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Erster Teil

Inzwischen sind drei Monate vergangen.

Ich habe noch keine Vorladung zur Hauptverhandlung bekommen.

Ich bin nach M. zurückgekehrt. Ich wage nicht, ein Engagement ins Ausland anzunehmen. Ich bin besorgt, meine eventuelle Verurteilung könnte eine sofortige Entlassung aus dem Engagement zur Folge haben.

Ich halte meine Angelegenheit geheim. Warum?

Ich müßte mich erklären; begründen müßte ich … von Anfang an … aber wer fragt nach mir? Sollte jemand nach mir fragen … Oh das Interesse! Restlos wollte ich mich bekennen. Aber die Angst, nicht verstanden zu werden, läßt mich schweigen.

Nur angehört werden, und alles wäre gut. Das ist es: angehört werden. Ich glaube, erstaunt und beglückt würde ich fragen: »Lieben Sie mich denn? Neugierig sind Sie nicht; denn wer kann neugierig sein, das Unglück des andern zu hören?«

Warum kann ich nicht sprechen? Abends singe ich; trete in einer Künstlerkneipe auf.

Man sagt mir manchmal am Abend: »Sie haben famose Schlager.« Oder: »Sie sorgen wirklich für Abwechslung im Programm.«

Dann fällt mir mein Prozeß ein. Das Programm; meine Zukunft. Zukunft? Klingt das nicht anspruchsvoll? Welche Zukunft kann jemand haben, der für die Unterhaltung des Publikums sorgt? Ach, die Zukunft wird kommen. Aber welche Zukunft?

Ich will meinen Prozeß beschleunigen. Will ich mein Unglück abkürzen? Umgehen? Muß ich denn da hindurch? Gelingt mir keine Schiebung? Ich möchte mein Leben wohl arrangieren nach meinem Gefallen. Ich versuche. Und ich schreibe an das Königliche Amtsgericht folgenden Brief:

 

»Sehr geehrter Herr!

Da ich für vier Wochen nach Paris reisen möchte, bitte ich Sie höflichst, mir mitzuteilen, ob es nicht möglich ist, die Verhandlung entweder in diesen Tagen oder nach meiner Zurückkunft aus Frankreich anzusetzen. Dankbar wäre ich Ihnen für baldige Antwort.

Mit vorzüglicher Hochachtung usw.«

 

Ich hoffe, daß ich jetzt alles gut erledigt habe. Habe ich nicht einen Weg gefunden, meinen Prozeß zu beschleunigen oder hinauszuschieben? Die verzwickte Situation bestimmt meine Handlungen, scheint mir, nicht ich.

Gleichviel. Ich werde meine Sachen packen. Ich werde nach Paris fahren. Etwas paßt mir nicht.

Daß ich immer wegfahre, wenn mir etwas nicht paßt. Ich habe ein Telegramm bekommen. Nächste Woche werde ich in Paris erwartet.

Es vergehen zwei Tage. Ich bin müde vor Aufregung. Vielleicht habe ich Reisefieber. Aber das ist gleichgültig. Warum sollte ich kein Reisefieber haben?

Ich bleibe zu Bett. Da kann mir wohl nichts passieren, denke ich …

Es ist acht Uhr früh. Es klopft. Ob ich die Tür wohl verschlossen habe? Soll ich aufstehen, um nachzusehen? Es steht doch jemand vor der Tür …

Es klopft schon wieder. Ich gebe keine Antwort. Nicht um alles in der Welt. Wenn es aber die Antwort vom Amtsgericht ist? Es bleibt mir nicht viel Zeit zum Ueberlegen. Soll ich sagen: »Bedaure, bin soeben verrückt geworden?« Oder: »Ich bin im Begriff zu sterben?« Das Gesicht zur Tür gewandt, riskiere ich, halblaut zu äußern »Der Tod entschuldigt alles.«

Ein Herr tritt ein. Tür war nicht verschlossen. Natürlich nicht …

»Also, ich komme da von der Polizei. Tag.«

»Ach so.«

Ich richte mich ganz frisch in die Höhe. »Das ist aber nett! Bringen Sie mir vielleicht die Antwort auf meinen Brief? Nun, wie steht's?«

»Ja, das weiß ich auch nicht. Kommen Sie mal … na sagen wir … bis zehn Uhr aufs Polizeipräsidium. Zimmer 144. Dann können Sie ja sehen.«

»Ja, das kann ich … ja … gewiß … warum nicht? Also um zehn Uhr sagten Sie? Um zehn Uhr … also … ja … sagten Sie nicht: um zehn Uhr Polizeipräsidium?«

»Ja. Wissen Sie, wo das ist? Sie fahren mit der Linie 6, steigen am Bahnhofsplatz um in die 9, dann fahren Sie direkt drauf los.«

Ich fange an nachzudenken: … dann fahre ich direkt drauflos …

»Ja, ich weiß nicht, wo es ist, aber das ist das wenigste. Das finde ich schon mit der Zeit.«

Der Herr sagt bedenklich:

»Ja, daß Sie aber auch pünktlich kommen.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich werde mich sofort auf den Weg machen.«

»Nein, das ist nicht nötig. Es ist erst zehn Minuten nach acht.«

Das finde ich wunderbar. Erst zehn Minuten nach acht? Ich rechne blitzschnell und immer falsch: sechzig Minuten sind ein Jahr, dreiviertel Minuten bis neun … bald Weihnachten; fünfzehn Minuten … März … es wirbelt … selbst mein Irrtum hat noch Gesetze. Meine Hände kleben. Ich krampfe unter der Bettdecke meine Fußzehen zusammen. Das kann ich ganz gut, aber es geht doch nicht auf die Dauer. Wenn der das sieht, denkt er Wunder was. Ob ich ihn mal frage, warum er denn noch immer dasteht, während mein Wecker auf die widerlichste Weise unbarmherzig tickt?

Ich ziehe den Wecker auf. Ich tue ganz unbefangen. Ich stelle den Wecker auf das Nachttischchen zurück. Dort liegen so vornehm meine Bücher. Ja, die liegen sehr vornehm da … Aber das Polizeipräsidium … Steige in die Linie 9, fahre direkt drauf los …

»Bitte, sagen Sie mir, aber wirklich, frei heraus, ob ich verhaftet werde. Das möchte ich sehr gerne wissen. Es nützt mir ja alles nichts. Das muß ich wissen. Danach muß ich mich richten. Das wäre nämlich das Schlimmste, was mir passieren könnte. Bitte, nehmen Sie doch Platz. So. Ja, sehen Sie, das Verhaften könnte ich nicht vertragen … Ich kann Ihnen das nicht so schnell erklären.«

»Tja, ich verstehe Sie vollkommen, Fräulein.«

Der Herr sieht mich lauernd von der Seite an.

Wie von selbst kommen mir die Worte:

»Ich will nicht mißtrauisch sein, aber sprechen Sie mit mir. Sagen Sie mir, ob ich verhaftet werde. Vielleicht ist es für Sie nicht so wichtig wie für mich. Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht verletzen. Denken Sie sich, Sie würden verhaftet … Verzeihen Sie, wenn das so unmöglich ist … dann allerdings … Ich meinte nur so. Ich dachte immer, es gibt nichts, was unmöglich ist. Ja, sehen Sie: vielleicht werde ich sogar verhaftet. Sogar? Ich bin nichts Besonderes, bin gar nichts, ein Mensch, nein, es ist nicht wahr. Ich muß etwas anderes sein. Sagen Sie: werden andere auch aus dem Bette geholt, um verhaftet zu werden? Daß ich daran nie gedacht habe! … Sie haben keine Zeit zur Unterhaltung? Ja, ich begreife, aber das ist keine Unterhaltung, glauben Sie mir doch … Ach, Sie sehen sich meine Postkarten an? Bromsilber. Kosten dreißig Pfennige das Stück.«

»Sie sind Sängerin, Fräulein?«

Der Herr wühlt in meinen Bildern, die auf meinem Tisch liegen. Riecht an den halbwelken Rosen, die man mir gestern abend geschenkt hat.

»Wo treten Sie denn auf, Fräulein?«

Er setzt sich und kreuzt dabei die Beine.

Es kribbelt mir in den Fingerspitzen.

»Wo ich auftrete? Ach, ich weiß gar nichts. Verzeihen Sie, ist das nicht alles gleichgültig? Ueberflüssig? Wird man mich heute früh verhaften? Bitte, sagen Sie es gleich auf der Stelle.«

Der Herr blättert in einem Buch, sagt, indem er mich ansieht, langsam:

»Warum sollten Sie denn verhaftet werden?«

»Ja, ich weiß ja auch nicht …«

Dann steht er plötzlich auf, wendet sich zum Gehen.

»Also Sie werden nicht verhaftet, Fräulein. Davon ist gar nicht die Rede.«

»Ach, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ja, da sieht man's –.« Ich muß lächeln. »Ich hatte schon Angst, Angst hatte ich …«

Der Herr lächelt auch: »So so.«

»Ja, Angst hatte ich, aber jetzt ist alles gut. Ich werde pünktlich kommen, freilich, und vielen Dank.«

»Adieu.«

Dann kleide ich mich rasch an.

Kaum habe ich meine Toilette beendet, klopft es schon wieder.

Ein Herr tritt ein: Gesprenkelter Schnurrbart, beleibt, derber Anzug, solider Regenschirm aufgerollt, als wolle der Herr eine Landpartie machen.

Er grüßt eilig, wendet stumm den Rockaufschlag und zeigt eine dort befestigte Marke.

Ich halte den Herrn für das Mitglied eines geheimen Bundes, das an die falsche Adresse geraten ist.

Ich sage:

»Sie irren sich wohl.«

Er zeigt eindringlicher auf seine Marke.

Ich:

»Was soll das? Ich bin in Eile.«

»Bin von der Kriminalpolizei. Sie müssen sofort aufs Polizeipräsidium kommen.«

»Das weiß ich ja schon. Bin schon im Begriff. Es war doch jemand hier, der mich unterrichtet hat.«

Der Beamte sieht überrascht aus. Wie mir scheint, ist er enttäuscht.

»Ach so, war denn der Schulze II schon hier?«

»Ich kenne keinen Schulzen.«

»So. Na, dann kommen Sie, bitte, sofort. Der Herr auf Nummer 201 hat nur bis elf Uhr Dienst. Aber, daß wir uns darauf verlassen können.« Er hebt mahnend den Regenschirm empor. »Ganz bestimmt, Fräulein.«

»Ja, ja, habe selbst das größte Interesse.«

Ich öffne ihm die Tür. Er geht.

*

Fünf Minuten später bin ich bereit, das Haus zu verlassen. Unwillkürlich bekreuzige ich mich. Das tue ich aber manchmal, ist nichts Besonderes. Vielleicht nehme ich den Rosenkranz mit? Schaden kann das nicht. Vielleicht nehme ich Geld mit? »Sie müssen immer Gold bei sich tragen. Gold bringt Glück.« Wo habe ich das doch gelesen?

Ich habe eine Menge Markstücke in meiner Tonbadschale, und ein Zwanzigmarkstück. Das werde ich mitnehmen.

Ich krieche unter den Schrank, wo die Tonbadschale steht. Das Goldstück liegt so hübsch glänzend zwischen den Markstücken! Und eigentlich brauche ich doch das Goldstück für die Reise; denn ich will doch reisen … Ich bürste den staubigen Rock ab. Wecker tickt. Gott im Himmel, die Zeit, die Zeit! Zweiundzwanzig Minuten vor zehn! Ich eile, und die Treppen hinunter …

Und draußen ist Sonne und tiefblauer Himmel. Ich bin in größter Eile, aber wer dieses Frühlingswetter nicht bemerkt, der ist überhaupt kein Mensch. Bei solchem Frühlingswetter wird nicht verhaftet! An solchem Tage muß sich die ganze Welt lieben. Ich erwäge es genau. Um der Sonne willen; weil der Himmel so wunderbar blau ist … Um des Himmels willen. Um Himmelswillen: »Auto!«

»Schnell: Polizeipräsidium!«

Ach ist das schön, Auto zu fahren! Und das erste Grün der Bäume! Wie freundlich sieht alles aus! Klar und hell … So hell …! Das muß jeden Menschen verführen. Wie wäre es möglich, sich nicht zu lieben bei solchem Wetter! Und so brennend zu lieben, daß es bis über die Regenzeit anhält. Entweder liebt man sich oder man liebt sich nicht … Halbe Sachen gibt's überhaupt nicht.

Es gibt Veilchen auf der Straße. Menschen in hellen Kleidern. Das Auto hält. Ich steige aus.

»Soll ich warten?« fragt der Chauffeur höflich.

»Ja, gerne, wenn Sie wollen. Sie können auch weiterfahren, wenn Sie wollen. Ganz wie Sie wollen, aber das Geld will ich Ihnen geben.«

»Danke vielmals. Danke sehr. Grüß Gott, Fräulein.«

Ach, das klingt!

»Grüß Sie auch Gott! Djö!« und fliege die sonnenbestrahlte Freitreppe hinan.

Ach das saubere Haus! Alles gefällt mir. Alles entzückt mich: Die sauberen grauen Türen, hellgrau lackiert. Gewiß frisch gestrichen. Die blank geputzten Messingtürklinken! Wer das wohl alles beaufsichtigt, damit alles so adrett bleibt? In meiner Pension ist doch alles so schmuggelig! Hier sich ein Zimmer mieten!

Nummer 140 … Eine Treppe höher … 143 … Hier 144.

Ich klopfe schnell, resolut. Da drinnen werde ich erwartet.

Ein Schreibstuben-»Herein«. Hat so beschäftigt geklungen. Gleichviel: ich öffne.

Ein sonniges, sauberes Bureau. Hohe Fenster. Und diese Ordnung! Unendlich viele Fächer an den Wänden. Helles Holz, Bücherregale, viele, und dabei diese Ordnung! Staunenswert.

Habe ich eigentlich schon gegrüßt?

Da sitzt ein Herr ganz geduckt am Schreibtisch. Er sieht nicht von seiner Arbeit auf.

»Guten Morgen.«

»Tag. Sie wünschen?«

»Sie haben gebeten, zu kommen. H. ist mein Name.«

»So? Na, da können Sie sich einen Augenblick setzen.«

»Danke sehr.«

Der Herr schreibt noch eine Weile weiter. Dann besinnt er sich, sucht auf dem Schreibtisch einher und holt einen Brief aus einer reichlich gefüllten Mappe.

»Haben Sie diesen Brief geschrieben?«

Ich erkenne meine Handschrift, freudig erregt. Jetzt geht doch etwas vorwärts. Es wird endlich etwas erledigt.

»Ja, das ist mein Brief. Und wie ist es nun, kann ich reisen? Es wäre mir sehr angenehm.«

Der Herr antwortet nicht, sieht mich zum ersten Male richtig an über die grellen Brillengläser hinweg. Er hat ein überanstrengtes Gesicht. Ein Beruf, der immer sitzend vor sich geht, kann auch nicht gesund sein. Und ich entschuldige seinen strengen Ausdruck.

Der Herr blättert flüchtig eine Aktenmappe durch, von der ich annehme, daß sie mein Schicksal enthält.

Er interessiert sich nur einen Augenblick, klappt plötzlich die Mappe zusammen, erhebt sich, geht ans Telephon, kurbelt und ruft:

»Nummer 7 soll kommen!« hängt den Hörer ein, setzt sich wieder, und ich warte.

Warte und werde ein wenig unruhig. Beruhige mich wieder. Man scheint hier sehr beschäftigt zu sein.

Es ist so still im Zimmer.

Wenn der Herr doch ein Wort sagen möchte!

Fliegen summen am sonnigen Fenster.

Schade, daß ich hier so lange warten muß … Ist das ein herrlicher Sommertag!

Ich sehe nach meiner Armbanduhr. Zwanzig Minuten bin ich schon da.

Ich entschließe mich:

»Verzeihung, ich habe wenig Zeit. Dauert es noch lange?«

»Nein, dauert nicht mehr lange.«

Er stempelt schon minutenlang.

Ich habe die abgestempelten Zettel sorgfältig gezählt. Ich sehe immer zu, was dieser Herr tut. Er hat bis jetzt dreizehn Zettel abgestempelt. Das muß ein Befugter sein, denke ich mir.

Jetzt klopft es ganz stark. O, bekomme ich da Herzklopfen! Das wird derjenige sein, der mir die Antwort auf meinen Brief bringt.

Ein großer Schutzmann tritt ins Bureau. Bleibt nach kurzem militärischem Gruß an der Tür stehen.

Der Herr am Schreibtisch gibt ihm einen Zettel. Der Schutzmann grüßt noch einmal und sagt: »Jawohl.«

Dann wendet sich der Herr an mich:

»Also Sie sind verhaftet.«

»Ah!«

»Vorläufig. Wegen Fluchtverdachts. Jetzt können Sie mit dem Herrn gehen.« Er deutet auf den Schutzmann.

… Ich kann mit dem Herrn gehen? Vorläufig? Und verhaftet?! Was ist das! Das kann nicht stimmen …

»Das ist ein Irrtum. Das muß ein Irrtum sein! Wohin wird mich dieser Herr führen?«

Ich bekomme keine Antwort auf meine Frage. Oder doch?

»Machen Sie keine Umstände! Sie sind wegen Fluchtverdachts verhaftet.«

»Wer, ich? Ich bin doch nicht fluchtverdächtig! Weiß Gott, Sie tun mir Unrecht! Wie kann man nur so etwas sagen? Es tut mir leid, aber das muß ich doch sagen; ich habe Ihnen doch meine Absicht mitgeteilt. Wie kann ich nur verdächtig sein? Ich bin freiwillig zu Ihnen gekommen, um eine Antwort abzuholen, und Sie verhaften mich? Sie tun mir Unrecht!«

»Lassen Sie das! Hat gar keinen Sinn, was Sie sagen. Ihre Beschwerde können Sie im Untersuchungsgefängnis vorbringen.«

Dieser Mensch hat es eilig, und er macht ein verärgertes Gesicht, als sei ich ihm sehr lästig.

»Untersuchungsgefängnis?!« Ich wünsche sehnlichst, mich verständlich zu machen. »Das ist es ja gerade, was ich nicht will. Damit kann ich doch gar nicht erst anfangen! Wer läßt sich denn das gefallen! Das ist doch keine Manier! Verzeihen Sie, ich kann nicht anders darüber denken. Was habe ich denn nur getan? Machen Sie eine Ausnahme mit mir! Man muß doch mit jedem Menschen eine Ausnahme machen! Hören Sie!«

Er hört gar nicht.

Der Schutzmann steht wie angegossen; obgleich ich ihn immer ansehe. Er sieht aus, als wäre er taubstumm.

Ich bekomme grenzenlos Angst und gehe in die äußerste Ecke des Zimmers. Mir ist, als sollte ich ermordet werden. Aber ich habe noch soviel Geistesgegenwart, zu überlegen, ob es Sinn hat, mich zu verteidigen.

»Also vorwärts! Marsch!« ruft der Schutzmann.

Der Kerl geht auf mich los. Dolche springen mir aus den Augen. Mein Blut zischt vor Wut. Ich bin gerissen, ich fliege in die Ecke des Zimmers neben der Tür.

Blitzschnell: will weg, rechts den langen Korridor entlang … scharfe Ecken schneiden … Treppengeländer hinunterrutschen … Los! Ich reiße die Tür auf … Drei Schritte nur … Der Beamte von heute früh fängt mich direkt auf. Ich zische: »Schweinehund! Loslassen! Es geht noch! Weg von mir! Weg! Los! Ich schreie! Los! Weg!«

Ach, der Kerl hat mich am Arm, ich weiß nicht wie lange.

Und es überfällt mich mit einemmal: es ist alles aus, alles aus. Und schluchze, gehe zwischen dem Herrn von heute früh und dem Schutzmann. Ich gehe, gehe folgsam, betäubt und wirblig … schluchzend … und doch denke ich: ich will mich sammeln. Ich will es nicht aufgeben. Werde frei sein. Will mich nur erholen. Eine Minute. Zwei Minuten. Will alles versuchen und sei es das Raffinierteste.

Könnte ich doch das Haus umwerfen! Allmacht her! Ich habe nichts, was schneiden könnte … keine Nagelschere, kein Lysol, kein Vitriol. Und – alle Apotheken sind voll davon angefüllt. Und hier ist nichts … ich kann mich nicht verwandeln … ich bin ohnmächtig. Kein Gedanke, kein Glaube kann Berge versetzen. Und wir gehen weiter und weiter. Und ich weine nicht mehr, bin leer und immer leerer.

»Na, wie kann man auch so dumm sein, einen solchen Brief zu schreiben! Das haben Sie gut gemacht!«

Wer hat das gesagt? Wer hat da gekichert? Ach so, der Herr von heute früh! Ich höre:

»So was schreibt man doch nicht erst!«

Ich zische:

»Das weiß ich jetzt auch, Sie! Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Sie!«

Dann ekelt es mich, daß ich mich mit dem Menschen einlasse, und schweige.

Wir sind bei dem Portal angelangt, das nach der Straße führt. Der Beamte verläßt uns, »Grüß Gott!«, geht durch das offene Portal, und da sehe ich einen Teil der hellen Straße, und es flammt in mir auf. Ach, die Sonne! Ich werde die Sonne nicht vergessen können. Es tut mir leid um die Sonne. Ich werde sie nicht entbehren können. Und ich denke, wie es sein wird, wo ich hinkommen werde, und will den Schutzmann fragen, ob es sonnig ist im Gefängnis.

Wenn er dann aber nein sagt?

Wäre ich nur nicht an solchem Tage in dies Haus geraten! Es könnte doch Gewitter sein, ebensogut Gewitter. Aber die Sonne …

Unterdessen steigen wir Steintreppen hinab. Es wird kühler und dunkler. Wie merkwürdig ist das doch alles eingerichtet! Wer mag sich das ausgedacht haben? Es kann kein Zufall sein, daß man einen Gefangenen allmählich vom Licht ins Dunkle, Kalte führt. Ein riesiger Eisschrank fällt mir ein. Kühlraum zum Aufbewahren. Ob man hier frisch bleibt?

Eiserne graue Türen mit schwarzem, noch derberem Eisen beschlagen. Diese Stabilität! Nein, da gibt es keinen Weg mehr! Eine Tür neben der andern. Immer mehr Türen. Und still ist es hinter diesen Türen … Ob jemand dahinter ist? Aber so still? Wenn nun doch Menschen da sind? … Wie kann man nur so still sein? Wie in Grabkapellen so still?

Und dann dieser endlos lange Korridor …

Ich sehe den Schutzmann an. Fragen brennen auf meinen Lippen. Das unberührte Gesicht des Schutzmanns läßt sie ersterben.

Schlau will ich sein; will an die Sonne denken, und an die Straßen, und an … ja … ich weine still.

»Was ist denn?« fragt der Schutzmann und bleibt stehen.

»Ach, es ist zu traurig. Ich will nach Hause. Ich bin auch müde. Es könnte genug sein. Ich möchte nach Hause.«

»Das geht nicht.«

»Warum denn nicht?«

Er läßt wenigstens mit sich reden.

»Seien Sie doch vernünftig. Sie sind doch kein Kind mehr. Wir haben schon andere Verbrecher gehabt wie Sie.«

»Ja?«

»Na, was glauben Sie! Kann's denn so schlimm werden? Die Zeit, ich weiß ja nicht wie lange, werden Sie schon noch runterreißen. Daran stirbt man nicht.«

Daran stirbt man nicht? Spricht er mir nicht gut zu? Könnte er es nicht gut mit mir meinen? Und ich will es versuchen, bleibe stehen, will vorerst nicht weitergehen.

Der Schutzmann: »Na, was ist jetzt?«

»Herr Schutzmann, lieber Herr! Sagen Sie mir, um was ist es Ihnen zu tun? Was haben Sie davon, wenn Sie mich in diesen Keller bringen? Gibt es denn gar nichts anderes für Sie? Glauben Sie mir, was Sie machen, bringt Ihnen kein Glück. Verzeihen Sie – aber Schutzmann sein, das ist doch gar kein Beruf!«

Er unterbricht mich: »Jetzt hören Sie aber auf!«

Jetzt soll ich aufhören, wo ich anfangen will?

»Nein, ich bitte Sie, warum wollen Sie nicht mit mir sprechen? Ich bin so gut und so schlecht wie Sie. Ach nein, hören Sie! Kein Mensch sieht uns. Lassen Sie mich gehen. Wollen Sie? … Vielleicht meine Armbanduhr? Es gibt nichts, was ich Ihnen nicht geben will. Alles gehört Ihnen. Bücher … Interessieren Sie sich vielleicht für Nietzsche? »Wille zur Macht«? Können Sie haben. Alles, was Sie wollen.«

»Jetzt hören Sie aber auf. Das ist Bestechungsversuch. Das will ich nur gesagt haben. Und damit Schluß.«

Wir gehen weiter.

Ein Mensch kommt uns entgegen in marineblauer Wolljacke. Schirmmütze und Schlüsselbund. Er pfeift durch die Zähne, sorglos und mir vollkommen unbegreiflich. Der kann pfeifen!

Plötzlich möchte ich auch pfeifen. Aber das würde sich wohl nicht passen. Ich möchte sehr, sehr gerne pfeifen; aber ich beherrsche mich, und dabei empfinde ich mich unnatürlich. Während ich so ans Pfeifen denke, gibt der Schutzmann dem andern in der blauen Jacke den Zettel und mich dazu. »Wie geht's?« fragt er.

»So so. 's wär' besser zu fahren,« sagt der blaue Mann. Der ist ganz nett. Der Schutzmann läßt uns allein.

Ich wende mich diesem neuen Menschen zu.

Er sieht gemütlich aus, als fühle er sich zu Hause. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen, Fräulein?«

»Ach, ich weiß gar nichts mehr. Was ist Mittagessen! Klipp und klar: raus will ich! Weiter gar nichts.«

Der lacht. »Na, dann beruhigen Sie sich mal!« und schließt die Tür auf, vor der er gerade steht. »So, da ist Gesellschaft.«

Ein schmaler Raum. Etwas Weibliches hockt auf einem Holzbrett, das Gesicht im Schoß vergraben. Gefaltete schmutzige Hände halten hochgezogene Beine eng umschlungen. Der unerwartete Anblick läßt mich den blauen Mann ganz vergessen. Als ich mich plötzlich umwende zur Tür: eisern, ohne Griff, gibt sie nicht nach …

Ich stemme meine beiden Hände gegen die Tür, tobe und trommle: »Das gibt nicht nach! Das gibt nicht nach!«

Das Mädchen auf dem Holzbrett hebt ein ungewaschenes Gesicht empor, streicht sich die gelben Fransen aus der Stirn und läßt den Kopf wieder sinken.

Ich setze mich zu ihr auf die Bank, schaue ihr ins Gesicht.

»Wie lange sind Sie schon da?«

»Seit gestern nachmittag,« sagt sie. »Punkt fünf bin ich eingeliefert worden.«

»Und das lassen Sie sich gefallen?«

Sie ist sehr erstaunt. »Ja, was soll ich denn machen? Sie haben sich's doch auch gefallen lassen.«

»Ja, das ist wahr.« Ich tobe in der Zelle auf und ab: »Daß ich mir das gefallen lasse! Sie haben recht. Ja. Aber hören Sie mal …« Ich setze mich wieder zu ihr hin. »Hören Sie, das geht doch nicht. Das dürfen wir uns gar nicht gefallen lassen. Wir beleidigen uns ja selbst. Bleibt das denn so? Ist das immer so schrecklich? Seien Sie mir nicht böse, daß ich soviel frage. Ich bitte, seien Sie mir nicht böse. Sprechen Sie zu mir. Gewiß ist es schwer für Sie. Aber sprechen Sie. Zu mir können Sie sprechen. Mir können Sie alles sagen. Ich will alles verstehen. Ich will mir alle Mühe geben. Vielleicht weiß ich etwas für Sie. Ist Ihnen nicht entsetzlich zu Mut?«

Ach, da sitzt sie, ein abgegriffenes Handtäschchen auf dem Schoß, und jetzt sieht sie mich zum ersten Male richtig an und sagt:

»Ja, sehen Sie, bei dem einen ist's so, beim andern anders. Ich war das erste Mal genau so aufgeregt wie Sie. Gestrampelt hab' ich mit Händen und Füßen. Hat mir nicht geholfen … Aber jetzt – mein Gott! Ich hab' mich dran gewöhnt.«

Und das sagt sie so still. Ich bin entsetzt.

»Ja, kann man sich daran gewöhnen? Gefangen zu sein? Dann kann man sich ja auch daran gewöhnen – ja weshalb denn nicht? täglich durchgepeitscht zu werden. Wie kann man sich an etwas gewöhnen, womit man nicht einverstanden ist? Damit dürfte man gar nicht anfangen. Und ich …«

Oh mein Gott: Habe ich nicht schon alles verloren? Ehre, die Einschätzung der anderen? Ich will als Mensch geachtet werden. Man sperrt wilde Tiere ein. Aber Menschen? Wer gab das Recht, zu richten? Und mir fällt ein: Der Beamte, der mich einsperren ließ war er empört? Er war es doch nicht. Wen habe ich beleidigt? Ich habe niemanden beleidigen wollen. Und Kläger, Richter, Beamte, Schutzleute ziehen an mir vorüber. Keiner von ihnen war empört, niemand gekränkt. Wie sahen diese Menschen aus? Alle hatten es eilig: das war es. Ich erinnere mich gut. So schnell als möglich wollten sie mich los sein. Warum war ich ihnen so lästig? Jetzt sperrt man mich ein. Wozu? Muß ich jetzt anders werden? Besser? Schlechter? Gestraft? Kann ich anders werden, gegen meine Natur? Soll ich lernen, mich an ein anderes Leben zu gewöhnen? Was soll das? Wozu will man mich zwingen?

Ich laufe immer auf und ab. Ich sehe: wenn ich nicht spreche, sitzt das Mädchen ganz teilnahmslos da. Ihre Ruhe regt mich auf.

Sechs Schritte auf, sechs Schritte ab. Ich nehme mir vor: Jedermann werde ich sagen: »Dressieren lasse ich mich nicht.«

Stumpf sitzt sie da. Sie wartet. Wie regt sie mich auf! Ich trete vor sie hin.

Sie schaut gar nicht auf, starrt auf den Boden. Was denkt sie? Denkt sie überhaupt nicht? Ist sie gleichgültig?

Ich fasse sie an beiden Schultern. Wie verschlafen sie ist! Ich muß sie schütteln. Ich kann nicht anders.

»Wachen Sie doch auf! Sie schlafen ja beinahe.«

»Der Polizeiwagen fährt erst um halb vier,« gähnt sie. »Man hört ihn vorfahren, wenn er in den Hof kommt. Solange könnten wir schlafen. Legen Sie sich doch auch hin. Seien Sie doch vernünftig. Sie sind ganz unvernünftig.«

Habe ich heute schon einmal gehört.

Ist es vielleicht vernünftig, wenn ich mich an dies Loch gewöhne? Wie soll ich wissen, ob ich vernünftig bin? In diesem Hause werfe ich die Vernunft an die Wand. Hier fliegt jede Vernunft weg; die vernünftigste Vernunft. Was ist das überhaupt? Totschlagen kann man mich: ich werde nicht wissen, was Vernunft ist.

Vernunft! Besonnenheit! Ist es vernünftig, wenn ich ruhig alles mit mir geschehen lasse? Was sind das für Menschen, die dieses Haus führen? Ich habe gar kein Vertrauen. Denn man hat mich überlistet. Man hat mich hierher gelockt auf die heimtückischste Weise. Warum ging man so raffiniert mit mir vor? Die sind nicht unschuldig. Die haben ein schlechtes Gewissen. Die haben sich's leicht gemacht. Schließen mich einfach ein.

Das Mädchen spricht: »Sie schlagen Ihre Geschichte reichlich hoch an. Ich bin doch auch da. Das Haus ist voller Gefangener. Wenn sich jeder so aufregen wollte! Viele sind froh, wenn sie da sind; besonders im Winter. Es gibt Menschen, denen das Gefängnis Weihnachtswunsch ist. Wenn es so kalt ist, und auf der Landstraße ist es kalt, und an den Türen steht: ›Warnung vor dem Hunde‹ … Man wagt nicht hineinzugehen, weil der Hund kläfft. Und man beneidet den Hund. Man ruft: »Komm, Nero, komm!« … Ich hörte einmal, wie jemand »Komm, Nero!« rief. Daher weiß ich das, und dann wurde ich auch bald eingeliefert. Fieber habe ich bekommen. Und als ich wieder gesund war, fragten mich die in der Zelle, wer denn dieser Nero sei … Was wollte ich doch sagen? Jetzt hab' ich ganz vergessen …«

Fallen meine Schultern? Was bricht zusammen in mir? Ich fasse Hände, die halten ein abgegriffenes Handtäschchen …

»Wäre ich Ihnen doch begegnet!« Wir sitzen nebeneinander, ganz dicht beisammen. Sie sieht mich an. Ach, die armen Augen tränen und lächeln.

»Ich wäre Ihnen gerne begegnet, Fräulein.«

»Das ist gut.«

Sie lächelt.

»Jetzt ist es ja gut. Nicht?«

»Ich weiß nicht … weiß nicht, ob es gut ist … Sie sind gut … Sie sind über alles gut.«

Weinen schüttelt mich.

»Beruhigen Sie sich doch!« Sie streichelt mich und: »Sie haben so hübsche Haare …«

»Ich kann nicht vergessen … ich behalte alles … weiß noch alles. Ich kann nicht anfangen mit dem Vergessen. Nicht einen Gendarmen auf der Landstraße … Ich kenne die Straße … ich ging einmal … in Schlesien ging ich … Kennen Sie Schlesien? … Im Herbst war es. Raben flogen über den Feldern … Ich gehe so gern … immer weiter … auch wenn es regnet, gehe ich gern … Ich war bei einem Wandertheater engagiert. Denken Sie: Wandertheater. Ich kann leben von dem Wort: Wandertheater … Wandertheater ist für mich alles. Wenn man Theater spielt, ist alles anders. Das können Sie sich wohl denken, nicht? Man kann leben und sterben und am andern Tag lebt man wieder und anders. Ich lebe so gern! … Was sage ich? Wer lebt nicht gern? Wissen Sie, daß man spielen kann, wie man leben möchte? Wie soll ich Ihnen sagen? Ich spielte immer, was ich ersehnte. Spielte mir mein Ideal … spielte so lange, und alles wurde mir Wahrheit … Nur darf man nicht umkippen … Das gibt es nämlich auch. Aber ich war routiniert, ziemlich … Wir spielten ein Stück, das hatten wir uns selbst ausgedacht … Nein, ausgedacht ist nicht das richtige Wort. Es kam so von selbst … wir hielten zusammen … Wir machten schlechte Geschäfte, sehr schlechte Geschäfte. Im Hochsommer auf den Dörfern. Kein Klassiker zog die Bauern ins Theater …! Kennen Sie ›Romeo und Julia?‹ Nicht? Das zog nämlich auch nicht. Ich spielte den Pagen, der in der Gruft die Julia beschützt, die Leiche der Julia … Das wollte ich nicht erzählen. Wir hielten zusammen, sagte ich, nicht wahr? Das fing an, wie es uns sehr schlecht ging … Es hätte ja auch früher anfangen können, das Zusammenhalten. Von dem ausgedachten Stück wollte ich noch sagen. Das war improvisiert. Zwei oder drei Menschen saßen im Theater. Zuerst sollen sechs dagewesen sein; denn es waren drei Mark in der Kasse. Und es mußte also gespielt werden. Wir haben phantasiert … Einige nennen das ›Schwimmen‹: wenn man eine Rolle nicht gelernt hat, wenn man aus dem Stegreif spricht. Wir verzichteten auf das Stück. Da wurden wir die verzweifelte Stegreiftruppe … Ach, es ist alles nicht wahr, was ich sage. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt spreche; aber mir ist so eigen zu Mut, begreifen Sie mich? … Verlassen Sie mich nicht mehr. Könnten Sie doch bei mir bleiben … Wir wollen uns verständigen … Geben Sie mir Ihre Hand. Wir verstehen uns nicht mit dem Kopf … damit brauchen wir nicht erst zu beginnen … Ich halte Ihre Hand und daran glaube ich. Nichts läßt sich denken. Ich habe meinen Kopf verloren. Man war so gewaltsam heute. Mit Gewalt läßt man sich nicht überzeugen. Nicht wahr? Es kann nicht gut sein, daß wir hier sind. Man hat mich nicht überzeugen können, daß man es gut mit uns meint. Das Brutale kann mich nicht bezaubern. Ich bin mißtrauisch geworden gegen diese Menschen, die uns hier eingesperrt haben. Ich erwarte das Schlimmste; denn sollten sie nicht gründlich sein, wenn sie böse sind? Böse ist böse. Wir aber müssen zusammenhalten. Wir sind gleichgestellt. Es geht Ihnen doch wie mir. Und Sie sind ein Mensch, und ich bin ein Mensch. Warum sollten wir uns nicht verstehen?«

*

Plötzlich wird die Zelle aufgeschlossen.

Mir ist, als hätte der blaue Mann die ganze Zeit über draußen vor der Tür gestanden. Ob er wohl gehorcht hat?

Jetzt muß etwas geschehen, denke ich. Eine Veränderung wird eintreten. Erwartungsvoll wende ich mich gegen den Schließer. Der aber will nichts von mir und sagt nur zu dem Mädchen:

»Kommen Sie!«

Sie folgt aufs Wort, sagt »Adieu«, ohne mir die Hand zu geben. Ihr Gesicht nimmt den Ausdruck der kommenden Dinge an. Ich werde nicht dabei sein …

Wohin mag man sie führen? Der lange Korridor da draußen … den sind wir ja gemeinsam gegangen. Dies Mädchen … und dann ich. Sind unsere Empfindungen gleich, ähnlich oder verschieden?

Die Tür fiel wieder ins Schloß. Schlüssel rasselten. Wie genau mir das nachklingt … Wie lange wohl? Oh, diese langen Echos … Ich bin allein.

Es wäre gut, zu schlafen. Ach, käme eine Ohnmacht! Aber dies Glück kommt nicht zu mir. Zusammenbruch, aber unvollkommen; wissend und kontrollierend bei aller Qual … Oh, daß ich mich sehe! …

Immer die Augen offen … Erschöpft sein, und nicht schlafen können!

Ich will nicht denken … Beschwerde werde ich einreichen gegen meine Verhaftung, sobald ich Gelegenheit habe. Sterbend würde ich mich auflehnen gegen denjenigen, der mir die Freiheit nimmt … Geben Sie Gedankenfreiheit … liegt mir im Sinn, im Blut, wie tief! … Ich werde nicht begreifen lernen. Das Recht … Freiheit nehmen … Anmaßung … Wie kommt das alles? Aber war das nicht gestern auch so? Und hundert Jahre hindurch? Nur traf es mich nicht …

Aber andere werden nach mir kommen. Oh, daß ich ruhig leben konnte! Ich habe versäumt. Ich habe nicht beachtet, daß Menschen gefangen saßen, während ich träumte … frei träumte.

›Sie schlagen Ihre Geschichte reichlich hoch an‹, sagte mir jemand. Ja. Ich kann mir nichts gefallen lassen. Bin ich ein Schaf Gottes? Aber was habe ich versäumt? Alle Geschichten anzuschlagen, als wären sie die meinigen. Mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch gemessen werden …

Meine Augen stoßen überall an. Alles ist mir zu nah. Es gibt keinen Ausblick. Wo ist die Ferne? Wo sind die Flächen? Ich stehe still … ich kann nicht atmen. Was ist das? Jetzt weiß ich, weiß für immer: Es gibt keinen Raum, es gibt keine Zeit, es gibt keine Luft.

Oh Einstellung, Einbildung! Ich muß meine Stimme hören, und ich sage deutlich, sehr deutlich: »Die Welt ist ein Schwindel. Aber man muß glauben können …« Wie ungeschickt ich bin, ich glaube nicht! Ist es taktlos, das Geheimnis der Illusion zu entdecken? Oh, wäre ich kurzsichtig! Aber so begabt bin ich nicht. Wäre ich verträumt oder trunken, mein Befinden wäre nicht schlecht. Aber zu grell, stechend sehe ich Wirklichkeit, das Wunder, Kartenkunststück. Ich will höflich sein, nicht genau hinsehen.

Ich stehe in der Mitte meiner Zelle und schließe die Augen, die sich von selbst öffnen. Das ist ihnen wohl eigen, ist ihr Wesen. Ich sehe vor einem Fenster fünf Eisenstangen, die unbestechlich scheinen.

Da steht mein Wärter hinter mir:

»Träumen Sie? Sie werden abgeholt.«

»Ja. Und was kommt jetzt?« Warum frage ich? Bin ich wieder neugierig?

»Jetzt werden Sie spazierengefahren,« sagt er scherzend.

Ich höre das und sage nur: »So … so.«

Wenn er gesagt hätte: »Jetzt werden Sie gerädert,« oder: »Sie müssen sehr lange tanzen, immer tanzen« – hätte ich mich gewundert?

Ich werde in einen Raum geführt, in dem es sehr bunt aussieht. Unordentlich. Männer und Frauen stehen und sitzen, warten sehr ungeduldig, nervös, blaß. Plötzlich aufsteigendes Fieberrot: Mädchen, ertappt und ohne Fassung – wo war't ihr noch vor einer halben Stunde? Männer, Vergangenes in gehetzten Augen. Gekrümmte Hände, die etwas gepackt hielten, hängen jetzt teilnahmslos. Was haftet noch an euch? Hübsches Mädchen, blaue Augenringe – wie und wie lange wachtest du? Schlichst du dich fünf Uhr früh aus einem Hause? Vier Stufen auf einmal? In der vierten Etage schon in Gedanken auf der Straße … Muß gemacht werden, Scham hin, Scham her … Aber das ist es ja auch nicht. Du verträgst nicht, kontrolliert zu werden … Kräftige Zähne haben sich in deinen Hals gewühlt … Jetzt brauchst du keine Schminke mehr. Dein Puder, noch im Handtäschchen. Der kann lange warten, bis du wiederkommst …

Menschen, verludert und elegant, die sich nicht kennen, möchten miteinander sprechen. Flüstern … »Wenn Sie früher hinauskommen sollten, grüßen Sie Nanny, Neuhauserstraße 34, im dritten Stock. Sie soll auf mich warten, es kann lange dauern, aber warten soll sie.« Schlecht gehobelte, halbschmutzige Tische.

Da steht ein altes Grammophon … Riesige Blechtrompete. Wem hat denn gefallen, das an sich zu nehmen? Ein Regulator steht da … Schlachtermesser daneben … Durchlöcherte Schirmmütze … Sechs sorglich zusammengebundene Regenschirme … Kleiner Mädlerkoffer, Etiketten: Hamburg, Monte Carlo, Cherbourg … Eine rote Perücke, grandios frisiert … Tüllrobe neben Fleischhackmaschine … Alles gewürfelt.

Ich sehe die Gegenstände an, ohne darüber nachzudenken, was sie bedeuten, warum sie daliegen. Ich sehe einen jungen Burschen, der gemessen wird. Er macht ein Gesicht dabei, als würde er porträtiert.

Ein Mädchen wird ausgefragt und aufgeschrieben. Sie gibt höflich Auskunft, wie auf einem Vermittlungsbureau. Mir ist, als träume ich; weiß gar nicht, weshalb ich da bin; sitze auf einer Holzbank und finde es ganz nett.

Einigen wird die Geldbörse abgenommen. Das Geld wird sorglich gezählt, die Summe notiert.

»Stimmt's?« fragt der Beamte, »zählen Sie selbst nach.«

»Ja, es stimmt. Gewiß,« höre ich bescheiden antworten.

»Na, also. Schreiben Sie: 1 Mark und 75 Pfennige.«

Ich freue mich in aller Stille über die Genauigkeit der Beamten. Das Geld wird also doch aufgehoben. Es geht nicht alles drunter und drüber.

Ein Mädchen muß die Hand auf eine schwarz bestrichene Platte legen. Sie stellt sich ungeschickt an. Ein Beamter gibt ihr Anweisung. Er legt seine Hand auf den gehobelten Tisch; natürlich nicht auf die schwarz bestrichene Platte. Ich würde das auch nicht tun. Vielleicht ist es glühendes Pech, das allmählich erhitzt wird. Ich beobachte genau; will wissen, was geschieht. Soviel ich begreife, kommt es hier darauf an, daß der Daumen nicht rutscht.

Das Mädchen lacht geschmeichelt. Wie intensiv man sich aber auch mit ihr beschäftigt! Sie ziert sich, streift die Aermel in die Höhe; sie stellt sich an, als solle sie Klavierspielen lernen; als verstehe sie nicht, die Finger zu setzen. Sie erregt die Aufmerksamkeit der Beamten und lächelt freudig und verschämt.

»Den andern Daumen her!« sagt der Beamte.

Das Mädchen zeigt die andere Hand. Da fehlt der Daumen. Die Hand ist ein verkrüppeltes, knorpliges, viereckiges Stück Fleisch. Am Zeigefinger fehlt ein Glied? Wo ist das? Nie sah ich eine solche Hand.

Das Mädchen lächelt wieder, als habe sie die Hand so gemacht. Lächelt, als habe sie sich eine kleine Laune erlaubt. Sie lächelt, findet sich selbst ein wenig albern, aber das mit der Hand sei nun mal so … Sie dreht die Hand ein wenig hin und her.

»Ja, da ist nichts zu machen,« sagt der Beamte.

Ich sitze da und lache laut auf. Lustig, schadenfroh, wie wenn jemand ein Gesellschaftsspiel verliert.

»Was fällt denn Ihnen ein dahinten?« ruft ein Herr hinter dem Schreibtisch.

»Ach so. Ja.«

Ich verstumme. Bin geniert, daß ich mich »benommen« habe. Weiß gar nicht, wo ich hinsehen soll; denn alle sehen mich an. Es ist mir peinlich, daß ich so allein sitze, und ich rutsche die lange Bank entlang, so unauffällig wie möglich; immer nach links. Das ist ein langes Ende.

Da sitzt ein Herr in den mittleren Jahren. Der trägt einen feinen Strohhut und einen weißen Tennisanzug. Ich schiele ihn von der Seite an, nehme heimlich mit, was das Auge reichen kann. Weiße Tennisschuhe, mit Ankergarn gestopft. Gewiß, der Strohhut ist mit Strobin gebürstet, nicht gut gespült, hat Streifen. Soll ich ihm nicht sagen: ›Man darf einen Strohhut nicht in der Sonne trocknen? Sie können ihn auf ein reines Handtuch legen. Wenn Sie das nicht haben, nehmen Sie den Ueberzug von Ihrem Kopfkissen. Sie können sich dann zugleich den Kopf damit frottieren.‹ Ich mache mich an den Herrn heran.

»Sie, hören Sie, bitte!«

Hab' ich das schon gesagt? Der Herr räuspert sich, scharrt mit den Füßen … Um Gotteswillen, ich hab' es nicht böse gemeint …

Der Herr sieht ganz beklommen aus, räuspert sich laut, sieht mich von der Seite an, und dann auf die Beamten, als wolle er jedermann aufmerksam machen, daß ich ihn belästige. O, dieser geradeaus gerichtete, starre Blick! Nun weiß ich: dieser Herr legt Wert auf Einsamkeit.

Ich will mich nicht aufdrängen und rutsche sofort wieder nach oben. Langsam und leise; denn ich will nicht unliebsam auffallen.

»Können Sie denn nicht ruhig sitzen?« ruft jemand. Das gilt mir. Brummt weiter: »Ist doch hier keine Rutschbahn, Sie!«

Und da ich höre, daß es hier keine Rutschbahn ist, mache ich mir endlich Gedanken, was es denn eigentlich für ein Raum ist, in dem ich mich befinde, und was das alles zu bedeuten hat. Ich sehe die geschäftigen Beamten, die hin und her laufen und sich alle Mühe geben. Und ich sitze da und weiß nichts.

Aber ich werde mich schon zurechtfinden. Ich will mir alles genau überlegen.

»H…!«

»Jawohl,« rufe ich prompt.

Einige lachen hell auf.

Ich bin verzweifelt. Gebe mir doch alle Mühe. Nur nicht ausbrechen. Nur nicht weinen.

»Herkommen!«

Ich erhebe mich. Man lacht, aber einige sind todernst. Irgendwo, tief in mir: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

»Haben Sie Geld bei sich? Legen Sie die Uhr ab.«

Wird hier geplündert? Aber mir ist alles recht. Alles will ich abstreifen, meine Lenden, mich selbst; wenn nur ein Mensch hier wäre, an den ich mich klammern könnte.

Ich zerre an der Armbanduhr.

»Vorsicht. Immer mit der Ruhe,« sagt ein Beamter und hilft mir die Schnalle meiner Uhr lösen. So sorglich ist er mit meiner Uhr! Ich sehe auf, in ein starres Gesicht. »Sie haben die Uhr zu fest geschnallt!«

Warum schreie ich nicht, wenn es doch in mir schreit: »Lieben Sie mich!«

»Die Uhr steht. Haben Sie sonst noch Schmucksachen bei sich? Ketten, Ohrgehänge, Nadeln?« knurrt er.

»Hab' nichts.«

»Zählen Sie das Geld nach!«

»Ungefähr zehn Mark muß ich haben.«

»Genau nachzählen! Damit Sie Ihr Geld richtig wieder kriegen. Sonst reklamieren Sie nur.«

»Ach nein.« Ich zähle. Habe ich denn den Chauffeur auch bezahlt?

Unruhige strenge Stimme: »Haben Sie Schulden? Wo haben Sie nicht bezahlt?«

»Doch, ich habe bezahlt. Es stimmt. Stimmt ganz genau. Auffallend.«

»Na, also. Fertig. Los!«

*

Zwei Schutzleute treten ein. Der eine hat eine Anzahl Zettel in der Hand. Die Gefangenen bilden zwei Gruppen, eine, die mitkommt, und eine, die dableibt. Der Schutzmann ruft Namen auf. Ich glaube, ich bin bei der »mitgenommenen« Partei. Ich bleibe stehen, wo ich hingestellt werde; gehe mit den andern, als es »Los!« heißt und lasse mich durch die Tür schieben. Wir werden in den Hof geführt.

Hier steht ein hausartiger Wagen, der zugleich Auto ist. Ich erinnere mich: als Kind sah ich in einem Panorama die »Cholera-Epidemie in Hamburg«. Der grüne Wagen, der vor uns steht, hat Aehnlichkeit mit dem monströsen Cholerawagen, in dem man die Kranken und Toten expedierte. Die Schutzleute lassen zuerst die Gefangenen einsteigen. Ich glaube, die Schutzleute werden wohl nicht mitfahren; aber die fahren gerade mit, und es ist mir auch gleichgültig.

Es dauert geraume Zeit, bis jeder seinen Platz hat; denn der Wagen ist schmal, und die Bänke sind schmal. Und das eine paßt nicht zum andern. Die Frau mit der blauen Küchenschürze ist dick und zwängt sich durch die andern hindurch, um den Rückplatz zu bekommen. Der Dame mit dem Federhut paßt es nicht, neben der Dicken zu sitzen. Sie bittet einen Herrn, doch mit ihr Platz zu wechseln. Die Bitte wird stumm erfüllt. Ich lasse mich hin und her schieben. Alles ist mir ein ungemütlicher Traum.

Die Federhut-Dame sitzt links neben mir. Rechts bildet ein poliertes Holzbrett eine Grenze. Ich erlebe schnell, warum das so ist; denn rechts neben mich setzt sich der Schutzmann isoliert in eine Art Sessel.

Zwei Schutzleute sitzen einander gegenüber direkt an der Wagentür. Man muß also an ihnen vorbei, wenn man aussteigen will. Endlich ist alles arrangiert.

Der Wagen fährt ratternd zum Hofe hinaus. Wir werden durcheinander geschüttelt. Wir fahren in schnellem Tempo durch die Hauptstraßen hindurch.

Mir fällt ein: Bekannte könnten mich von der Straße aus sehen; denn die Tür des Wagens ist ein großes, vergittertes Fenster, durch das man hindurchsehen kann.

Mir gegenüber sitzen zwei junge Leute in Gebirgstracht. Sie haben staubige, eisenbeschlagene Schuhe.

»Hätten wir nur die Sandalen angehabt,« sagt der eine zum andern. »Jetzt können wir die ganze Untersuchungshaft in Bergstiefeln absitzen.«

Der andere zuckt die Achseln.

Ein rothaariger Bursche, der in der äußersten Ecke des Wagens sitzt, horcht interessiert auf jedes Wort, das gesprochen wird.

Ich bin erstaunt, daß überhaupt gesprochen wird; aber die Schutzleute kümmern sich nicht um uns und unterhalten sich miteinander.

»Waren Sie in den Bergen?« fragt der Rothaarige, »'s muß arg heiß sein dort.«

Als Antwort erfolgt ein verdrießliches: »'s geht an.«

Weil die Touristen offenbar keine Unterhaltung wünschen, wendet sich der Rothaarige an seine Nachbarin.

Die sieht verstrubelt aus, als käme sie direkt aus dem Bett. Sie blinzelt ihren Freund unruhig fragend an. Minutenlange Augensprache.

Tonlos und gleichgültig: »Also höchstens drei Monate, wenn ich dir's sag'.«

Verärgerte Stimme: »Jawohl, drei Monate! Als wäre das nichts! Aber mit dir fällt man immer 'rein. Ich hab' keine Lust mehr.«

»Sei doch ruhig!« raunt der Rothaarige dem verstrubelten Mädchen zu. »So sei doch nur ruhig.« Als habe sie eine Taktlosigkeit begangen.

Verdrossen schaut das Mädchen zum Schutzmann hinüber. Der Wagen schaukelt. Der Säbel des Schutzmanns streift mein Knie. Dies ist mir sehr unangenehm und ich mache mich schmal, presse mich zusammen.

Der Schutzmann fängt mit dem Rothaarigen ein Gespräch an:

»Was haben Sie denn schon wieder? Wir fuhren doch erst neulich zusammen.«

Der Rote schiebt die lästige Schirmmütze in den Nacken, will erzählen, besinnt sich und lacht verlegen:

»Eigentlich dürfen S' mich überhaupt nicht einsperren. Heiß' doch Adam, bin der erste Mensch.«

Der Schutzmann lacht.

Einige der Fahrgäste verziehen den Mund zu verstohlenem Lächeln.

Ein Mädchen, das neben mir auf der Bank sitzt, erfüllt die Luft mit starkem Parfüm. Das übertrumpft den Tabakgeruch des alten Bauern, der andauernd schnupft und sich ekelhaft räuspert.

Neben ihm sitzt eine zitternde alte Frau. Dünnes graues Haar. Hin und wieder wischt sie sich mit ihrer Schürze den Schweiß von der Stirne. Sie seufzt unterdrückt.

Das parfümierte Mädchen lehnt sich behaglich zurück. Sie stochert mit ihrem weißen Sonnenschirm, der drei breite Spitzenvolants trägt, auf dem Boden herum. Die Beine übereinander gekreuzt, zeigt sie ihre knallgelben Segeltuchstiefel. Sie gähnt aufdringlich und führt verschwitzte Handschuhe zum Mund.

»Den Sonnenschirm ham S' a mitgnomma, Fräulein?« fragt der Schutzmann witzig.

»Der is froh, daß er a amal spazierenfahren darf umsunst.«

Wie genau ich auf alles achte! Ich sehe und höre fast wider meinen Willen.

Wir fahren schnell und schon ziemlich lange. Ich weiß nicht, wohin; weiß nicht Bescheid, weiß nicht, wie es heute abend sein wird.

Wie werde ich mich schlafen legen? Zu Hause in der Pension mein Bett wird unbenutzt dastehen …

Ich mische mich in alles. Wohin gehen die Schutzleute, nachdem sie uns irgendwohin gebracht haben? Nach Hause? Vielleicht sagt einer zu seiner Frau: »Ich habe heute acht Menschen ins Gefängnis gefahren.« Und die Frau stellt das Essen auf den Tisch, sagt: »Was du sagst! Acht Menschen! Ja ja.«

Und wo sind diese acht Menschen dann? Fahren die Schutzleute uns in ein Gefängnis, um uns zu vergessen? Ich begreife nichts, so sehr ich mich um alles kümmere. Denn alles dies muß doch wohl so sein. Was bedeutet diese verrückte Wagenfahrt? Einen Sinn muß sie doch haben, einen Zweck.

Wie unsinnig finde ich alles, und darum unheimlich! Mir ist, als wäre ich heute zum ersten Male auf der Welt, so neu erscheint mir alles, wie im Traum, unmotiviert. Die Helmspitze des Schutzmanns kommt mir zwecklos vor; die Uniform, ein unheimlicher Fasching, der mich schreckt.

Ich sehe durch das Fenster auf die belebte Straße hinaus. Damen und Herren gehen ruhigen Schrittes, tragen verschiedenartige Kleider, Schleifen und Kokarden, enge und weite Röcke, Halskrausen und Pincenez. So sicher gehen die Menschen heute, präsentieren sich, ohne sich gegenseitig zu fragen: »Gefällt Ihnen dies, was ich trage, und mein Gesicht?«

Zum ersten Male entdecke ich, daß alles schamlos ist, was lebt. Und ich selbst sitze da, in einem Wagen mit anderen, denke mich hinweg, vergesse mein Gesicht. Ich sehe, wie meine Hände in meinem Schoße liegen, bewege sie. Fremd sind meine Hände mir. Wie kam ich zu dem gestreiften Rock? Seltsam … Wo ist mein schottisches Kinderkleid, mein kurzes Kleid? Die Tage stürzen ein. Ich schließe die Augen, und allmählich entfällt mir alles, was ich je gesehen. Was mich schreckte, sinkt zurück. Immer tiefer zurück. Und ich bin ein einsames Tier, glücklich streifend auf unberührten Fluren.

*

Die Zellentür wird geschlossen, und ich bin allein. Ich suche gierig nach einem bunten Gegenstand, einiger Unordnung, die mich anregen könnte. Aber es ist alles peinlich sauber und grau. Ich konstatiere diese Korrektheit leider nur zu schnell. Ich setze mich auf das weiß gescheuerte Brett, das als Stuhl dient.

Die Schlafgelegenheit, eiserne Pritsche, ist unzugänglich hochgeklappt.

Ich versuche durch das kleine Guckloch zu spähen, aber es ist von außen verhängt. Ich starre auf ein kleines schwarzes Loch, auf ein Nichts, starre immer weiter und denke: ich werde dieses schwarze Nichts mit der Zeit zum Leben zwingen. Immer sicherer, klarer wird eine kleine Welt hervortreten, schwarzes Guckloch wird bebändert und bunt, und es wird Panorama werden. Genießen werde ich vor dem Guckloch, ausruhen, mich erholen. Erträume ich mir eine Welt vor dem Guckloch: das geht an. Vielleicht verlasse ich, einigermaßen heil geblieben an Seele und Leib, dieses Haus; aber das Guckloch darf nicht seine Anziehungskraft verlieren. Hypnotisiert mich dieses Guckloch oder hypnotisiere ich? Die toten Dinge haben Augen, die vielleicht barmherziger, treuer sind wie die lebenden.

Ich lege meinen Mund in diese kleine Rundung. Kühl ist die Eiseneinfassung. Das Glas, wie glatt und kalt! Meine Lippen berühren das schwarze Glas, das still bleibt. Und ich spreche, flüstere; denn niemand soll uns hören:

»Bleib mir treu. Du wirst mich nicht enttäuschen. Sei nachgiebig unter meinen Augen. Schmiege dich meinem Willen. Sei barmherzig und laß dich verführen, bis ich dich beherrsche. Immer spiegele das Bild, das meine Seele erträumt. Dein Echo brauche ich. Halle nach, lange: ich liebe dich … Leise … leise … liebe dich …«

Was sprach? Sprach ich? Oh mein Gott, laß mich nicht ›natürlich‹ bleiben; denn dann tobe ich. Bleibe ich ruhig in diesem Käfig, bin ich mir untreu geworden. Das ist das Allerschlimmste. Ich darf mich nicht beschwichtigen. Ich darf mich nicht hinwegtäuschen, über mich selbst hinweg. Darf mir nichts vormachen. Darf nicht bequem werden. Darf nicht etwa sagen: Es geht vorüber. Ich kann mir nicht einreden, daß dieses Gefängnis ein Weihnachtswunsch war. Beginne ich mit der Täuschung, zeige ich Begabung fürs Schwindeln, wird Zuchthaus Paradies. Könnte ich nicht dahin gelangen, bei einiger Begabung Menschen zu töten aus langer Weile? Lustmord als Unterhaltung? Denn unberechenbar nach allen Seiten bin ich, werde ich dann. Ich stehe vor einem schwarzen Guckloch – wie lange schon? Habe ich schon eine Uhr schlagen hören? Etwa fünfmal? Fünf Schläge nacheinander?

Ich gehe meinem Gedächtnis nach. Ich lehne meinen Kopf an die Eisentür. Wenn ich mich nicht irre, schlug die Uhr fünf. Vor einer Weile. Wie klang es mir? Bang – bang – bang – bang – bang. Schnell, schrill und hart. Ich weiß jetzt genau, wie es klang. Die Töne schwingen noch in mir nach.

Ich habe diesen Tag aufgenommen wie ein Objektiv. Ich gebe jeden Ton wieder wie eine korrekte Grammophonplatte. Licht- und schattenempfindlich bin ich, und farbenfreudig. Ich habe ein solides Gedächtnis. Lieber Gott, laß mich dieses nicht verlieren. Nur dieses nicht. Laß mich nichts vertuschen, nichts anders deuten; nur sehen, wie meine Augen sehen, keine falsche Einstellung.

Ich sehe auf dieses schwarze Guckloch. Es ist vollkommen schwarz, herzlos in seiner Vollkommenheit. Es wird mir nicht gelingen, das Tote zu beleben; aus dem Nichts eine Welt zu zaubern. Meine Kraft wird erlahmen. Ich werde nicht fliegen können. Ich werde auf der Erde bleiben; bleiben am Boden.

Werde ich mich über Eisengitter hinwegsetzen können? Mauern stürzen lassen? Türen brechen, wenn ich immer vor mir sehe eine verschlossene Tür? Wo werde ich die Kraft hernehmen?

Und eine Verzagtheit überfällt mich. Der Schweiß bricht mir aus der Stirne. Ich presse mein Gesicht an die Eisentür. Besinnung, verlaß mich nicht! Ich fürchte mich. Ich fürchte, ich verfalle in die natürliche Tobsucht.

Ein Auge sah mich wohl von draußen. Des Wärters Auge. Schwarzes Verräterauge sieht auf mich. Falsch bist du. Ich wende mich ab und beginne eine monotone Wanderung. Sechs Schritte auf, sechs Schritte ab, und immer wieder von neuem.

Dann lese ich die Verhaltungsmaßregeln, die Vorschriften für die Gefangenen:

»Keinem Gefangenen darf der Zuspruch eines Geistlichen seines Glaubensbekenntnisses verweigert werden.«

Davon werde ich Gebrauch machen. Was ›glaube‹ ich? Römisch-katholisch bin ich. Konvertitin. Unruhe ließ mich Religion versuchen, eine andere. Ich versuchte mir zu helfen. Bequem, nicht sich selber beichten zu müssen. Das paßte mir einmal. Ich schob. Nun ja …

Ich lese weiter, suche mehr dergleichen Vergünstigungen:

»Die Prügelstrafe ist in allen deutschen und bayrischen Gefängnissen verboten.«

Also soweit kommt es nicht. Ich freue mich, fünf Minuten etwa. Gehe wieder auf und ab.

Versuche ein Lied zu singen. Das will ich auskostend genießen.

Ich singe mir leise zu:

»Ach, wie die Tage so golden verfliegen,
Wie die Nächte so selig …«

Weiter geht es nicht. Meine Sinne reagieren nicht.

Versuche noch einmal in einer helleren Tonart und frischer:

»Meine Mutter, die hat mich fortgeschickt
Und hat mir einen Taler in die Hand gedrückt
Für so einen jungen Matrosen.«

Ich breche in Tränen aus. Weine, weine.

Warum man mich allein läßt? Wenn man mich nur nicht vergißt. Ich habe ja gar kein Dokument in den Händen, habe keinen Ausweis, wer ich bin. Wenn man meine Papiere nun verwechselt? Wenn man mich zeitlebens hier behält? Warum man mir wohl keine Beschäftigung gibt? Ob man mir erlauben wird, zu arbeiten? Das wäre eine Ablenkung. Ich werde sagen: ich kann alles. Ich verstehe alles, jede Arbeit.

Ich lese die Inschriften an der Wand:

»Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.«

Dann drücke ich auf den elektrischen Knopf, der sich neben der Tür befindet. Draußen schlägt eine Glocke automatisch an. Ich höre Schritte. Das Läuten hört auf.

Die Klappe in der Tür wird aufgeschlossen.

Ich sehe den Kopf des Wärters:

»Was ist denn? Was soll das bedeuten? Was wollen Sie?«

»Könnte ich den Zuspruch eines Geistlichen meines Glaubensbekenntnisses haben? Ich gehöre der römisch-katholischen Kirche an.«

»Sie sind wohl verrückt geworden?«

Ich wehre bescheiden ab:

»Das nicht. Aber haben Sie denn keinen Geistlichen? Da steht's doch.«

Sein entrüstetes Gesicht soll mich nicht beirren. Ich halte mich strikt an das gedruckte Wort.

»Entschuldigen Sie, aber es gibt doch verschiedenes. Zum Beispiel: da steht etwas vom Briefschreiben. Freilich, lieber wäre mir ein Geistlicher. Es ist ja nur wegen der Aussprache. Ich will beichten.«

»Sie glauben wohl, Sie können hier nur bestellen und werden dann bedient? Das ist kein Hotel hier. Sie sind ja gerade angekommen. Wozu brauchen Sie denn einen Geistlichen?«

»Ich habe wirklich etwas zu beichten. Es ist mir erst hier eingefallen. Wäre es mir früher eingefallen, so hätte ich schon früher gebeichtet. Ich muß Ihnen sagen: ich bin nicht unschuldig hier hineingekommen.«

»Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen. Das weiß ich schon.«

»Aber nicht genau. Verzeihen Sie, das können Sie ja auch nicht wissen. Aber ich erlaube mir, Sie aufmerksam zu machen« – ich trete dicht ans Fenster und sehe ihm direkt in die Augen – »ich habe etwas zu beichten. Staunen würden Sie, wenn Sie es hören würden. Glauben Sie mir. Ich brauche keinen Beichtspiegel. Mir fällt alles so ein. Ich brauche meine Sünden nicht zu suchen; denn meine Sünde fällt zu sehr auf, weil nur Sünde da ist. Ich habe Schuld. Nur ich habe Schuld. An unendlich vielem. Vielleicht an allem. Mein Beichtvater sagte mir, die Unterlassungssünden seien am schwersten zu verzeihen. Ich glaube, es gibt nur Unterlassungssünden.«

Ich habe meinen Wärter einen Augenblick gefesselt. Er schlug nicht die Klappe vor meinem Gesicht ins Schloß. Aber sein Gesicht wurde ein wenig verlegen und er sagte:

»Ich habe hier keine Zeit zum Fensterln. Die Glocke ist nur bei Lebensgefahr zu benutzen.«

*

Ich habe fortwährend Brechreiz. Fühle mich so schwach, daß ich mich nicht auf den Beinen halten kann. Ich muß mich auf den Boden legen. Habe Leibschmerzen, hauche immer auf meine Hände, lege sie dann auf den Leib, damit die Wärme in mich dringt. Jeden Augenblick muß ich aufspringen, weil mir übel wird. Der Toiletteneimer steht an der Tür. Er ist desinfiziert mit einer teerartigen Flüssigkeit, die mir noch heftigere Uebelkeit verursacht. Wenn ich mich erhebe, wird mir schwindelig.

Nach kurzer Zeit bin ich so schwach, daß ich nicht mehr aufstehen kann. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Muß es also aufgeben, und kann mich nicht mehr um mich kümmern. Dennoch ziehen meine Hände mir die Russenbluse über den Kopf weg, um ein Kopfkissen daraus zu machen. Aber die Russenbluse ist zu dünn, man könnte sie in eine Hand pressen.

Liege halb an der Wand, um einen Stützpunkt zu haben. Ich finde, mein Körper hält nicht mehr recht zusammen. Meine Glieder sind eine aussichtslose Angelegenheit geworden. Wenn jetzt ein Arzt käme, würde ich ihm raten: »Geben Sie mich auf!« würde ich mich entschuldigen, daß etwas so Hoffnungsloses vor ihm liegt; würde sagen: »Warten Sie nur einen Augenblick und ich werde sterben.« Ich glaube, ich habe dazu nicht einmal die Kraft. Erfordert das Sterben nicht auch einen gewissen Schwung? Ich liege direkt unterm Fenster. Ich rechne mit der einströmenden Luft. Womit sollte ich sonst noch rechnen? Es ist sehr heiß. Die Luft hat Fieber, scheint mir. Erhöhte Temperatur hat die Luft, oder die Zeit. Geht mich ja auch nichts an, was es ist. Ob Luft oder Zeit, was kümmert mich die Welt?

Es riecht nach Sommer, Bodenkammer, alten Aepfeln, überwinterten Kartoffeln und Teer. Und diese Eisentür immer sehen müssen … Es ist schrecklich heiß. So heiß war es noch nie. Und dieser Teergeruch! Wann roch es doch nach Teer? Als Kind lesend auf der Bodenkammer. Die Dachluke war geöffnet, das Schieferdach geteert. Die Liebesbriefe meiner Mutter waren sehr schön, so vergilbte Briefe … Lawendel, Myrth' und Thymian … Sind wir schon Ende Juli? Aber das ist ja ganz … Oh, ist mir übel! Mein Taschentuch, ganz verklebt – wenn es nur nicht so dünn wäre. Und das Hemd kann ich doch nicht zerreißen. Ist ja nur ein Fragment. Fragment von Hemd … Schillers ›Geisterseher‹, ein Fragment. Reden wir nicht mehr davon.

Mir wird bunt vor den Augen. Noch regenbogenfarbener. Die Zelle zerfällt in Würfel. Wenn die nur nicht auseinanderfallen. Nachher hab' ich wieder die Schuld. Wenn die Zelle auseinanderfällt, hält die Decke auch nicht lange; denn alles hängt zusammen, alles hat seinen Grund, oder alles ist Luft. Ich kann kaum Luft kriegen. Es ist ganz wenig Luft für mich da. Von der Türecke wälzt sich eine Teerduftwelle her zu mir, hüllt mich ein. Das ist Teufelsweihrauch, und ich darf mich nicht benebeln lassen. Nur nicht hereinfallen auf den Schwindel. Telegraphenstangen dröhnen in meinen Ohren, aber sie stören mich nicht. Ich werde mich nicht darum kümmern. Aber ach, die Schmerzen! Ist das Magengegend? Ist das die Seele? Ist alles dasselbe. Geht in einem hin. Oh, ich muß aufspringen. Kämpfen muß ich mit meiner Krankheit. Stehend Tod oder Leben erwarten. Aufrecht, ich strecke mich, ich will die Decke heben, ich will den Himmel sehen. Meine Beine sind steinerne Säulen und schwer. Ich kann nichts halten. Mein Mund quält sich automatisch, krampft sich. Nur in Lebensgefahr klingeln … Ich will ja auch nur die Sonne; die Sonne will ich … und falle, weiß nichts mehr.

*

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden gelegen habe. Am andern Morgen kommt die Aufseherin. Sie fragt mich, was mir fehlt.

Ich sage:

»Bin wohl krank.«

»Dann müssen Sie sich beim Arzt melden.«

»Ja.« Aber ehe ich weiteres fragen kann, ist sie schon wieder verschwunden. Vielleicht hat sie den Arzt bereits für mich bestellt.

Ich habe Waschwasser bekommen, aber ich habe kein Handtuch. Man hat es vielleicht vergessen.

Die Aufseherin kommt zurück in Begleitung einer Gefangenen. Die trägt ein Holzgestell, auf dem eine Anzahl dampfender Kochtöpfe steht. Darin ist braune Mehlsuppe. Man stellt meine Suppe auf mein Holzbrett. Ich bin nicht verwöhnt, aber diese Brennsuppe kann ich nicht riechen. Ich halte mir mit der rechten Hand die Nase zu, mit der linken gieße ich mir ein wenig Suppe in den Mund. Ich will hier nicht zugrunde gehen. Seit gestern früh habe ich nichts gegessen.

Die Aufseherin kommt zurück. Der Kochtopf wird abgeholt. Meine Pritsche wird hochgeklappt. Da ich kaum gehen kann, holt mir die Gefangene einen Steinkrug mit frischem Wasser, den ich mir sonst selbst holen müßte.

Eilige Schritte auf dem Korridor. Ach, die können ihre Beine gebrauchen, während mein Körper wie in der Mitte gebrochen ist. Ein Tag und eine Nacht haben mich so elend machen können. Gestern früh war ich doch noch ganz gesund. Immer fällt mein Kopf, entweder nach rechts oder nach links. Er baumelt, wackelt wie der Kopf einer Lumpenpuppe.

»Na, Sie sehen schön grün aus im Gesicht!« sagt die Aufseherin.

»Kann nicht anders. Bin so frei.«

Ich kann nur noch hauchend sprechen. Dabei empfinde ich den wilden Wunsch, mich aufzuraffen, wieder gesund zu werden, ebenso schnell, wie ich krank geworden bin.

Ich habe die Suppe nicht gegessen. Ob es nicht verboten ist, die Suppe stehen zu lassen?

Ich sage der Aufseherin, die zum Türschließen kommt:

»Ich kann leider keine Suppe essen. Ich habe mir den Magen verdorben.«

»Ist gut so,« brummt sie, »ist schon recht.« Sie wirft die Tür ins Schloß. Ist es ihr gleichgültig, ob ich die Suppe gegessen habe oder nicht? Schon bedaure ich, daß ich »leider« gesagt habe. Habe die Suppe wohl nicht genügend respektiert; sie wird wohl weggeworfen werden. Nun wird man mir wohl kein Essen mehr bringen. Irgendwie freue ich mich darüber; denn niemand wird meine Anfälle sehen, und ich kann ohne Aufsicht, ohne Kontrolle, in aller Ruhe ohnmächtig werden. Zusammenbruch ohne Zeugen ist eine Vergünstigung. Vielleicht ist man so gütig, mich allein zu lassen. Wie taktvoll von der Aufseherin, nicht zu bemerken, wie schmutzig und besudelt ich bin. Man will mich nicht in Verlegenheit bringen.

›Sie sehen schön grün aus!‹ hat sie gesagt. Das war doch Bewunderung. ›Schön grün‹! Soll ich mich nicht geschmeichelt fühlen? Aber ich fühle mich gar nicht geschmeichelt, und war doch einst empfänglich für Komplimente, selbst wenn ich wußte, der Bewunderer täuscht sich immer. Nicht immer war es Eitelkeit, wenn ich den Bewunderer im falschen Glauben ließ. Korrigieren ist anstrengend. Man muß so weit herholen. Bequemlichkeit war meine größte Sünde.

Ich lege mich wieder auf den Boden unter das Fenster. Es mag neun Uhr früh sein. Gewöhnlich schlafe ich noch um neun Uhr früh. Aber mitunter stehe ich um sieben Uhr früh auf. Dann gehe ich in die Messe und vor dem Bilde der heiligen Familie träume ich von Häuslichkeit, wenn ich den heiligen Josef in seiner Eigenschaft als Zimmermann ansehe, das Jesuskind spielend an der Hobelbank und die verträumte Mutter Gottes am Spinnrocken. Brautleute knien vor diesem Bilde. Heiliger Josef, Schutzpatron der Verlobten. Ich bin traurig, weil ich das Gegenteil einer Braut bin. Dennoch kniete ich in der Ludwigskirche vor dem Bilde der heiligen Familie.

Einmal gab es keinen Platz mehr auf dem langen Betschemel. Es war an einem Samstag in der Abendstunde. In den Beichtstühlen wurde geflüstert. Ich sah nicht in die Gesichter der Entsündigten, die überbleicht und schlaff zum nächsten Betstuhl wanken, um in geknickter Haltung – seitlich geneigter demütiger Kopf – zu büßen. Ich kniete abseits, versenkte mich in der heiligen Familie sonnenbestrahlte Diele, in den verschwiegenen Frieden der Häuslichkeit. Und dann konnte ich wohl vieles vergessen, was abends war, wenn ich sang, wenn ich spät nachts nach Hause kam. Und ich habe geweint, am Morgen, wenn meine Kleider nach Zigaretten rochen. Geweint, weil ich nie am Spinnrocken sitzen durfte. Wenn meine Hauswirtin mir sagte: »Hier sieht's ja aus wie bei den Zigeunern!« dann sagte ich wohl zu ihr: »Kann ich denn nicht Heiligenbild sein in der Ludwigskirche?« Darauf antwortete sie: »Meinetwegen. Aber Sie haben doch einen Kontrakt im Cabaret.«

Gewiß hatte sie recht, sie dachte wohl richtig; und doch war ich traurig. Immer wieder kam ich zu ihr. Ihr konnte ich alles sagen. Sie erlaubte es mir. Nur gab sie mir nicht immer die Antwort, die ich erwartete …

Die Uhr schlägt zehnmal.

Mir fällt ein: Um diese Zeit trinkt meine Mutter ihren Tee. Sehr schwachen Tee; denn meine Mutter ist sparsam. Nur wenn ich zu Hause bin, ist sie nicht sparsam. Dann bekomme ich eingemachten Kürbis. Kürbis wächst bei uns im Garten. Ich glaube, er wächst wild.

Wenn ich zu Hause bin, pflege ich um acht Uhr zu Bett zu gehen, viel früher wie meine Mutter. Das gefällt mir sehr gut. Und es gefällt mir, daß sie mir ihr graues Umschlagtuch über die Schultern legt. Das ist für mich das Allerschönste. Aber ich war nie lange zu Hause, ich hatte es stets eilig. Warum wohl? Ach, ich weiß nicht genau. Ich weiß nicht ›warum‹, ich weiß nur ›wie‹.

Wenn meine Mutter wüßte, wo ich bin! Ich darf es ihr nicht sagen. Ob sie alles verstehen würde? Ich bin unruhig um meine Mutter. Meine Sorge streift sie. Ob sie wohl auch unruhig ist? Rhythmisch hallen die Schritte der Gefangenen an mein Ohr.

Die Gefangenen marschieren auf dem Hofe. Das klappt so gleichmäßig, monoton, als marschierten Soldaten in Mittagsglut, unverdrossen, aber so grenzenlos gleichgültig. Ein Dauermarsch in langsamem Tempo. Der Chopinsche Trauermarsch klagt leise in mir. Das wirkt so hoffnungslos und einschläfernd.

In der Spätnachmittagsstunde kann ich mich nur dunkel erinnern, daß die Aufseherin den Kopf zur Klappe hereinstreckte. Man hat mir wohl das Essen bringen wollen. Hätte ich nicht wenigstens versuchen müssen aufzustehen? Aber daran ist nichts mehr zu ändern.

Die Abendsonne scheint schräge durchs hohe Fenster, wirft vier Striche an die gelblich getünchte Wand. Meine Sorge umschwebt ängstlich und scheu meine Mutter. Hätte ich ihr doch geschrieben vor meiner Verhaftung, etwas sehr Glückliches, etwa: »Ich kann nie ganz unglücklich werden, liebe Mutter, denn bei dir war es sehr schön. Alles andere ist nicht so schlimm. Alles andere …« Hätte ich ihr das nur geschrieben! Sechs Briefe hätte ich ihr im voraus schreiben sollen, die glücklichen Briefe frankieren, und meine Hauswirtin hätte jeden Freitag einen in den Briefkasten werfen können. Dann wäre jeden Sonntag ein Brief angekommen und ich könnte ruhig sein. Ich nehme mir vor: wenn ich wieder frei bin, werde ich vorsichtiger sein. Sechzig Vorratsbriefe werde ich schreiben. Das reicht bis über ein Jahr. Ach, ich werde sehr vorsichtig sein.

Ich wende mein Gesicht zur Wand. Entfliehen möchte ich meinen Gedanken. Mein Blick fällt auf die Inschriften, mit denen die Wände übersät sind. Menschen haben sich die Mühe gemacht, so tief am Boden noch zu schreiben. Ich bewundere die Lebenskraft, die sich hier äußert:

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh'n?
Dahin will ich mit dir nach der Entlassung zieh'n.«

Und darunter steht von unbeholfener Hand geschrieben:

»Trennung, oh, wie schwer bist du!«

Diesen Seufzer gräbt man in einen Leichenstein.

Ach mein armer Leib! Nichts Heftiges ist mehr in mir. Ich lehne mich nicht auf, und bin doch kaum zwei Tage in diesem Hause. Schon ist meine Kraft vergewaltigt. Wenn das der Zweck des Gefängnisses sein soll, so bin ich mit Erfolg hier gewesen.

Die Aufseherin kommt. Ich raffe mich auf und empfange sie stehend. Ich will nicht, daß sie mich wie ein gebändigtes Tier am Boden liegen sieht. Ich versuche angestrengt, mich gerade zu halten.

Die Aufseherin fragt:

»Wie haben wir's denn jetzt mit Ihnen?«

Ist sie nur gekommen, um meine Niederlage aus meinem eigenen Munde zu hören? Soll ich mich für besiegt erklären? Bitterkeit flammt in mir auf und erlischt. Ich kann nicht länger auf den Beinen stehen. Widerstreben entfällt mir. Ich kenne keine künstliche Empörung. Ich fühle nur eines, hoffe zitternd: die Aufseherin ist ein Mensch.

»Wenn ich nur liegen könnte, wäre mir bald besser. Wenn ich nur auf der Pritsche liegen dürfte.«

Ich wage nicht, sie direkt zu bitten; denn ich weiß nicht, ob sie berechtigt ist, die Pritsche am Tage herabzulassen. Wo mag derjenige wohnen, der das Recht hat, die Pritsche in Nummer 8 herabzulassen?

Meine Erlösung war nahe und ich ahnte sie nicht.

Ein Wort hebt alle Qual auf. Die Aufseherin sagt:

»Das kann geschehen.«

Ihr großer Schlüsselbund, der von der Schürze an einer Stahlkette herabhängt, klirrt. O Engel der Barmherzigkeit …

Den kleinsten, runden Schlüssel steckt sie ins Schloß und schwer fällt die Pritsche von der Wand, wie durch ein Wunder.

»So, jetzt können Sie sich legen.«

Kaum zu sprechen vermag ich:

»Ich danke Ihnen, und vielmals. Sie sind so gut!« und sie geht.

*

Am andern Morgen werde ich in die Krankenzelle geführt. Hier ist es wunderschön. Fenster mit dicken Mattscheiben, durch die die Eisenstäbe nur schwach hindurchschimmern. Die Mattscheiben wirken wie vereister Winter. Fünf Pritschen stehen in einer Reihe, und auf der anderen Seite steht eine Pritsche allein.

Wie glücklich bin ich, daß ich hier sein darf!

Ich wurde aus der Zelle geführt, durfte mit der Aufseherin über einen Korridor gehen, mindestens zwölf Schritte gehen. Eine Frau putzte die Korridorfenster. Ein junger Mann in grauem Gefangenenanzug hatte sich Bürsten unter die Füße gebunden und bohnerte den Korridor. Er bewegte sich elegant wie auf der Eisbahn.

In der Krankenzelle kommt mir sogleich ein junges Mädchen entgegen. Die hat schwarze Haare, Gretchenfrisur und braune Tieraugen, die mich teilnehmend mustern.

Das Mädchen führt mich, den Arm um meine Hüften geschlungen, zu meinem Bett. Hält sie mich für gebrechlicher als sich selbst. Ich sehe sie an. Sie geht gebeugt und schwach. Sie keucht und sieht blaß aus wie ein Leinentuch. Das ergreift mich so sehr, daß ich mich sofort kräftiger fühle.

Ich danke dem Mädchen, und sie lächelt freundlich und schmerzhaft.

Ich lege mich auf das Eisenbett, ohne die weiß und blau gewürfelte Kattundecke zurückzuschlagen. Ich bin still und zufrieden, weil ich nicht mehr allein bin.

Das Mädchen stellt einen Wasserkrug auf ein Tischchen, das neben meinem Bett steht. Ich sage jetzt »Bett«, vielleicht sage ich morgen schon »Himmelbett«. Wer weiß, wie weit ich es noch bringen werde.

Ich fühle mich schwach vom Gehen, fühle mich für einen Augenblick in einem Hotelbett und habe Angst vor dem Rückfall in die Gefängnispritsche. Ich will das Wort Pritsche nicht mehr gebrauchen.

Der kleine Tisch neben mir hat eine Mattscheibe. Ein flockiges Wolkenmuster, schneehell und zeitlos. In diesem Himmel läßt sich's träumen.

Das Mädchen schlurft in Filzpantoffeln. Legt sich auf das Bett an der mir gegenüberliegenden Wand. Vorsichtig legt sie sich auf den Leib, wendet mir das Gesicht zu. Jetzt muß ich ihr wohl etwas sagen.

»Ich danke Ihnen vielmals.«

»Oh bitte, bitte … Anna heiß' ich.«

»Ja? Ich heiße Emmy.«

»Ach so! Weswegen sind Sie denn da?«

Ja, das ist es ja gerade … Und die erste Qual kommt wieder. Warum rührt sie daran? Und ich bekomme sofort wieder drückende Herzschmerzen.

Warum ich da bin? Damit bin ich noch längst nicht fertig. Damit habe ich noch nicht begonnen. Aber antworten muß ich. Warum ich hier bin? Ist das nicht meine persönliche Angelegenheit, die ich noch nicht begriffen habe? Und ich weiche aus:

»Wegen Fluchtverdacht.«

Und fühle wieder: das kann nicht stimmen. Fühle, wie ich die Farbe wechsle. Bin verlegen, sehr verlegen, möchte eine Entschuldigung sagen. Aber ich kann mich nicht entschuldigen. Ich weiß, ich bin nicht zu entschuldigen. Ich denke über Vergangenes nach.

Anna stützt mit dem Ellenbogen ihren Kopf und sieht mich forschend an. Dann sagt sie:

»Wegen Fluchtverdacht? Das ist doch kein Delikt! Weshalb sind Sie geflohen? Da muß doch vorher …«

Ich falle ihr ins Wort.

»Doch, doch. Flucht ist gesetzwidrig. Ich wollte fliehen. Ganz einfach fliehen. Sonst nichts. Für mich hatte ich keinen Grund zu fliehen. Ich habe wohl Angst bekommen, sonst wäre ich wohl nicht geflohen. Hätte wohl nicht versucht, zu fliehen. Es ist mir ja nicht geglückt … Mir selbst ist es gar nicht klar geworden, daß ich fliehen wollte. Aber schließlich … Wenn immer wieder Leute daherkommen und Ihnen sagen: ›Sie sind fluchtverdächtig‹, dann muß man es doch wohl glauben. Etwas muß daran sein. Ja, ich bin heruntergekommen, bin mürbe. Komme mir ganz verschlampt vor. Wissen Sie: ich habe Angst, daß ich in Zukunft den andern Leuten überlassen werde, meine Empfindungen und meine Handlungen auszulegen. Traumdeuter müßten die Herren vom Gericht sein. Die gesetzwidrigen Träume sind strafbar.«

Anna sieht mich verdutzt an.

»Verraten Sie mich nicht! Ich habe Angst, gesetzwidrig zu sein von oben bis unten, von innen und außen. Sie können mich auch verraten. Man wird mich doch ertappen. Ich kann nicht fliehen, Anna. Kann nicht mein Leben lang Komödie spielen. Flucht haben mir die Gerichtsherren nur eingeredet. Ich selbst hatte keine Ursache, zu fliehen. Es fällt mir auf, daß man nicht allein auf der Welt ist. Das ist sehr auffallend. Warum ist man unzufrieden mit mir? Ich habe niemanden beleidigen wollen. Jetzt soll ich nachgiebig sein, soll mich einsperren lassen, gegen mein Gewissen. Das wäre doch ein Schwindel. Sie müssen nämlich wissen, ich bin unverbesserlich; von Rückfall kann bei mir nicht die Rede sein. Waschecht will ich bleiben. Färbung bekommt mir schlecht. Anna, ich glaube, ich habe Fieber. Gibt es kein Thermometer hier? Ich habe jeden Maßstab verloren. Ueber meine Natürlichkeit habe ich früher nie nachgedacht. Hier aber komme ich mir ganz verdreht vor. Wenn das nur nicht schlimmer wird.«

»Sie sind viel zu aufgeregt. Sie müssen sich's ein bißchen zurechtlegen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.«

Darüber schüttle ich den Kopf. Ich wende mich ab und starre die fünf zugedeckten Betten an. Wieviele Menschen mögen in diesen Betten schon gelegen haben? Ich sinne nach, ob wir zwei wohl die einzigen Kranken in diesem Hause sind.

»Ich bin da wegen fünfzig Pfennig Schokolade,« höre ich Anna sprechen.

Ich sehe sie an:

»So? Wegen fünfzig Pfennig Schokolade? Ach, das Objekt spielt keine Rolle. Die Schokolade läßt sich wohl nicht vermeiden?«

»Meine beste Freundin hat die Schokolade gestohlen. Verschiedene Pfund. Wegen Hehlerei bin ich angezeigt. Ich bin unschuldig. Wirklich unschuldig. Bin in eine Sache hineingezogen worden.« Mit erhobener Stimme fährt sie fort: »Was geht das mi an, wenn eine andere Schokolade nimmt! Das geht do mi nix an.« Sie ereifert sich und spricht im Verlauf ihrer Rede immer stärker süddeutschen Dialekt: »I bitt di, zeigst du's an, wenn a anderer Schokolad nimmt? Des kennen s' von mir nit verlanga. Und darum stecken s' mi ein. Die möchten ein' Kriminaler aus mir machen. So kimmt's mir grad vor.«

Mir ist alles so neu, daß ich nur »Ach!« sagen kann.

»Die Hafner wird glei kimma. Die hat a Unterredung mit ihr'm Anwalt. Vor der muß man sich in acht nehmen. Gut – ja. Aber sie ist scheinheilig worden. Die weiß schon, warum sie da herinn' ist. Die hat dir a so lange Latten.«

Anna zeigt mit den Händen einen halben Meter, und ich merke, daß sie die Anklageschrift meint.

»Uh je, das sind dir Schmerzen,« stöhnt sie plötzlich und sucht gequält ihren Körper in eine andere Lage zu bringen.

»Seit sechs Wochen schlaf i schon am Bauch. I mein, i lieg am Bauch; denn schlafen kann ma des net nennen.«

»Was fehlt Ihnen denn, Anna?«

»Je, sag doch ›du‹ zu mir!« Sie verkrampft schmerzhaft das Gesicht. »I hab' a G'schwür. Der Doktor gibt mir alleweil essigsaure Tonerde. Des gibt er a für d' Schwindsucht. Des is mir a schöne Apotheken, in der es nur essigsaure Tonerde gibt.« Sie erhebt sich mühsam. »Des kriegst du a no, essigsaure Tonerde, weil die gar nix anders haben. Und warum? Weil's das Billigste is.«

Sie seufzt tief, und ihre Stimme nimmt einen müden, gelangweilten Ton an:

»Ja, des is mir a teure Unterbrechung da herinn'. Kommt mir mindestens auf hundert Mark. Wann i heraußen bin, kann i mi wieder zusammenflicken lassen. Dann kann i zum Doktor gehen, anstatt ins Geschäft. Aus ist's mit dem Nähen, wenn man nit amal sitzen kann. I bin nämli' Näherin, und da muß ma wenigstens sitzen können. Siehgst, des zahlt sich net aus mit dera Schokolad, und 's war nit amal was Gut's.«

Die letzten Worte klingen gekränkt und enttäuscht.

Die Tür wird aufgeschlossen, und eine Frau kommt zu uns in die Zelle. Anna empfängt sie gleich:

»Na, Hafnerin, was is?«

Ich sehe eine Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie ist noch viel zu erregt, um sofort berichten zu können. Kopfschüttelnd geht sie in der Zelle auf und ab. Gebraucht immer kurze Ausrufe: »Hm hm!« und »Nein, sowas!«

Ich habe Gelegenheit, sie von allen Seiten zu betrachten. Mir fällt auf, daß die Hafner nur ›von vorne‹ eitel ist.

Ihr dünnes grau gesprenkeltes Haar ist sorgfältig gescheitelt und leicht gelockert. Einige graue Ponyfransen unterstreichen ihr altes Gesicht. Das Haar ist hinten zu einem winzigen Zwirbel gedreht. Sie trägt um den Hals eine kokett gebundene schwarze Taftschleife, die fast die Hälfte der grauen Wollbluse deckt. Wie die Hafner sich umdreht, bemerke ich, daß ihr der Rock klafft. Ich sehe die weiß und blau gestreiften Beinkleider. Die Strippen lugen aus ihren Zugstiefeln. Vorne sind die Stiefel blank geputzt, hinten rostbraun.

Endlich holt sie sich einen Holzstuhl heran, keucht, als habe sie einen weiten Gang gemacht, und setzt sich breitspurig, indem sie betulich ihr Kleid arrangiert. Sie faltet beide Hände, die fett, aber sehr gepflegt aussehen, über den Leib.

»Anna, du kannst dir nicht denken, was ich erlebt hab'!« Die Hafner schlägt beide Hände über dem Kopf zusammen und läßt sie erschöpft in den Schoß fallen.

»So lang warst doch gar net furt, alte Urschel!«

Mir fällt ein: ich werde jetzt jedes Gespräch mitanhören müssen, mag es mir gefallen oder nicht.

Anna deutet auf mich:

»Ueberhaupt: siehgst net, wer kummen is?«

»Ach so, ja!« Das Gesicht der Hafner verzieht sich zu einem breiten, übertrieben höflichen Grinsen. »Ja so, Gott! Verzeihen Sie! Man hat so seine Beschäftigung. Das ist recht! Sind Sie auch da? Das ist aber nett! Grüß Sie Gott!«

Ich habe mich aufgerichtet und versuche, ihr übers Bett hinweg die Hand zu reichen.

Die Hafner unterbricht mich:

»Bleiben Sie nur in Ihrer Behaglichkeit! Bemühen Sie sich doch nicht!«

Sie erhebt sich, reicht mir die Hand und setzt sich auf meine Bettkante.

Ich nenne ihr meinen Namen. Sie ist entzückt, stellt sich gleichfalls vor.

»Hafner, ja, Fräulein Hafner ist mein Name.« Sie rückt ein wenig näher zu mir: »Mit Erlaubnis.«

»Bitte sehr.«

»Gott, sehen Sie aber schlecht aus, Frau Emma! Na, hier bei uns werden Sie sich schon wieder erholen. Gelt, Anna?«

»Na, i dank schön für dera Erholung!«

Diese Bemerkung scheint die Hafner nicht vertragen zu können. Und sie gleitet darüber hinweg mit einem eigentümlich indignierten Gesicht.

»Ich sage Ihnen, liebe Frau Emma, es kommen stürmische Zeiten. Ich habe mich heute lange mit meinem Anwalt besprochen. Stürmisch geht es zu draußen in der Welt. Direkt stürmisch.«

Sie verschränkt die Arme, schüttelt fröstelnd den Oberkörper, als säße sie am behaglichen Kaminfeuer.

»Mein Anwalt,« fährt sie fort, »befürchtet den Krieg. ›Gnädige Frau‹, hat er gesagt, ›lang geht's nimmer. Der Krieg kommt mit tödlicher Sicherheit.‹ Jesses, jesses!«

Anna kneift die Augen zusammen und fragt:

»Womit kommt der Krieg? Was hat der Anwalt g'sagt: ›Gnädige Frau‹?«

Der Hafner merkt man den Aerger an. Aber sie bleibt dabei:

»Natürlich ›Gnädige Frau‹! Du bist ein junges Ding. Du weißt eben nicht, was sich in der Gesellschaft schickt. Sie sind wohl noch wenig herumgekommen, Fräulein.«

Dabei macht sie kurzsichtige Augen und einen spitzen Mund.

Anna wird grob:

»Naa, nit so weit herum wie Sie! Freili', in der Frohnvesten zu Augsburg war'n ma no net. Und in Amberg zur Brennsuppenkur a net. So weit wie Sie san ma no net passiert. Aber derweil' hoaßt's bei Ihnen ›Gnädige Frau‹ und bei mir Anna Zumsteg, schlichtweg. Aber des macht uns nix aus. Mir bleib'm, wer mir san. Trotzdem woaß i Bescheid. Der Anwalt sagt doch bloß ›Gnädige Frau‹, weil er 200 Mark'l Vorschuß von dir kriagt hat. So, jetzt woaßt's.«

Die Hafner schlägt einen Ton an, als belehre sie ihre ungebildete Tochter:

»Der Herr Anwalt ist eben ein gebildeter Mann, der Mitleid mit meiner höchst bedauernswerten Lage hat.«

»Auf der Pritschen, ja,« höhnt Anna.

Sie setzt sich auf ihre Bettkante, zieht das weiße Strickzeug aus dem Nachtschrank und beginnt heftig mit den Nadeln klappernd zu stricken.

Eine kleine Pause tritt ein. Wie das Leben in dieser Zelle wohl weitergehen wird? Und wie ich mich wohl an die beiden Menschen gewöhnen werde, deren Sprache mir fremd ist, und mit denen ich mich doch gerne verständigen möchte?

Anna beginnt von neuem:

»Na, mir kann's ja gleich sein, wie er di nennt. Was hat er denn g'sagt zu dei'm Prozeß?«

»Ja, das will ich grad' erzählen. Also er hat g'sagt, ich soll mein ganzes Verhältnis zum Grafen wahrheitsgetreu schildern, von A bis Z. Genau so, wie alles gewesen ist.«

»Allmächtiger! Der verlangt aber was!«

Die Hafner wird nervös.

Anna liebt es, jedes Wort der Hafner zu glossieren; dennoch ist sie neugierig, etwas zu erfahren.

Die Hafner wendet sich jetzt nur noch an mich.

»Finden Sie nicht auch, daß es viel besser ist, wenn ich meine Angelegenheit von Anfang an schildere? Die ganze Sache, wie sie war?«

»Das finde ich allerdings,« sage ich. »Das müssen Sie sogar. Wenn Sie sich schon verteidigen lassen, müssen Sie auch alles erzählen, was zur Sache gehört. Ueberlegen Sie sich.«

Sie verfällt in Nachdenken. Die Nervosität, die sich deutlich auf ihrem Gesicht zeigte, verliert sich.

»Ach, alles gehört dazu,« sagt sie langsam. »Eigentlich mein ganzes Leben. Wissen Sie, ich bin nämlich seit meinem zwanzigsten Jahre Haushälterin gewesen. Bei einem Grafen. Beim Grafen H., wenn Sie den vielleicht kennen sollten. Wahrscheinlich kennen Sie ihn doch.«

»Ich kenne keinen Grafen,« gestehe ich.

»Nicht? Na, ich dachte … Er ist sonst sehr bekannt, der Graf H … Eigentlich war ich nicht Haushälterin, nein, Wirtschafterin war ich nicht. Das ist erst so nach und nach gekommen. Mit den Jahren, wie das so kommt … Er war eben länger Lebemann als ich.«

»Du brauchst nicht zu lachen, Anna. Du kennst eben so etwas nicht. Du weißt ja nicht einmal, was ein Kavalier ist. Schau nicht so dumm! Lebemann ist mehr wie Kavalier. Und der Graf war Lebemann durch und durch, sag' ich Ihnen, Frau Emma.«

Die Hafner richtet sich in die Höhe und gibt ihrem Kopf einen Ruck, daß der Haarzwirbel wackelt.

»Mit siebzehn Jahren hab' ich ihn kennen gelernt. Er war bis über beide Ohren in mich verliebt. Gott, verliebt, sag' ich Ihnen!«

Sie lächelt bescheiden-stolz, und da niemand sie unterbricht, schwelgt sie weiter:

»Ach, ich stellte aber auch was vor. Ich hielt was auf mich! Aber ich war halt ein flüchtiges Ding. Hätte einen Fabrikbesitzer heiraten können. Der hat mich gern gehabt. Oh, eine wunderschöne Wohnung hatte er mir eingerichtet! Bei seinem ersten Besuch – Herrgott! Wer denkt auch, daß er morgens um neun Uhr angestiefelt kommt! – wen trifft er?« Die Hafner seufzt ergeben. »Den Grafen! Was kann man da machen! Es war mir schrecklich unangenehm. Aber ich hätt's noch wieder in Ordnung gebracht, wenn der Graf nicht gewesen wäre. Ja, das ist sicher, mein Fabrikant hätte mir den Fehltritt verziehen; denn er war ein angelegter Mensch. Wissen Sie: gutmütig, nobel und fein … Ja, daß ich so flüchtig war, mich mit dem Grafen abzugeben! Ja, man sieht's halt immer zu spät ein. ›Fräulein Hafner‹, hat der Graf oft gesagt, ›es wäre schade um Sie, wenn Sie Ihre goldene Freiheit aufgeben würden.‹ Ach ja, ›goldene Freiheit‹ hat er gesagt. Ja, ›goldene Freiheit‹!«

»Ja, ›goldene Freiheit!‹ Damit er mit jeder umanand schmieren kann! Damit d' keine Anspruch' an ihn stellen kannst! ›Goldene Freiheit!‹ Jetzt hast's auf deine alten Tag', die goldene Freiheit! Des kenna mir.«

Die Hafner knickt zusammen. Sie seufzt:

»Ja, das ist schon wahr. Ich bin schön reingefallen mit meinem Leben. Ist halt alles zweierlei. Ist schließlich doch das ganze Leben. In meiner Jugend bin ich einmal hier am Gefängnis vorübergegangen. Da dachte ich bei mir selbst: das muß ein trauriges Leben sein in dem Hause, und das kann mir nicht passieren. Aber da sieht man, wie man sich verrechnen kann. Und das verdank' ich alles dem Grafen, aber – mein Gott! Er war halt so.«

»Du bist a schönes Rindviech! Nimmst die Aristokraten in Schutz! I würd' mi dafür bedanken, zweiunddreißig Jahr die Hur' von ein'm Grafen zu machen, umasunst, für nix und wieder nix. Des is a Schlamperei von dir! I sag dir's frei heraus. So!«

»Des is a Gemeinheit von dir!« schreit die Hafner erregt und doch hilflos.

Ich weiß nicht, ob dergleichen Gespräche hier üblich sind und ob ich die beiden beschwichtigen soll. Vielleicht nimmt man mir das übel. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, und wünsche mich in meine Einzelzelle zurück.

Die Hafner weint und schluchzt wie ein Kind. Das kann ich nicht mit ansehen und ich frage sie, ob es nicht möglich ist, daß sie sich ein wenig beruhigt. Sage ihr, daß sie die zweiunddreißig Jahre doch jetzt hinter sich habe, und daß sie sich damit auseinandersetzen müsse.

Anna steht in der Mitte der Zelle und schielt maulend zur Hafner hinüber.

»I mein' es doch nur gut. Du kannst die Wahrheit nit vertragen.«

Die Hafner hört gar nicht mehr hin. Sie ist getroffen und weint. Man kann wohl nicht heftiger weinen.

Anna entschließt sich, sich gleichfalls auf die Bettkante zu setzen. Sie legt den Arm um die Hafner, streicht ihr die grauen Ponyhärchen aus der Stirn und spricht ihr gut zu:

»Schau, Hafnerin, schau mal, du mußt den Kerl nit in Schutz nehmen.«

»Er ist doch tot,« wimmert die Hafner.

»Na also!« ruft die Anna zufrieden. »Dann ist er doch versorgt. Aber du bist nicht versorgt. Du mußt an di selbst denken. Du mußt dir alles für deine Verteidigung aufschreiben. Mußt an gar nichts anderes denken. Du mußt di hinstellen, so gut du kannst. Des is do gar nit schwer. Du mußt schreiben, daß er dir die 30,000 Markeln auf Diariumpapier vermacht hat. Er hat ja das Datum nit beig'fügt, und koaner kennt si mit dem Papierl aus, weil halt nit amal sein ganzer Nam' dasteht. Die Jahreszahl is a net ang'führt. Und woaßt, der Ort g'hört a unter so an Schriftstück, und wo ma's Geld holt. Des vor allen Dingen. Gelt, Emmy, was sagst du dazu, man muß doch wissen, wo ma's Geld zu holen hat. Hab i net recht? Ja siehgst's, Hafner, die Emmy sagt's a. Sonst könnt ja a jeder daherkimma und 30,000 Markeln verschreiben. Des muß do a g'wisse Ordnung haben, verstehst mi?«

»Ja ja«, stimmt die Hafner bedauernd bei.

»Du, Hafnerin!« schreit Anna in plötzlicher Eingebung und springt von ihrem Platz auf. So plötzlich, daß die Hafner und ich vor Schreck zusammenzucken. »Wer woaß, ob er's überhaupt g'habt hat, das Geld! Vielleicht grämst di do a umasunst!«

»Naa, naa, g'habt hat er's,« beteuert die Hafner und schüttelt hoffnungslos den Kopf. »Sein' Schwester hat's do jetzt. Di, wo mi glei nausgschmissen hat nach der Beerdigung.«

Sie ringt die Hände und bricht klagend aus:

»Und dabei hab' i ihn 'pflegt bis an sein selig End'. Und jetzt sitz' i da und hab' nix und nix. Als alte Frau läßt er mi auf der Straßen stehn mit nix.«

»Der Nassauer«, schimpft die Anna erbost und ballt die Fäuste. »So ein Nepper! Türmt einfach! Der hat doch vorher g'wußt, daß er mit Tod abgeht. Des is das Ausgekochte bei der Sach'! Naa, naa, Hafnerin, kannst sagen, was du willst, für mi is und bleibt er a Nassauer.«

Auch ich finde, daß man eine Frau, mit der man zweiunddreißig Jahre gelebt hat, nicht in der Not sitzen läßt. »Er hätte Ihnen das Geld notariell verschreiben müssen, Frau Hafner.«

»Er hat nicht an das Datum gedacht, Frau Emma«, entschuldigt die Hafner kleinlaut. »Gott, er war schusselig. Ich hab' immer alles machen müssen. Er war ja auch schon bei Jahren. Ich hab' alles notiert und um alles gewußt.«

»Dann hätten Sie aber auch wissen müssen, daß das Papier nicht rechtsgültig war.«

»Man denkt doch nicht, daß seine Schwester mir das Geld glatt abspricht. Wenn sie mir wenigstens das Nötige zum Leben gegeben hätte! Mehr verlangt man doch nicht. Aber die Gräfin war immer so von oben herab. Als der Bruder gestorben war, wollte sie mit einemmal nichts mehr von mir wissen. Sie verklagt mich wegen Erpressung und läßt mich verhaften, weil ihre persönliche Sicherheit gefährdet ist. Ihr Leben sei bedroht, sagt sie. Als wenn ich mich an dera Person vergreifen tat'. Nein, so unfein sind wir nicht. Verklagt hat sie mich wegen Unterschlagung. Ich hätte Brillanten aus dem Hause mitgenommen. Die hab' ich in meiner Jugend geschenkt gekriegt. Meine sämtlichen Briefe, seit meiner Jugendzeit, haben sie auf dem Gericht durchgestöbert. Jetzt wird alles noch einmal durcheinander gebracht. Mein ganzes Leben. Jesses, jesses! Das ganze Leben. Ist doch alles zweierlei.«

»Hätt'st nur nit den Brief an die Schwester g'schrieben … Na, weißt doch, den Brief, wo du geschrieben hast, du gibst die Brillanten nit eher heraus, als bis sie dir a Geld gibt. Wozu brauchst du dein eigen Sach hergeben?«

»Ja was soll i denn machen?« wehklagt die Hafner. »Sitz du mal da und hab kein Geld, wenn du vorher alles gehabt hast, 's ist halt alles zweierlei. Probier's mal, da wirst schon sehen. Hätt' ja nach Amerika reisen können. Hätt' ich nur auf meine Schwester in Augsburg gehört. Die hat immer g'sagt: ›Fahr du nur nach Amerika‹. Gangen wär's schon. Hab' ja noch vierhundert Mark g'habt. Erspartes. Taschengeld. Hätt' i das nur g'macht. Wenn i nach Amerika g'fahren wär, braucht i nit im G'fängnis sein. Freili, das kost' an Entschluß, 's ist halt alles zweierlei.« Dabei seufzt sie so tief, daß wir unwillkürlich mitseufzen.

*

Nachts kann ich nicht schlafen. Ich höre die elektrischen Bahnen sausen und träume mit offenen Augen.

Meine Gefährtinnen liegen in tiefem Schlaf. Von Zeit zu Zeit werfen sie sich auf die andere Seite. Leises Stöhnen und Seufzen.

Anna trägt des Nachts ihren Rosenkranz um den Hals. Ihr schwarzer Rock dient ihr als Kopfkissen.

Die Hafner liegt da wie eine Tote. Das Gebetbuch hält sie in den Händen. Sie liegt immer auf dem Rücken. Ihr starker Leib sieht über der Decke wie ein gewürfelter Berg aus. Die Sommernächte sind halbhell. Ob draußen wohl Gartenkonzert ist? Bunte Lampions, Mond und Sterne?

Ich bewache den Schlaf meiner Gefährtinnen. Die Hafner schläft mit halboffenem Munde, und ihre hervorstehenden Zähne schimmern gelblichweiß. Ihr Atem rasselt und pfeift. Sie wiederholt die Worte im Schlaf: »Ach, die stürmische Zeit …«

Mir ist, als befände ich mich neben einer Scheintoten. Manchmal in der Nacht entfällt das Gebetbuch ihren Händen. Dann fürchte ich mich sehr und gerne ginge ich ein wenig auf die Straße. Aber das geht ja nicht. Wenn es doch wenigstens einmal in der Woche Urlaub gäbe; aber andauernd eingesperrt sein, ist sehr traurig.

Liege ich auf der rechten Seite, gehen meine Augen an der Wand hinauf bis zu dem obersten Fensterfach, das eine weniger matte Scheibe hat als die unteren Fächer. Die Gitterstäbe werde ich wohl nie mehr vergessen. Manchmal im Traum gelingt es mir wohl. Am andern Morgen ist mir dann, als hätte ich einen Ausflug gemacht.

Ich stricke jetzt Strümpfe für die männlichen Gefangenen. Die Männer bekommen wir kaum zu Gesicht. Nur wenn wir vom »Spaziergang« kommen, sehen wir mitunter einen Trupp Gefangener, die nach uns »auf Luft« geführt werden. Wir räuspern uns, wenn die Männer vorübergehen; aber sie scheinen in diesem Hause für jede Art Koketterie unempfänglich zu sein. Sie haben wohl die Aussichtslosigkeit einer Annäherung zu sehr erkannt. Einige Mädchen lachen über die feierlich ernsten Gesichter der gefangenen Männer. Ich habe dann stets die Empfindung, als wollten die Frauen keine Gelegenheit zum Lachen vorübergehen lassen. Manche lächeln auch den Wärter an, obgleich er wütend wie eine Bulldogge aussieht. Ich begreife nicht, wie man ihn anblinzeln kann. Es scheint ihm vollkommen gleichgültig zu sein, ob er ein schönes Mädchen führt oder einen alten Mann. Nichts verfängt bei ihm. Neulich hat eine in seiner nächsten Nähe minutenlang ihren starken Busen gestreichelt. Es fiel uns allen auf, nur dem Wärter nicht.

Jeden Samstag bekommen wir Bücher, die wir am Sonntag lesen dürfen. Samstag nachmittags kommt ein Wärter mit zwei männlichen Gefangenen, die die Bücher tragen. Dann bleibt die Klappe eine Weile geöffnet und wir drei Frauen stehen an der Zellentür wie vor einem Bäckerladen. Wir stoßen und drängen uns vor der Klappe, weil jede von uns hinaussehen möchte.

Der eine Gefangene trägt einen großen Bäckerkorb. Darin sind die Bücher. Der andere Gefangene greift wahllos die Bücher aus dem Korb wie Brote, die alle gleich sind.

Die Hafner macht Umstände und hat Extrawünsche. Sie fragt den Wärter:

»Haben Sie nicht die ›Wahlverwandtschaften‹ von Goethe?« An diesem Buch scheint ihr besonders gelegen zu sein.

»Wahlverwandtschaften ham mer net,« erfolgt die etwas rauhe Antwort.

Da die Hafner sich so familiär benimmt, versuche auch ich es einmal und frage den Wärter:

»Haben Sie ›Werthers Leiden‹?«

Der blasse Gefangene, der mit beiden Händen den schweren Bücherkorb hält, zeigt ein verständnisinniges Lächeln. Der andere Gefangene wühlt ausnahmsweise im Bücherkorb, als suche er wirklich das von mir mit ausgesuchter Höflichkeit gewünschte Buch.

Der Wärter notiert:

»Drei Bücher auf Nummer 88. Ihr nehmt's, wie's kommt. ›Wärters Leiden‹ ham mer net.« Und die Klappe fällt ins Schloß.

*

»Bei Hofe« sieht man sich. Man sieht, wer von den Gefangenen noch gestern da war, und wer heute fehlt. Man macht sich Gedanken, ob der Fehlende entlassen, freigesprochen oder verurteilt worden ist.

Wie bekannt ist mir schon das grüne Jackett einer Gefangenen! Gestern fehlte der zweitletzte Knopf. Ich habe das seit vier Tagen erwartet. Die Spange, die hinten das Jackett zusammenhält, lockert sich täglich mehr. Daß ich mich um diese Dinge kümmere! Ich konstatiere andauernd, mit und ohne Interesse, immer aber resultatlos.

Ueberall suche ich einen Sinn. Je mehr ich aber suche, desto weniger finde ich. Auf mich selbst achte ich nicht mehr. Wenn ich die andern anschaue und es mir plötzlich einfällt, an mir selbst hinunter zu sehen, finde ich, daß mein Seidenmantel voller Flecke ist, und daß ich mich vernachlässigt haben muß. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich aussehe, und kann mich doch nicht genau erinnern; bin erstaunt über meine kurzen Haare, die mir doch vor sechs Jahren schon beim Typhus abgeschnitten wurden. Meine Unruhe bringt es mit sich, daß ich mich den andern zuwende.

Nach der Kleidung berechne ich die Zeit, die die Gefangenen schon in Untersuchungshaft verbracht haben. Eine geht noch immer im pelzbesetzten olivfarbenen Kleid; sie ist also schon seit vergangenem Winter hier.

»Das Schwurgericht hat Ferien,« sagt sie, »deshalb sind die Verhandlungen vertagt. Ich warte auf meine Freisprechung.«

Hohe elegante Stöckelschuhe wurden auf diesem Hofe schiefgetreten. Filzschlappen gingen aus der Fasson. Weiße Baumwollstrümpfe sehe ich schimmern. Schnupftuch, Strümpfe und Hemden werden geliefert, aber man muß darum ersuchen.

Eine große und elegante Dame trägt eine Abendtoilette, sehr tief ausgeschnitten. Das Gefängnishemd reicht ihr bis zum Hals, und die Trägerin sieht aus wie ein Theatergretchen. Sie läßt ihre Schleppe schleifen. Wenn dann das hinter ihr trabende Mädchen im Dirndlkostüm darauf tritt, dreht sich die Dame entrüstet um. Das Dirndlmädchen lächelt unschuldig. Die Dame reagiert nicht. Sie verzieht beleidigt das Gesicht.

Einige Frauen in Küchenschürzen mit Teigflecken und Bratenspritzern sehen aus, als kämen sie geradewegs vom Herd. Das wird wohl auch so sein, aber für mich ist es etwas Besonderes. Ich stelle mir vor, wie die Mädchen von der Arbeit weg verhaftet wurden. Wie unschuldig muß man sein, um nach einem Verbrechen noch arbeiten zu können. Gelegenheitsverbrechen, Dilettantismus, erscheint mir nuttig und wenig beachtenswert. Unansehnliche Mädchen, sehr viele von ihnen sehen aus, als seien sie die Betrogenen, die Uebervorteilten. Sie erscheinen mir geprellt. Etwas stimmt nicht. Ich muß dahinterkommen.

Aus halblangen, verschwitzten Aermeln baumeln Hände, dick und rot, die an Arbeit gewöhnt sind. Hier schlenkern sie verlegen und müßig; ach, so unbeholfen. Die Gesichter dieser Mädchen sehen versprengt aus. Augen suchen unentwegt die vier hohen Mauern ab. Die vier hohen Mauern, die den Gefängnishof einfrieden und so beunruhigend sind. Wenn ich die Mauern, mit den Augen in die Höhe kletternd, abtaste, bemerke ich, daß wir uns in einer großen Schachtel befinden, die glücklicherweise keinen Deckel hat. Man sieht den Himmel, und der ist noch viel höher wie die Mauern. Den kleinen Ausschnitt vom Himmel habe ich mir genau angesehen. Der Himmel ist weich. Der Himmel ist unendlich. Ach, daß ich das glaube. Vom Himmel weiß ich: er ist nachgiebig und viel größer als der viereckige Ausschnitt, den man uns in diesem Hofe gnädig zugesteht.

Wer läßt uns hier gehen? Bin ich so unwissend geworden, daß ich es nicht fassen kann? Warum müssen wir im Kreise gehen? Ich kann nicht denken, daß es notwendig ist, im Kreise zu gehen. Es könnte doch auch anders sein. Eine Stunde ist sehr lang. Immer gehen wir im Kreise. Wir haben kein Ziel. Wir kommen nicht von der Stelle. Wir kommen immer an demselben Punkt vorbei. Aber das ist ja gar kein Punkt. Das sage ich nur so. Ich gehe, als siebente in einem Kreis. Aber auch dieses ist Einbildung. Als siebente bin ich aus der Gefängnistür gekommen, und bei der Gefängnistür, durch die ich wieder hindurch muß, ist der Punkt. Heiß ist es, drückend heiß. Der tägliche Spaziergang soll die Erholung bedeuten. Ich sage mir das täglich, aber es hilft mir nicht. Ich kann es nicht glauben. Im Kreise gehen, ist keine Erholung für mich. In dem ersten Augenblick, da ich aus der Tür heraustrete, atme ich beglückt und tief; bin ahnungslos, und einige Minuten später hat sich ein Kreis gebildet, den ich mit unbefangenen Augen sehe wie einen grotesken Traum, wie einen Alpdruck, den ich nicht abschütteln kann.

Die Mauern sind von unbarmherzigen Händen erbaut, die wissen mußten, was sie taten. Und darum kann diesen Händen nicht verziehen werden. Die Gitterstäbe vor den vielen Fenstern sind infam durchdacht, raffiniert angebracht. Die Straßenfassade, prunkvoll und ihr teuflisches Geheimnis nicht verratend, führt den Vorübergehenden irre.

Wie traurig lächerlich und entwürdigend müßten wir auf ein Kind wirken, wenn es zufällig in diesen Hof geriete. Befremdet würde es uns anstarren, würde uns wohl für irrgläubige Narren halten.

Eine Angst verläßt mich nie: die Kinder irgend eines Wärters könnten einmal in den Hof geraten. Wenn sie dann lachen würden, ich würde die Schande nicht ertragen. Manchmal glaube ich, man will uns lächerlich machen. Was will man eigentlich? Wie wenig weiß ich. Wie bin ich hierher gekommen? Unkenntnis der Gesetze schützt nicht vor Strafe! Warum hat man mir nicht als Fibel das bürgerliche Gesetzbuch gegeben? Ich durchfliege die zehn Gebote. Sie klingen so einfach. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Ich möchte, ich will, aber wie kann ich das? Wie kann ich den strengen Gerichtshof lieben? »Die Liebe ist langmütig und freundlich, und die Liebe rechnet das Böse nicht zu.« Doch wie wird hier gerechnet? Täglich wird Leben zerstört. Das System ist eine infame Teufelei. In Bausch und Bogen ausgerottet wird jede Empfindung für Freiheit. Ohne Unterschied, ohne Maßstab wird alles gleichmäßig degradiert, jeder Sinn für menschliche Würde.

Else ist vierundzwanzig Jahre alt. Sie hat ihr Kind getötet. Else spricht selten und immer mit leerer hoffnungsloser Stimme. Sie trägt wohl noch die Kleider, die sie während ihrer Schwangerschaft trug; jetzt sind sie ihr viel zu weit. Der gesprenkelte Baumwollrock hängt ihr kläglich um die Hüften. Der faltenreiche Rock schlägt beim Gehen nach rechts und nach links. Elses Augen sind trübe und sehen oft aus wie von der Sonne verblichen; mitunter auch wie nach innen gewendet. Klein sind ihre grauen Pupillen, abgestorben, als vermöchten sie nur die nächste Nähe zu sehen. Ihre Augenlider sind durchsichtig und bläulich weiß. Träge und traurig hängen sie, als fänden sie nie mehr Gefallen daran, sich zu erheben.

Elses Haare fallen aus. Von Tag zu Tag werden sie spärlicher. »Ich brauchte mir nur einen halben Tag lang das Haar zu kämmen,« sagt sie, »und ich würde mit kahlem Kopfe auf dem Hofe spazieren.«

»Warum das?« haben wir sie gefragt.

»Warum nicht?« hat sie geantwortet. »Es ist ja auch gleich. Schließlich ist's einerlei. Ich hab' nur gedacht, ganz zufällig, es wäre mal etwas anderes für euch, mich ganz kahl zu sehen.«

Die Gesundbeterin hat ihr gesagt: »Du nimmst das Leben zu schwer.«

Else antwortet: »Ach, ich nehm's überhaupt nicht. Ich würde es unbesehen weitergeben; aber auch dazu habe ich keine Lust.«

Die Gesundbeterin ist schwanger und kränkelt. »Mein Kind wird in Amberg geboren werden,« sagt sie. »Ist doch komisch! Ehe es zur Welt kommt, ist es schon vorbestraft. Das Kind kann von sich sagen: ›Ich war im Zuchthaus vor meiner Geburt!‹ Das kann doch nicht jeder sagen.«

Die Gesundbeterin ist sehr blaß und groß. Ihre Augen sind dunkel und lebhaft. Abends hat sie Fieber.

Ich habe sie gefragt, ob sie nicht für sich selbst die Gesundheit erbitten könne, sie sei doch Beterin von Beruf, gewissermaßen. »Gewissermaßen von Beruf,« sagte ich; denn ich wußte nicht, ob Idealismus und Beruf vereinbar sind. Mich interessiert, ob man ihr für das Beten Geld gegeben hat. Reich sieht sie nicht aus.

»Wie ist es möglich, daß du ins Gefängnis kommst, wenn du so gut beten kannst?« So habe ich sie gefragt.

Sie fand nicht gleich eine Antwort und sah mich eine Weile von der Seite an, dann sagte sie:

»Christus hat sich doch auch verurteilen lassen. Er half andern und konnte sich selbst nicht helfen.«

»Also willst du seine Nachfolgerin sein? Aber Christus, der wurde doch gekreuzigt. Da gehört doch schon allerlei dazu …« Ich finde nicht leicht die Worte, und die Zeit ist kurz: wir warten, bis die vorderen Gefangenen in die Zellen geschlossen sind; warten, bis wir an die Reihe kommen.

»… Ich meine die Liebe, die ganz große Liebe und für alle.«

»Ruhe da oben!« schreit die Aufseherin.

»Wovon hat er eigentlich gelebt? Glaubst du nicht auch, wenn man ein Ideal hat, wenn man andern helfen will, dürfte man überhaupt nicht essen und trinken? Mit Bezahlung – das ist nicht das Richtige. Darfst du dir denn das Beten bezahlen lassen? Verzeih', wenn ich dumm frage …«

Das Telephon schrillt.

»Jawohl, Herr Verwalter.«

»Ich hab' immer nur das Nötigste angenommen, was ich zum Leben brauchte. Ich hab' auch eine große Familie. Wir sind sechs Geschwister. Ich brauche am wenigsten von uns allen.«

»Sie, warum haben S' denn Ihren Kübel nit ausg'leert heut' in der Früh'? Das mufft ja wie der Teifi.«

»Hast du denn vielen geholfen durch Gebet?«

»Doch, aber denen ich nicht helfen konnte, die haben mich verklagt wegen Schwindel. Erst versuchen sie es mit dem Arzt. Und wenn der nicht helfen kann, versuchen sie es mit dem Gebet. Und wenn das Gebet nicht helfen kann, werden sie gemein und machen Anzeige beim Gericht. Wegen ihres eigenen Unglaubens zeigen sie mich an. Aber Gebet ohne Glaube kann ja nicht helfen.«

Während des Gesprächs vergaß sie die Hände vor den Leib zu halten. Das tut sie sonst immer. Ihr Rock ist vorne zerschlissen und dünn. Erbittert sieht sie aus, und ihre dunklen Augen funkeln; zugleich liegt ein frommer, flackernder Glanz in ihnen. Um ihren Mund zuckt es. Ach, daß sie alle so enttäuscht und betrogen aussehen … alle, ohne Ausnahme.

*

Heute wurde ich von der Aufseherin in ein Parterrezimmer geführt. Es war wohl das Sekretariat, aber genau weiß ich es nicht. Wenn ich aus meiner Zelle geführt werde, bin ich immer in Aufregung, und bin ich wieder in der Zelle, so denke ich darüber nach, wo ich denn war, wie viele Treppen ich gegangen bin, und bin mir böse, daß ich die Veränderung nicht genügend genossen habe.

Einige Briefe wurden mir übergeben. Ich nahm sie dankend in Empfang und wurde dann wieder hinaufgeführt.

Die Nachmittagssonne schien in ein geöffnetes, behaglich aussehendes Zimmer. Ich war entzückt, und unwillkürlich blieb ich stehen. Die Aufseherin ebenfalls.

»Das ist mein Zimmer,« sagte sie.

Sehnsucht ergriff mich: »Ach«.

Mehr konnte ich nicht sagen. Ich wollte ihr wohl sagen, wie glücklich sie sei, und sagte: »Ein wunderschönes Zimmer.«

Die Aufseherin lächelte und trat ins Zimmer. Ich blieb betrachtend an der Schwelle stehen.

Sie nahm von der Kommode zwei Photographieständer, wandte sich mir zu und zeigte: »Das ist mein Verlobter. Er muß einrücken in diesen Tagen.«

Ich sah das Bild eines Unteroffiziers.

»Ach ja, dann muß er wohl fort. Das ist ja sehr traurig,« sagte ich.

»Oh nein,« sagte sie, ein wenig stolz ablehnend.

Einen Augenblick war ich unglücklich, nicht das Richtige getroffen zu haben. Aber das Zimmer wollte ich unbedingt ansehen.

»Dies sind seine Eltern.«

Ich griff vorsichtig nach dem andern Bild, das sie mir entgegenhielt.

»Es ist sehr schön,« sagte ich befangen, wollte gern ein Wort des Dankes sagen, weil sie mich das Zimmer ansehen ließ. Es war wirklich ganz besonders schön, außerordentlich schön … Sie räumte etwas fort von der Kommode. Wenigstens drei Minuten stand ich vor der Schwelle. Genau kann ich es nicht mehr sagen. Das Zimmer war sehr schön …

Dann beschäftigt mich, wie schwankend doch das Benehmen der Aufseherin ist. Es gibt Tage, an denen sie unleidlich zu mir ist, und ich suche umsonst nach dem Grund. Heute war sie so freundlich zu mir, zeigte mir ihr Zimmer und sogar das Bild ihrer Schwiegereltern. Ich fürchte, es könnte ihr einmal leid tun, daß ich ihr Anlaß gab zu einer Vertraulichkeit. Aber konnte ich ihr zu überlegen geben, daß es nicht ratsam sei, mir das Zimmer zu zeigen.

Die Sonne schien über die gestickte Kommodendecke hinweg. Die Fenster waren gitterlos, und Mullgardinen hingen davor. Die waren leicht vom Winde gebläht. Ach, die Aufseherin war so gut, so grundlos gut. Warum beginne ich Gründe für ihre Güte zu suchen. Ich suche einen Grund. Für das Böse wohl, aber darf man für das Gute nach Gründen suchen? Wie unnatürlich ich geworden bin …

Vielleicht war sie erst heute in dieses Zimmer eingezogen. Mit Genugtuung fragte sie mich, als läge ihr alles an meinem Urteil: »Nicht wahr, es ist sehr nett?«

Ich versicherte ihr das nochmals sehr gerne.

»Es ist nicht nur nett, es ist wunderhübsch. Blumen haben Sie! Blumen am Fensterbrett! Freilich, so gehört sich's ja. Blumen am Fensterbrett.«

Dann zog sie den Schlüssel innen heraus und steckte ihn in das äußere Schloß. Und ich sah noch, hinter dem Spiegel über der Kommode, drei große schillernde Pfauenfedern. Das machte mich stutzig. Sie merkte es.

»Was ist?«

»Oh, nichts weiter. Die Pfauenfedern bringen Unglück, sagt man.«

»So?« Sie schloß die Tür ab. Schon gehen wir den Korridor entlang.

»Ach, ein alter Aberglaube. Hat nichts zu sagen. Wenn man nicht daran glaubt, bedeutet es nichts. Und auch sonst wohl nicht,« sage ich.

»Ja, ja. Sie mögen recht haben.«

Damit war's aus. Die zweite Treppe bestiegen wir schweigend.

Als die Aufseherin meine Tür aufschloß, sagte ich »Danke schön«, und die andern fragten mich sofort, warum ich ›Danke schön‹ gesagt habe, und ich erzählte ausführlich, die Aufseherin habe mir ihr Zimmer gezeigt …

Anna sagt:

»Das Zimmer hab' ich auch gesehen« und sie bringt Beweise dafür: »Die hat doch solch altfränkischen Spiegel. Und zwei Säulen mit künstlichen Palmen. Gepreßtes Plüschsofa mit Aufsatz.«

Ich sage, daß ich das Sofa nicht bemerkt habe. Aber die Kommode und den Spiegel, und sie habe besonders schöne Blumen.

»Ja, die kann sehr nett sein, die Aufseherin.«

Die Hafner sagt:

»Mir hat sie vor einigen Tagen ihren Roßhaarhut gezeigt. Sie hat mit mir das Aufkräuseln und Dämpfen der Federn besprochen. Ich hab' ihr gesagt, daß Bandgarnituren dieses Jahr unmodern sind.«

»So?«

»Ach!«

»Ja.«

Dann schweigen wir alle drei.

Ich lese meine Briefe, aber sie interessieren mich gar nicht sehr, obgleich sie von guten Freunden kommen. Aus der Pension sind mir die Briefe hierher nachgesandt worden. Es steht nichts in den Briefen, was in meine Gegenwart paßt. Man weiß noch nichts von meiner Verhaftung. Ich lasse die Briefe auf dem Tisch liegen, und da wir alles gemeinsam haben, machen Hafner und Anna sich an die Lektüre. Ich höre nur die erstaunten Ausrufe der Hafner, die an meinen Briefen mehr Gefallen findet als ich.

»Der schreibt dir aber schön! Ja, des is a Künstler. Des merkt man.«

Sie liest den Brief im Romanton vor. Klingt mir selbst so fremd wie eine verschollene Geschichte aus einem alten Buch. Ich sitze auf meiner Bettkante und summe zum ersten Male in diesem Hause den Refrain eines Liedes:

»Sie sagte, sie habe ein Zimmerchen klein
Und Blumen am Fensterbrett …«

Und Blumen am Fensterbrett. Ich glaube, ich werde das wochenlang singen; es gefällt mir doch so gut.

*

Am Nachmittag rasselt das Telephon. Das ist der Augenblick, in dem man Herzklopfen bekommt.

Die Aufseherin allein darf auf dem Korridor hin und her laufen, frisch durchs Telephon rufen: »Jawohl, sofort, Herr Verwalter, einen Augenblick. Nummer 88? Jawohl.«

Nummer 88 – das sind wir drei. Wir lassen, wie auf Kommando, die Strickarbeit in den Schoß sinken, sehen uns an, lauschen; aber das Telephon ist schon abgehängt. Wir hören bereits Schritte, die den Korridor entlang kommen. Anna wird geholt. Die Hafner und ich bleiben ein wenig enttäuscht zurück.

Warum sind wir nicht geholt worden? Wir stricken weiter und unterhalten uns.

»Vielleicht wird sie freigelassen, die Anna.«

»Vielleicht.«

»Vielleicht auch nicht.«

»Man kann es nicht wissen.«

»Nein, man kann es nicht wissen. Aber mir wär' es recht. Dann geht doch etwas voran. Wenn nur einer aus diesem Hause hinauskommt, gleichviel wohin. Hinaus müssen wir doch alle einmal.«

»Ja, 's ist wahr. Mit der Zeit kommen wir dann auch an die Reihe.«

»Wenn man uns nur nicht vergißt. Was meinen Sie, Frau Emma?«

»Ach, das wäre vielleicht nicht das Schlimmste; wenn man zugleich vergessen würde, die Türen abzuschließen. Bis jetzt war man aber immer sehr zuverlässig. Mehrmals habe ich geträumt: Die Aufseherinnen und Wärterinnen haben die Schlüssel verlegt. Das Verhungern gefiel mir ganz gut. Ein andermal stand das Gefängnis lichterloh in Flammen.«

»Um Gotteswillen!« flüstert die Hafner erschrocken und sieht nach der Tür.

»Was kann ich dafür, daß mir so etwas träumt. Wenn das Gefängnis brennt, bin ich die erste, die wegläuft.«

»Sie sind die erste, die in Sicherheit gebracht wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Pst. Die Anna kommt.«

Anna hebt ein großes, mehrseitiges Aktenstück in die Höhe. Bedeutsam: »Morgen um zehn Uhr Verhandlung.«

Ich erwarte, daß sie uns die Vorladung zeigt, aber sie verwahrt sie sorgfältig wie einen Liebesbrief unter ihrem Pfühl.

»So, so, Verhandlung,« sagt die Hafner und strickt weiter.

Anna geht mit leichten Schritten auf und ab, als sei sie nur noch zum Besuch da.

»Ja, was zieh' ich denn morgen an?« fällt ihr angeregt ein.

»Na, 's ist doch nicht im Schwurgerichtssaal?« erlaubt sich die Hafner spitz zu bemerken. »So vornehm wird's doch nicht sein.«

»Wenn's auch nicht grad Schwurgerichtssaal ist,« gibt Anna zurück, »man will doch anständig daherkommen.«

»Mir wär' es gleich, ob ich im Nachthemd oder im Ballkleid verurteilt würde.«

»So?« bleibt Anna stehen und mustert mich von oben bis unten. »Woher weißt du so genau, ob ich verurteilt werd'?«

»Hab' ich gar nicht gesagt. Aber wenn du freigesprochen wirst, ist es erst recht gleichgültig, was du anhast.«

Anna schüttelt den Kopf. Dann unvermittelt:

»Geh', borg' mir deinen Mantel.«

»Kannst du haben.«

Anna nimmt meinen Mantel, der nachts Schlummerrolle ist und tagüber unter meinem Pfühl liegt, hervor und probiert ihn.

»Man wird glauben, du hast ihn gestohlen,« sagt die Hafner ruhig und boshaft. Sie hat sich jetzt Annas früheren Ton zugelegt.

Ich lache: »So was stiehlt man doch nicht.«

»Will ich nicht sagen,« meint die Hafner und mustert den Mantel. Fasson und Bischofsärmel sind sehr schön, aber sie passen nicht zu Annas vergründeten Rindslederstiefeln.

Anna dreht den Mantel nach allen Seiten, zupft und streichelt ihn. »Ein schönes Stück,« meint sie.

Ich mache Anna darauf aufmerksam, daß man von ihr als Schneiderin vielleicht ein korrekteres Aussehen erwartet. Die Hafner gibt mir darin vollkommen recht. Aber Anna läßt sich nicht stören.

»Den Rosenkranz werd' ich um den Hals nehmen für die Verhandlung.«

»Ja, tu das,« sagt die Hafner, und gewiß meint sie es sehr gut, aber eine beargwöhnt die Worte der andern, und eine andauernde Gereiztheit liegt in der Zelle.

Ich fürchte, wir werden uns eines Tags in den Haaren liegen. Der immerwährende Zwang des Beisammenseins wird mit der Zeit unerträglich. Ich wünsche mir: eines Morgens aufwachen und andere Gesichter sehen. Ich verbrauche meinen ganzen Vorrat an Phantasie, um die Gemeinsamkeit zu ertragen. Die drückende Last, die eine unerledigte Angelegenheit verursacht, quält uns, und daß wir nicht selbst dabei eingreifen können.

Ich nehme meine ganze Geduld zusammen, um ruhig zu bleiben. Niemand lobt mich für meine Beherrschung, und ich gestehe, mich wundert, daß man nicht sieht, wie gefährlich ich bin.

Ich weiß nicht, wie lange ich diese Komödie noch durchführen werde. Meine Beherrschung ist eine unsagbare Anstrengung. Wie lange wird meine Haft noch dauern? Ich bin unberechenbar, meine Unzuverlässigkeit liegt am Tage. Meine Unsicherheit nimmt überhand. Ich verdanke es nur dem Zufall, wenn es mir noch gelingt, ruhig zu bleiben. Nur leicht verdeckt ist meine Tobsucht. In mir ist Schrei und ich muß auf der Hut sein, nicht auszubrechen.

Soll ich die Gefängnisverwaltung vor mir warnen? Sie in Kenntnis setzen von meinen gesetzwidrigen Gedanken? Muß ich die Menschen ernst nehmen, deren Opfer ich geworden bin? Ich kann nicht sagen, daß das Gefängnis mir nichts bedeutet, daß ich es ignoriere. Die Justiz möchte ich fragen: Wie haben Sie sich das gedacht? Wie wünschen Sie, daß ich es mir denke? Welchen Erfolg versprechen Sie sich? Man hat mich über Ihre Absichten nicht orientiert.

Ich bezweifle im höchsten Grade die Unfehlbarkeit des Gerichtes. Ich fühle mich nicht beleidigt. Das ist es nicht, was mich quält. Ich kann nicht beurteilen, ob ich verurteilt werde. Wenn man mich freispricht – wer ersetzt mir die Kosten? Mir ist, als hätte ich für immer einen Schock bekommen, einen Knacks, der sich nicht rückgängig machen läßt. Schmerzensgeld ist lächerlich. Unschuldig erlittene Untersuchungshaft, Todesangst à 100 Mark. Ich versuche mir zu helfen, indem ich die Schuld taxiere; denn ein Verbrechen wird doch taxiert und abgestempelt und vom Verbrecher durch Strafe vergütet.

In diesen Tagen ist eine alte Frau entlassen worden. Sechs Monate war sie in Untersuchungshaft. Sie sollte einen Offenbarungseid geleistet haben, ihr eigener Ehemann hatte sie bezichtigt. Nicht wegen Mangels an Beweisen wurde sie freigesprochen, sondern weil sie unschuldig war. Sie sagte mir, daß sie nie mehr schwören werde. Und ich bin davon überzeugt. Diese Frau ist kopfscheu geworden. Denkt sie sich, das Unglück sechs Monate »umsonst«, wie sie sich ausdrückt, im Gefängnis gesessen zu haben, kommt vom Schwören, oder wagt sie nicht mehr an die Menschen zu glauben, die sie nach einem halben Jahr Haft ohne Entschuldigung gehen lassen? Ich kann nicht begreifen …

*

Nachts benutzt die Hafner meine Hose als Schlafjacke. Allabendlich schlüpft sie mit den Armen in die Hosenbeine und bewundert die Valencienne-Spitzen. Ich dagegen borge ihre Taschentücher, die alle vom Grafen zu stammen scheinen, denn ein Krönchen ist in jedes Tuch hineingestickt.

Anna hat mir eine Haarnadel geschenkt, damit ich meine Ponyhaare, die mir bereits über Nase und Augen fallen, zu einem Max- und Morizzipfel aufstecken kann.

Ich sehe wohl sehr lustig aus, denn ich errege allgemeine scheue Heiterkeit im Gefängnishof. Jetzt weiß ich, warum die Gesundbeterin mir sagte, ich möge mich doch einmal in der Brennsuppe spiegeln; ich würde einen Spaß an mir erleben.

Die Aufseherin hat verweinte Augen. Ihr Verlobter, der Unteroffizier, muß einrücken. Damit ist folgendes Problem unter uns entstanden: Macht der Kummer weich oder hart?

Es handelt sich darum, wie auf die Aufseherin die Abreise ihres Verlobten wirken wird. Werden wir darunter zu leiden haben?

Die Meinungen sind geteilt. »Wegen Blutschande« meint:

»Der Kummer macht weich für das Unglück der andern. Da ist zum Beispiel mein Vater. Den hat das Unglück so sehr verändert.«

Sie sagt nicht wieso und weshalb, und niemand fragt danach. Wir glauben gerne, was wir hoffen. In wenigen Tagen ist ihr Wort anerkannt. Wir glauben, was wir wünschen: Der Kummer macht weich.

Der Verwalter ist ein munterer, noch junger Mann. Er kommt täglich zur Zellenrevision. Er bringt von draußen frische Luft mit und einen leichten Hauch von Zigaretten, den wir noch wittern, wenn er uns längst wieder verlassen hat. Er spricht nur, wenn es eine Unordnung in der Zelle zu rügen gibt. Aber im allgemeinen fühlt man sich dann geschmeichelt.

Die in Einzelhaft sind, erzählen beim Spaziergang:

»Der Herr Verwalter hat mir heut' gesagt, ich solle doch die Baumwollfäden nicht so am Boden herumsiedeln lassen.« Das klingt dann ein wenig eitel.

Oder:

»Der Verwalter hat gemeint, ich soll doch meinen Kamm reinigen. Der Schmutz sei ungesund, hat er gesagt.«

Man sagt, der Verwalter sei verheiratet und habe vier reizende Kinder und eine junge, hübsche Frau. Ich verstehe nicht, woher man es weiß. Aber ich selbst habe mich daran gewöhnt, von der »Frau Verwalter« zu sprechen, als sei sie eine alte Bekannte.

Neuerdings, da der Verwalter zum Militär muß, ist täglich von seiner Frau die Rede. Ihr gilt das Bedauern der Gefangenen, daß sie nun bald so allein sein wird. »Die arme Frau!«

Wir glauben ihre Stimme zu hören in der Abendstunde, vom Küchengarten her, von dem wir annehmen, daß er unter unserem Fenster liegt. Auch die Stimme des Verwalters haben wir gehört. Von einem Beet zum andern hinüber rief er: »Der Kohl steht ausgezeichnet dieses Jahr.«

»Der wird nicht mehr ernten,« meint die Hafner.

»Liegt vielleicht schon im Massengrab, wenn der Kohl geschnitten wird,« sagt die Anna.

Die Hafner schlägt ein Kreuz:

»Gott soll schützen. Die stürmische Zeit!«

»Pst!«

Unten spricht eine weibliche Stimme. Das kann nur die Frau Verwalter sein. Alle drei legen wir die Hand ans Ohr.

»Ach nein, schau mal daher: die Erbsen blühen schon zum zweiten Male. Der Boden ist wirklich dankbar.«

Wir sehen uns schweigend an.

»Ich möchte die blühenden Erbsen sehen,« flüstere ich.

Die Hafner winkt unwillig ab. Schweigen. Aber auch unten regt sich nichts mehr.

»Sie sind in die Laube gegangen,« meint Anna.

Ich schwinge mich geschickt an der eisernen Stange empor, mit der man das Fenster öffnet. So kann man für einen Augenblick einen Ausblick genießen. Man muß sich schwebend dort oben halten. Die Fenster sind so hoch angebracht, daß man kaum sehen kann, was in der nächsten Umgebung liegt. Von einem Küchengarten kann ich nicht das Geringste entdecken. Ich sehe den kleinen Teil einer Straße, die wenig belebt zu sein scheint.

»Ist etwas zu sehen?« fragen die beiden andern zugleich.

»Zwei Männer gehen spazieren.«

»Zwei Männer,« sagt die Hafner geringschätzig, »sonst nichts?«

»Nein, sonst nichts,« keuche ich. Ich halte mich nur noch mit größter Mühe fest; aber es muß sich doch lohnen.

»Oh, eine schöne Frau!« rufe ich. »Sie promeniert mit zwei Kindern in weißen Kleidern.« Es ist zwar nicht wahr, aber ich darf die beiden da unten doch nicht enttäuschen. »Das ist mit einem Male ein Leben,« rufe ich, »da muß irgend was passiert sein,« und springe herunter, ganz erschöpft von der Anstrengung.

»Jetzt will ich auch mal sehen,« entschließt sich Anna.

»Geh', du kannst doch morgen sehen,« rät die Hafner, »jetzt haben wir doch genug davon. Du mußt immer übertreiben.«

Die Hafner selbst kann nicht hinauf, weil sie zu dick ist. Anna und ich haben versucht, sie hinaufzuheben, indem sie die Füße in unsere gefalteten Hände stellt. Aber dieses Experiment ist uns schlecht bekommen. Alle drei fielen wir übereinander, und Anna bekam heftiges Nasenbluten, das stundenlang nicht vergehen wollte.

Doch Anna läßt sich nicht davon abbringen, unsere »Bellevue« zu genießen. Sie schwingt sich an der Stange hinauf.

»Die reine Völkerwanderung,« konstatiert sie.

»Jesses naa!« ruft die Hafner und schlägt die Hände zusammen. Wir stehen direkt unterm Fenster.

»Kopf weg!« schreit eine Kommandostimme von unten. Wir wissen nicht gleich, wem es gilt.

»Kopf weg dort oben!« noch einmal, drohend.

Anna schaut rechts und links, wo sie hinspringen soll, läßt hastig die Stange los und steht mit Herzklopfen wieder in der Zelle, wo sie »von Rechts wegen« hingehört.

Ob der Verwalter von unten unsere Zellennummer feststellen konnte? Aber es gibt ja so viele Fenster, trösten wir uns.

Der Verwalter kommt am andern Nachmittag. In Begleitung der Aufseherin. Unser Schicksal nimmt seinen Lauf.

Der Verwalter spricht nicht. Mit energischen Schritten geht er hin und her, läßt sich die Betten vorschieben, sieht jeden Stuhl, jeden Gegenstand nach.

Wir stehen dabei wie Delinquenten, auf alles gefaßt.

Ich bemerke: er trägt solide, blankgeputzte Stiefel. Sie sind neu besohlt. »Wegen der Einberufung,« sage ich mir.

»Na, ich soll ja hier nicht hausen,« sagt er nach einer Weile. »Aber ich würde die Zentralheizung mal abstauben. Das sind ja förmliche Staubschleier.«

Staubschleier stelle ich mir zwar anders vor und finde den Vergleich nicht gut, aber mit aller Zurückhaltung und Verschwiegenheit.

Jetzt interessieren ihn die Spucknäpfe, die sauber in einer Reihe auf einem Bord stehen.

Mir fällt ein: in dem einen dieser kleinen Emaillegefäße liegt mein Ring verwahrt, den ich im Gefängnis nicht tragen darf, den man aber bei meiner Aufnahme übersehen hat. Im zweiten Spucknapf. Und gerade den starre ich an.

Der Verwalter besichtigt Nummer eins, und ich hoffe, dabei wird es bleiben. Aber zu meinem Schreck nimmt er auch den zweiten herunter und schaut mit verkrampften Augenbrauen langsam und lange hinein.

Unsere Zelle ist stumm. Eine Stecknadel könnte man fallen hören.

»Na, so eine Schweinerei!« sagt er plötzlich und schaut uns der Reihe nach durchdringend an.

Schweinerei? Ein schöner Ring mit einem blauen Stein kann doch unmöglich eine Schweinerei sein. Zaghaft kommen wir näher, um uns zu überzeugen. Die Schweinerei besteht – aus einer Reissuppe, die ein wenig in Fäulnis übergegangen ist. Von meinem Ring ist nichts zu sehen.

»Das hab' ich nicht gemacht, Herr Verwalter.«

»Na, ich doch auch nicht.«

»Und ich erst recht nicht.«

Die Hafner entsinnt sich:

»Ach, das hat ja die Selma gemacht, die dahier war. Die hat sich die Suppe zum Abendbrot aufgehoben. Die war immer so hungrig. Die konnte ja nie genug kriegen.«

Anna stimmt bei:

»Ja, das ist wahr. Die war ja so verfressen. Nicht wahr, Emmy, das wissen Sie doch!«

Der Verwalter sieht mich streng an, als müsse von mir die Entscheidung kommen. Ich kann nur noch stottern und sage:

»Ja, das ist wahr. Die war sehr verfressen. Das fand ich auch. Auffallend.«

Ich habe die Hochstaplerin nicht gekannt. Aber wenn sie den Sachverhalt wüßte, würde sie mir gewiß verzeihen, daß ich sie so verleumdet habe.

*

Ich bekam wieder Briefe. Das macht mich bei meinen Mitgefangenen beliebt. Vergehen einige Tage, und keine Post kommt, so fragt die Hafner schon unruhig: »Daß H. gar nicht schreibt. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Ob er Paris schon verlassen hat? Das Reisen ist keine Kleinigkeit in dieser Kriegszeit.«

Wie besorgt sie ist um einen Menschen, den sie persönlich nicht kennt und den sie voraussichtlich nie kennen lernen wird. Sie spricht von meinen Bekannten, als seien es ihre Söhne.

»Haben Sie gelesen? H. schreibt von interessanten Büchern, die neu erschienen sind. Haben Sie bemerkt: er liest sehr viel. Gott, er hat ja jetzt Zeit dazu. Er ist in Ferien. Er soll die Zeit ausnützen, solange er kann. Ich gönn's ihm.« Dabei erzähle ich kaum von meinen Bekannten.

Ich befreunde mich mit dieser Art der Hafner mehr und mehr. Erst setzte sie mich in Erstaunen. Persönliches Eigentum und Geheimnis gibt es hier nicht.

Die Schwester der Hafner hat aus Augsburg geschrieben. Ein Kleid für die Hauptverhandlung der Hafner hat sie geschickt. Leider ist das Kleid viel zu eng.

»Sie hat damit gerechnet, daß ich im Gefängnis mager werde. Da hat sie sich geirrt, ich habe ja keine Bewegung. Im Zuchthaus werde ich mager werden. Dann wird mir das Kleid passen, wenn ich herauskomme. In vier Jahren, denke ich.«

Anna betet vor dem Nachtkästchen, auf dem die Urinflasche steht. Sie betet: »Heilige Maria, Mutter Gottes, i bitt di um mei Freisprechung, in der Angelegenheit, die du ja besser kennst als i. I bitt di, sag's denen Richter, daß s' mi freisprechen, daß i unschuldig bin. Leg' du ihnen den Freispruch in 'n Mund. I bitt di um unseres Herrn Jesu Christi willen, der für uns alle gestorben ist. Gegrüßet seist du, Maria.« Und dann betet sie den schmerzhaften Rosenkranz.

Die Hafner und ich sitzen bei unserer Arbeit. Wir bessern die Strümpfe aus. Die Hafner plaudert:

»Wissen Sie, die Rita Walter, die hat doch ein interessantes Leben gehabt. Schauspielerin und schön, und so viele Verehrer! In ihren besten Jahren ist sie erschossen worden. Mein Gott, wenn man das so bedenkt! Wenn man so jung ist, so hübsch, und dann wird man erschossen! Wenn man viel vom Leben haben will, ist es doch immer gefährlich.«

Das Gespräch stört Anna in ihrer Andacht. Sie wendet uns ihr entrücktes Gesicht zu, und halb in einer höheren Sphäre beklagt sie sich unwirsch:

»Geht's, ihr sprecht da von eure weltlichen Dinge, und i plag mi hier ab. Ihr könntet mi gern unterstützen mit einem Ave. Versteht's?«

Dieser Aufforderung kommen wir nach, wie wir überhaupt keine Gelegenheit zum Gebet vorübergehen lassen. Vor einigen Tagen wurden zwei Raubmörder hingerichtet, das Armesünderglöckchen läutete sehr früh am Morgen. Das ganze Haus begleitete die beiden Mörder in Gedanken und Gebeten bis zum Schaffott.

*

Ich werde ins Anwaltszimmer geführt. Zwei Beamte sind da. Man fragt mich, wo ich nach meiner Entlassung Wohnung nehmen werde.

Der Beamte spricht weiter, aber ich höre kein Wort mehr. Das Wort »Entlassung« rauscht mir im Ohr. Ich empfinde ein Rauschen im Blut, Zittern in den Knien, und mein Herz klopft zum Zerspringen.

Ich habe meinen Namen unter ein Papier zu setzen und schicke mich dazu an mit größter Bereitwilligkeit.

»Wollen Sie nicht lesen, was Sie unterschreiben?« fragt der Beamte.

Aber dazu bin ich nicht imstande. Wird schon stimmen, was da steht. Ich weiß nicht, was. Alles unterschreibe ich, wenn ich nur meine Freiheit habe.

Die Feder spritzt und kratzt. Ich drehe sie um. Der Beamte schmunzelt:

»Na, Sie wissen sich wenigstens zu helfen. Wissen Sie denn auch, wie Sie heißen?«

»Doch, doch,« und kritzle meinen Namen.

Dann werde ich hinaufgeführt. Ist es nun wirklich das letzte Mal, daß ich geführt werde? Ich kann es kaum denken.

»Na, nun ist ja auch das zu Ende.«

»Was, bitte?«

»Na, Sie kommen doch jetzt hinaus. Ihre Verhandlung wird wohl hinausgeschoben werden.«

»Verhandlung« höre ich, aber ich denke nicht soweit. Ich fühle nur die nächste Stunde, in der ich über die Straße gehen werde.

Oben in der Zelle finde ich die Hafner allein. Anna ist entlassen worden.

Ach, die Hafner merkt sofort, um was es sich handelt. Wie versteinert steht sie da. Etwas in mir ist wie abgeschnitten. Sie bleibt ja doch zurück, die Hafner. Ich kann sie nicht mitnehmen. Und mir ist, als müsse ich sie tausendmal um Verzeihung bitten, weil ich mich freute, während sie allein hier oben in der Zelle saß.

Ich bin verlegen, daß ich sie verlasse, und vertröste sie: es sei ja besser, wenn ich hinauskomme, denn dann könne ich etwas für sie tun, und ich wolle ihrer Schwester in Augsburg schreiben. Ich empfinde es wie Verrat, daß ich die andern nicht mitnehme. Ist es wohl recht, daß ich alle die verlasse, die meine Gefangenschaft mit mir teilten?

Ich falle der Hafner um den Hals.

»Alles werde ich tun, alles, und auch für die andern.« Ich verschenke den Himmel in fünf Minuten.

Die Aufseherin steht wartend an der Tür: »Jetzt ist's aber genug mit dem Abschiednehmen,« und lächelt.

Die Hafner sucht meine Sachen zusammen, so eifrig, als müsse ich nach der Bahn, und gibt mir die einzelnen Stücke in die Hand: Zahnbürste, Briefe, Waschlappen, Kamm. Ich stehe da und rühre mich nicht. Dann gebe ich alles zurück:

»Lassen Sie doch, Hafner, behalten Sie doch alles.«

»Und die schöne Seife?« fragt sie.

»Auch die schöne Seife,« und weine laut. Sie bekommt vier Jahre.

Ich setze mich auf das Klappbrett und bin müde. Es ist mir, als wäre ich auf den Bahnhof gelaufen, um den Zug noch zu erreichen, aber im letzten Augenblick überfällt mich Trauer, und der Zug fährt vor meinen Augen davon.

»Sind Sie jetzt endlich fertig?« fragt die Aufseherin.

»Ja.«

Die Hafner gibt mir die Hand. »Leben Sie wohl« kann ich nicht zu ihr sagen. Ich kann gar nichts sagen und ich gehe …

Unten im Ankleideraum hängt mein Mantel und ach – mein Schlenkertäschchen hat auf mich gewartet. Es ist wie in der Schule.

Ich setze meinen braunen Strohhut auf, und die Aufseherin ist gar keine Aufseherin mehr, sondern irgend ein Garderobenfräulein, das ich zufällig kenne. Sie fragt mich, womit man am besten die Nägel putzt.

Gerne möchte ich es ihr sagen, denn sie ist es doch, die mich hinausläßt. Das hätte sie schon früher tun können, aber gewiß wollte sie mich damit überraschen … Was nimmt man nur für die Nägel? Das muß ich doch wissen.

»Mit der Nagelfeile …« sage ich, »geht es am besten.«

»Das ist doch kein Putzmittel. Ich dachte irgend eine Creme …«

Ich bin aber schon auf dem Marktplatz, im Café, auf der Elektrischen.

»Na, gehen Sie schon,« lacht sie. »Sie bekommen noch eine Mark zwanzig für die Strümpfe, die Sie gestrickt haben. Dafür können Sie die Elektrische nehmen.«

»Jawohl. Danke sehr. Adieu.«

»Da geht's hinaus! Da rechts.«

Und schon entfernt: »Ich finde schon …«


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