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Gestern noch schrieb die sozialdemokratische Zeitung über die verhafteten Kommunisten:
»Ausgestoßene der ungarischen Arbeiterbewegung, lumpige Gestalten, die sich, weil sie weder Fähigkeit noch Ehre und Charakter besitzen, dem Rahmen der Bewegung des Proletariats nicht anpassen konnten, das sind die verhafteten Kommunisten.«
Gestern noch demonstrierte eine Viertelmillion Menschen gegen die Kommunisten und heute – vierundzwanzig Stunden später – ist die ganze Stimmung wie ausgewechselt. Niemand denkt mehr an die sieben toten Wachleute, niemand an die achtzig Schwerverletzten, die Erinnerung an die Schlacht in der Népszinház-utca ist wie verflogen. Wir haben ja ähnliches auch im Krieg erlebt: der Tod eines einzelnen Menschen, das Schicksal des Individuums interessiert, packt und ergreift die Welt viel stärker als das Schicksal der Massen. Hunderttausend Tote sind nicht so viel wie einer, hunderttausend Verwundete wirken nicht so erschütternd wie das Jammern eines einzigen Menschen, dessen Leiden und Stöhnen allen ans Herz greift.
Die detaillierte Beschreibung, die unglückselige Urteilslosigkeit wild gewordener Reporterphantasie haben es zuwege gebracht, durch die Kraft der Rotationsmaschine, durch die Dynamik der Kolportage die Stimmung einer Stadt von einem Tag auf den anderen umzuwenden. Bei der Arbeiterschaft kam noch die Erinnerung an die eigenen Leiden in den Zeiten der Verfolgung der Arbeiterbewegung hinzu und aus war es auf einmal mit der Sympathie für die toten Wachleute. An ihrer Stelle entstehen Haß gegen die Polizeisäbel und das ärgste Elixier politischer Kämpfe: Mitleid mit den Verhafteten.
Zwei Stunden nach seiner »Kreuzigung«, voll mit Bandagen, aus denen nur die Augen, die schlauen, hervorblickten, zieht Béla Kun seine rechte Hand aus dem Verband und schreibt bereits Briefe. Den ersten schreibt er an den stets unschlüssigen Aristokraten, an den Präsidenten der Republik, den Grafen Michael Károlyi, den er unter versteckten Drohungen darauf aufmerksam macht, daß in einer freien Republik wegen politischer Überzeugung niemand verfolgt, noch weniger geschlagen werden darf. Dann schreibt er Briefe an Freunde und Feinde, an richtige und geheime Genossen und schon ist am Abend die Zelle von Besuchern voll. Béla Kun gewinnt seine Stimme wieder. Sein wichtigstes Instrument, sein Mundwerk, gestern noch ein eingerostetes Klavier, haben die Gewehrkolben heute gut gestimmt. Die Klavierstimmer waren die Schutzleute.
Der Ministerrat beschließt, die im Schubhaus gefährdeten Kommunisten als politische Gefangene zu betrachten und ins Sammelgefängnis der Staatsanwaltschaft an die Peripherie der Stadt zu bringen. Graf Károlyi entsendet seinen Flügeladjutanten zum Besuch des verhafteten Kommunistenführers.
Béla Kun geht noch weiter. In aggressiven Eingaben versucht er zu beweisen, daß er als politischer Gefangener eigentlich ins Staatsgefängnis gehöre, aber er wäre auch mit dem Sammelgefängnis einverstanden, wenn ihm alle Rechte eines politischen Gefangenen zuteil werden, wenn er Besucher nach seinem Wunsch empfangen kann, wenn er seine Sekretärin erhält, wenn ihm Verpflegung auf eigene Kosten erlaubt wird … Er erreichte alles, und so gelang es ihm, aus dem Sammelgefängnis das eigentliche Parteibureau der kommunistischen Partei zu machen. Durch seine Verhaftung hat sich also die Lage Béla Kuns bedeutend verbessert. Früher mußte er noch versteckt geheime Konventikel abhalten, sich mit seinen Genossen täglich an einem anderen Orte treffen, immer mit einem Auge nach der Tür schauen und mit einem Ohre der drohenden Näherung alarmierter Polizisten lauschen.
Im Gefängnis war alles leichter. Das ganze Stockwerk, das die verhafteten zweiundsechzig Kommunisten beherbergte, war sein Reich. Schreibmaschinen klapperten, politische Artikel wurden verfaßt, Agitationspläne ausgearbeitet, mit einem Wort, im Gefängnis der Staatsanwaltschaft wurde das Hauptquartier des Generalstabes der kommunistischen Revolution aufgeschlagen. Nach Rußland gingen ausführliche Berichte ab. Lenin, der große Gönner, Bucharin, der Freund, Tschitscherin, der Volkskommissär für Auswärtiges wurden teils zu Mitleid, teils zu neuerlichen Geldsendungen bewogen. Eliasar, der brave Kurier, trug die Post nach Wien und brachte das telegraphisch überwiesene neue Geld nach Budapest.
Béla Kun hat in seinem ganzen Leben keinen so schönen Monat durchlebt, wie im Sammelgefängnis auf der Rákoser Wiese. Die unmittelbare Nähe der Friedhöfe, die große Entfernung von der Stadt mögen ihn hie und da etwas verstimmt und auch die Befürchtung einer Umwälzung nach rechts wird ihm manchmal die gute Laune verdorben haben. Aber im allgemeinen fühlte er sich ausgezeichnet, siegesbewußt, den Gegnern überlegen und an seinem Ziel angelangt. Mehr wollte er gar nicht, und er hätte, falls es dazu gekommen wäre, ganz gerne einen fünfzigprozentigen Vergleich geschlossen: für seine Freiheit oder für seine Ausweisung aus Budapest hätte er alle ihm bekannten und auch die unbekannten Pläne, alle heimlichen und eingestandenen Träume preisgegeben. Geld hatte er in der Tasche – für die Verprügelung kamen neue Schmerzensgelder aus Rußland – und Frau Kun und das kleine Mädchen sehnten sich sowieso nach Siebenbürgen. Es wäre doch schön, sich aus der Affäre, wenn auch mit einer etwas lädierten Haut, doch immerhin wohlbehalten herauszuziehen! Die Berühmtheit ist schon da, eine Stellung in der Partei nötigenfalls gesichert und wenn alle Stricke reißen, dann kann man ja wieder das Kompromiß von anno dazumal schließen und einen Posten in einer ruhigen Krankenkasse annehmen.