohl. Wir lebten genau um den Pappenstiel, der unser Einkommen bildete. Und wir brauchten da nicht den geringsten Mangel an Unbequemlichkeit zu leiden. Unsere Mittel reichten vollkommen aus, um uns in den feinsten Entbehrungen schwelgen zu lassen. Wir hätten sogar Einladungen abgelehnt, wenn welche gekommen wären. Selbst die Bedienung war ausgezeichnet und machte nicht einmal Anspruch auf Trinkgeld. Ich hatte einen vorzüglichen Kammerdiener Namens Sturm. Er hauste auf dem Strande und beschäftigte sich meist mit Wehen. Er nahm mir den Hut ab, ohne daß ich den Finger zu rühren brauchte. Er knöpfte mir sogar mit einem Ruck meine Kleider auf, wenn ich mich etwas schief gegen ihn stellte, und blies sie mir vom Leibe, ehe ich schlafen ging. Dicht vor meiner Wohnung befand sich eine ewige Regenpfütze; da brauchte ich abends nur die Thür ein wenig zu öffnen und mit dem Fuße hineinzutreten, dann blieb der Schuh von selbst darin stecken, ich brauchte ihn nicht auszuziehen. Es war sehr bequem. Auch über die 86 Güte des Essens konnten wir uns nicht beklagen; selbst ein Halbverhungerter hätte mit beiden Händen darnach gegriffen. Kurz, ich glaubte glücklich zu sein. Das war ja mein Unglück . . . Denn eines Tages erschien jener Amerikaner . . .«

Er atmete tief auf und preßte beide Hände vor sein Gesicht. Ich machte dabei die Wahrnehmung, daß ihm ein Daumen fehlte. Er schwieg mehrere Minuten. Dann sagte er plötzlich in elegischem Tone: »Gerson, ich wünschte eine Flasche Witwe Röderer. Nur bei verwitwetem Sekt kann ich dieses neue Unglück erzählen.«

»Witwe Röderer?« wiederholte Charles zweifelnd.

»Nowaja Semlja,« sagte Doktor Taube im Tone von ›Natürlich‹. »Glauben Sie etwa, daß der Gatte der Madame Röderer ewig gelebt hat?« Dann kam eine Flasche, mit einer Serviette umhüllt, und Charles schenkte ihm sein Glas voll. Der Doktor kostete mißtrauisch und meinte: »Na, gar lange kann der Mann noch nicht tot sein, dazu schmeckt das Zeug nicht sauer genug. Thut nichts, mit etwas Gießhübler gemischt, will ich's versuchen . . . Also der Amerikaner tauchte auf. Mylords 87 und Gentlemen, haben Sie jemals einen Amerikaner auftauchen sehen?«

»Nein!« riefen alle, denn sie erinnerten sich in der That nicht, einer solchen Naturerscheinung jemals beigewohnt zu haben.

»Wissen Sie, was ein Amerikaner ist?« fuhr er fort.

»Eine Rothaut von weißer Farbe,« wagte Direktor v. M. zu bemerken.

»Ein Transleithanier, der acht Tage braucht, um über seine Leitha zu setzen,« riet Bankier Z.

»Ein Bruder, der Jonathan heißt,« mutmaßte Rittmeister D.

»Strengen Sie sich nicht an,« sagte Doktor Taube düster. »Sie werden es sogleich hören. Er hieß Colonel Jedediah W. Long. Er kam nach Ostende, um die Seebäder zu gebrauchen. Daß er dies Mitte Dezember that, kennzeichnet den Mann. Er fiel uns auf dem Strande auf, bei furchtbarem Regenwetter, gegen das er sich durch einen vollständigen Taucheranzug geschützt hatte, mit einer Glasscheibe vor dem Gesichte und zwei langen Schläuchen, durch die er atmete. Er war hoch gewachsen, um einen Kopf höher als ich, 88 aber um zwei Köpfe kleiner als der Leuchtturm. Ich bemerkte sofort, daß er einen großen Eindruck auf meine Frau machte. Einen noch größeren machte sie auf ihn. Er blieb vor ihr stehen, mit ausgebreiteten Armen, als wollte er sie umschlingen; ohne die Scheibe vor dem Gesichte hätte er sie vielleicht sofort geküßt. Wir machten Kehrt, er folgte uns. Von diesem Augenblicke blieb er an unsere Fersen geheftet. Wenn er nicht bei uns war, stand er auf seinem Balkon im »Hôtel de l'Océan« und photographierte uns à la minute, sobald wir ihm den Rücken gekehrt hatten. Hier ist eine dieser Photographieen.«

89 Er holte das Bild aus der Brusttasche, das ich bereits damals in der Kärntnerstraße in seinen Händen gesehen hatte. Die schlanke Dame, von rückwärts gesehen, in modischer Tracht, das Leibchen herzförmig ausgeschnitten, tadelloser Rücken . . . Nur war es jetzt in ein ledernes Passepartout gesteckt, das sich als Brieftasche darüber schloß.

»Diese Aufnahme ist vom Weihnachtstag, wo plötzlich ein wahres Sommerwetter herrschte. Die Brüsseler strömten nach Ostende und es gab sogar ein Mittagskonzert, aus dem meine Frau in diesem Kleide nach Hause gehen konnte. Ich trug ihre Mantille auf dem Arm.«

Das Bild machte die Runde und versetzte die Gesellschaft in eine seltsame Stimmung. Jedermann schien sich im stillen zu fragen, ob nicht doch vielleicht ein Kern von Wahrheit in diesen krausen Fabeleien stecke. Als das Bild an ihn zurückgelangt war, betrachtete er es eine Weile mit einem Antlitz, das versteinert schien. Er zog ein seidenes Taschentuch und rieb damit vorsichtig eine Stelle des Bildes, die trüb geworden war, bis sie wieder glänzte. Dann schloß er die Brieftasche und steckte sie ein.

90 »Nowaja Semlja,« sagte er mit Ergebung, ungefähr wie: ›Thut nichts, es ist vorbei.‹ Dann fuhr er in seinen Mitteilungen fort: »Der Colonel war, wie er mir später sagte, außer Dienst. Er war ein Opfer der Uniformierungsvorschriften seines Landes geworden. Die Truppe, bei der er diente, hatte nämlich zweierlei Waffenröcke, einen kurzen, leichten, mit zwei Taschen vorn auf der Brust, und einen langen, schwereren, mit zwei Taschen hinten in den Schößen. In einem Feldzug gegen die Indianer hatte sein Regiment viel durch unausgesetzten raschen Witterungswechsel zu leiden. Einen Tag war Sommer, den anderen Tag Winter. Natürlich waren die meisten erkältet; Schnupfen, Husten, Grippe herrschten in den Reihen. Der Waffenrock wurde jeden Tag gewechselt, manchen Tag mehreremale. Stach die Sonne, so zog man den kurzen, leichten an; blies der Schneesturm von den Felsengebirgen herab, so kam der lange, schwerere an die Reihe. Dabei waren die Schnupftücher in Permanenz erklärt. Begreifen Sie die Folgen? Der mechanisch gewordene Griff nach dem Schnupftuch war fast jedesmal ein Fehlgriff, der berichtigt werden mußte. Griff man nach hinten, wo die Taschen 91 des langen Rockes waren, so merkte man, daß man mittlerweile den kurzen angezogen hatte und nach der vorderen Brusttasche greifen mußte. Und dann wieder umgekehrt. Dieses ärgerliche Fehlgreifen, wochenlang, monatelang so fortgesetzt, machte die Leute außerordentlich nervös. Der Colonel, der dies schon früher gewesen war, kam mit zerrütteten Nerven zurück und mußte seinen Abschied nehmen. Die Ärzte verordneten ihm Seebäder, Seereisen, Seeluft. Das Tauchen im Taucheranzug hielt er für besonders zuträglich . . . Doch sehen Sie, ich hatte recht, Gießhübler in diesen Wein zu mischen. Der Eisengehalt desselben hat ihn in zehn Minuten ganz schwärzlich gemacht. Ich erhebe diesen Trauersekt auf das Wohl und Wehe, das ich meine.«

Er hatte das Antlitz eines Leichenbestatters, trank langsam den schwärzlichen Wein und fuhr dann fort:

»Drei Wochen waren so verflossen. Ich bewachte meine Frau, aus einem unbestimmten Gefühl von Unsicherheit. In Gedanken hielt ich sie immer an der Hand. Meine Herren und Schaften, haben Sie jemals eine Frau bewacht?«

Es erhob sich ein Gemurmel, das mehr wie Nein als wie Ja klang.

92 »So gehen Sie hin und thun Sie es vier Wochen lang, dann werde ich die Geschichte weiter erzählen.«

Mit einer Augenblicklichkeit, die förmlich erschreckte, versank er in das tiefste Schweigen. Die Gesellschaft wehrte sich aus allen Kräften gegen diese lautlose Stille gerade in dem Augenblick wo das oberste Weltgesetz zu lauten schien: »Fortsetzung folgt.« Aber vergebens setzte man ihm zu, von rechts und links, er saß wie gelähmt da.

»So schnarchen Sie doch wenigstens, Doktor!« rief der Rittmeister unwillkürlich, unter dem Eindrucke dieses wachen Schlafes.

Glücklicherweise erschien bald darauf der schwarze Kaffee. Dieser weckte den Doktor aus seiner Betäubung.

»Pachdong,« sagte er etwas wirr, »ich war zerstreut; das kommt davon, wenn man sich sammeln will . . . Riechen Sie nichts?«

In der That roch es ganz abscheulich, wie nach verbranntem Tuch. Alle betrachteten ihre Kleidung, denn jeder glaubte zu brennen. Nur Doktor Taube rührte keinen Finger, sondern sagte:

»Es ist offenbar meine Cigarre. Ich rauche 93 eine Intolerables, das ist eine vorzügliche Sorte, sie hat ganz das Aroma von verbranntem Tuch . . . Doch wo hab' ich sie denn?« Er suchte erstaunt nach ihr und fand sie zuletzt in seiner Rocktasche.

»Da sehen Sie meine Zerstreutheit, ich habe sie brennend eingesteckt, sie hat mir ein Loch in den Rockschoß gesengt. Was wird der Taschendieb von mir denken, der mir heute das Taschentuch zieht? Wenn er klug ist, zieht er es durch dieses Brandloch.«

Er steckte sich eine andere Cigarre an und sagte wehmütig: »Nowaja Semlja,« als wollte er sagen: ›Du lieber Himmel!‹ »Wer weiß, ob Sie überhaupt für die weitere Geschichte reif sind, meine Herren? Ich will einmal einen Versuch machen. Eigentlich könnten Sie aus diesem Bilde allein alles erraten.«

Er zog wieder den ledernen Portefeuillerahmen aus der Tasche und reichte ihn dem Direktor M. »Dieses Bild sagt Ihnen alles, . . . wenn Sie zu lesen verstehen.«

Alle steckten die Köpfe zusammen, um die Photographie nochmals aufmerksam zu betrachten. Aber sie sahen nur, was sie bereits gesehen hatten.

94 Glücklicherweise war Bankier Z. gewohnt mit Wechseln umzugehen, und da diese oft auch auf ihrem Rücken Geschriebenes tragen, hatte er es im Griff, jedes Blatt auch umzukehren. Mechanisch zog er also das Bild aus seiner Hülle und drehte es um.

»Oho!« rief er, »wer hätte das geahnt!«

Auf der anderen Seite war die Dame von vorne zu sehen.

In förmlicher Aufregung fielen wir alle zugleich darüber her. Jeder stieß irgend einen Empfindungslaut aus.

Das war sie also, die rätselhafte Person, die, wie jedes Ding, ihre zwei Seiten hatte. In der That ein merkwürdiges Gesicht. Wir sahen einander zweifelnd an, dann wieder dieses seltsame Frauenantlitz, alle Kneifer wurden dazu aufgesetzt. Dann schüttelten wir die Köpfe und richteten unsere Augen auf Doktor Taube.

Rittmeister D. fand zuerst das Wort der Lage und sagte: »Hören Sie, Doktor, Sie haben uns zum Besten; das ist keine Dame, sondern ein Mann.«

»Pachdong,« bat Doktor Taube demütig, »ich glaube bestimmt zu wissen, daß es eine Dame ist.«

95 »Aber dieser tiefe, völlig schwarze Schatten auf der Oberlippe; das ist ja ein förmlicher Schnurrbart.«

»So ist es auch in der That,« stöhnte der Doktor, als wäre er daran schuld. »Sie hatte einen ungewöhnlich starken, schwarzen Schnurrbart. Die Photographie ist zum Sprechen ähnlich. Und doch wieder nicht, denn, wenn sie sprechen könnte, würden Sie noch mehr erstaunen. Auch die Stimme meiner Frau klang wie die eines Mannes. Ein tiefer, wohlklingender Bariton, der vom großen A bis zum eingestrichenen f reichte. In jüngeren Jahren dachte sie wirklich daran, zur Oper zu gehen. Sie hatte sogar schon den ›Don Juan‹ und den ›Figaro‹ studiert und sang diese Partien entzückend. Alle, die sie hörten, sagten: ein weiblicher Faure. Nur engagieren wollte sie niemand. Es sei zu unerhört. Es sei zu gut, gut bis zur Lächerlichkeit . . . . Erst jener Amerikaner mußte kommen, um all dies zu würdigen.«

Mäuschenstill saßen wir da, als wir merkten, daß er wieder in den Gang seiner Erzählung einlenkte. Jetzt aber nahm sein Gesicht einen erschreckend finsteren Ausdruck an. Seine gerunzelten 96 Brauen stiegen fast über seine Augen herab. Wir waren auf einen heftigen Ausbruch von Zorn gefaßt. Aber ganz im Gegenteil fuhr er, was eine komische Wirkung machte, im sanftesten Tone fort:

»Meine Damen! Wenn Sie eine Photographiebrieftasche gehörig zu untersuchen verständen, wüßten Sie ohnehin schon mehr, als was ich Ihnen gerne erzähle. Meistens ist in einem solchen Portefeuille auch eine Tasche enthalten.«

»In der That, da ist eine,« rief der Bankier, der noch immer Avers- und Reversseite mit einander verglich.

»Und solche Taschen enthalten meistens etwas, was man ihren Inhalt nennen könnte,« fuhr Doktor Taube betrübt fort.

»Wahrhaftig, da ist ein Brief,« sagte Bankier Z. und zog ein leicht vergilbtes Schriftstück heraus.

»Nicht wahr?« rief der Doktor lebhaft, »ich hatte es gleich geahnt . . . Kann vielleicht einer der Herren lesen? . . . . Sie selbst, Herr von Z.? Dann wäre es vielleicht zweckmäßig, wenn Sie uns den Brief vorläsen. Ich würde dadurch ein Längeres und Breiteres ersparen.«

Und Bankier Z. las: 97

»Mein teurer Gatte!

Sei nicht überrascht und vor allem erschrick nicht. Ich nehme Abschied von dir. Du bist ein guter, edler Mann und ich bin dir von Herzen zugethan. Unsere zweimonatliche Ehe wird stets eine meiner schönsten Erinnerungen bleiben. Ich würde dich unter Umständen sofort wieder heiraten, wenn ich es nicht schon gethan hätte. Du hast das ungeschriebene Testament deines seligen Bruders, meines unglücklichen Bräutigams, vollstreckt, indem du mich heiratetest. Niemals werde ich es dir vergessen, daß ich in dir – ihn besessen habe, dessen leibliches Abbild du mir bist. Ich darf es dir ja jetzt sagen: in dir war ich mit ihm verheiratet. Dennoch – du zürnst mir nicht – machte ich nach und nach die Wahrnehmung, daß du innerlich ein anderer bist. Ein ganz anderer, o mein Anton. Es scheint in der Natur zu liegen, daß zwei Brüder, selbst wenn sie Zwillinge sind, nicht der nämliche Mensch sein können, mit der nämlichen Seele. Ich glaubte ihm treu zu sein, indem ich dein wurde; nun sehe ich, daß ich ihm eben dadurch untreu geworden bin. Dazu kommt noch jenes nagende Bewußtsein, im Besitze der seltensten 98 Eigenschaften dieselben nicht verwerten zu können. Mein Traum, mich als Baritonist zum Gipfel des Ruhmes hinanzuschwingen, kann, wie du weißt, niemals Wahrheit werden. Die Direktionen haben nicht den Mut, mich vor das Publikum zu stellen. Jahrelang habe ich an dieser Krankheit mich verzehrt, du weißt es ja. Da brachte mir der seltsamste Zufall von der Welt den Colonel Jedediah W. Long in den Wurf. Er sah mich und – kann mich nicht mehr missen. Er ist krank, die Ärzte haben ihm eine monatelange Seereise dringend empfohlen. Er hat sich zu diesem Zwecke eine Jacht bauen lassen; du sahst sie ja im Boothafen liegen. Aber unerträglich war ihm der Gedanke, monatelang durch die Wasserwüste zu irren, ohne ein weibliches Wesen in seiner Nähe. Denn er kann ohne Frauen schlechterdings nicht leben. Anderseits ist es, wegen der Mannschaft, jederzeit unthunlich, auf eine solche Reise eine Dame mitzunehmen; die weibliche Gegenwart kann unter rohen Gesellen Leidenschaften entzünden, die zu Meuterei und Verderben führen. Darum lag Colonel Long so lange hier in Ostende fest und zauderte, seine Jacht zu besteigen. Wartete er auf etwas Unerwartetes? Hoffte er auf ein 99 Wunder? . . . . Da erblickte er mich – und fühlte sich gerettet. Er fand Mittel und Wege, sich mir zu nähern. Er gab es mir schriftlich, daß er mich liebt, und dazu die Hälfte seiner Silbergrube in Nevada. Er stellte mir den Antrag, mit ihm zu fliehen auf seiner Jacht, hinaus auf den weiten Ozean, wo uns keine Kontinente anfechten würden. Ich sollte während der Reise Männerkleider tragen; mein – dir bekanntes – Aussehen und meine Stimme würden dies unterstützen. Die Mannschaft würde mich für einen Mann halten, für den Freund des Kapitäns. Er würde nicht als hagestolzer, fliegender Holländer durch die Meere schweifen müssen und dennoch vor Meuterei geschützt sein . . . . Teurer Anton! Stelle dir das vor. Mit einem Schlage sah ich mich am Ziele meiner Wünsche. Ich war in die Lage versetzt, die Gaben, mit denen die Natur mich so verschwenderisch, wenn auch in ungewöhnlicher Richtung, ausgestattet, fruchtbar zu machen. Ich war keine verfehlte Existenz mehr, deren Reichtum ihre Armut ist. Ich sah ein Ziel vor mir, Geltung, vielleicht Glück, – jedenfalls das Glück des Bewußtseins, nicht umsonst zu leben . . . .. Teurer Anton, verzeihe mir, ich 100 sagte Ja! . . . . Möglich, daß ich uurecht hatte. Aber ich konnte nicht anders. Der Spiegel, in den ich sah, sagte es mir: Flieh, geh, folge deinem Schicksal! Und so ist es gekommen. . . . . . . Teurer Anton, lebe wohl! Wenn du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf hoher See. Sehen wir uns jemals wieder? . . . . Meine besten Wünsche fliegen dir zu. Wenn ich jemals erfahren werde, daß du glücklich bist, recht, recht glücklich aus vollem Herzen, so werde ich selig sein. Nochmals Ade!

Arabella.«        

Atemlos hatten wir zugehört. Nur bei einigen besonders auffälligen Stellen hatte sich ein leises Räuspern, Scharren oder Rücken hören lassen. Solche unbedeutende Äußerungen sind wohl angesichts eines so erstaunlichen Briefes erlaubt.

»Nowaja Semlja!« sagte Doktor Taube mit der Betonung von ›ich danke‹, als der Bankier ihm die Brieftasche mit ihrem Inhalt wieder zurückstellte. Der Brief hatte erst die Runde um den Tisch gemacht und jeder hatte ihn selbst durchflogen, als könne er nur den eigenen Augen trauen.

101 »Er ist so vergilbt,« sagte Doktor Taube schmerzlich, »weil ich ihn schon zwanzigmal in den Ofen geworfen habe, um ihn zu verbrennen, was mir aber nicht gelang, da ich niemals heize. So habe ich selbst in Kleinigkeiten stets das ausgesuchte Unglück. Einem anderen kann das Verbrennen eines Briefes überhaupt nicht mißlingen.«

»In der That ein außerordentlicher Fall,« sagte Direktor von M. nachdenklich, fast gerührt. »Und haben Sie Ihre Frau nie wieder gesehen?«

»Doch,« seufzte der Doktor, »ich hatte auch dieses Unglück. Ich erhielt diesen Brief nach meinem gewohnten Nachmittagsschläfchen, das zufällig etwas länger geraten war. Ich rannte nach dem Boothafen hinunter und sah es selbst, die amerikanische Jacht war fort. Sie hatte vor drei Stunden die Anker gelichtet. Ich eilte nach Hause und fragte alle Leute aus nach meiner Frau. Sie hatte vor etwa vier Stunden das Haus verlassen, mit wenig Gepäck. Man nahm an, es handle sich um einen Ausflug und ich sei voraus zum Hafen. Wiederum lief ich die weite Strecke hinab, die Sonne tauchte sich eben ins rote Meer. Die Fischer zeigten mir fern am Horizonte ein weißes Segel, das gerade 102 auf den glühenden Feuerball loszuschweben schien. Immer näher kam es ihm, immer röter flammte es auf, bis es als Purpursegel die feurige Sphäre berührte und von dieser Berührung wie in Dampf aufgelöst plötzlich verschwand. Sie sind vernichtet; dieses Gefühl übermannte mich. Stundenlang war ich keines Gedankens fähig. Ich saß auf einem Stein und starrte hinaus, immer auf denselben Punkt. Die Sonne versank alsbald und nahm sie mit sich hinab ins Meer. Dann wurde es rot im Westen, dann grau und dann schwarz, und immer noch saß ich und starrte dem unsichtbaren Segel nach.«

»Hören Sie auf, Doktor, Sie machen mich ja ganz weich!« rief Direktor von M.

Aber Doktor Taube saß starr da, wie eine Sprechmaschine, und seine Stimme klang, als spräche ein ganz anderer aus ihm. Ohne merklichen Tonfall, mit einer Art Gleichgültigkeit fuhr er fort.

»Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kam und ob ich diese Nacht schlief. Ich weiß nur, daß ich früh morgens wieder am Meere war. Ich stand am äußersten Ende der Estakade, angewurzelt, versteinert. Ein heftiger Weststurm tobte, mehrere 103 Barken waren schon gestrandet und . . . träumte ich? wurde ich wahnsinnig? . . . . da war die amerikanische Jacht eben im Begriffe, an den Steinquadern des Molo zu zerschellen. Eine mächtige Woge hob das schlanke Fahrzeug und schwang es gegen die Steinwand, . . . . ein Krach . . . ein Schrei . . . und alles fuhr in Trümmern, in Splittern auseinander. Ich sprang hinab ins Wasser, wo ich stand, ich rief den Namen meiner Frau, ich sah einen Augenblick ihr todbleiches Gesicht auftauchen 104 und wieder untergehen, ich griff zu und arbeitete aus allen Kräften, um mit meiner Last ans Land zu kommen. Als ich den geborgenen Körper auf den Sand legte, sah ich erst, wer es war. Colonel Jedediah W. Long. Mit einer Verwünschung fiel ich bewußtlos neben ihm hin . . . . . Auch hier der alte Unglücksvogel, wie überall.«

»Entsetzlich, Doktor!« rief der erschütterte Bankier und faßte seine Hand. »Nein, das geht zu weit! Sie erregen mich da zu einem förmlichen Mitgefühl, ich bin außer mir, Ihretwegen, und am Ende ist alles nicht einmal wahr. Bei Ihnen weiß man ja das nie. Hand aufs Herz, bester Doktor, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir nur das eine Mal: ist diese Geschichte wahr?«

Doktor Taube fuhr sich mit den Händen über die Stirne und dann rechts und links die Wangen herab, als schlichte er einen Bart, den er aber nicht hatte. Dann rief er mit ganz veränderter Stimme. »Nowaja Semlja! Was fällt Ihnen ein, Herr von T.? Wie Sie gehört haben, ist mein Unglück ohnehin groß genug; wenn es nun auch noch wahr wäre, müßte ich mich ja rein aufhängen!« Und er schlug eine seltsame Lache auf, die wie eine Anwandlung von Weinkrampf klang.

105 Nun saßen wir wieder da und starrten ihn an, ohne zu wissen, woran wir waren.

Der Doktor stand auf, schlüpfte aus der Nische hinaus und begab sich zu dem runden Tisch am andern Ende des Saales. Dreimal ging er um ihn herum, dann trank er ein Glas Wasser, dann ging er noch dreimal um den Tisch. Da ein Sessel dabei stand, setzte er sich für ein Weilchen darauf. Und da ein Fenster in der Nähe war, blickte er einen Augenblick hinaus, in den grauen Himmel, über den ein paar schwarze Raben flogen. Man hörte ihr Krächzen bis herein.

»Gerson!« rief er.

Charles eilte zu ihm und neigte sich vor, um seinen Auftrag zu hören.

Aber er sagte nur: »Gerson, diesen Raben dürfen Sie nie borgen, denn das sind die größten Schuldenmacher; sie schreien fortwährend: Ah! ah! ah! und das ›B‹ bleiben sie schuldig.«

»Sehr wohl, Herr Doktor,« sagte Charles und borgte den Raben von dieser Stunde an nichts.

Dann stand Doktor Taube auf und kehrte zu uns zurück. »In gewissen Fällen,« sagte er, »kann 106 ich Ihnen nur raten, sechsmal um einen runden Tisch herum zu gehen und dazwischen ein Glas Wasser zu trinken. Davon wird man ein anderer Mensch. Sehen Sie mich an; soeben war ich ins Meer gesprungen, jetzt bin ich wieder ganz trocken . . . Ist denn noch ein Rest von jener Witwe in der Flasche?« Er leerte ein Glas und nahm wieder seinen alten Platz ein.

»Ja, ja,« äußerte der Bankier, der eben aus einem philosophischen Brüten auffuhr.

»Ei, Herr von Z.,« sagte der Doktor darauf, »Sie sind ja sehr bibelfest. Schon die Schrift mahnt uns ›Deine Rede sei: ja – ja.‹«

»Vollkommen,« entgegnete der Bankier, »aber unser Freund, Rittmeister D., ist schon im höchsten Grade neugierig, was Sie mit dem Amerikaner angefangen haben.«

»Pachdong,« protestierte der Doktor, »er hat ja mit mir angefangen, ich habe mit ihm ein Ende gemacht.«

»Oho!« rief der Rittmeister, der eine kriegerische Verwicklung ahnte.

»Sie müssen aber doch sehr enttäuscht gewesen sein,« meinte Direktor von M., »als Sie statt 107 Ihrer armen Frau den reichen Amerikaner gerettet hatten?«

»Nowaja Semlja!« rief der Doktor unbekümmert, wie ein anderer sagen würde: ›Bah!‹ »Ich bin ein gelernter Pechvogel und muß mich zu trösten wissen. Ich sagte mir also: besser ein Regenwurm in der Hand, als ein Regenbogen auf dem Dache. Ich ließ meinen Feind in seine Wohnung tragen und begann ihn zu pflegen. Ich pflegte ihn vierzehn Tage lang, mit Aufopferung, wenn ich auch ein Gesicht dazu machte, wie eine Amsel, die aus einem Kuckucksei ein Eichkätzchen ausgebrütet hat. Ich scheute selbst Geldopfer nicht und kaufte eigens eine Briefmarke um zehn Centimes, um sie auf eine kleine Hautabschürfung zu kleben, die der Arzt an seiner Stirne übersehen hatte. Wenn Sie bedenken, daß eine Freimarke um fünf Centimes denselben Dienst geleistet hätte, werden Sie meine Gefühle würdigen. In der That war er nach vierzehn Tagen hergestellt. Da sagte ich zu ihm: »Sir, Sie wissen vielleicht, daß Sie mir Ihr Leben verdanken?« – Da sagte er zu mir: »He?« – Da sagte ich zu ihm: »Sie werden es mir also geben, Sir.« – Da sagte er zu mir: »He?« – Da sagte 108 ich wieder zu ihm: »Wir werden uns schlagen, Sir.« – Da sagte er wieder zu mir: »He?« – Ich fuhr fort: »Auf Leben und Tod, Sir!« – Er fuhr fort: »He?« – Diese Einsilbigkeit erbitterte mich noch mehr. Ich suchte mir zwei Zeugen und diese machten ihm die Sache mit Mühe verständlich. Auch er fand zwei Zeugen und die Bedingungen wurden vereinbart, man kann nicht sagen: auf Leben und Tod, sondern: auf Tod allein. Ich dürstete nach Blut. Aber auch in ihm war der Yankee erwacht und so that er ein Gleiches. Die Bedingungen waren in der That fürchterlich. Er verlangte als Waffe den Revolver. Ich nahm ihn an, forderte aber sechs Schüsse für jeden. Die Zeugen machten die längsten Gesichter, die sie bei sich hatten. Dann schlug er zehn Schritte Distanz vor. Die Zeugen erblaßten wie auf Verabredung. »Mit fünf Schritt Avance für jeden!« rief ich wütend. – »Mit sechs Schritt Avance!« schrie er ebenso. Es war wie bei einer Versteigerung. Die Blässe der Zeugen kannte keine Grenzen mehr, sie wollten uns zu einem weniger mörderischen Vorgehen bestimmen, aber wir blieben unbeugsam. So ritten wir denn am nächsten Morgen in die 109 Dünen hinaus, an einen ganz einsamen Ort, wo wir nicht Gefahr liefen, durch die plötzliche Gründung eines neuen Seebades gestört zu werden. Die Plätze wurden abgesteckt. Zehn Schritt von einander, Aug' in Aug', Zahn in Zahn stellten wir uns auf. Wir feuerten unsere Augen auf einander ab, noch vor den Revolvern. Dann avancierten wir jeder sechs Schritt. Beim sechsten mußten wir natürlich einer an dem andern vorbei und kamen dann Rücken zu Rücken zu stehen. Ein Zeuge klaschte dreimal in die Hand und wir schossen gleichzeitig, jeder vor sich hin. Sechsmal schossen wir, aus so großer Nähe. Die Zeugen glaubten, wir müßten beide tot sein. Aber wir waren beide unverletzt. Erstaunt wandten wir uns einander zu. »Sie sind nicht tot, Sir?« fragte ich. – »He?« fragte er. Die Zeugen bissen sich gegenseitig auf die Zunge, um nicht hell aufzulachen, erklärten die Sache für beigelegt und forderten uns auf, uns die Hände zu reichen. Wir thaten es und er drückte die meinige so kräftig, daß er mir den Daumen zerquetschte. Er mußte amputiert werden und fehlt mir, wie Sie sehen, noch immer.«

110 Doktor Taube schwieg und unterbrach seine Traurigkeit auf ein Weilchen, um sich im Kreise umzusehen, ob er nicht wegen seines Heldenmutes bewundert werde. Aber dies war nicht der Fall. Im Gegenteil erhob sich eine Art Murren wider ihn und man hielt den Ausgang für höchst unbefriedigend. Rittmeister D. namentlich fand ein Duell in der Aufstellung 111 Rücken gegen Rücken sehr ungefährlich und diese Ansicht drang auch bei den übrigen durch.

»Hören Sie, lieber Doktor, damit speisen Sie uns nicht ab,« räsonnierte sogar der mildgesinnte Direktor von M. »Entweder Sie schlagen sich sofort interessant, oder wir schenken Ihnen den ganzen Zweikampf.«

»Ich bin ganz derselben Meinung, Doktor,« rief der Rittmeister D. »Was heißt das? Sie und jener Yankee stellen sich Rücken an Rücken zusammen und knallen dann tapfer in die Luft hinein, jeder vor sich hin. Da konnte ja gar niemand getroffen werden! Sie mystifizieren uns, Doktor.«

»Pachdong, Herr Rittmeister,« verteidigte sich Doktor Taube flehentlich. »Sie sind bei der Kavallerie; wenn Sie Artillerist wären, würden Sie das schwerlich sagen. Die Artilleristen verstehen sich nämlich auf Ballistik; das ist ihr Dach und Fach. Es kam nämlich in unserem Falle alles nur darauf an, daß wir beide mit dem Rücken so gegeneinander standen, daß der Meridian des Ortes genau durch unsere beiden Kreuzbeine ging. War dies der Fall, so mußten unsere beiden Kugeln ihren Lauf längs dieses Meridians nehmen, den 112 Weg um den Erdball machen und schließlich jede den Gegner vorne treffen. Ist das klar oder unklar?«

»Lächerlich!« rief der Rittmeister. »Wie kann denn ein Revolver so weit tragen?«

»Pachdong, Herr Rittmeister, einer vielleicht nicht, aber wir hatten ja zwei Revolver,« entgegnete der Doktor mit unnachahmlicher Unschuld.

»Ach so,« lachte der Rittmeister, »dann geht's natürlich eher.«

»Übrigens,« fuhr der Doktor ernsthaft fort, »konnten wir ja nicht gut annehmen, daß die Tragweite unserer Waffen nicht für eine so unbedeutende Entfernung genügen werde. Die Erde ist bekanntlich einer der kleinsten Planeten und unsere Revolver waren vom größten Kaliber.«

»Ach ja so,« rief der Rittmeister, »das ist freilich was anderes.«

»Aber ich werde Ihnen sagen, meine Herren, woran es lag, daß dennoch keiner von uns getroffen wurde. Wir zielten nämlich beide zu genau . . . Pachdong, ich bitte nicht zu lachen; es ist thatsächlich so. Die Erde ist bekanntlich eine Kugel. Auf der einen Seite wohnen die Poden . . .«

»Wer?« fragte ich unwillkürlich.

113 »Die Poden,« wiederholte er ganz harmlos, »und auf der andern Seite die Antipoden. Verstehen Sie mich?«

»Vollkommen,« lachte ich.

»Nun denn,« fuhr er fort, mit dem Ernste eines außerordentlichen Professors der Physik, »da wir so genau zielten, mußten unsere Kugeln sich auf der nämlichen Linie um den Erdball herum bewegen. Thaten sie dies, so war es schlechterdings unvermeidlich, daß sie sich bei den Antipoden, auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel, treffen mußten. Sie begegneten sich im Flug in der Luft, hoben gegenseitig ihre Flugkraft auf und fielen an jenem Punkte zu Boden. Man braucht nicht einmal ein Artillerist zu sein, schon ein Astronom genügt, um dies augenblicklich einzusehen.«

»Es ist alles ganz richtig,« sagte der Bankier, »mathematisch, geographisch, astronomisch, auf jede Weise klappt's. Jedoch . . . bei aller Kleinheit unserer Erde kann ich mir's nicht gut vorstellen, daß eine Revolverkugel rund herum gehen könnte.«

»Wie?« rief Doktor Taube heftig. »Verehrter Herr von Z., dann . . . dann . . . dann 114 sind Sie farbenblind und können eine Revolverkugel nicht von einer Uhrkette unterscheiden!«

Alles stutzte, bockte sozusagen. Was sollte da nun wieder kommen?

»Sehen Sie,« fuhr der Doktor aufgeregt fort, »sehen Sie hier meine alte Uhrkette? Die trage ich schon so lang . . . und noch immer geht sie mir nicht ganz herum. Wenn wir uns auf Uhrketten geschlagen hätten, könnten Sie also recht haben. Aber eine Revolverkugel ist doch um Gottes willen keine Uhrkette, nicht wahr?«

Diese Beweisführung schien den Herren doch zu stark. Alles rückte geräuschvoll mit den Stühlen, eine Art aufständischer Bewegung ging durch die Gesellschaft. Die Lage Doktor Taubes wurde offenbar eine kritische.

Bankier Z. ging sogar so weit, daß er es unmoralisch fand, ein solches Duell zu erfinden.

Darauf zog der Doktor seine Uhr und sagte wehmütig: »Herr von Z., es ist zehn Uhr, es ist Nacht . . . und in der Nacht kann die Moral unmöglich auf der Tagesordnung sein. Sehen Sie, wenn ich die große Kunst besäße, mit wenigen Worten nichts zu sagen, so könnte ich selbst die 115 unzufriedensten unter Ihnen zum Schweigen bringen.«

Diese Bemerkung stellte die Ruhe sofort wieder her. Die Geschichte war also noch nicht zu Ende; vielleicht noch lange nicht. Wer weiß, was für Wendungen noch bevorstanden. Die Gesellschaft mußte sich hüten, durch allzu ablehnende Haltung die Möglichkeit weiterer Unmöglichkeiten abzuschneiden.

Direktor von M. war es, der aus diesen Beweggründen zuerst einzulenken begann, indem er sagte: »Lieber Doktor, Sie sind heute so außergewöhnlich, daß Sie unsere Aufregung nicht übel nehmen dürfen. Im Vergleich mit Ihnen ist ja Münchhausen ein bloßer Jules Verne. Denn ich setze voraus, daß Ihr Duell mit dem Amerikaner nicht ganz genau so verlaufen ist, wie Sie es schildern.«

»Herr Direktor,« entgegnete der Doktor vorwurfsvoll, »nicht ganz genau so? Noch viel genauer, sag' ich Ihnen. Sie haben gar keine Idee davon. Freilich, wenn der Amerikaner hier wäre . . .! Denn es ist ein sehr richtiger Satz: Man muß immer beide Teile anhören, nicht nur den Audiatur, 116 sondern auch die Altera Pars . . . Gerson! könnte ich nicht noch etwas Leichtes zu essen haben? Vielleicht etwas aus genergelten Eiern? . . . Sie verstehen mich schon wieder nicht?«

»Doch, doch, Herr Doktor,« beruhigte ihn Charles aufs Geratewohl und wandte sich zum Gehen.

»Aber bitte, Gerson, überwachen Sie gefälligst die Zubereitung, ja?« Und als Charles mit etwas unsicherer Miene gegangen war, sagte er: »Ich wollte ihn nur jetzt hinaus haben, denn ich habe mich entschlossen, Ihnen die wirkliche Geschichte jenes Zweikampfes zu erzählen.«

Ein allgemeines »Ah« begrüßte diese in feierlichem Tone gemachte Eröffnung. Nur eine Bowle wollte man noch vorher bestellen. Doktor Taube hatte nichts dagegen, stimmte aber für eine Selleriebowle, welche die anderen gar nicht kannten. Er bereitete sie also selbst zu.

»Mit dieser Bowle,« erzählte er dabei, »ist es mir einst in Frankreich übel ergangen. Ich wollte sie einer Gesellschaft, die nur Französisch verstand, zeigen, und verlangte dazu »de la sellerie«, was großes Erstaunen hervorrief besonders bei mir 117 selber, als man mir nach einer Weile zwei alte Sättel und einen Steigbügel hereinbrachte. Ich erfuhr erst dann, daß »sellerie« in jener Sprache Sattlerwaren bedeute.« Mit großer Sorgfalt setzte er übrigens die Bowle an, da es dabei »hauptsächlich auf die feinen Mißverhältnisse der Stoffe ankomme«, wobei es uns unklar blieb, ob er Mischverhältnisse oder Maßverhältnisse meinte.

Endlich war er so weit, daß er zu erzählen begann:

»Nowaja Semlja,« sagte er mit der Betonung von: ›In Gottes Namen‹. »Die Sache ist also eigentlich folgendermaßen verlaufen. Ich ließ meinen Todfeind in seine Wohnung schaffen und widmete mich ganz seiner Pflege. Nicht nur bei Tag und Nacht, auch in der Dämmerung war ich an seiner Seite. Er hatte bei dem Schiffbruch außer Jacht, Frau und Gepäck auch sein Bewußtsein verloren. Sein Gepäck bargen die Fischer gleich, sein Bewußtsein erst nach einigen Tagen und nur partienweise. Er hielt mich anfangs für Arabella, die er fragte, ob sie sich nach ihrem Manne sehne. Nach mir! »Nein, nein!« beteuerte ich in ihrem Namen, um ihn zu beruhigen, »ich liebe nur dich 118 auf Erden.« Und ich umarmte und küßte ihn, was ihn jedesmal gleich beschwichtigte. Er schlief nicht ein, ohne meine Hand in der seinigen zu halten. Dann wieder kommandierte er seine Jacht. Er rief mir zu, geschwind die Segel zu reffen, da die Jacht sonst kentere. Dann eilte ich an die Fenster und zog geschwind alle Rollvorhänge hinauf, in enge Falten. Oder er befahl mir, Anker zu lichten; da zog ich langsam die Wanduhr auf und er hielt das knarrende Geräusch für das der Ankerwinde. Ich war erfinderisch, ich war unermüdlich, ich war zartfühlend . . . aus tödlicher Feindschaft. Eines Tages war er so weit, daß er mich erkannte. Das war ein Augenblick! »He?« rief er überrascht und griff hinter sich, offenbar nach der Stelle, wo er die Revolvertasche zu tragen pflegte. – »Beruhigen Sie sich, Colonel,« sagte ich, »Sie sind sehr krank gewesen, aber jetzt gottlob außer Gefahr.« – Er machte ein Gesicht, als höre er hottentottisch reden. Nach einer Weile erst preßte er mit Schwierigkeit hervor: »Wo ist Arabella?« – Ich faßte alle meine Unbefangenheit zusammen und sagte: »Arabella, wer ist das?« – Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und erwiderte: 119 »Ihre . . . Frau, denk' ich.« – »Meine Frau?« lachte ich aus vollem Halse, »aber Colonel, ich habe ja gar keine Frau, ich bin mein Lebtag Junggeselle gewesen. Sie träumen, Colonel.« – Er griff sich mit den Händen nach dem Kopfe: »Träumen . . . träumen . . . Wir haben doch Schiffbruch gelitten am Molo von Ostende?« – »Ei, das wäre,« staunte ich, »seit Wochen herrscht das schönste, stille, graue Wetter. Sie haben sich das in Ihrer Krankheit eingebildet, Colonel. Fieberträume, verworrenes Zeug.« – Er gab nach und fragte in dieser Richtung nicht weiter. Ich fuhr in seiner Pflege fort, wie eine barmherzige Schwester. Wissen Sie, meine Herren, was das heißt? Es ist doch eine ganz merkwürdige Sache, was es heißt, sich wochenlang der Sorge um ein Menschenkind hinzugeben. Man wird dadurch seine Amme, seine Mutter. Erst pflegte ich ihn aus Rache, dann aus einer Art point d'honneur, da ich es doch einmal übernommen. Später hatte ich die Empfindung eines Künstlers, dem etwas gelingt. Ich kam mir zuweilen vor wie ein Arzt, der aus einer Leiche einen lebendigen Menschen gemacht hat. Zuletzt hatte ich förmlich das Gefühl, daß ich ihn liebte.«

120 »Zum Teufel, Doktor,« unterbrach ihn Rittmeister D., »das alles klingt so möglich. Gelt, diesmal ist es wirklich die Wahrheit?«

Doktor Taube sah ihn mit einem unsäglich melancholischen Blick an und sagte: »Was ist Wahrheit? Ich habe Dinge erlebt, die sehr unwahr scheinen. Jeder ordentliche Pechvogel hat auch noch das Unglück, daß man ihm sein Unglück nicht glaubt . . . Doch ich langweile die Herren? Ja, kurzweilig ist diese Geschichte nicht. Warten Sie nur, Sie sollen noch gähnen. Wetten wir, daß Sie gähnen werden? Eine leere Flasche gegen eine volle!«

»Bitte, Doktor,« flehte der Direktor, »keine Unterbrechungen, wir brennen ja vor Ungeduld.«

»Gerson,« rief der Doktor, »bitte, geben Sie dem Herrn Direktor von M. etliche Nadeln, damit er darauf sitzen kann.«

Jetzt wurde aber der Rittmeister wild und trat so energisch auf, daß Doktor Taube vorderhand auf jeden weiteren Zwischenscherz verzichtete und ungesäumt fortfuhr:

»Das also, meine Herren, war die Situation. Sie wurde aber noch viel verwickelter, als der 121 Colonel nachgerade gesund wurde. Sein Gedächtnis war nun wieder getrocknet, alle Ereignisse standen klar vor ihm. Seine Nerven, seine Ärzte, die Entführung, der Schiffbruch, die Rettung durch mich. Er sah nun, wie er zu mir stand. Er war mir Genugthuung schuldig. Er ahnte, warum ich ihn gerettet. Ich hatte ihm das Leben offenbar nur zurückgegeben, um es ihm nehmen zu können. Eines Tages, als er schon ganz gesund war, trat er plötzlich in meine Stube und sagte ohne alle Vorrede: »Also gut, es ist einmal nicht anders, wir schlagen uns.« – Ich schwieg; jetzt überraschte mich die Sache doch. – Da sagte er: »Schade um Sie, da Sie jetzt reich sind und Ihr Leben endlich genießen könnten.« – »Ich reich?« entgegnete ich erstaunt. – »Ich hatte,« fuhr er gelassen fort, »Ihrer Frau die Hälfte meines Silberbergwerks in Nevada verschrieben. Sie ist tot, ihr Erbe sind unzweifelhaft Sie.« Hatte er es beabsichtigt, mich zu reizen, um mich zu zwingen, daß ich mich an ihm räche? Ich weiß es nicht, aber ich glaube fast. Die Folge spricht dafür. Bei seinem Antrage fuhr ich auf, wie von einer Viper gestochen. »Wie? Diese Schändlichkeit muten Sie 122 mir zu?« rief ich außer mir; »Sie sind ein Schurke, Mann! ein doppelter Schurke!« – Kalt blickte er mich an, mit seinen grauen Augen, die noch immer so ertrunken schienen. »Es ist gut,« sagte er dumpf. »Schießen Sie gut?« – »Ich habe nie eine Pistole in der Hand gehabt,« entgegnete ich.«

»Waren Sie denn nicht Offizier?« fuhr ich unwillkürlich drein.

Er sah mich an; ein ganz leiser Schimmer von Lächeln, als hätte er etwas sehr Naives gehört, spielte um seine Lippen. Ohne mir zu antworten, fuhr er fort: »Der Colonel sah mich erstaunt an und sagte: »Dann werden Sie mir gestatten, daß ich Sie erst vierzehn Tage lang in dieser Kunst unterrichte.« – Ich traute meinen Ohren nicht. Ein solcher Antrag von einem Duellgegner war mir noch nie vorgekommen. Er war so einzig in seiner Art, daß ich mich innerlich gezwungen fühlte, darauf einzugehen . . . Und er hat mich thatsächlich im Schießen unterrichtet. Wir waren jeden Tag mehrere Stunden auf einem Schießstand. Ich übte mich mit seinen trefflichen amerikanischen Pistolen, mit gezogenen Läufen, vor der Scheibe. Er gab mir dabei die besten 123 Ratschläge, er machte mich auf alle Vorteile aufmerksam. Er selbst schoß nur, um mir etwas zu zeigen, und traf jedesmal genau den Punkt, den er wollte. Manchmal schoß er, gleichsam ironisch, in die Löcher, die ich so und so weit vom Schwarzen geschossen hatte. Es war erstaunlich zu sehen. Bei jedem solchen Schusse sagte ich mir, ich sei ein toter Mann. Meine Herren, haben Sie neulich in der Zeitung die Notiz gelesen, daß die Überreste Rossinis von Paris in seine Vaterstadt übertragen wurden?«

Die einen sagten Ja, die anderen Nein.

»Waren Sie nicht höchlich überrascht davon?«

Alle sagten Nein.

»Nun denn, da ging es mir anders. Ich war überrascht davon und sagte mir: Schau, schau, nach dem Tod der Leute erfährt man immer erst die interessantesten Sachen; wer hat je zu Rossinis Lebzeiten gehört, daß er auch Überreste besitzt? Nach seinem Tod aber kommt es plötzlich heraus.« Und als die Gesellschaft über die Bemerkung lachte, sagte er ganz kleinlaut: »Sehen Sie, mir ging es zu jener Zeit ungefähr so, wenn ich vor meinem Spiegel stand, um mich zu rasieren. Siehst du, Doktor? sagte ich da jedesmal zu mir, was du da 124 im Spiegel siehst, das sind deine Überreste. Ob die wohl auch einmal werden von Paris nach dem Geburtsorte Rossinis überführt werden? Schwerlich, schwerlich . . . Solche Gedanken machten mich dann ganz schwermütig. Ich war ein verlorener Mann. Wäre ich etwas mehr bei Gelde gewesen, so hätte ich mir einen Gesanglehrer genommen, um singen zu lernen und meinen Schwanengesang anstimmen zu können. Aber ich war arm, mein bevorstehendes Ende konnte also musikalisch nicht von Belang sein. Auch meine Zerstreutheit wuchs in erschreckendem Grade. Eines Tages, als ich spazieren ging, bemerkte ich, daß ich ein gewisses Aufsehen erregte. Das wurde mir schließlich unbequem und ich sah mir die Leute an, die mich so ansahen. Nach den Händen blickten sie mir, alle nach den Händen. Ich entschloß mich zuletzt, ein Gleiches zu thun, und da bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß ich in meinen nassen Frottierhandschuhen ausgegangen war. Auch das war mir noch nie vorgekommen und ich zweifle noch jetzt, ob alle Bewohner von Ostende diese Handschuhmode angenommen haben.«

»Zur Sache, zur Sache,« wisperte ihm der 125 Direktor ins Ohr, der ihm wohl wollte und sich bei dieser Gelegenheit gleichsam als sein Impresario fühlte.

»Nowaja Semlja!« sagte Doktor Taube im Tone von: ›ich bitte um Entschuldigung.‹ Dann steckte er eine tieftragische Miene auf, die uns sofort die nahe Katastrophe ankündigte, und sprach: »Eines Tages – es war der 30. Februar, ich werde mir diesen Tag ewig merken – hatte ich besonders gut nach der Scheibe geschossen. Ich schoß eben im Gefühle, daß ich mein Leben teuer verkaufen wolle. Da sagte der Colonel: »Sie schießen schon ganz vortrefflich, Sir; ich glaube, die Zeit für unser Duell ist gekommen. Sind Sie bereit?« – »Ja, Sir,« entgegnete ich. – In diesem Augenblick sah ich zwei goldene Punkte aufblitzen, 126 die ich mir in der Befangenheit des Moments nicht gleich zu erklären wußte. – »Gut denn, für morgen, wenn es Ihnen recht ist,« sagte er kaltblütig; »ich gehe jetzt in die Stadt und verständige meine Zeugen. Guten Tag einstweilen.« – »Guten Tag,« wiederholte ich mechanisch. Indem er sich von mir wandte, sah ich schon wieder zwei Punkte in hellem Goldglanz blitzen, war aber zu beschäftigt mit mir selbst, um über dieses früher nie wahrgenommene Phänomen ins Reine zu kommen. Ich machte einen Spaziergang am Meere, die Seeluft festigte meine Nerven. Ich ging auf dem Molo auf und ab, dort wo die Jacht gescheitert war. Das bleiche, verzerrte Antlitz meiner Frau tauchte aus der Brandung auf und sah mich an, sah mich immerfort an . . . Das weckte in mir wieder alle Dämonen. Rache wollte ich haben! Jetzt war ich wieder fest! Ich suchte zwei Bekannte auf und sandte sie als Kartellträger an den Amerikaner. Zu derselben Zeit aber erschienen die seinigen bei mir. Er sei der Beleidigte, behaupteten sie, denn ich hätte ihn einen doppelten Schurken genannt, ihm stehe also das Recht der Forderung zu. Unwillkürlich fiel mir dabei ein, 127 daß ich dann die Chance des ersten Schusses hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst, daß mir dies eingefallen war, aber da dies einmal geschehen, war ich zu schwach, es aus meiner Rechnung zu tilgen. Ich willigte ein . . . Den anderen Morgen ritten wir hinaus in die Dünen. Ein kleines Thal zwischen Sandhügeln, mit einem Wäldchen von niederen Strandkiefern, hatte den Sekundanten gepaßt. Dort fanden wir bereits die Gegenpartei. Der Colonel lüftete mit steifer Höflichkeit den Cylinder, um mich zu begrüßen. Er war ganz schwarz gekleidet, der lange Überzieher bis an das Kinn zugeknöpft. Er sah aus wie ein Pastor auf einer Landpartie. Zwischen seinen Zähnen hielt er eine lange Cigarre, die er auf Augenblicke zwischen seine langen Finger nahm, um eine Bemerkung zu machen. Ich sah das alles ganz genau, mein Blick war an diesem entscheidenden Morgen ungewöhnlich scharf; auch war ich überzeugt, daß ich gut zielen würde. Trotzdem stimmte es mich eigentümlich, als aus der Ferne durch die stille Luft leiser Glockenton daherklang! Wem von uns beiden gilt dieses Zügenglöcklein? wollte ich mich im stillen fragen, aber wider meinen Willen fiel 128 es laut aus. Der Colonel hörte meine Worte und sagte ruhig, mit einer Art Gemütlichkeit: »Ich habe dieses Glockengeläute eigens bestellt, für zehn Uhr, unsere Stunde; wer von uns fällt, soll wenigstens nicht ohne Sang und Klang von hinnen gehen.« Ein Schauder lief mir über den Rücken; das machte mir den Eindruck, als habe er gleich auch den Totengräber bestellt und der schaufle in diesem Augenblick bereits irgendwo hinter jenen Strandkiefern ein Grab . . . für mich? . . . für ihn? . . . er wußte es so wenig wie wir beide.«

»Ein verdammter Yankee!« stöhnte der aufgeregte Bankier. »Der arrangiert Duelle mit Stimmung.«

Der Rittmeister, für den endlich der Augenblick eines wirklichen Interesses erschienen war, preßte den Arm des Bankiers zusammen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Doktor Taube aber fuhr mit einer wahren Grabesstimme fort: »In dem Augenblicke, als der Colonel das gesagt hatte, sah ich plötzlich wieder, nun schon zum drittenmal, jene zwei unerklärlichen goldenen Punkte aufblitzen. Diesen Morgen aber war ich so hellsichtig, daß ich trotz des 129 unangenehmen Eindrucks, den mir seine Worte gemacht hatten, sah, woher die neue Naturerscheinung kam. Colonel Jedediah W. Long stieß nämlich, nachdem er gesprochen, ein breites, herzhaftes Gelächter aus. Dabei erblickte ich in seiner unteren Kinnlade zwei mit Gold plombierte Zähne, die ich vor einigen Tagen noch nicht gesehen. Das waren jene zwei Goldfunken, die ihm aus dem Munde zu sprühen schienen, so oft er ihn zum Sprechen oder Lachen etwas weiter aufthat. Abermals lief mir ein Schauder über den Rücken.«

»Wegen zweier plombierter Zähne . . . bei einem andern?« fuhr der Bankier drein.

»Nowaja Semlja!« rief der Doktor im Tone von ›ich glaube wohl!‹ »Ahnen Sie denn gar nicht, was mir bei diesem Anblick einfallen mußte? . . . Dieser Amerikaner hatte sich vor einigen Tagen erst zwei Zähne plombieren lassen. Angenehm ist das bekanntlich nicht und niemand thut es unnötigerweise. Einer, der weiß, daß er nächste Woche ohnehin sterben wird, sagt gewiß nicht: Ich muß mir diese Woche geschwind noch zwei Zähne ausbohren und, damit das Zeug länger hält, mit Gold ausfüllen lassen, um im Jenseits mit einem korrekten Gebiß zu erscheinen.«

130 »Das ist wahr,« gab der Bankier zu, dessen Gebiß nicht ganz tadellos war.

»Nun denn,« folgerte der Doktor, »wenn Colonel Jedediah W. Long ein paar Tage vor einem Zweikampf auf Leben und Tod sich einer so unangenehmen Prozedur unterwarf, mußte er so viel wie sicher sein, daß er lebendig aus diesem Duell hervorgehen werde. Sonst verlohnte es sich ja nicht.«

»Der Tausend!« rief der Rittmeister, der dem Erzähler bedeutend näher gerückt war, »das ist sehr richtig, und Ihr Colonel war ein ganz verd . . . teufelter Kerl, wenn er das wirklich eigens so insceniert hat. Doch hören wir weiter.«

»Ich sagte mir dasselbe sofort,« entgegnete Doktor Taube. »Ich muß gestehen, dieser Gedanke fiel mir wie ein Kolbenschlag gegen den Schädel. Abermals fühlte ich mich ganz klein und dumm und schwach. Es ist merkwürdig, wie der Mensch, selbst als armer Teufel wie ich, am Leben hängt. An diesem lumpigen Leben, das er jeden Augenblick dem Leben anderer abtrotzen muß, um dennoch . . . nichts davon zu haben! Wenn ich in diesem Augenblick hätte schießen müssen, ich hätte vielleicht mich 131 selbst getroffen, ihn gewiß nicht. Nun denn, der Colonel sah meine Verwirrung. Er trat auf mich zu, heftete seine nebelgrauen Augen starr und doch mit einer gewissen Weichheit auf die meinigen und streckte mir die Hand entgegen. »Nun, Sir,« sagte er auffallend mild, wie ich seine Stimme noch nie gehört hatte, »wir müssen Abschied nehmen. Schlagen Sie ein, Sir! Wir wollen nicht als Feinde auseinandergehen, der eine herüber, der andere . . . hinüber. Nochmals, schlagen Sie ein, Sir! Ich habe Ihnen Schweres zugefügt, Sie haben ein Recht an mich. Schonen Sie mich nicht, Sir. Wenn Sie das thäten, würden Sie eine Beleidigung durch eine andere vergelten. Hier, Sir, es ist eine ehrliche Hand, schlagen Sie ins Teufels Namen ein, wenn ich sage!« Ich schlug ein und er drückte mir die meinige herzlich, jedoch nicht aus voller Kraft, offenbar mit Rücksicht darauf, daß ich dann die Pistole nicht gut hätte halten können. Seine eigene Pistole, mit der ich mich so gut eingeschossen hatte! All das ging mir dabei im Kopfe herum, verwirrend, rätselvoll. Ich wußte mir diesen langen Mann nicht zu deuten. Durch seine grauen Augen blickte ich gleichsam in eine graue Seele hinein, in 132 der ich mit den Fühlern der meinigen vergeblich nach etwas Sicherem umhertastete. Ich gestehe, ich kam mir neben ihm sehr klein vor, trotz allem, was er mir angethan . . . Mittlerweile hatten die Sekundanten das Terrain abgemessen. Fünfzehn Schritte, ohne Avancieren. Jeder hat nur einen Schuß. Auf das dritte Händeklatschen wird geschossen. »Gleichzeitig,« betonten meine Zeugen. – »Nicht gleichzeitig,« behaupteten die meines Gegners. Der erste Schuß gebühre selbstverständlich mir, was ihr Auftraggeber anerkenne, der auch nicht geneigt sei, von mir ein Geschenk anzunehmen, so wenig als er seinerseits Schonung zu üben gedenke. Dabei blieb es auch. Die Zeugen stellten die letzten Fragen wegen etwaiger Versöhnung. Ich schwieg, der Colonel winkte mit einer steifen Handbewegung ab. Dann standen wir einander gegenüber, jeder auf seinem Platz, die Pistole in der Hand. Eins, zwei, drei, schollen die drei Schläge in die Hand. Ich hatte die Pistole gehoben und zielte auf die Brust meines Gegners, der sie mir voll zuwandte und regungslos dastand. Wenn ich ihn gut traf, war ich gerettet; wenn ich fehlte, fiel ich sicher. Ich zielte vermutlich länger, 133 als schön war. Ich hatte einen Augenblick, wo ich mich unwillkürlich fragte: Habe ich denn noch immer nicht geschossen? Er aber stand unbewegt und wartete. Nach einigen Sekunden, welche Minuten schienen, sah ich, wie er mit der rechten Hand sachte hinter sich in die Rocktasche fuhr und einen kleinen weißen Gegenstand hervorholte. Wie ich alsbald merken sollte, war es ein Stück Kreide. Er erhob sie langsam, näherte sie noch langsamer seiner Brust und machte dann auf den schwarzen Rock genau über dem Herzen, ein weißes Kreuz damit. »Hier, mein 134 Junge, das ist der Punkt,« sagte er mit der Stimme eines nachsichtigen Lehrers, der dem zaudernden Schüler einen Anhaltspunkt geben will.«

»Unerhört,« brummte der Rittmeister in den Bart.

»Das war mir zu stark,« fuhr Doktor Taube fort. »Nowaja Semlja!« rief ich und warf die Pistole weg. Ich eilte auf den Colonel zu und fiel ihm um die Schultern. Ich wollte ihm eigentlich um den Hals fallen, aber dieser stand zu hoch über dem Bereich meiner Arme. »Ich wußte wohl, Sir, daß Sie nicht auf die Kreide schießen würden,« sagte er ruhig, »aber ich supponiere, daß ich Ihnen bis dahin Zeit genug dazu ließ. Sie hätten mich reichlich zehnmal über den Haufen schießen können. Ihre Genugthuung haben Sie also, wir sind quitt. Nun gehen wir aber frühstücken.« Ich muß gestehen, ich bewunderte den Mann. Das war ein Vollblut-Yankee, ein gesternter und gestreifter. Ja, wenn wir Europäer das im Leibe hätten, . . . wären wir die Amerikaner! Übrigens sagte mir der Colonel beim Frühstück: »Wissen Sie, Sir, daß Sie viel Unglück haben?« – »Ich erfahre es soeben von Ihnen,« entgegnete 135 ich bitter. – »Sie hätten doch schießen sollen, Sir,« sagte er. – »Weiß Gott, ich bin froh, daß ich nicht geschossen,« sagte ich. – »Ich hatte Ihnen in meinem Testament jene halbe Silbergrube vermacht.« – »Nicht für eine ganze Goldgrube, Colonel,« rief ich, »so wahr ich ein Pechvogel bin!« Wir waren von der Zeit an die besten Freunde. Als er wieder zur See ging, machte ich mit ihm die Reise um die Welt, zweimal nacheinander.«

Die Gesellschaft war außerordentlich befriedigt von dieser ungewöhnlichen Lösung des Knotens.

»Doktor,« sagte Direktor von M., »das mache ich Ihnen nicht nach.«

»Doktor,« sagte Bankier Z., »wenn Sie nicht der Teufel in Person sind, so sind Sie wer anders.«

»Doktor,« sagte Rittmeister D., »mit Ihnen möchte ich mich einmal schlagen.«

»Doktor,« sagte ich, nur um auch etwas zu sagen, »an welchem Tage fand dieses Duell statt?«

»Am 30. Februar,« entgegnete er mit einem müden Ausdruck.

»Jenes Jahr müßte ja aus zwei Schaltjahren bestanden haben,« stöberte ich weiter.

»Es war kein Schaltjahr,« entgegnete er 136 unbefangen. »Die Sache ist ja ganz einfach. Wenn man die Reise um die Welt macht, gewinnt man bekanntlich im Kalender einen Tag. Wir aber machten die Reise zweimal, ich hatte also in meinem Leben, der übrigen Menschheit gegenüber, zwei Tage gut. Um im Datum die Mitwelt wieder einzuholen, stellte ich nun diese zwei Tage in jenes verfänglichste Jahr meines Lebens ein, selbstverständlich in den Februar, wo ich zwei leere Plätze sah. Und auf den zweiten verlegte ich jenes Duell.«

»Also hat es sich doch nicht wirklich ereignet?« riefen wir in einem Atem.

»Gerson!« rief Doktor Taube, »ich bitte Sie, wissen Sie vielleicht, ob es sich wirklich ereignet hat?«

»Nein, Herr Doktor,« sagte Charles, der eben wieder eintrat.

»Gut, so bitte ich um drei Gläschen Cognac,« sagte der Doktor im Tone gutwilligen Verzichtes. Dann versank er in tiefes Brüten. Übrigens hatte er durch die Aufregungen der letzten halben Stunde eine kurze Spanne der Ruhe wohl verdient.

Später versuchten wir ihn zur Erzählung einiger Abenteuer von seinen vorgeblichen 137 Weltumsegelungen zu veranlassen, aber er zeigte sich spröde. Er schien ermüdet, wie ein elektrischer Fisch, der seine Schläge ausgegeben.

»Es giebt dort herum keine Abenteuer,« versicherte er, »und lügen will ich nicht. Wie die Linie aussieht, wissen Sie ja. Oder soll ich Ihnen den Wendekreis des Krebses schildern? Er sieht genau so aus, wie der des Steinbockes, und ich begreife nicht, wie die Seeleute sie voneinander unterscheiden können. Die Tropen sind allerdings etwas tropisch, aber schließlich, wenn man nackt herumläuft und von schwarzer Farbe ist, geniert einen das nicht weiter. Auch giebt es Fächerpalmen, mit denen man sich Luft machen kann, und wenn man zwei gegenüberliegende Fenster öffnet, entsteht gleich ein kühlender Passatwind. Leider konnte ich nicht einmal die Äquinoktien sehen, sie waren just ins Bad gereist. Übrigens reisten wir ja auch nicht in Geschäften oder zum Vergnügen, sondern nur zur Zerstreuung. Und diesen Zweck erreichten wir vollkommen. Ich versichere Sie, wir waren manchmal so zerstreut, daß einer den anderen eigens wieder sammeln mußte; ein Liebesdienst, den wir uns gern erwiesen. Eines Abends, in einem Hotel 138 auf der Insel Celebes, im westlichen Teil des südlichen Ostasiens, ging meine Zerstreutheit so weit, daß ich mit den Stiefeln an den Füßen ins Bett stieg, nachdem ich meinen Schnurrbart zum Wichsen vor die Thür gestellt hatte. Ich bemerkte es erst am Morgen, als es zu spät war, denn ein Schnurrbart ist dort so selten, wie bei uns eine weiße Rabenmutter, und da war der meinige schon gestohlen. Seitdem muß ich mich täglich rasieren, da er mir nicht wieder wächst.«

Diese kleine Episode hatte große Heiterkeit erregt und wir schmeichelten uns mit der Hoffnung, ihn vielleicht doch noch zur Erzählung irgend eines Reiseabenteuers zu bewegen. Dies gelang auch richtig, und zwar dem schlauen Bankier, der ihn plötzlich mit der Frage überrumpelte:

»Sagen Sie, lieber Doktor, sind Sie unterwegs auch nach Nowaja Semlja gekommen?«

Doktor Taube schrie förmlich auf, als er sein Lieblingswort aus fremdem Munde vernahm. In der That war es gelungen, ihn zu elektrisieren.

»Auf Nowaja Semlja?« rief er, »natürlich war ich dort! O ein herrliches Tropenland!«

»Tropenland?« staunte der Rittmeister, »es ist 139 doch, soviel ich weiß, eine Insel im nördlichen Eismeer.«

»Nowaja Semlja!« rief der Doktor und sah den Rittmeister verwundert an, wie einen, der sein rechtes Ohr für den linken Fuß des Nachbars hält. »Pachdong, Herr Rittmeister, über Nowaja Semlja dürfte ich denn doch etwas besser unterrichtet sein, als der Herr Mayer oder Müller, der die Ungewittersche Schulgeographie verfaßt hat. Ich sage Ihnen ganz bestimmt, daß Nowaja Semlja eine Tropeninsel im Golfe von Kamerun ist und seit Jahren bereits unter deutschem Schutz steht.«

»Das ist neu!« rief der Rittmeister.

»Nicht so neu, wie Sie glauben,« entgegnete der Doktor, über dessen Stirne ein Schatten von Melancholie zog. »Im Gegenteil habe ich ja gerade dort mit größter Bewunderung die gewaltigen Kulturfortschritte der Schwarzen vermerkt. Wissen Sie, daß es unter den dortigen Negern schon welche giebt, die besser deutsch können, als ein deutscher Bauer gewöhnlichen Schlages? Hören Sie nur, was uns dort passiert ist. Wieder einer jener unglaublichen Unglücksfälle, wie sie nur mir 140 zustoßen. Hören Sie, meine Herren! Pachdong, aber ich glaube, Sie hören nicht zu.«

Wir sprangen auf vor Entrüstung über diese ungerechte Anklage.

»Das wäre für mich beleidigend,« fuhr er fort. »Gerson! . . . Bitte, Gerson, wissen Sie nicht, ob ich beleidigt worden bin?«

»Gewiß nicht, Herr Doktor,« beteuerte Charles.

»Können Sie dafür die Hand ins Wasser legen?«

»Augenblicklich, Herr Doktor!« rief Charles, der überhaupt ein aufopfernder Charakter ist.

»Dann bin ich beruhigt,« atmete er auf und fuhr fort. »Eines Morgens also machte ich mit dem Colonel einen Ausflug in das sogenannte Thal des Zitterns. Es ist dies die größte Naturmerkwürdigkeit auf Nowaja Semlja. Wir ritten von der deutschen Niederlassung zwei Stunden lang ins 141 Gebirg hinein, dem Thale folgend, durch das der »grüne Fluß« herausströmt. Nach zwei Stunden gelangten wir an ein enges Querthal, wo wir den Führer mit den Pferden zurückließen, da diese das Zittern nicht vertragen. Ein Verirren wäre ohnehin nicht möglich, sagte er uns. Schon seit einer Viertelstunde hatten wir den Boden unter unseren Füßen leise zittern gefühlt. Diese Erschütterung wurde immer stärker, je weiter wir in dem engen Thale vordrangen. Rechts und links zitterten die Felsen und jeder Stein, der einen Sprung hatte, gab einen leisen, singenden Ton von sich. Auch die Bäume um uns her zitterten, noch stärker ihre Äste, am stärksten deren Zweige und am allerstärksten die Blätter, die fortwährend wie im Fieber schauerten. Es waren lauter tropische Pappeln und Espen; offenbar ist jenes Thal die Urheimat dieser Bäume und der immerfort vulkanisch erschütterte Boden hat sie das Zittern gelehrt, das sie dann nach Darwins Grundsätzen, auch anderswohin verpflanzt, erst nach Tausenden von Jahren verlernen können. Auch die Tiere dieses Waldes klappern hörbar mit den Zähnen und beißen daher niemals. Wir selbst, nachdem wir eine halbe Stunde 142 lang durch das Dickicht gedrungen waren, zitterten an allen Gliedern und der Colonel nahm sein Gebiß aus dem Munde, da ihn das Klappern desselben nervös machte.«

»Sein Ge . . .« fuhr der Bankier unwillkürlich darein.

». . . biß! ja wohl,« ergänzte Doktor Taube vorwurfsvoll. »Sie meinen, wegen jener zwei mit Gold plombierten Zähne in Ostende? Ach, das ist wieder eine andere Geschichte, bleiben wir einstweilen bei dieser. Ich bin ja kein Vogel, daß ich zwei Geschichten auf einmal sollte erzählen können . . . Nun denn, ich war dem Colonel etwa hundert Schritt voraus und hörte ihn plötzlich hinter mir einen Schrei ausstoßen. Wie ich mich nach ihm umwende, sehe ich ihn von einem grünen Ungeheuer am Kopfe gefaßt und unfähig, sich loszumachen. Wir waren nämlich in ein Mimosendickicht geraten und der Colonel, um so viel länger als ich, hatte mit dem Kopfe das Laub einer Riesenmimose gestreift, das augenblicklich über ihm zugeklappt war und ihn gefangen hielt. Sehr erschrocken faßte ich ihn um den Leib und zog aus allen Kräften, während die Mimose, je mehr ich 143 zog, desto mehr zusammenschrumpfte und den Gefangenen in die Luft hob. Die Lage war verzweifelt, wir schrieen beide aus Leibeskräften nach Hilfe. Glücklicherweise wurden wir noch gehört und der Führer eilte herbei. »Hilfe! Hilfe!« schrieen wir, um ihn zur Eile zu drängen; da sahen wir, wie der Mann, schon ganz nahe zur Stelle, plötzlich Halt machte und etwas wie einen Fluch ausstieß. »Hilfe! Hilfe!« schrieen wir mit der letzten Kraft, aber da fluchte er wieder, machte Kehrt und lief spornstreichs davon. In dieser Verzweiflung fiel mir mein Revolver ein. Ich ließ den Colonel los und schoß den dicken Zweig, der ihn gefangen hielt, 144 mit drei Schüssen so weit morsch, daß er unter der Last brach und mein Freund herabplumpste. Nun erst lösten sich auch die grünen Klammern langsam von seinem Haupte und er atmete wieder frei. Später stellten wir den Führer zur Rede, warum er uns so verräterisch im Stiche gelassen. Er antwortete: »Als ich Hülfe! Hülfe! rufen hörte, eilte ich natürlich herbei, als ich aber näher kam, unterschied ich genau, daß nicht Hülfe mit ü, sondern Hilfe mit i gerufen wurde; in unserer Schule, wo die amtliche Orthographie gelehrt wird, gilt dies als Verbrechen, zwei Verbrecher aber zu retten, konnte ich mich als loyaler Kolonialdeutscher nicht entschließen.« Sehen Sie, meine Herren, das ist die Macht der Schule und solche Fortschritte haben die Mohren in der deutschen Sprache gemacht.«

Wir tauschten nur geschwind die dringendsten Gedanken aus und nahmen dann sofort das Thema vom Gebiß des Colonels auf. Er wollte nicht recht daran.

»Ach, daran ist ja weiter nichts,« wehrte er sich, »die Zähne verlor er bei jenem Sturz aus dem Luftballon . . . in Bombay . . .«

145 »Aus einem Luftballon?« rief der Bankier sehr gespannt. »Aus welcher Höhe?«

»Ich weiß es wirklich nicht genau; ich denke: dreihundert bis dreitausend Fuß.«

»Und er wurde nicht zerschmettert?«

»Er war glücklicherweise so vorsichtig gewesen, Galloschen anzuziehen, . . . er fiel auf die Füße und Sie wissen ja . . . die Elasticität . . . Er blieb unversehrt, bis auf die Zähne, die ihm dabei wie auf Kommando zum Munde heraussprangen . . . Gerson! Bitte, wissen Sie nicht, was ich von Ihnen verlangen wollte? . . . Doch nein, bringen Sie mir das nicht, ich muß nach Hause, ich werde von meiner Lebensgefahr . . . Lebensgefährtin, wollt' ich sagen, erwartet. Gute Mitternacht, meine Herren! Empfangen Sie die Versicherung meines besonderen Unglücks. Apropos, wissen Sie, warum ich eigentlich, ganz eigentlich, so ein Pechvogel bin?«

»Nein! nein! nein!« riefen wir.

»Sie wissen aber, daß es Glück bringt, wenn man die Daumen eindrückt. Nun denn, wie Sie sehen, habe ich nur einen Daumen. Da kann ich freilich nicht so viel eindrücken wie andere Leute. Nowaja Semlja!«

146 Damit ging er hinaus.

Wir anderen saßen dann noch eine Weile beisammen und stellten Mutmaßungen an über Wahrheit oder Unwahrheit des Gehörten. Alle, die ihn länger kannten, waren der Meinung, daß manches von seinen Berichten einen Kern von Erlebtem enthalte, den er dann bei Gelegenheit willkürlich mit Einfällen verschnörkele.

Dem Direktor fiel es ein, Lehmanns Adreßbuch zu verlangen und den Mann aufzuschlagen. Da stand gedruckt. »Taube, Anton, Doktor der Rechte, V. Günthergasse 18.«

Ich schrieb mir die Adresse auf.

* * *

Einige Tage später brachte mich der Zufall wieder zu meinem Freunde, dem Zahnarzt. Ich erzählte ihm, was Doktor Taube uns erzählt hatte, und wollte seine Meinung darüber wissen. Auf dem Tische lagen mehrere Albums, Bücher und Hefte, und eines der letzteren zog durch seine auffallende Ausstattung meine Aufmerksamkeit an. Mechanisch griff ich darnach und warf während des Sprechens einen zerstreuten Blick darauf. Da 147 riß der Faden meiner Worte plötzlich ab und ich stieß ein Ah der Überraschung aus.

Auf dem buntgedruckten Umschlag stand in großer Zierschrift der Name: Jedediah W. Long.

Also wahr, . . . Entführung, Schiffbruch, Zweikampf u. s. w., alles wahr, . . . der lange Colonel keine Erfindung des alten Spaßmachers . . . So fuhr es mir durch den Kopf. Ich sagte es meinem Freunde. Aber dieser lachte hell auf.

»Was fällt dir ein? Jedediah W. Long war seiner Lebtage kein Colonel und ist niemals in Europa gewesen. Ich kann dir das ganz bestimmt sagen, da ich ihn in Newyork, wo ich mir die zahnärztliche Praxis aneignete, persönlich kennen gelernt habe. Er ist der größte Fabrikant zahnärztlicher Apparate und Instrumente; was du hier in der Hand hältst, ist sein illustrierter Preiskourant.«

Ich durchblätterte das Heft; es war in der That so, wie er sagte. »Aber . . .« begann ich fragend.

Er verstand mich sogleich und entgegnete: »Als Doktor Taube letzthin bei mir war, mit dir gleichzeitig, hat er offenbar dieses Heft im Wartesalon durchblättert und den seltenen Namen aus 148 der heiligen Schrift sich eingeprägt. Ein guter Name für den Helden phantastischer Erzählungen, . . . kein Wunder, daß er ihn sogleich an eurem Tische losließ. Übrigens gestehe ich, daß er diesmal sehr schön und beinahe zusammenhängend erzählt hat; er strengt sich meistens etwas an, wenn er sich vor jemand – diesmal vor dir – zum erstenmal produziert und eine gute Meinung erwecken, gewissermaßen einen neuen Kunden gewinnen will.«

»Und du glaubst nicht, daß etwas Wahres an seinen Erzählungen ist?«

Er zuckte die Achsel. »Weißt du, es kommt schon vor, zuweilen. Ich erinnere mich z. B., daß er sich einmal für eine Beleidigung rächte, indem er die Geschichte monatelang an allen Tischen vortrug, immer mit neuen Schnurren und Schnörkeln ausgeputzt, immer ungeheuerlicher, wobei natürlich der Beleidiger von Tag zu Tag lächerlicher wurde. Es ist ja möglich, daß er sich gelegentlich auch eine schmerzliche Lebenserfahrung auf diese Art humoristisch vom Leibe plaudert. Man verdaut das Unverdauliche leichter, wenn man sich durch hundert Purzelbäume dazu Bewegung macht.«

* * *

149 Die Sache ließ mich aber nicht ruhen. Ich verließ meinen Freund, warf mich in einen Wagen und fuhr hinaus in die Vorstadt: V. Günthergasse 18.

Es war eine Gasse dritter Ordnung, von kleinen Leuten bewohnt, welche in Hemdärmeln oder Nachthauben an die Fenster eilten, als das seltene Rollen eines Wagens hörbar wurde. Nummer 18 war ein großes neues Haus voll kleiner Wohnungen, in jenem gipsenen Baugesellschaftsstil gebaut, der genau so lange hält, bis das Haus verkauft ist und der Käufer darauf seine Hypothek von irgend einer Sparkasse erhoben hat. Ich fragte den Hausmeister nach Doktor Taube.

»Der wohnt im Gassenladen gleich rechts neben dem Thore,« war die Antwort.

Ich stutzte und glaubte falsch gehört zu haben, aber der Meister des Hauses blieb dabei. »Ein Gewölb ist halt billiger als eine Wohnung,« brummte er. Offenbar hatte er keine große Achtung vor diesem Mieter. Ich ging also hinaus und fand richtig den Gassenladen. Ich stieg zwei steinerne Stufen hinan und klopfte an die blechbeschlagene, grün gestrichene Ladenthür, welche von innen gesperrt war.

150 Im Laden blieb alles still. Wieder klopfte ich und glaubte nun Schritte zu hören. Aber die Thür blieb verschlossen.

Ich klopfte ein drittes Mal, da fragte drin eine tiefe Stimme: »Wer ist's?«

»Ich,« entgegnete ich, denn ich glaubte damit nicht unrecht zu haben.

Da öffnete sich ein schmaler Thürspalt, nur so weit, als es eine innen vorgehängte Sicherheitskette erlaubte. Durch den Spalt erblickte ich eine hohe Frauengestalt in unverkennbarstem Negligé, und ein merkwürdiges Antlitz dunkelte mich an. Ich kann es nicht anders ausdrücken, die tiefen Augen unter den dichten schwarzen Brauen und der tiefdunkle Schatten auf der Oberlippe, der an den Mundwinkeln sich auffallend kräuselte, machten mir den Eindruck des Unbeleuchteten, Nächtigen.

Ich fuhr erschrocken zurück, als sähe ich eine Tote, die wieder lebendig geworden. Kein Zweifel, 151 das war Arabella, seine Frau, das Vermächtnis seines Bruders, die Entführte des Colonels, das Opfer jenes Schiffbruches bei Ostende . . . Der Kopf wirbelte mir. Sie lebte also noch, sie war wirklich sein Weib, . . . der lebendige Kern seiner Erzählung.

Gewaltsam raffte ich mich auf und machte eine Anstrengung, wie um in einer einzigen Frage alle die Rätsel zusammenzufassen, auf die ich Antwort wollte. Aber was sollte ich sie fragen? Etwa: Meine Gnädige, sind Sie jemals von einem Amerikaner entführt worden? Oder: Meine Gnädige, sind Sie jemals ertrunken? Mein Zaudern währte jedenfalls zu lange, denn sie unterbrach es mit der Frage:

»Sie suchen wohl meinen Gatten, Doktor Taube?«

»Ja wohl,« entgegnete ich, froh, etwas sagen zu können.

»Er ist leider nicht zu Hause,« sagte sie mit einem Marschnerschen Vampyrbariton, »kann ich ihm etwas von Ihnen melden?«

Ich bat sie, ihm meinen Gruß und meine Karte zu übergeben, dann aber, als sie bereits die 152 Thür schließen wollte, rief ich hastig: »Entschuldigen Sie, meine Gnädige, nur noch eine kurze Frage, die Ihnen nicht unbescheiden erscheinen möge. Sind Sie jemals in Ostende gewesen?«

»Niemals, mein Herr,« entgegnete sie ohne alles Besinnen. »Dienerin!« Und die Thür flog zu.

Also wieder etwas Wahrheit und etwas Dichtung. Sehr nachdenklich stand ich noch eine ganze Weile auf der oberen Steinstufe. Ich betrachtete die grüne Thür, die mir aber nichts sagte. Sinnend blickte ich die enge, makadamisierte Gasse auf und nieder; auch sie blieb mir stumm.

Da kam eine bekannte Gestalt die Gasse herauf, sie wurde immer bekannter und schließlich war es Doktor Taube selbst, der vor seiner Thür stand und nicht an mir vorbei konnte.

»Nun, Doktor,« rief ich erfreut, »diesmal sind Sie doch kein Pechvogel, denn Sie haben dasselbe Glück wie ich; mein Besuch bei Ihnen ist nicht umsonst gewesen.«

Er sah mich erstaunt an, rückte ein wenig am Hute und sagte mit einer gewissen Kühle: »Ich bitte um Entschuldigung, mit wem habe ich die Ehre?«

153 Etwas befremdet entgegnete ich: »Mein Name ist Doktor H.; ich dachte, Sie würden mich noch nicht vergessen haben . . . seit der vorigen Woche.«

»Verzeihung,« sagte er mit der größten Unbefangenheit, »wenn Sie vielleicht meinem Gedächtnisse zu Hilfe kommen wollten?«

Da fiel mir einer seiner Scherze ein und ich neckte ihn. »Doktor, Sie sagen ja schon wieder Hilfe mit i, statt mit ü; geben Sie acht, der Mohr wird Sie wieder im Stich lassen.«

Ganz verdutzt sah er mir ins Gesicht. »Ich verstehe Sie nicht, mein Herr,« sagte er dann ruhig.

Nun war ich es, der ihn noch verdutzter ansah. »Ach ja,« rief ich dann plötzlich, »das war schon gegen Mitternacht, Sie hatten der Witwe Röderer . . . ha, ha . . . stark zugesetzt, und dem Cognac auch, Sie hatten schon etwas . . . Nebel im Kopfe und erinnern sich daher nicht an die späteren Scherze. Direktor von M. hat mir Ihre Adresse mitgeteilt und . . .«

»Direktor von M.?« wiederholte er, wie einer, der sich vergeblich besinnt, »Verzeihung, aber ich habe den Namen nie gehört.«

Ich starrte ihn an und fragte mich im stillen, 154 welcher von uns beiden eigentlich verrückt sei. Dann suchte ich ihn gleichsam zu überreden: »Direktor von M. war es ja, der Sie zu uns einlud, zum »Lamm,« wo Rittmeister D. und Bankier Z. mit uns soupierten.«

»Rittmeister Z.,« wiederholte er ganz verblüfft, »Bankier Z., . . . ich kenne auch diese Herren nicht. Übrigens gehe ich nie zum »Lamm« speisen, aufrichtig gesagt, weil mir das zu teuer ist. Ich muß mich einschränken. Die Geschäfte gehen schlecht. Es thut mir leid, daß ich Sie nicht bitten kann, bei mir einzutreten. Die Wohnung ist beschränkt und meine Frau vermutlich noch nicht angekleidet . . . Also mit wem habe ich die Ehre? . . . Ach ja, Doktor H. . . . Es scheint hier ein Irrtum vorzuliegen. Sollte nicht vielleicht mein Bruder mit Ihnen gespeist haben? Er kommt viel in der Welt herum. Er sieht mir sehr ähnlich, wir sind Zwillinge.«

»Aber Sie sind ja bei Königgrätz gefallen!« entfuhr es mir.

»Ich?« rief er ganz erschrocken. »Nun, das müßte nur in meiner Abwesenheit geschehen sein, denn ich war ganz sicher nicht dabei. Ich war ja überhaupt nie Soldat.«

155 »Und sind auch nicht ein Jahr nach Ihrem Zwillingsbruder geboren?« rief ich beinahe entrüstet.

»Mein Herr, Sie scherzen wohl,« entgegnete er etwas scharf, »ich weiß nicht, wie ich dazu komme, von jemand, den ich niemals gesehen, aufgezogen zu werden . . . Ich hoffe, Sie lassen mich jetzt endlich in meine Wohnung treten.«

Er drückte sich an mir vorbei, klopfte, die Thür wurde von innen geöffnet, auch die Schließkette rasselte nieder. Er trat ein.

»Nur einen Augenblick!« rief ich ihm nach. »Also einen Bruder haben Sie? Das wenigstens ist sicher? Warum steht er dann nicht im Adreßkalender?«

»Weil er nicht in Wien wohnt, sondern in Baden,« entgegnete er barsch und warf die Thür hinter sich zu.

Ich stand, wie niedergedonnert. Dann sprang ich in den Wagen und fuhr zu meinem Freunde, dem Zahnarzt zurück.

Ich berichtete ihm alles und er schien dadurch ungemein erheitert.

»Das ist so einer von seinen Streichen,« sagte er. »Glaubst du wirklich, daß du mit seinem Bruder gesprochen hast? Ich wette, so hoch du 156 willst, daß er es selber war. Er hat sich den Scherz gemacht, den Wildfremden zu spielen, und ihn, wie ich sehe, überaus täuschend gespielt . . . Einen Bruder hat er nicht, das weiß ich gewiß; ich weiß ja einiges von seiner Herkunft, er stammt aus Königgrätz, wo sein Vater Kaufmann war. Er ist viel in der Welt herumgekommen, hat nirgends gut gethan und es zu nichts gebracht. Nun ist er bürgerlicher Sonderling in Wien. Nicht Pechvogel, sondern Spaßvogel. Gäbe es heute noch Hofnarren, so wäre er vermutlich einer der berühmtesten . . . Neu ist mir, daß er wirklich eine Frau hat. Nun, die muß ihn neulich einmal furchtbar geärgert haben, daß er sich bei euch das Herz leicht machte, indem er jenen Schauerroman von ihr erzählte und sie sogar ertrinken ließ. Das war seine Rache. Bin neugierig, was der noch alles ausbrüten wird, ehe er sich begraben läßt in . . . Nowaja Semlja.«

Sein Gehilfe holte ihn, er wurde schon wieder erwartet. Ich saß noch eine Weile und blätterte in Jedediah W. Longs Preiskourant, dann ging ich fort. 157 158 159

 


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