Rudolf Herzog
Jungbrunnen
Rudolf Herzog

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Jungbrunnen

Regungslos stand er, beide Hände um die Krücke seines Wanderstocks gefaltet, und blickte ins Rheingau. Die Nachmittagssonne lag breit über dem Strom, blitzte und funkelte rheinauf und rheinab und warf dem stillen Beschauer eine Flut von Licht in die Augen. Doch die hellen Augen in dem dunkelgebrannten Gesicht schienen an schärfere Sonne gewöhnt zu sein als die Maiensonne des Rheingaus. Nur die Brauen rückten ein wenig näher zusammen, als ob sie den gesammelten Blick schirmen und eine Störung ablehnen müßten.

Mit bloßem Kopfe stand er und trank das blühende Land zu seinen Füßen in sich ein. Die weiche Frühlingsluft strich durch sein braunes Haar, den kurzen braunen Bart. So zärtlich, als ob sie ihn nur wissen lassen wollte: ich bin da... ›Nein‹, glitt es ihm durch sein Empfinden, ›verwöhnt bin ich nicht ...‹ und dann umspannten seine Sinne nur noch das Bild.

Aus weiter Ferne, mühsam oft, kehrten ihm die Namen der Städtchen und Dörfer wieder, die ihr altes Getürm und Mauerwerk im Rheine spiegelten, als lebten sie ein zweifach Leben, der Burgen und Schlösser und Kapellen, die auf Meilen und Meilen hinaus in grünen Rebengärten lagen und mit jedem guten Winzerherbst ihre Auferstehung feierten. ›Schloß Vollrads,‹ dachte er, ›und das Dörflein am Abhang der Rebenhügel ist Hallgarten. Das langgestreckte Nest, näher heran, muß Winkel sein. Und dort prangt Schloß Johannisberg mit seinem reichen, reichen Rebenland, und das uralte Städtchen, das nur aus zeitengrauen Herrensitzen zu bestehen scheint, ist das liebe Geisenheim.‹

Die Augen wanderten. Rüdesheim –.

Inmitten des Gäßchengewirrs, das sich erst zu seinen Füßen in den Weinbergen verlor, grünumsponnen das zehnte Jahrhundert, die Brömserburg, des letzten Grafen von Rüdesheim sagenumwobener Sitz.

»Und er saß
Und vergaß
Auf seiner Burg am Rhein ...«

ging es ihm wie ein Sang durch den Sinn. Jenseit des Rheins wuchtete, von der einst freien Reichsstadt Bingen umklammert, mittelalterlich Burg Klopp. Was war nur mit ihr? dachte er eine Sekunde. ›Ja, ja, dort wurde der deutsche König Heinrich IV. von seinem unbotmäßigen Sohne Heinrich V. gefangengesetzt. Das war Zu Anfang des 12. Jahrhunderts. In neueren Zeiten waren die Väter wieder über die unbotmäßigen Söhne gekommen. Auch nicht immer liebreich.‹ Er brach ab. Vom Rochusberg winkte die Wallfahrtskapelle. Zehntausende Pilger wurden hier, den schimmernden Rhein und den sorgenzerstreuenden Wein vor Augen, alljährlich dem Leben wiedergeschenkt.

Er lächelte – –

Barhaupt stand er, beide Hände um die Krücke seines Wanderstocks gefaltet, und lächelte in das Gewoge von Strom und Sonnenschein, Weinland und Wäldern hinein, in das Blühen und Duften des Mais, in die ewige Jugend des alten Rheingaus. Sein dunkelgebranntes Gesicht blieb ernst, der Mund festverschlossen, nur in den Augen lag es wie ein Widerschein des Frühlingstages, der aus dem Jungbrunnen des Rheingaus emporgestiegen war.

›Jungbrunnen‹, dachte er – – Und seine Lippen lösten sich voneinander und formten das Wort nach. Als sprächen sie in leiser Verwunderung eine Frage nach.

»Mein Gott, was einmal jung in mir war, ist es hier gewesen,« murmelte er in den Tag, als gäbe er sich selber Antwort.

Das Aufleuchten in den Augen war erloschen. Der Freiherr Erwin von Tucht hob eine braune Arbeitshand und legte sie schützend über die Brauen. Mit einem Male empfand er die Fülle der Sonne so stark, daß er für Sekunden die Augen schloß.

›Was war denn einmal jung in mir, und wann war das wohl?‹ zuckte es ihm im Hirn. ‹›

›Zwanzig Jahre brasilianischer Urwald, das legt sich wie eine Mauer zwischen damals und jetzt. Ich muß sie erst abtragen. Langsam, langsam. Bis ich wieder hinüberblicken kann. Also es war vor mehr als zwanzig Jahren, daß ich jung war. Und da war es der Ulanenleutnant in mir, der so jung war. Nein, nicht doch, es war das Mädchen.‹

»Ich glaube,« sagte er und ließ die Hand sinken, »sie hieß Elisabeth.«

Der andere Name kam ihm nicht. Er lag, verschüttet von den Jahren, tief im Boden Brasiliens, den er mit seinen Händen dem Urwald abgerungen und urbar gemacht hatte, um leben zu können. Leben ... Hieß man auch das noch Leben, was man führte, um vor dem Leben zu verschwinden?

Die Hand, die mit der anderen auf der Krücke seines Wanderstockes lag, zerschnitt in kurzer Bewegung die Luft, als schöbe sie die Schwere der Jahre aufs neue zur Seite. Die Augen suchten. Sie suchten dort unten das Städtchen, und in dem Gassengewirr eine weißgekleidete Mädchengestalt mit freiem Halse, den die liebe Rheingausonne gebräunt hatte, mit dunklem Flechtenkranze um den lachenden Kopf, von dem der weiße breite Strohhut tief in den Nacken gesunken war. Wie sie den Berg empor kam! Biegsam, schmiegsam, jugendkräftig. Schön und gesund wie die Natur, die ihr zum Rahmen wurde. Und hier oben hatte er gestanden und sie erwartet – damals, damals, als er, ein zweiundzwanzigjähriger Leutnant, dort drüben im Landhaus des Vetters Tucht einen Frühsommerurlaub verbracht hatte – oft des Morgens bei Sonnenaufgang, oft des Abends bei Sonnenuntergang, öfters noch morgens und abends, am selben Tage. Und dann den Arm um ihr Mieder, unter dem er ihr Herz schlagen fühlte, und gewandert, gewandert, gewandert. Verwachsene Rebpfade, endlose moosgrüne Buchengänge, quer durch die Wiesengründe, zu den Weindörfern des Rheingaus, die so köstlich verschlafen schienen und insgeheim so voll des köstlichen Lebens sind, in die Burgruinen hinein, in denen sich im Mondschein Rittersknapp und Edelfräulein spielen ließ, bis die Lippen bluten wollten, und in engverstrickter Seligkeit zum Rhein in den gleitenden Nachen. Einen Monat hatte sein Urlaub, einen Monat dies Schenken und Wiederschenken aus einem Reichtum gedauert, den nur überströmende Jugend ihr eigen nennt. Wenn er sein Leben recht bedachte, war er nur einen Monat jung gewesen. Und während sein Hirn die alten, verblaßten Bilder mit Farbe und Klang zu beleben suchte, suchten die Augen immer noch tief drunten in den Gassen Rüdesheims, als müsse an der Wegbiegung, die aus dem Städtchen ins Bergland führte, das weißgewandete fröhliche Rheingaumädchen erscheinen und ihm zuwinken: »Hier bin ich! Wo warst du so lange?« Rechnete er zwei Jahre Kriegsakademie in Berlin und das zerfetzte Jahr hinzu, das ihn wie ein vom Baum gerissenes Blatt durch die Welt gejagt hatte, rechnete er die drei Jahre den zwanzig Jahren Brasilien hinzu – Rechnete? Wer hatte vom Rechnen gesprochen in dem einen einzigen Lebensmonat? War er an diesen Platz wiedergekehrt, um Berechnungen anzustellen? Weshalb war er sonst wiedergekehrt nach sechsundzwanzig Jahren? Er wußte es nicht. Es war ja so gleich. Vielleicht, um sich zu vergewissern, daß er wirklich einmal jung, wirklich einmal fröhlich wie ein Knabe gewesen sei, und wenn auch nur für einen Monat seines Lebens. Vielleicht in der verschwommenen Hoffnung, sie wiederzusehen, die ihm einmal diesen Trunk aus dem Jungbrunnen gereicht hatte. Nur nicht denken. Nur Ausschau halten, nur die Gassen dort unten durchforschen und die Wegbiegung – die Wegbiegung vor allem.– – Seine Augen öffneten sich groß. Die Mauer war abgetragen, die sich zwischen Damals und Heute drängte. Damals und Heute rannen lautlos ineinander. Da, da! Da bog das Mädchen in den Weg, der eng und steinig ins Rebengelände und zu den stillen Höhen führte, weiß gekleidet, mit freiem Halse, den die liebe Rheingausonne gebräunt hatte, mit dunklem Flechtenkranze um den lachenden Kopf, von dem der weiße breite Strohhut tief in den Nacken gesunken war.

Ganz regungslos stand er, ohne Verwundern, als müßte das alles so sein. Aber jede ihrer jungen Bewegungen verfolgte er, wie sie den Fuß setzte, wie sie das Kleid vor den Dornen raffte, wie sie schlanken Wuchses die letzte Steigung nahm, als sei es ebener Weg, und mit einer Gebärde des Staunens vor des Mannes forschenden Augen stand.

»Elisabeth ...« sagte er ganz leise und wußte selber nicht, daß er den Namen gesprochen hatte.

Das Staunen auf ihrem Gesicht vertiefte sich. »Nein,« sagte sie dann und schüttelte freundlich den Kopf, »Sie irren sich. Ich heiße zwar Elisabeth, aber ich hab' Sie gewiß noch nie gesehen.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Es war eine Ähnlichkeit, die mich verwirrte.«

»Es gibt viele Ähnlichkeiten unter den Rheingauer Mädchen. Das tut die liebe Sonne, die uns allesamt so braun brennt.« »Die liebe Sonne – –« wiederholte er. »Mich hat sie braun gebrannt wie einen Indianer. Aber geliebt hab' ich sie dafür auch nicht eine Stunde.«

»Dann müssen Sie nicht aus dem Rheingau sein.«

»Das ist wahr. So frei und frank und schön wie hier ist es nirgendwo.«

»Und Sie kommen weit her, um sich daran zu erfreuen?«

»Ich komme aus Frankreich.«

»Aus – Frankreich? Aber dort ist doch der Krieg?«

»Ich komme aus dem Krieg.«

»Jetzt weiß ich,« sagte sie und tat einen tiefen Atemzug, »weshalb es Sie hier freut wie nirgendwo. Wer aus der Kriegshölle kommt, dem muß das kleinste Stückchen Friedenserde wie ein Paradies erscheinen.«

Er sah sie an, und doch war ihr, als sähe er sie nur wie aus weiter Ferne und noch nicht in der Wirklichkeit. 'Das macht der Krieg,' dachte sie, 'und wer ihn erlebt hat, kann es nicht fassen und glauben, daß es noch friedliche Täler und fröhliche Menschen gibt, und findet sich nur auf langen Umwegen zurecht.'

»Sie sind fremd hier,« sagte sie freundlich. »Kann ich Ihnen irgendwelche Auskunft geben? Ich kenn' hier Weg und Steg und auch viele Menschen.« Er deutete mit dem Stock auf das weiße Landhaus am Rebhang, in dem er als Leutnant den Frühsommerurlaub verlebt hatte. »Wie ein deutsches Märchen ... Wer mag darin hausen?«

»Der Freiherr von Tucht wohnt darin mit seiner Gemahlin, dem Fräulein Tochter und dem jüngsten Sohn. Zwei Söhne stehen im Felde.«

»Ob der Freiherr zu Hause ist?« fragte er zögernd.

»Keiner ist daheim. Sie sind auf ein paar Tage nach Wiesbaden gefahren und kommen erst zum Sonntag. Und grad jetzt in der Blüte ist der kleine Park so schön.«

Seine Augen suchten die von blühenden Fliederbüschen überhangene kleine Gartenpforte. Die 'Glückspforte' hatte sie sein Mädchen einmal genannt. Hier heraus war er getreten, als er das schöne Rheingaumädchen zum ersten Male sah. Mit ihr eingetreten war er nie.

»Ich nehme Ihre Geduld in Anspruch,« sagte er bittend. »Nur eine Frage noch. Ich möchte so gern diesen Park sehen, den Sie gerade jetzt in der Blüte so schön finden. Wissen Sie, an wen man sich wenden muß, um Einlaß zu erhalten? Das Haus ist gewiß nicht ohne Obhut?«

Ganz heimlich flog ein Mädchenlachen um ihren Mund. Ihr Blick glitt schnell über ihn hin, über Wanderanzug, Wickelgamaschen und das weiche Jägerhütchen, das zu seinen Füßen lag.

»Ich bin kein Einbrecher, mein Fräulein.«

»Es sind Kriegszeiten. Und ich trag' die Verantwortung.«

»Sie tragen die Verantwortung? Verzeihung: habe ich etwa gar in Ihnen –«

»Nun bin ich gespannt.«

»– die Tochter des Hauses zu begrüßen?«

»Ach gar!« lachte sie. »Ein Freifräulein bin ich gerade nicht. Aber von der Schulzeit her die Freundin und später so ins Haus hineingewachsen, als gehört' ich dazu. Das ist nicht viel und doch alles. Und da Sie aus dem Krieg kommen und der Park Sie freut, dürfen Sie gewiß hinein.«

»Ich danke Ihnen,« sagte er, nahm sein Hütchen und folgte ihr.

›Ich geh' wie im Traum,‹ dachte er. ›Hier ist der Park, so heimlich und prangend wie vor zwanzig Jahren und mehr. Und hier das Mädchen, so süß und prangend, als stünde auch seine Schönheit und Frische jenseit der Zeit. Gibt es Dinge, die bleiben, indem sie sich selig wiederholen? So unberührt sein können, um mitzutun ...‹

Das versteckte Pförtchen sprang auf. Lautlos wie vordem. Nicht die Angel hatte gekreischt. Und sie gewahrte seine Verwunderung mit fröhlichen Augen.

»So versteckt es ist, es ist im täglichen Gebrauch. Wenn's mich anwandelt, hinauszulaufen ins Weite, ohne viel Rede und Gegenrede, so erspar' ich mir den Weg durchs Haus und das große Eingangstor und tauch' aus dem Park ins Freie. Ich mein' immer, es paßte besser zusammen, und daher führ' ich Sie auch durch das Pförtchen herein. Sehen Sie, da ist Ihr Märchen.«

Er nickte ihr dankend zu und schritt, während sie das Törchen schloß, ihr voraus. Ein paar große, hastige Schritte tat er mitten in das Blütenwunder hinein, stand still und schloß die Augen. Und er öffnete sie wieder, erregt und erwartungsvoll. Mit tausend weißen Sternen bestickt, lagen die grünen Jasminhecken, in blauen und weißen Dolden hingen die schweren Fliederblüten im Gebüsch, Goldregen tropfte aus den Gezweigen, pausbäckig lachte der Schneeball, die wilden Kirschäpfelbäume standen wie gebannt von der eigenen rotschimmernden Blütenpracht, Frührosen entfalteten ihre Knospen, und wo nur ein Fleckchen Erde Luft und Licht besaß unter den mächtigen Baumriesen, die ihre grünen Wipfel reckten, sproß es von Tulpen und Hyazinthen, Schwertlilien, Anemonen und Ranunkeln. Er trank die Farben und er trank die Düfte. Er wußte, daß er in Deutschland war, in dem Stückchen Deutschland, von dem allein ein Erinnerungshauch an ihm hängen geblieben war dort draußen überm Meer, wo die Vorhänge fielen. Und nun hatte sich der Vorhang doch noch einmal gehoben.

Er fühlte ein Kühles in der herabhängenden Hand. Eine große gelbe Dogge hatte ihre kühle Schnauze hineingeschoben und blickte stumm zu ihm auf. Wie wohl ihm die Vertraulichkeit des Tieres tat. Über den leise knirschenden Weg kam die Begleiterin.

»Ich hab' nur den Hund festgehalten, während Sie so versunken standen. Aber das Tier gab keine Ruh', bis es zu Ihnen konnt' und Sie beschnuppern. Und nun spielt es gegen alle Gewohnheit den Vertrauten.«

»Es spürt, daß ein alter, müder Mann, wie ich, nichts Gefährliches im Schilde führen kann.«

»Nein, nein,« wehrte sie lachend, »ich sag' keine Schmeicheleien. Und wenn Sie sich als Greis vorstellen würden. Ich tu's doch nicht. Aber allen alten, müden Männern hierzuland gönnt' ich schon, daß sie wären wie Sie.«

»Wollen Sie mich führen? Es wäre sehr lieb.«

»Zu führen ist hier nicht viel. Der Park ist nicht groß. Aber zu suchen und zu finden ist viel für den, den's freut. Und das Schönste ist die Aussicht ins weite, weite Rheintal. Dort vom Mauerfleck.«

Er schwang sich auf den Mauerrand, und sie lehnte, die Hände über den Steinen verschränkt, neben ihm. Der Hund lag ihnen still zu Füßen.

Die Sonne zitterte über den Wassern des Rheins, und die Wasser des Rheins zitterten nach der Sonne. Ein silberner und ein goldener Hauch vermählten sich bis fern in die Weite.

»Wie schön ist Ihre Heimat. Wie wunderbar schön.«

»Ich weiß mir keine liebere.«

Und als sie eine neue Weile schweigend hinausgeschaut hatten über Strom und Berge und Rebengelände, nahm das Mädchen das Wort wieder auf, als müsse sie ihm ein Gutes antun, und sagte: »Sie werden Ihre Heimat grad so lieben wie ich die meine.«

«Ich –?« Er blickte geradeaus und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Heimat.«

»Ja, wo kommen Sie denn her?«

»Aus dem Krieg.«

»Aber der Krieg – der Krieg – das ist doch keine Heimat.«

»Zuweilen – gewiß. Aber auch das liegt nun schon dahinten.«

»Sie brauchen nicht wieder hinein in den Mord? Sie sind entlassen?«

Seine Brauen rückten aneinander. »Aus dem Lazarett,« sagte er kurz und starrte über seine Worte hinweg in das Frühlingsland wie in ein unfaßbar Wunder.

»Hab' ich Ihnen weh getan?« fragte sie leise und berührte mit den Fingerspitzen scheu seine Hand, »Wenn man gerne plaudert wie ich und nicht viel Zeit und Gelegenheit dazu hat – aber was red' ich da wieder. Ein Glas Wein, ja? Wenn's auch nicht der meine ist. Für einen Verwundeten darf ich's bringen.«

»Es war nicht so schlimm,« lehnte er ab. »Schuß durch die Lunge. Nicht mal lebensgefährlich.«

»Sie dürfen nicht spotten,« sagte sie hastig.

»Nicht spotten? Auch der Krieg ist für mich aus. Das Leben will einen nicht, und der Tod will einen nicht. Was bleibt?«

»Sie selber,« sagte sie und sah ihm steil in die Augen.

»Ich selber. Das war ein schönes Wort.« Und er hielt dem Blick der ernst gewordenen Augen stand. »Wir wollen von mir nicht mehr sprechen. Ihre jungen Augen dürfen gar nicht anders als fröhlich in das Leben blicken. Sie werden einmal nur das Glück im eignen Heim haben.«

»Schönen Dank. Aber damit wird's seine guten Wege haben. Tut nichts – und wenn's ein Altjungfernheim wird.« Er sprang von der Mauer und lachte ihr in die Augen.

»Nein, nein, jetzt mach' ich's wie Sie vorhin und sag' keine Schmeicheleien.«

»Aber das ist doch ein Unterschied! Vorhin wollten Sie mich für das Freifräulein halten. Das war sehr hübsch von Ihnen und hat mich von Ihnen als Fremdem gefreut. Doch was erzählen wir uns hier für Geschichten. Gerad seit einer Stund kennen wir uns.«

»Seit sechsundzwanzig Jahren, so ist mir.«

»Und ich bin erst seit achtundzwanzig Jahren auf der Welt.«

›Vielleicht,‹ dachte er und sann vor sich hin, 'spielte sie schon im Weingarten ihres Vaters und sah uns mit Kinderaugen zu, wenn Elisabeth und ich uns in den Weinbergen küßten.'

Er reichte ihr rasch die Hand.

»Es gibt Menschen, die nur dazu geschaffen sind, anderen wohlzutun. Lassen Sie das meinen Dank für diese Wiedersehensstunde sein. Ja, doch: Wiedersehensstunde. Es gibt viele Ähnlichkeiten unter den Rheingauer Mädchen, sagten Sie mir, als Sie mir begegneten. Das Wort ist wahrer, als Sie ahnen. Und für Kranke und Glaubenslose ist es bei all seiner Unscheinbarkeit ein gesundes Wort. Leben Sie wohl, Fräulein Elisabeth, und nehmen Sie herzlichen Dank.« »Wandern Sie hinab nach Rüdesheim? Ich weis' Ihnen den Weg.«

»Ich will die Nacht in Rüdesheim zubringen. Den Weg kenn' ich, da ich ihn heraufkam. Aber wenn ich weiterwandere, will ich Sie gern noch einmal bitten, mir den Weg zu weisen.«

»Weiter als übers Rheingau kenn' ich mich nicht aus.«

Sie schüttelte seine Hand und stand noch, den Hund zur Seite, unter den blauen Fliedertrauben des Pförtchens, als er sich tief in den Weinbergen nach ihr umwandte und sie gewahrte.

»Auf Wiedersehen!« rief er mit hellklingender Stimme und ließ den Hut kreisen.

»Auf Wiedersehen!« scholl es hell zurück, und eine Mädchenhand winkte ihm zu. –

Seine Schritte hallten fest durch die Rüdesheimer Gassen. Sein Stock klang auf dem Pflaster. Er marschierte wie ein Soldat, der in der Ferne ein Horn erklingen hörte. Die Kinder auf den Straßen machten ihm achtungsvoll Platz und raunten hinter ihm her: »Das ist ein Offizier. Sicher und gewiß. Braun wie eine Kastanie. Der hat arg im Kampf gestanden.«

Er kam zum Rhein und sah in den Vorlauben der Gasthäuser Offiziere aller Waffengattungen, die ihren kurzen Heimaturlaub zu einer Fahrt an Deutschlands ewigjungen und ewigumkämpften Strom benützten. Ihre Gläser klangen aneinander. »Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!« Der Rhein! Der Rhein! Und ihm war er mehr, ihm war der Name das ganze Wissen von der Heimat.

Das erste Abenddämmern zog über den Strom und wob die feinen Märchenschleier um alles Ferne und rückte die Nähe zusammen. Er ersah sich eine Gartenhalle, die leer war von Gästen, trat ein und setzte sich im Abendschatten an einen Tisch. Eine junge Wirtin kam, bot ihm in frischer Freundlichkeit einen guten Abend und trug ihm den Wein herbei, den er wünschte.

»Sie kommen gewiß aus dem Felde?«

»Schau' ich so grimmig drein?«

»Nein,« sagte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn, »so dankbar. Ob's das rechte Wort ist, weiß ich nicht. Aber vielen geht es so, die draußen sind und merken nach all den Schrecken erst, wie schön das Zuhause ist. Mein Mann ist auch da draußen.«

»Ja, dazu sind Krieg und alle Lebensstürme gut. Man spürt, was Wert hat im Leben und wie oft man überheblich daran vorbeigerannt ist. Ihr Wohlsein, Frau Wirtin.«

Sie nickte ihm herzhaft zu und ließ sich auf einem Stuhl nieder.

»Ich darf mal eine Pause machen. Gerade sind die Bürgergäste zum Abendbrot heimgegangen, und gleich muß ich die beiden Kinder ins Bett bringen. Das Jüngste kam erst während des Kriegs, und mein Mann sah es erst nach einem Jahr. So hat er nie an einem Menschenseelchen gehangen.«

»Und Sie führten inzwischen hier allein die Wirtschaft und den Gasthof?«

»Und den Weinhandel,« lachte sie ihn strahlend an. »Mit einem alten, lahmen Küfer und zwei Mädchen. Die eine besorgt die Gastzimmer, die andere mit mir zusammen die Küche und den Tagesverkehr. Am Abend ist jetzt früher Schluß. Da hab' ich schöne Zeit für die Buchführung und den Versand. Die Kinder werden zwischendurch versorgt.«

»Hören Sie mal, Frau Wirtin, gibt es hierzulande viele Frauen, die das alles leisten können und doch dabei so froh und hübsch bleiben? Denn daß Sie schön sind, brauche ich Ihnen kaum zu sagen. Das sagt Ihnen der Spiegel.«

»Ja»« gestand sie unbefangen, »ich weiß es, und daß es mich froh macht, ist auch wahr, aber es freut mich gerade wegen meines Mannes, daß er nicht auf der einen Seite verliert, was ich ihm auf der anderen Seite zusammenhalt'. Mit allem Geld und Gut ist nichts getan. Die Menschenfreud', das ist die Hauptsach'.«

»Die Menschenfreud' ...« wiederholte er – »Denken Sie sich unsern Rheingau ohne die Menschenfreud'. Das wär' wie der Himmel ohne den lieben Gott. Der Zweck tät' fehlen und der Segen.«

»Wahrhaftig,« murmelte der Gast.

»Und nun müssen Sie nur nicht glauben, ich wär' eine Ausnahm' und tät' mich vor Ihnen groß mit dem bißchen Denken bei dem vielen Schaffen. Die Art finden Sie überall bei den Rheingauer Mädchen. Das Herz kann nur lachen, wenn's ein anderes zum Lachen bringt, und die Freud' nimmt dem Alter den Frost. Der Abend aber ist länger als der Tag.«

»Wollen Sie nicht ein Glas Wein mit mir trinken, Frau Wirtin?«

»Gern, aber nur eins.« Sie nahm ein Glas vom Tisch und ließ es sich füllen. »Ich fürcht' mich nicht vor dem Wein. Man muß ihn kennen wie einen Freund, der einem warm die Hand reicht, und nicht wie einen Jahrmarktskünstler, der einem für ein Stündchen blauen Dunst vormacht. Aber ich hab' mich am Nachmittag schon verplaudert, mit dem Fräulein droben vom Baron Tucht, die mit mir zur Töchterschul' gegangen ist.«

»Ist sie wie Sie,« sagte der Gast und hob sein Glas, »dann wollen wir bei diesem Heimatstrunk auch ihrer gedenken.«

»Sie ist, wie sie ist,« lachte die junge Wirtin, »und darum ist sie ein ganzes Mädel.« Und sie stieß freundlich mit ihm an und nippte von ihrem Wein.

»Man sieht sich selten, und jetzt zumal, denn sie hat alle Händ' voll zu schaffen wie ich. Der Baron und seine Frau, die haben gewußt, was sie taten, und daß sie sich nicht nur einen Gotteslohn verdienten, als sie die Verwaiste ins Haus nahmen. Sie erspart dem Baron einen Gärtner, der Baronin eine Wirtschafterin, dem Fräulein die Gesellschafterin und dem Jungen den Musiklehrer und den Zeichenlehrer. Sie wird reichlich ausgenutzt dort oben und kann sich doch nicht viel ersparen, da der Baron selber zu sparen hat, denn zwei Söhne studieren auf den Landrat oder sonst einen hohen Posten, und wenn sie auch jetzt nichts kosten, weil sie als Offiziere draußen stehn, das Freifräulein ist so gut wie verlobt, und die Aussteuer ist sündhaft teuer in Kriegszeiten.«

»Und das Fräulein – Ihre Schulfreundin – fragt nicht nach dem Geld? Da ist sie sehr glücklich.«

»Sie ist arm wie eine Kirchenmaus. Aber das macht ihr nichts. Sie meint, mehr als fröhlich leben vermöcht' kein Kaiser und König, und um ihre Fröhlichkeit aufzuzehren, dazu bedürft' es rund hundert Jahr. Sie könnt' noch davon abgeben und tät's gern, denn dann kriegte sie die Zinsen.« »Da hat sie gewiß ein frohes Elternhaus gehabt und eine reine Jugend.«

»Nichts als Unfried' daheim. Die Mutter starb früh, und der Vater vertrank den Verdienst und wollte trotzdem leben wie ein Graf. Dem Mädel aber hat nichts was anhaben können, so ein fröhlicher Mensch ist es gewesen von Kind an.«

»Und hat nicht hundert Freier oder tausend gar?«

»Sehen Sie,« sagte die junge, hübsche Frau, »das ist ein heikel Ding und spricht sich schneller, als es überlegt ist: freien. Da wären wohl viele, die sie vom Fleck weg nähmen, aber keiner, der ihr das Wasser reichen könnt'. Und dafür hat sie zuviel gelernt und ein zu eigenkräftig Leben, als daß sie nicht wüßt', wie solche Ehen ausgehen, in denen die Frau eine ganz andere und höhere Geistesbildung hat. Von den übrigen aber sehen die meisten aufs Geld, um sich und die zukünftige Familie vorwärts zu bringen und selber auch nicht dabei zu kurz zu kommen. Stimmt's?«

»Ein alter Junggeselle, wie ich, hat wohl in solchen Fragen keine Stimme.«

Die junge Wirtin beugte sich vor. Sie wollte ein Scherzwort sagen und wagte es nicht. Dabei stieg ihr eine mädchenhafte Röte in die Wangen, und nun saß sie ganz still in seinem Blick. »Nein,« sagte sie endlich, »alt sind Sie nicht. Und das andere ist Ihre Sach'.«

»Wie schön es hier ist.«

Sie trank ihr Glas leer und erhob sich geschäftig.

»Schön? Ganz dunkel ist's geworden, und das Mädchen soll Ihnen ein Windlicht herausbringen, denn große Beleuchtung darf nicht sein wegen der Fliegergefahr. Nun muß ich zu den Kindern.«

»Wenn ich bitten dürfte, so lassen Sie das Windlicht noch ein wenig beiseite, bis andere Gäste kommen. Ich möchte auch gern hier über Nacht bleiben, wenn Sie ein Zimmer für mich frei haben.«

»Das können Sie gewiß. Ich werd' Ihnen das Eckzimmer herrichten lassen, da haben Sie den Rhein gleich als Morgengruß.« Und sie nickte ihm zu und eilte ins Haus.

Er horchte noch auf ihren leichtfüßigen Gang, und als der Schritt sich im Hause verloren hatte, horchte er immer noch weiter, auf das Rauschen des Rheines hinter dem Damm, und in der Dunkelheit wurde ihm das Rauschen zum Rauschen des Meeres und das Meeresrauschen zum Wälderrauschen in der Urwaldsnacht, aus der er gekommen war. Affen kreischten in den Bäumen, Papageien stießen ihr irrsinniges Lachen aus, Gewürm kroch ihm über die Füße. Und der einzige Mensch nur er, er allein, mit der Axt, mit dem Pflug, mit der Flinte; denn die Buschindianer mit ihren Weibern, die er sich in jahrelanger Arbeit zum Dienst gezogen hatte, zählten nur als Halbgetier. Plötzlich überlief es ihn wie ein Todesschauder. Zwanzig Jahre – zwanzig Jahre hatte er diesen lebendigen Tod ertragen? Welch einen Überschuß an Kraft mußte er besessen haben, daß er heute noch lebte. Daß er selbst die drei Jahre Krieg und die schwere Verwundung mühelos überwunden hatte. Und nun? Nach dem allen? Was blieb ...?

»Sie selber,« hatte das lebensfrohe und lebenstüchtige Mädchen gesagt, das Mädchen, das ihm in Gang, Gestalt und Antlitz und all der Eigenart ihrer frischen Natürlichkeit wie die Wiederkehr der Jugendgeliebten erschienen war und ihren Namen trug. »Sie selber.« Und ihre jungen Augen waren ernst geworden wie Mutteraugen.

Er tastete in der Dunkelheit nach seinem Glas, goß es voll und trank es in langsamen Zügen aus. Ja, der Wein war ein Freund, der einem warm die Hand reichte ...

Aber sein Gehirn war unbestechlich, auch dem Zuspruch des Freundes gegenüber. Er hatte, bei Gott, Zeit und Einsamkeit genug gehabt, um das klare Denken zu üben. »Sie selber,« hatte das fremde Mädchen gesagt. Was wußte das fremde Mädchen, wer »er selber« war, gewesen war, und was von ihm übriggeblieben war.

›Glaubst du,‹ fragte eine Stimme in ihm, ›eine Mutter würde sich um diese und um tausend andere Dinge kümmern, wenn es den Sohn gälte?‹

›Wie steil mir das Mädchen in die Augen sah,‹ ging es ihm durch den Sinn. ›Furchtlos, weil die Güte in ihr stärker war als althergebrachte Bedenken. Ob sie unbewußt schon an ihre Kinder denken? Denken müssen? Selbst wenn sie ein Kind nie haben werden und nur ein Altjungfernstübchen für den Abend, der länger ist als der Tag?‹

Er schenkte den Rest des Weines ins Glas. In der Dunkelheit lachte er leise vor sich hin.

»Keine Altjungfernstübchen mehr! Die Menschen würden froher werden.«

Gäste kamen und riefen nach Licht. Er trank sein Glas leer, ging langsam ins Haus hinein und erfragte sein Zimmer. Über dem Rhein stieg der Mond auf, und das Land tauchte aus dem Dunkel hervor in neuen, abgeklärten Bildern. Lange stand der Mann am Fenster und ließ sich von den Bildern erfüllen. Um die Mittagsstunde des andern Tages kehrte Erwin von Tucht von einem weiten Wanderwege aus den Bergen zurück. Der Abstieg führte ihn an dem Landhaus des abwesenden Vetters vorbei. Die grünen Rollvorhänge lagen vor den Fenstern, alles war still im Hause. Nur auf dem Balkon, von dem noch ein paar schwere Glyzinendolden aus den aufknospenden Kletterrosen niederhingen, glaubte er ein weißes Kleid gewahrt zu haben. Er reckte den Kopf im Weiterschreiten und suchte mit scharfem Blick. Und eine weiße Gestalt beugte sich über die Brüstung und erwiderte mit der Hand seinen Gruß.

»Heute nachmittag am alten Platz?« rief er frohgestimmt.

»Wenn Sie wollen? Um fünf!«

Er ließ den Hut zur Bejahung kreisen und schritt kräftig weiter aus. War das gestern gewesen, daß er sie zum erstenmal im Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte? Ihm war, als sei das alles nur eine Fortsetzung aus alter Zeit, und nur eine Nacht totenähnlichen Schlafes habe zwischen dem Gestern vor dreiundzwanzig Jahren und dem Heute gelegen, dem Erwachen im alten Rheingau.

Er nahm den Hut ab und fächelte sich Kühle zu.

›Welch eine Wahnvorstellung. Die kleine Elisabeth von damals müßte heute eine Frau meines Alters sein.'

Aber die Vorstellung ließ sich nicht vertreiben. ›Das Leben erneuert sich ohne unser Wissen und Vermögen und wächst hinter uns drein,‹ ergrübelte er, ›und nimmt die freigewordenen Plätze ein, ohne daß wir es bemerken, und wenn wir nach hundert Jahren zu den Menschen zurückkehren könnten, würden wir immer nur uns wiederfinden. Der Schöpfer wechselt die Form nicht, aus der er schafft, wie er sein Eigenbild nicht wechselt. Und es muß wohl seine tiefe Bedeutung haben.‹ –

Als die Kirchenuhren Rüdesheims aus dem Tal herauf die fünfte Nachmittagsstunde verkündeten, betrat Erwin von Tucht den alten Späherplatz. Nur einmal konnte er tief Atem schöpfen, und schon flimmerte das weiße Kleid zwischen den Hecken, und seine junge Führerin stand vor ihm.

»Pünktlich!« riefen sie wie aus einem Munde und boten sich die Hand.

»Unpünktlichkeit zeigt immer, daß man mehr an sich als an den anderen denkt,« und sie lachte ihn an. »Außerdem stiehlt sie einem doch nur die gute Zeit.«

»Und Sie möchten sich nichts von ihr stehlen lassen?«

»Wenn sie gut ist, beileibe nicht. Und daß sie gut ist, das sah ich gleich Ihren Augen an, die heut ganz anders in die Welt schauen. Wollen wir auf die Ruine Ehrenfels? Das ist nicht weit.«

»Mir ist nichts weit genug.«

»Aber mir,« gab sie zurück und schritt auf dem schmalen Weinbergspfad schon voraus. »Ich bin kein Freiherr und wohn' nur unter einem freiherrlichen Dach als Freigast. Dafür hab' ich das Haus zu bewachen und zur Dunkelheit auf Posten zu stehen.«

»Hätte ich daran gedacht, so hätten wir auch früher wandern können.«

»Ich nicht. Die Mädchen sind mit nach Wiesbaden, und ich hatte alle Hand' voll zu tun, um bis um fünf mit all dem fertig zu werden, was die Frau Baronin heut im Brief wünschte.«

»So haben Sie sich meinetwegen wohl gar überanstrengt?«

Sie schwenkte im Weiterschreiten halb nach ihm um und wandte ihm ihr Gesicht zu.

»Schau' ich so arbeitsscheu aus? Ich hab's doch nicht nur Ihretwegen, sondern auch meinetwegen getan. Drei Stunden gewonnen! Und schon lebt man drei Stunden länger.«

»Achtung! Der Weg ist steinig!«

»Sonst könnt' hier jeder herumstolzieren. Alles im Leben will gelernt sein und muß verdient werden.« »Ist es für Sie eine Belohnung» hier allein herumklettern zu dürfen?«

»Ja,« sagte sie, wandte den Kopf nach vorn und setzte den Fuß leicht zwischen das Gestein. »Wenn ich hier allein wandere, gehört mir Himmel und Erde und das ganze Rheingau. Und wenn mir das alles gehört, bin ich der freieste Mensch unter der Sonne. Gibt's was Schöneres auf der Welt?«

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich mit in Ihr Reich genommen haben.«

»Ich dacht' – es könnt' Sie freuen.«

Da erwiderte er nicht mehr. Er blickte auf die dunkle Flechtenkrone, in der die Sonne glitzerte, er sah den braunen, schlanken Nacken aus dem weißen Kleidchen herauswachsen, und er sah die schmalgeschnittenen Füße fest und sicher die biegsame Gestalt tragen über Gesträuch und Gestein hinweg. Ein Duft von Jugend, Kraft und Mädchenfrische war um sie, der so stark zu seinem Erinnern sprach, wie nie etwas zu ihm gesprochen hatte. Und wieder schmolzen die Jahre ineinander. Wie eine Kette, aus der ein paar rostige Glieder sich lösten, die tauglos befunden waren, und die Kette der Jahre schien ihm lückenlos. Er atmete schwer, und seine Führerin blieb stehen und ließ ihn auf dem breiter werdenden Pfade neben sich treten und an ihrer Seite gehen. »Ich hab' nicht an Ihre Verwundung gedacht,« sagte sie kopfschüttelnd. »Ich stürm' drauflos, als könnt' ich zu spät kommen.«

»Ich bin beides gewohnt, das Stürmen und das Zuspätkommen. Aber an meine Verwundung müssen Sie nicht denken. Wenn alles so leicht und ohne Weiterungen heilte wie ein Schuß durch den Brustkasten –«

»Sie haben den ganzen Krieg mitgemacht?«

»Wenn Sie eine abenteuerliche Fahrt über den Ozean, um zum Regiment an die Front zu gelangen, mitzählen wollen: ja.«

»Sie waren im Ausland, als der Krieg ausbrach? Und schlugen sich durch den Feind hindurch? Das war ehrenhaft.«

»Es war wohl eine größere Ehre, daß das Vaterland die Dienste eines längst heimatlos Gewordenen annahm.«

»Nicht, nicht!« unterbrach sie ihn. »Nicht wie gestern sprechen. Da! Schaun Sie ins Rheingau, ins Rebland, den deutschen, deutschen Strom entlang. Bleibt da eine Frage, für wen die Ehre eine größere gewesen wär'? Ganz einfach der Himmel wär' eingefallen und hätt' die ganze Welt mitgenommen, wenn's deutsche Rheingau nicht mehr hätt' sein sollen, wie's ist und wie's gewesen ist. Deshalb sind Sie herübergekommen übers Meer und haben sich blind auf den Feind geworfen und, und – und nun, bitte, wie war's mit dem Herüberkommen?«

Er sah in ihre hellen, braunen Augen. Tief auf dem Grund stand ein dunkler Schein der Erregung.

»Ich kam von meiner Farm in der südbrasilianischen Provinz Sao Paulo,« berichtete er ohne jede weitere Einleitung. »Ich hatte Geschäfte zu erledigen in der Hafenstadt Santos, wie jedes Jahr um diese Zeit. Nach zwei Tagen wollte ich mich auf den Rückweg machen, denn ich liebe das Gewühl nicht mehr. Da schrien die Zeitungsjungen den Krieg aus. Ich hatte einen Nachbar getroffen, wenn man in der Ausdehnung und Abgelegenheit der Farmen von Nachbarn sprechen darf, der auch geschäftlich in der Stadt zu tun hatte. Ich bot ihm meine Farm mit totem und lebendigem Besitz für die Hälfte des Wertes an bei Entscheidung innerhalb einer Stunde. Der Mann griff zu. Er wußte, daß ich in den zwanzig Jahren nicht gefaulenzt hatte und daß Pflanzungen und Acker in höchster Kultur waren. Seine Bank bezahlte mich bar aus. Meine Papiere trug ich bei mir. Am Abend trat ich die Reise nach Rio de Janeiro an, vogelfrei, wie ich einst gekommen war, eine neue Heimat in nebelhafter Ferne vor mir: den deutschen Krieg.«

Ein paar Sekunden rastete er auf den letzten Worten. Dann berichtete er weiter.

»In Rio, auf Gesandtschaft und Konsulat, ging es mir nicht schnell genug. Die Engländer sperrten die Meere und ließen deutsche Reservisten nicht mehr durch. Ich aber mußte durch. Ich hatte in den zwanzig Jahren genug Portugiesisch gelernt, um als portugiesischer oder brasilianischer Matrose durchschlüpfen zu können, und in der Hautfarbe erinnerte ich eher an einen Indianer als an einen rosigen Mitteleuropäer. In einer üblen Hafenkneipe gelang's mir. Eine Anzahl Goldstücke gingen drauf samt meinem guten Anzug. Dafür stak ich in schmutzigen Hosen und einer durchlöcherten Schifferjacke und trug die Papiere eines portugiesischen Kohlenziehers in der Tasche. Das Schiff ging nach Lissabon. Kurz nach der Ausfahrt und knapp vor der Einfahrt wurden wir von englischen Überwachungsschiffen angehalten und durchsucht. Selbst die Feuerleute und Kohlenzieher mußten an Deck und sich waschen, um den Bleichgesichtern unter ihnen auf die Spur Zu kommen. Meine echte Hautfarbe und mein falscher Paß waren über jede Prüfung erhaben. Von Lissabon ging die Kreuzfahrt weiter. Ich blieb bei meinem Geschäft und nahm Heuer auf dem nächsten Schiff, das herüber nach Algier ging. Kein erfreuliches Geschäft, das Kohlenschleppen in den erstickend heißen Bunkern eines Mittelmeerdampfers. Aber das gehört nicht hierher. Im Hafen von Algier glückte die Anheuerung auf dem Paketboot nach Palermo. Dort hatte ich wieder festes Land unter den Füßen, und das gab mir schon die Kräfte zurück, die auf die absteigende Linie geraten waren. Ein Bad und frische Kleider taten das ihrige. Mit dem nächsten Schnellzug dampfte ich nach Neapel, weiter nach Rom, und ohne viel Aufenthalt weiter nach Mailand, über den Gotthard und durch die Schweiz ins alte deutsche Vaterland hinein. Das war meine Heimkehr.«

»Und dann ...?« bat sie nach einer Weile.

»Dann? Es gab noch einige Verhandlungen mit dem Militärkabinett und dann mit meinem Regiment. Und dann hatte ich meinen geliebten Säbel wieder und tat – was ich konnte.«

»In Frankreich?«

»Erst in Frankreich. Dann in Rußland. In Serbien dann und wieder in Frankreich. Das hab' ich beinahe vergessen. Für mich war alles Deutschland, wo wir angesetzt wurden. Nichts sonst.«

Da er Minuten hindurch schwieg und der Bericht für ihn beendet schien, griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest.

»Ich dank' Ihnen vielmals.«

»Nein,« sagte er und behielt die Hand noch ein paar Sekunden in der seinen, »davon kann gar nicht die Rede sein. Die Rolle des ›miles gloriosus‹ steht mir am allerwenigsten an.«

»Was ist denn das für ein Wort: miles gloriosus?"

»Es ist kein Wort, es ist ein Kerl. Wissen Sie, so ein Kerl, der für jede Selbstverständlichkeit im Feld in der Heimat eine Ehrenjungfrau beansprucht für sein Heldenherz und einen Ehrenschoppen für sein glorreiches Maul.«

»Nein,« lachte sie mit ihm, »den Ehrentrunk haben Sie mir schon gestern abschlägig beschieden, und die Ehrenjungfrau nimmt mehr von Ihnen in Anspruch, als umgekehrt.«

»Ich habe Sie doch aufgefordert, und Sie sind bei mir.«

»Weil ich auf dem Balkon stand, und Sie nicht gut anders konnten, als mich anrufen.«

»Haben Sie mich denn erwartet?«

»Aber gewiß. Ich sollt' Ihnen doch den Weg ins Rheingau weisen.«

»Ins Rheingau ...«

»Und nun sind Sie noch geblieben. Geben Sie acht, wie gut 's Ihnen tun wird.«

» Sie tun mir ja so gut.« Und er nickte ihr zu und reichte ihr noch einmal die Hand.

»Da ist der Ehrenfels. Wir stehen davor und haben nichts bemerkt. Gehen wir hinein ins Gemäuer?«

»Vorwärts. So hoch wir können.«

»Wie ein Paar Käuzchen hocken wir hier,« meinte er, als sie dicht nebeneinander auf einer hohen Mauerwand sahen, schwindelfrei und mit weitgeöffneten Augen.

»Auch Käuzchen können vergnügt sein. Es hat halt jedes Geschöpf sein Eigenleben, in dem allein ihm wohl ist.« Und sie faltete die Hände im Schoß und schaute andächtig auf den Rhein, auf dem die Schiffer mit den Leinpfadpferden an Land die langen Reihen der Schleppkähne durch die Felsen und Untiefen des Binger Loches in die neue Freiheit des Stromes brachten, auf den schlanken Flaggenturm der Inselzunge, der einst ein Zeughausturm war und von der raunenden Sage zum Mäuseturm des habgierigen Bischofs Hatto gewandelt wurde, auf den Zustrom der Nahe und ihr stilles Vergehen in den Armen des Rheins, auf die Städte und Dörfer, die Berge und Burgen und die menschenerfüllten, schneeweißen Dampfer, die von Rüdesheim zu Tal gen Aßmannshausen zogen. So andächtig schaute sie auf alle die Bilder der Schönheit, als würden sie ihr zum ersten Male offenbar und sie könnte sie immer noch nicht fassen.

Er fragte: »Ergreift Sie das immer wieder?«

Sie antwortete: »Ja. Immer wieder. Auch ein Käuzchen hat seine Wunderwelt.«

»Waren Sie viel auf Reisen?«

»Nicht viel. Ich hab' immer das Heimweh bekommen. Ich taug' nicht in die große Welt.«

»Aber die Tuchts, mit denen Sie leben, sind doch manchmal draußen in der großen Welt.«

»Ich komme mir verloren drin vor. Trotz aller Bemühung. Ich muß was liebhaben, ich muß was schaffen und versorgen können und mich hinterher freuen dürfen wie ein Kind. Ich taug' nur ins Rheingau.«

Sie saß, die Hände im Schoß gefaltet und den Blick weithinaus, dicht neben ihn gerückt auf der freien Mauerwand, und ihre braune Flechtenkrone reichte über seine Schulter. Wenn er den Blick senkte, sah er unter dem gebräunten Hals die feine Welle der Brust langsam auf und nieder gehen. ›Dort schlägt ihr Herz,‹ dachte er, und so wenig Weisheit zu dem Gedanken gehörte, so sehr wärmte er ihn.

»Sie sind schon lange bei den Tuchts ...?«

»Elf Jahre schon. Seit ich mit sechzehn Jahren die Töchterschul' verließ. Damals starb mein Vater.«

»Hatte Ihr Herr Vater hier sein Anwesen? Ich meine nur, weil Sie so mit Leib und Leben an der Scholle hängen.«

»Ein Anwesen? O je. Er war ein Maler und ein Musiker und vieles dazu, was schön ist und geringes Brot trägt. Da glich sich Leben und Streben nicht immer aus und stieß oft aneinander an. Der Verständige versteht's und hilft's tragen, und der Unverständige, dem der Lebensweg glatt sein muß, wie eine Tenne von Vaters her, wundert sich und schilt. Ich glaub' fast, die Freude am Schauen und Horchen dank' ich dem Vater.«

Kein Wort der Anklage. Und zum Schluß ein Dankeswort: »Der Verständige versteht's und hilft's tragen.« Nein, nicht der Verständige. Der Gute. Der Gesunde, der Schaffensfrohe. Der Reichere.

»Elf Jahre schon leben Sie mit den Tuchts? Das ist eine lange Zeit für Mädchenjahre.«

»Warum gerad' lang für Mädchenjahre? Warum nicht ebensolang für den Baron und die Seinen? Der eine muß sich an dies gewöhnen und der andere an das, und es fragt sich noch, ob nicht die anderen mehr bei mir haben übersehen müssen, als ich bei ihnen. Lang mögen sie gewesen sein, die Jahre, wenn man die Zeit fürs Zurückschauen findet. Aber verspürt hab' ich die Länge nicht. Dazu gab's zu großes Schaffen bei den vielen im Haus.«

Wieder kein Wort der Klage. Werktage und Sonntage hatte für sie die Woche. Und eine Sonntagsstunde konnte sich auch am Werktag schaffen, wer die Begabung besaß.

»Sie haben die Begabung zum Glücklichsein,« sagte er nach einer Weile.

»Zum Glücklich machen ist mehr. Da fehlt mir also noch viel an der Begabung. Still – was schlägt's da? Sieben Uhr! Schon sieben? Es hilft nichts. Gute Nacht, Ehrenfels, ich muß heim.«

Er versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Es hätte ihm zu des Mädchens Art und Wesen nicht gepaßt. Aber vor ihr glitt er die Mauer zur Innenruine hinab, erreichte einen Steinhaufen und hielt ihr zum Abstieg die Hände als Steigbügel hin. Und ohne Ziererei schwang sie sich von der Brüstung hinein und sprang geschmeidig zur Erde.

»Wissen Sie,« sagte er, als sie eine Strecke schweigend nebeneinander gewandert waren, »daß Sie die erste Frau sind, mit der ich seit zwanzig Jahren in Berührung komme? Meine Ritterlichkeit ist wohl ein wenig veraltet. Sie stammt noch aus meiner Jugendzeit.«

»Ist nicht beides das gleiche?« erwiderte sie rasch. »Ritterlichkeit und Jugend? Wer die eine hat, hat die andere, und wenn ihm mittlerweil' ein schlohweißer Sankt-Nikolaus-Bart gewachsen wär'.«

Unwillkürlich griff er in den Bart. Sie sah es und schüttelte den Kopf.

»Er ist ganz braun. Es hat noch gute Weil' bis zum Sankt-Nikolaus-Tag.«

Wieder engte sich der Weinbergspfad zwischen dem Gestein, daß sie voranschreiten mußte, und wieder fragte sie sorglich nach einer Weile Wegs: »Geh' ich Ihnen auch nicht zu schnell?«

»Doch,« sagte er, »Sie gehen mir viel zu schnell. Aber nicht aus dem Grunde, den Sie meinen. Aus dem anderen, den ich Ihnen schon auf dem Hinweg sagte.«

Sie bog den Kopf nach ihm zurück, und er sah, daß sie ihn wußte.

»Aus welchem anderen Grunde?«

»Weil Sie mir – gut tun.«

Und sie schritt weiter und sprach nicht mehr, aber ihre Nackenlinie vertiefte sich, als ob ihre Brust sich höbe. Da spürte er ihr Schweigen nicht und spürte nur den Duft von Jugend, Kraft und Mädchenfrische.

›Wie in einem Jungbrunnen bin ich,‹ ging es ihm durch den Sinn. ›Ich träume und bin wach.‹

Und plötzlich standen sie an dem alten Ausspähplatz und reichten sich die Hände, und er sagte nur und hörte seine Stimme wie aus der Ferne von Jahren: »Morgen?« Und sie erwiderte nur, und auch ihre Stimme klang ihm, wie eine andere so oft geklungen hatte: »Morgen. Gleich nach Mittag – ja.«

Vom Abstieg aus sah er sie in dem alten Pförtchen stehen. Die blauen Fliedertrauben drängten sich um ihre weiße Gestalt, und sie winkte ihm mit der Hand einen Gruß. –

Er saß in der Laube vor seinem Gasthaus, und als die junge Wirtin Speise und Trank vor ihn hinsetzte, griff er tapfer zu. »Gestern,« meinte sie und sah ihm fröhlich zu, »haben Sie vor lauter Müdigkeit das Abendbrot vergessen. Heut gefallen Sie mir besser. Das macht unser Rheingau.«

»Ein Glas, Frau Wirtin! Das hilft nun nicht, darauf müssen Sie mir Bescheid tun. Wenn's das Rheingau gilt? Ah, da können Sie sich beeilen. Sehen Sie? Das ist die Nagelprobe.«

Heute ließ er sich noch eine zweite Flasche bringen. Heute war der Wein ein Freund und nichts als ein Freund. Er schlug die Brücken. Ganz deutlich sah er die Jugendgeliebte, er wußte ihren vollen Namen, ihr Haus, das sie ihm einmal gezeigt hatte, als sie im Nachen über den mondbeschienenen Rhein glitten, irgendwoher, irgendwohin.

Dann trat die muntere Wirtin wieder an seinen Tisch, und er nannte den Namen und fragte nach ihrer Trägerin. Er mußte auch ihr Vaterhaus beschreiben, denn sie entsann sich auf das Mädchen nicht.

»Ja, aber,« rief sie aus, »das muß fast schon ein Menschenalter her sein, daß sie ein Mädchen war. Jetzt ist sie mir gegenwärtig. Sie hat einen Weingutsbesitzer geheiratet und ist noch vor dem Krieg verstorben. Der Mann aber ist weggezogen nach Wiesbaden, weil's ihm hier nicht mehr gefallen wollt'. Es soll eine stille und glückliche Ehe gewesen sein.«

Er war auf seinem Zimmer und stand mit der Stirn an den Scheiben. Ja, das war Elisabeth. Und der Mann war fortgezogen, weil's ihm hier nicht mehr gefallen wollt' ohne die Elisabeth. Den Mann verstand er. Und die glückliche Ehe, die vorausgegangen war.

Weshalb grübelte er darüber nach? Bis vor Stunden hatte er kaum noch ihren Namen gekannt und nur den Sehnsuchtshauch, der ihn nachtwandlerisch an den Rhein zurückgeführt hatte. Weshalb grübelte er darüber nach? Und mit einem Male wußte er, was ihm wie ein Schatten über den sonnigen Tag gefallen war. Es war ein anderes Wort der Wirtin gewesen, das Wort von dem Menschenalter, das es her sein müsse, daß die Elisabeth noch ein Mädchen war. Wie von einer Matrone hatte sie gesprochen.

Dann also mußte auch er – auch er – in den Augen der Jugend –

Ganz starr, die Lippen fest geschlossen, blickte er auf die silbernen Ufer im Mondlicht.

*

Die Nacht war schlaflos geworden. Eine Nacht, in der die Geister kämpfen und der Körper wie in Fesseln geschlagen liegt. Weit schritt der Morgen vor, und er erhob sich, wie er sich niedergelegt hatte. Ein Bad, weit draußen im Rhein, brachte ihm keine Erfrischung. Und nach der Mittagsstunde ging er den Weg zum Ausspähpunkt nur Schritt für Schritt. Seine Wandergefährtin war vor ihm da.

»Wohin?« fragte sie und sprach kein Wort über sein verändertes Wesen.

»Bestimmen Sie, bitte.«

»In den Wald,« sagte sie nach kurzem Besinnen. »Den Waldweg hinauf zum Niederwald und droben den ganzen Kamm entlang. Wenn es Ihnen nicht zu beschwerlich ist.«

»Ich bin wohl ein sehr bresthafter Mann in Ihren Augen?«

»Sie wissen es besser von mir. Weshalb fragen Sie so?«

»Weil ich Ihnen wehe tun will. Weil – weil –«

Ihr verwunderter Blick entwaffnete ihn.

»Sie wollen sich wehe tun. Nur sich. Und ich werd' Ihnen nicht dabei helfen.«

Schweigend kamen sie in den Wald. Smaragdgrün brach das Licht durch das Frühlingslaub und lockte das Waldmärchen aus Moosen und Farnen. Das hing sich an die Kleider der Wanderer und griff mit streichelnden Händen nach ihren Seelen. Aber der Mann streckte sich darüber hinaus und schüttelte ab, was so weich nach ihm langte, und seine Stimme war rauh, als er die Stille verscheuchte.

»Sie wissen nichts von mir, gar nichts. Nicht einmal meinen Namen habe ich Ihnen genannt, und das hätte Sie stutzig machen sollen. Sie aber sahen mit Ihren klaren Augen nur den Hilfsbedürftigen in mir, und Ihr froher Mädchenmut bot sich gleich als Wegweiser an. Die Wege aber, die wir gingen, den Park, den Ehrenfels, die stillen Weinberge und den noch stilleren Wald hier, alles, alles kannte ich schon. Selbst Sie kannte ich, eine Vorgängerin, ja, und war doch in jeder Regung wie Sie. Lieb hatten wir uns gehabt, lieb, lieb, lieb. Einen Frühsommersmonat lang. Wir waren zusammengetroffen, wie wir vor ein paar Tagen zusammentrafen, faßten uns bei den Händen und liefen miteinander in die Jugendwelt. Ich war ein blutjunger Ulanenoffizier, kannte keine anderen Kreise als die unseren, war wie im Rausch, wie ein freigelassenes Füllen, sprang über Hecken und Zäune, und ihre Naturfrische tat mit und liebte mich wohl noch mehr, weil sie meine Freude sah, meine Freude an ihr. Aber ich war nicht reif genug für die Erkenntnis des Kleinods, das sich in meine Hände gegeben hatte, und spielte damit wie ein Junge mit Kieseln und dachte wohl auch, es sei ein strahlender Rheinkiesel und nichts mehr. Das dachte ich, als ich vom Regiment zur Kriegsakademie nach Berlin befohlen wurde und in Berlin ins heißere Leben kam. Da war die liebe, junge Mädchenliebe, all das Sehnen und Gewähren und Träumen und Schwören für mich nur eine Vorbereitungsschule gewesen, und als eine hochmütige Frau in mein Leben trat, die meiner frohen Kenntnisse spottete, kam die Gier nach ihren klügeren Kenntnissen, und ich wurde zum ersten Male fahnenflüchtig an meiner ersten und reinen Liebe.

»Was nun folgte, war ein Wirbel. Ich spielte den Tausendsasa, den in allen Sätteln Gerechten. Rennreiter wurde ich und Vortänzer, Ballettfreund, Spieler und Zecher. Wo's am heißesten herging, war ich zur Stelle. Mein Ruf wuchs überall dort, wo Ruf und Ruhm verwechselt wird. Die Schulden häuften sich zu Bergen, meine Studien verlotterten, die Warnungen der Vorgesetzten flogen in den Wind, denn sie hatte plötzlich die Augen auf mich gerichtet, sie, sie, und sie lachte mich an.«

Sein Mund zuckte zusammen wie in einem Ekel.

»Machen wir's kurz. Mein Vater verweigerte mir weitere Zahlungen. Ich fragte gar nicht danach. Er drohte mir mit der Entfernung aus dem Regiment und mit dem Berufswechsel. Was ging das mich an? Den Sieg! Den Sieg! Vierundzwanzig Stunden darauf hatte ich den Sieg. Und wiederum vierundzwanzig Stunden darauf schoß ich ihren Mann, einen Kameraden, zum Krüppel.«

Sein Atem ging kurz und heftig. Seine Augendeckel bebten.

»Nun gehörte sie mir. In Not und Sorgen, aber mein erkämpftes Eigentum. O nein, da hatte ich mich verrechnet. In Not und Sorgen? Heraus aus Stellung und Bequemlichkeit? Das war schon eine neue Lüge wert. Sie wusch sich rein. Und vor mir stand mein Vater, wehrte die Sohneshand ab, legte eine Banknotentasche auf den Tisch als Rest meines Erbes und sprach nur das eine Wort: Fort! Da lief ich vor mir selber. Da wurde ich zum zweitenmal fahnenflüchtig.«

Sie sprach kein Wort an seiner Seite. Ein Zittern lief hastig über ihren Nacken.

»Ein Jahr lang lief ich vor mir selber davon, in Ländern, die ich nicht mehr weiß, auf Meeren, die ich nicht mehr kenne. Dann schlug ich in Brasilien an den Strand, kroch in die Einsamkeit, kaufte mit dem Letzten ein paar Meilen Wald und begann zu roden. Auch in mir selber.

»Zwanzig Jahre. Bis der Krieg kam. Bis ich mir die Degenquasten des Offiziers wiederholen durfte mit – mit eigenem Blut.

»Ein achtundvierzigjähriger Leutnant, das ist der Rest. Nun kennen Sie Ihren Weggenossen.«

Sie sprach immer noch nicht. Aber sie nahm seine niederhängende Hand still in die ihre und schritt weiter, weiter –

»Das ist der Anfang,« sagte sie plötzlich und sah ihn an. »Der neue Anfang.«

»Es ist wahr, darüber gibt es nur ein Scherzen. Ein blutjunger Leutnant.«

»Wäre es Ihnen lieber, Sie wären schon Rittmeister gewesen oder Major? Ist Ihnen nicht leichter ums Herz, daß Ihre Sünde Jugend hieß und durch ein Mannesleben vergeben wird? Ist es nicht schöner, nachholen zu können, als schon abgeschlossen gehabt zu haben? Sie stehen mit ihrem Empfinden mitten im Frühling, und die ruhigen Mannesaugen, die Sie indes bekommen haben, zeigen Ihnen nur noch tiefer seinen Wert und seine Schönheit. Ich mein', Sie müßten jetzt glücklicher sein als jeder andere.«

»Und das – das ist alles, was Sie mir zu sagen haben?« fragte er ungläubig. »Kein Wort über meine ritterlichen Taten?«

»Wer zwanzig Jahre im Urwald saß und sich mit seinem Herrgott besprach, der braucht sich nicht mit einem Mädchen zu besprechen, um Jugend oder Sünde auseinanderzurechnen. Augen auf! Wir sind auf der Höhe. Da haben Sie das ganze Rheingau in Blüten unter sich und um sich her.«

Ihr Atem ging rascher. Sie kämpfte eine weiche Stimmung nieder, um ihn stark zu machen. Und er fühlte es wohl.

»Mädchen, Mädchen,« sagte er und preßte ihre Hände gegen seinen Mund.

«Ja» ja,« erwiderte sie, »da ist er schon, der junge Leutnant.«

»Elisabeth –«

»Ist das nun Vergangenheit oder Gegenwart?«

»Es ist beides in eins. Die Flächen berühren sich, und ich sehe nicht mehr den Trennungsstrich. Es gibt nur eine Elisabeth in meinem Leben. Mein Gott, sie ist wiedergekommen.«

»Wie wenig braucht es, um einen Menschen glücklich zu machen.«

»Viel, viel! So viel, daß der Gebende es gar nicht weiß.«

»Nicht so arg schwärmen,« bat sie und setzte den Fuß weiter. Und er nahm ihren Arm, legte ihn in den seinen und spürte den Puls ihres Mädchenblutes. Der schlug im frohen Gleichmaß, kräftig und gesund.

»Heute,« sagte sie mitten in der grüngoldenen Sonne des Waldes, »heute wird's auf lange das letztemal sein, daß ich mit einem guten Kameraden wandern kann, wie's uns beliebt. Mit dem morgigen Sonntag hebt der Werktag wieder für mich an. Die Baronin von Tucht hat geschrieben, daß sie morgen in der Frühe alle wieder daheim sein werden. Aber nun hab' ich mir ja auch die Lungen voll Waldluft geholt und überdies ein so schönes Gedenken.«

»Der Freiherr von Tucht,« sagte der Mann an ihrer Seite, »ist mein Vetter und nächster Blutsverwandter. Ich denke, er und seine verehrte Gattin werden wegen unseres weiteren Wanderlebens mit sich reden lassen.«

Ihr Arm zuckte in dem seinen. Dann lag er ganz still.

»Sie sprechen nicht?«

Sie schüttelte den Kopf und schritt weiter.

»Mögen Sie den Namen nicht? Wär' Ihnen ein anderer lieber?«

»Ja –« sagte sie atemlos.

»Ja?« Er blieb stehen, und sie stand wie angewurzelt neben ihm. »Ja?« wiederholte er. »Und – und warum?«

Sie blickte an ihm vorüber. Ein Schatten lief um ihre Augen wie eine jähe Trauer.

»Weil's aussieht, als hätt' ich – in der Abwesenheit der Tuchtschen Familie – nicht gewußt, was sich schickte.«

»Mädel – mach' dich nicht so klein!«

»Ich mach' mich groß. Ganz groß. Das müssen Sie verstehen.«

«Ich versteh' den Stolz. Und lieb' ihn. Ach, wie ich ihn lieb hab'. Und die, die ihn besitzt.«

Hastig ging sie weiter, und er mußte ihr folgen. »Ich hab' keinen anderen Besitz,« murmelte sie.

Ganz ruhig war er mit einemmal. Und er nahm auch ihren Arm nicht mehr. Da blieb sie an seiner Seite.

»Ich habe Besitz für uns beide und mehr. Nicht die Goldrollen, die ich für meine Farm erhielt. Mein Vater ist gestorben, während ich noch im Urwald saß. Man hat es mir gar nicht mitgeteilt, so einerlei war ich den Leuten. Mein Bruder hatte das Majorat. Es ist eine Herrschaft von mehr als fünftausend Morgen in Schlesien mit einem großen Schloßbesitz. Während ich im Lazarett lag, erhielt ich durch das Gericht die Nachricht, daß er kinderlos gestorben sei. Ich bin auf dem Wege, das Majorat zu übernehmen und anzutreten.«

Da blieb sie stehen, und ein Glänzen kam aus ihren Augen.

»Nun muß ich Ihnen doch wieder die Hände reichen. Sehen Sie, da erfüllt sich schon, was ich Ihnen sagte: der Leutnant, das war der Anfang. Und nun holt das Leben nach.«

»Bringt es mir nun auch – die Elisabeth?«

Sie lächelte ihn kopfschüttelnd an wie eine junge Mutter ihren großen Knaben.

»Wie ein großer, lieber Junge kommen Sie mir vor, der sich ein Spielzeug in den Kopf gesetzt hat. Und nun glauben Sie mir auch noch dieses eine Mal: Ich bin's ja gar nicht, der Ihnen den Wunsch so heiß macht. Es ist der Mai. Der wunderselige Mai im Rheingau, der so jung, so kinderfröhlich macht.«

»Vorhin sprachen Sie ein besseres Wort. Da sprachen Sie von den ruhigen Mannesaugen, die mir nur noch tiefer den Wert und die Schönheit des Frühlings offenbarten. Lassen Sie das Wort bestehen und glauben auch Sie daran.«

Da verlor sie ihre Sicherheit. Ganz blaß schaute sie ihm ins Gesicht.

»Also das Letzte wollen Sie auch noch wissen. Ob ich Sie liebgewonnen hab'. Ja. In den wenigen Tagen. Und Sie sollen es wissen. Und daß ich Ihnen für die übergroße Gesinnung, die Sie von mir hegen, von Herzen danke und ganz stolz darauf bin und nichts aus dieser Zeit vergessen werd'. Aber in der großen Schloßherrschaft muß eine ganz andere schalten und walten, eine, an die das Schloß glaubt und an die die Welt glaubt, in der Sie dann leben werden, damit Sie selber die Ruhe finden und nicht aufs neue in Ihrem Innern herumgejagt werden. Ja, ja!« rief sie. »Meinetwegen! Ich würd' ja eine ganz andere dort sein als hier und vor Angst vergehen, weil ich mich am falschen Platz fänd', vor Angst und vor Heimweh nach meiner kleinen Welt hier, in die ich allein nur hineinpass'.« Und nun kamen ihr doch die Tränen, und sie weinte jäh wie ein Kind.

Einmal nur streichelte er ihr wie einem Kind die Wange. Und sie hielt seine Hand fest und drückte ihre Wange ein paar Sekunden lang hinein. Dann schritten sie heim und trennten sich versonnen und wortlos.

*

Sonntagabend war, und die Familie des Barons von Tucht hatte sich zum Abendessen um den Tisch versammelt, als ein Gast gemeldet wurde. Der Baron nahm die Karte entgegen, reichte sie seiner Frau und blickte sie fragend an. »Erwin – –. Ich muß ihn hereinholen.« Sie nickte schnell.

»Mein Vetter, der Freiherr Erwin von Tucht,« sagte der Baron, als er mit dem Gast das Zimmer wieder betrat. »Euer Oheim, Kinder. Fräulein Elisabeth, es läßt sich wohl noch ein Gedeck einschieben.«

Elisabeth hatte vor dem Gruß des Gastes den Kopf geneigt. Als sie aus der Küche zurückkehrte, fand sie die Verwandten schon inmitten der Unterredung. Sie stellte Teller und Glas vor den Abendgast, schenkte ihm ein und setzte sich stumm an das Tischende.

»Ja,« sagte der alte Baron, »du bist ein Glücksjunge. Daß du mit deinem Säbel dabei warst, und wie du dabei warst, das las ich sogar im Tagesbericht. Anerkennung von allerhöchster Stelle. Ich trinke dein Wohlsein. Nichts da. Ehre, wem Ehre gebührt. Und nun bist du Majoratsherr von Großkarben.«

»Nur dem Namen nach,« erwiderte langsam der Gast. »Ich habe den Besitz noch nicht angetreten.«

»Und treibst dich noch hier herum? Größte Freude natürlich für uns, daß du dich unseres Vorhandenseins so freundschaftlich erinnerst. Darauf das zweite Glas. Was gedenkst du nun zuerst zu tun?«

»Eine Familie gründen. Es ist wohl an der Zeit.«

»So, so,« meinte der alte Baron, und am Tisch war es still geworden. Der Hausherr fühlte die Beklommenheit. Er suchte nach einem Gesprächsstoff und redete von seinen Kindern, ihren Berufswahlen, ihren Aussichten für die Zukunft. Schweigend hörte der Gast zu, und die Zeit verrann. Und der Hausherr sagte scherzend: »Ja, wenn wir dich als Erbonkel hätten. Mein Ältester eignet sich auch mehr zu einem Großgrundbesitzer als zu einem Beamten, und mein zweiter nähme mit einigem goldenen Hintergrund eine ganz andere Stelle als Landrat ein. Mein Mädel – da wird's schon feuerrot – na, da schweig' ich. Und der Sekundaner bleibt vorläufig außer Betracht.«

»Ich glaub' aber fast, ich häng' zäher am Leben als je,« sagte langsam der Gast und spielte lächelnd mit dem Fuß des Weinrömers. »Ihr könntet alt darüber werden, bevor die Anwartschaft auf die Herrschaft Großkarben an euch käme. Denn du bist ja der nächste Anwärter, Vetter.«

Der alte Baron trank sein Glas leer. »Du bist ein beneidenswerter Mensch.«

»Möchtest du mit mir tauschen?«

»Auf der Stelle. Am heutigen Abend, wenn's sein soll. Ach, du lieber Gott.«

»Ich bin bereit, Vetter.«

Der Hausherr zog die Stirn zusammen. »Dein freundschaftlicher Besuch und dein – dein Scherz, nun ja, soll doch nicht etwa eine Genugtuung für dich bedeuten, daß – daß die Verbindung etwas locker geworden war?«

»Nimm's als Hirnverbranntheit eines Urwaldmenschen, der sich als großer Grundherr und Würdenträger heute an falscher Stelle fühlen würde. Dein Gütchen hier mißt mit Weinbergen, Äckern, Wiesen und Eigenjagd fünfhundert Morgen, Großkarben einiges über fünftausend. Ich brauche den Vieh- und Pferdebestand wohl nicht aufzuzählen, und den Zinsertrag kennst du auch. Also – ich bin zum Tausch bereit.«

Der alte Baron stieß den Stuhl zurück. Er sprang auf und stand vor seinem Gast.

»Was heißt das: tauschen?«

»Das heißt, Vetter: wenn du willst, trete ich das Majorat nicht an und verzichte rechtsgültig zu deinen Gunsten.«

»Gründe! Gründe!«

»Ich sprach sie dir bereits aus. Ich passe nicht mehr in die große Welt. Ich fänd' mich auf dem falschen Platz und würde das Heimweh nach der Stille bekommen. Für das Rheingau habe ich eine alte, unauslöschliche Liebe. Hier in deinem Hause habe ich mich als junges Blut einmal glücklich gefühlt. Vielleicht sitzt mein Glück in diesem Hause –. Ich wag's darauf.«

»Junge, Junge,« stöhnte der alte Baron und sah sich hilfesuchend nach seiner Frau um. »Ich bin doch kein Heckenritter. Hast du nicht etwa getrunken? Du kommst aus Rüdesheim herauf. Bist du Herr deiner Gedanken?«

»Ich bin Herr meiner Gedanken und habe mein Glas nur an deinem Tische geleert. Mein Manneswort darauf: mein Vorschlag ist ernst. Willst du, oder willst du nicht?«

Die beiden Männer standen sich aufrecht gegenüber. Auge in Auge. Der Jüngere streckte die Hand aus. Da schlug der Ältere schallend ein. »Auf morgen,« sagte der Abendgast. »Ihr seid jetzt lieber allein, ich weiß. Aber wenn ich darf, möchte ich noch einmal durch den Park gehen, den ich als junger Leutnant schon so liebte, und dann durch das alte Törchen heim.«

»Elisabeth –« bat der alte Baron und preßte die Hand gegen die Stirn.

Sie erhob sich, nahm den Schlüssel heraus und ging voraus in den Park. –

Erwin von Tucht hatte sich verabschiedet. Er trat in den mondbeschienenen Park, ging langsam zwischen den schlummernden Gebüschen dahin und stand an der Mauer, die den unbegrenzten Blick ins Rheingau bot. Er wußte, wo er Elisabeth fand.

»Paßt du jetzt besser in mein Leben hinein und ich in deins?«

Sie schlang ihre Mädchenarme um seinen Hals, und ihr Herz drängte ungestüm gegen seins.

»Nicht sprechen. Nicht sprechen!«

»O du,« sagte er, »ich stehe am Anfang. Ich muß einen Menschen liebhaben und für ihn sorgen können, wenn es sich wirklich lohnen soll.«

»Nein, ich, ich! Aber nichts sprechen jetzt.«

Er nahm sie still in die Arme und hob sie auf den Mauersitz. Wie ein Rahmen stand die weite Silberlandschaft mit Höhen und Wäldern, Rebengeländ und blinkendem Strom um ihr Mädchenbild. Ein Brausen war in seinem Ohr. Wie von einem Wasser, das in einem Brunnen aufsteigt, der lange verschüttet gewesen war. Er beugte sich nieder und drückte den Kopf fest in ihren Schoß. Und sie verschränkte die Hände fest um seinen Nacken.


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