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Auf der ins Privatkontor des Herrn Friedrich Lürsen führenden Schwelle stand ein etwa dreißigjähriger Mann, der nach kurzem Klopfen rasch die Tür öffnete und den Flügel hinter sich zuklinkte. Friedrich Lürsen, Teilhaber des Bankhauses Lürsen & Doller, der am Fenster stehend gedankenverloren seine Blicke über die im ersten Grün prangenden Bäume des Gartens hinwegschweifen ließ, wandte sich um und rief erfreut: »Ah, Herr Recking, da sind Sie ja schon! Und schneller, als ich erhoffen durfte.«

Er drückte dem Eintretenden die Hand und bemühte sich, ihm Hut und Überrock abzunehmen. Dann nötigte er ihn, es sich in einem der hochlehnigen Klubsessel bequem zu machen.

»Wie gesagt, Herr Recking,« fuhr er fort, dem Besucher die gefüllte Zigarrenkiste hinreichend, »ich hätte Ihnen den Weg gern abgenommen und Sie in Ihrer Wohnung aufgesucht, aber da Sie mir durch den Fernsprecher mitteilten, daß Sie schon auf dem Sprung seien, auszugehen …«

»Und überdies der Weg, den ich noch vorhabe, mich bei Ihnen vorbeiführen mußte,« ergänzte der Detektiv Ralf Recking verbindlich lächelnd und setzte eine Zigarre in Brand, »so wird es schon das beste sein, Sie schütten mir Ihr Herz hier aus. Wenn ich Sie am Fernsprecher vorhin richtig verstand, handelt es sich um einen Betrug, den ein Ausländer auf Ihrer Bank versuchte, und der ihm leider gelang. Oder wurde inzwischen etwa noch ein weiterer Schwindelversuch gemacht?«

»Gottlob nein, verehrter Herr Recking. Unser Haus hat an dem einen Gaunerstück dieses angeblichen Grafen Gothem, von dem Sie durch Zeitungsmeldungen gehört haben werden, vollkommen genug. Schließlich geht mir diese unangenehme Geschichte nicht um meinetwillen allein so im Kopf herum. Man ist es der Allgemeinheit schuldig, derartige Dinge nicht auf sich beruhen zu lassen. Ich mußte Sie anrufen, denn Sie sind nun einmal der Hoffnungsanker, an den sich die notleidende Mitbürgerschaft in solchen Fällen zu klammern pflegt, wenn alle Stricke reißen.«

»Sehr schmeichelhaft, Herr Kommerzienrat! Wie ich aus der Zeitungsnachricht ersah, hatten Sie bereits eine bewährte Kraft zu Rate gezogen, meinen zufällig hier weilenden dänischen Kollegen Jens Lyhne.«

»Das ist es ja! Gott sei's geklagt. Aber ich bin völlig unschuldig daran. Es war gar nicht meine Absicht, diesen Herrn zu bemühen. Mein Geschäftsteilhaber Doller war es, der sich Hals über Kopf an ihn wendete, nachdem er tags zuvor im Hotel Schweizerhof mit ihm bekannt geworden war. Anfangs wollte er allerdings um Ihre Hilfe bitten, aber es war ihm gesagt worden. Sie wären in Hamburg tätig.«

»Das war richtig. Am Donnerstag kehrte ich erst gegen Abend von Hamburg zurück. Und am Donnerstag gelang dem sogenannten Grafen Gothem seine Gaunerei.«

»Ja, an diesem Tag verlor unser Haus sechsundneunzigtausend Mark! Und heute, nach drei Tagen, haben wir noch nicht die geringsten Anhaltspunkte.«

»Und mein dänischer Berufsfreund?«

»Es ist so, wie ich Ihnen sagte. Wir sind genau so klug wie am ersten Tage. Christian Doller setzte diesen Herrn sofort in Tätigkeit. Alles Heil sollte uns wieder einmal von einem berühmten Ausländer kommen, und mein Geschäftsteilhaber gehört zu den Unbelehrbaren, die daran glauben, daß uns die Fremden in manchen Kniffen über sein sollen.«

»Das kann man ja auch in gewissem Sinne ruhig zugestehen. Herr Jens Lyhne enttäuschte also Ihre Erwartungen?«

Kommerzienrat Lürsen lächelte trübselig. »Das wäre wohl zu viel gesagt. Gewisse Kniffe« – er machte die Bewegung des Geldzählens – »beherrschte der Däne sogar in recht beachtenswerter Vollkommenheit. Im übrigen ist er zu Schiff nach Kopenhagen heimgereist und hinterließ uns nichts als den mageren Trost, daß gut Ding Weile haben wolle.«

»Demnach fand sich nicht einmal der Schatten einer Spur?« fragte Ralf Recking. »Einer gestrigen Zeitungsnachricht, die ich, nebenbei bemerkt, für schädlich halte, entnahm ich, daß mein dänischer Kollege ›mit der so oft erprobten glücklichen Hand‹ – ich höre förmlich den guten, dicken Jens Lyhne, wie er den Berichterstattern seine Lieblingswendung diktiert – dem Übeltäter hart auf den Fersen war.«

Der Kommerzienrat nickte. »Stimmt. Er folgte einer Fährte, die er aufgespürt hatte, sogar bis Warnemünde und war hinter einem Opfer her, in dem er den Galgenstrick, der sich Graf Gothem nannte, vermutete. Dort stellte sich leider heraus, daß die Fährte falsch war. Herr Jens Lyhne hatte einen Herrn verfolgt, der sich, wie er beobachtet hatte, durchaus nicht von einer kleinen Reisetasche trennen wollte; nach der Ansicht des Dänen trug dieser Herr die untrüglichen Kennzeichen eines Hocharistokraten zur Schau. Als es zur Entlarvung kam, stellte es sich jedoch heraus, daß er an einen völlig harmlosen Oberstleutnant a.D. geraten war, der in dem Köfferchen eine sorglich gehütete Ersatzperücke verwahrte; der Mann war kahlköpfig, und auf einer früheren Reise war ihm seine Perücke gestohlen worden. Die Folge dieses Mißgriffes war, daß der Oberstleutnant Herrn Lyhne auf Pistolen forderte. Zum Austrag dieser Forderung kam es allerdings nicht. Dem richtigen Hochstapler gelang es natürlich inzwischen, zu entkommen.«

»Zeit hätte er allerdings dazu gehabt,« ergänzte der Detektiv. »Wohl möglich, daß Sie, wenn kein Zufall zu Hilfe kommt, die Summe als verloren betrachten müssen.«

»Das sagen Sie so bestimmt, Herr Recking?« Kommerzienrat Lürsen machte ein enttäuschtes Gesicht. »Sie sind doch hoffentlich nicht verärgert, daß wir uns erst so spät an Sie wenden?« Lürsen bedauerte schnell, daß ihm die Bemerkung entschlüpft war, und sprach eilig weiter: »Ich könnte das begreifen. Und ich war schon darauf vorbereitet, daß Sie sich vielleicht ungern mit einer Arbeit befassen würden, an der sich Stümperhände vor Ihnen vergeblich versuchten.«

»Sie irren, Herr Kommerzienrat,« erwiderte Ralf Recking ruhig. »Ich bin gar nicht verärgert, und Eifersüchteleien sind mir fremd. Ich kann mir sehr wohl Hunderte von Fällen denken, die verschiedene Leute meines Berufs in Atem halten – wie es beispielsweise genug Krankheitsfälle gibt, wo es geraten ist, neben dem ersten Arzt noch einen zweiten zu Rate zu ziehen. Der zweite Arzt wird sich durchaus nicht beleidigt fühlen.«

»Ich verstehe! Sie wollen sagen, daß uns Herr Jens Lyhne verübeln dürfte, daß wir jetzt Sie mit der Angelegenheit betrauen, und da verbieten Ihnen Ihr Feingefühl und Ihre kollegiale Rücksichtnahme …«

»Bis zu einem gewissen Grade trifft das wohl zu, Herr Kommerzienrat.«

»Das konnte ich mir denken. Aber wenn das der einzige Hinderungsgrund ist, depeschiere ich sofort nach Kopenhagen und erbitte mir von Herrn Jens Lyhne – was er nicht übel auffassen darf – die Zusage, daß ich für weitere Ermittlungen freie Hand behalten möchte, soweit sie nicht ohnehin von unserer Polizei angestellt werden.«

Der Detektiv nickte. »Um im Vergleich von vorhin zu bleiben: mitunter überschätzt der Mensch ein Leiden. Der weiter hinzugezogene Arzt trägt in solchen Fällen zu nichts anderem bei, als die Rechnung zu verteuern. Ich frage mich deshalb, ob der Aufwand – erstens mein dänischer Kollege, zweitens das Heer der staatlichen Beamten, drittens meine Wenigkeit – auch im Verhältnis steht zu der Höhe des Objekts.«

»Sie mögen recht haben; aber wenn auch! Selbst angenommen – und die Wahrscheinlichkeit ist ja anscheinend dafür –, unser Haus müßte die Summe verschmerzen, dann deckt der Aufwand wenigstens ein gutes Werk. Meinem Empfinden nach würde ich eine Schuld auf mich nehmen, wenn ich nicht alles versuchte, um den Hochstapler für meine Mitmenschen unschädlich zu machen.«

Der Detektiv nickte lebhaft, in seine Augen kam ein Leuchten. »Unter solchen Voraussetzungen gibt es nur eine Auffassung, Herr Kommerzienrat! Ich bin durchaus Ihrer Meinung und verzichte, weitere Vorstellungen zu machen. Ihr Fall ist von Stund' an der meine.«

Friedrich Lürsen streckte ihm die Hand hin, deren Druck Ralf Recking kräftig erwiderte.

»Wie mich das freut! Und nun sehen Sie auch auf einmal gar nicht mehr so aus, als ob Sie die Sache für eine von vornherein verlorene betrachteten.«

»Ich bin der Ansicht, daß trotz allem noch nichts als verloren anzusehen ist. Ich bitte Sie, mir jetzt alle Einzelheiten so zu schildern, wie Sie dies meinem Kollegen Lyhne gegenüber getan haben.«

»Das hat mein Geschäftsteilhaber besorgt. Aber was in meinen Kräften steht …«

»Zuvor erlauben Sie mir nur noch, daß ich ein paar Worte in den Fernsprecher rufe. Ich bin, wie ich Ihnen vorhin andeutete, auf dem Weg zu einer anderen, sehr dringlichen Angelegenheit –«

»Bitte, Herr Recking!« Der Kommerzienrat reichte ihm den an grünseidener Schnur hängenden Hörer. »Wollen Sie ungestört sprechen?«

Der Detektiv dankte; er verlangte eine Nummer der Friedrichstadt, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und rief in den Apparat: »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen, Herr Bahr. Inzwischen wird alles besorgt sein. Wenn ich zu Ihnen komme, werden die Zettel bereits an den Säulen hängen.«

Er wandte sich an Kommerzienrat Lürsen. »Ein in schweren Sorgen bangender Vater. Das Seidenwarenhaus Heinrich Bahr ist Ihnen bekannt?«

»Gewiß. Wir stehen in geschäftlichen Beziehungen. Sie sagen, Herr Bahr sei in schwerer Sorge?«

»Seit gestern ist der einzige Sohn verschwunden. Ein Achtjähriger –«

»Das muß sich ja rasch aufklären. Oder glauben Sie an ein Unglück?«

Ralf Recking zuckte mit den Schultern. »Zunächst ist es ein Rätsel.« Er nahm wieder Platz.

Friedrich Lürsen rückte seinen Sessel herum. »Das tut mir aufrichtig leid. Der Mann wird übermenschlich hart vom Schicksal verfolgt. Vor Jahr und Tag verlor Heinrich Bahr, wie Sie vielleicht gehört haben dürften, seine Gattin, als sich die Katastrophe mit der ›Thetis‹ ereignete.«

»Nein, davon habe ich nichts erfahren. Ich werde ihn, mit dem ich bisher nur telephonisch gesprochen habe, jetzt erst in seinem Geschäft kennenlernen. Die Katastrophe des Überseedampfers ist mir, ich darf wohl sagen, bis in die letzten Einzelheiten bekannt, soweit wenigstens, als sie durch die Untersuchung zutage kamen. Herrn Bahrs Gattin gehörte zu den Opfern? Darüber müssen Sie mir gelegentlich einmal mehr erzählen für den Fall, daß es Herr Bahr nicht aus freien Stücken tut.«

»Sehr gern.«

»Es ist keineswegs müßige Neugier …«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Und jetzt, Herr Kommerzienrat, bitte ich, beschreiben Sie mir, wie der Mann vom vorigen Donnerstag sich einführte.«

»Es war kurz nach ein halb ein Uhr, als unsere zu dieser Stunde zufällig wenig besuchten Kontorräume ein Herr betrat, der im Anfang der Vierzig stehen mochte. Er kam mit einem Diener, der ihm eine lederne Mappe trug. Ich sah zufällig auf, als er mit meinem Teilhaber sprach. Er war mittelgroß – sagen wir etwa ein Meter siebzig, keinesfalls kleiner –, seine Gesichtsfarbe war leicht gebräunt, woraus man schließen dürfte, daß er sich viel an freier Luft bewegte; ein wohlgepflegtes braunes Schnurrbärtchen und etwas gekraustes Haar fielen mir an ihm auf. Die hohe Stirn war gut geformt, der Anzug – er trug einen dunkelblauen, zweireihigen Rock – saß sehr gut, die Beinkleider waren sorgfältig gebügelt. Ich erhielt den Eindruck, als sei der Fremde ein in Zivil gekleideter Offizier. Er sprach Deutsch mit nordischem Akzent, für einen Schweden, als den er sich vorstellte, vielleicht etwas zu lebhaft. Doller prüfte umständlich den Paß, der auf einen Grafen Fredrik Gothem aus Helsingborg lautete. Die beste Empfehlung für ihn aber war, daß der uns bekannte Konsulatsdiener des spanischen Botschafters Carnaga ihn zu uns führte. Der Fremde legte uns im angeblichen Auftrag des Comte del Carnaga einen in französischer Sprache ausgefertigten Wechsel zum Umsatz vor. Als Aussteller standen Wesenkamp Söhne, Frankfurt, als Bezogener Gleimüller in Wien darauf. Der Wechsel war auf die Order des Grafen Gothem aus Helsingborg ausgestellt. Als Indossament in blanco enthielt das Papier den Namen des spanischen Botschafters.«

»Wo ist der Wechsel jetzt?«

»Auf dem Polizeipräsidium.«

»Ich werde ihn dort mitsamt der Quittung einsehen.«

»Doller erkannte die Unterschriften als richtig an, schloß den Kauf ab und zahlte dem vermeintlichen Grafen sechsundneunzigtausend Mark bar aus. So schien alles auf das beste verlaufen. Ein Kraftwagen stand vor der Tür, der Konsulatsdiener bestieg den Platz neben dem Führer, und weg waren sie … der echte Diener, das gute Geld und der falsche Graf!«

»Kamen Ihnen denn unmittelbar darauf irgendwelche Bedenken?«

»Nein. Aber der Hochstapler hatte seinen Stock mit einer schweren silbernen Krücke, die auf dem Knauf eine neungezackte Krone eingeschnitten trug, bei uns stehen lassen; Doller ließ die spanische Botschaftskanzlei anrufen und den Konsulatsdiener, der sich Bernardo Gomez nennt und uns, wie ich ja schon erwähnte, wohlbekannt ist, an den Apparat bitten, um ihm zu sagen, daß der Stock bei uns stehen geblieben sei. Dieser Gomez, ein ganz heller Kopf, richtete an uns die Gegenfrage, ob der Herr aus Schweden nicht, wie er ihm gesagt habe, zu uns zurückgefahren sei; er habe an der nächsten Ecke aussteigen müssen, da der Graf erklärt habe, er habe einige Papiere bei uns liegen gelassen, auch habe er die Summe nicht eingehändigt bekommen, die ihm der Graf Gothem, wie er eben von Seiner Exzellenz dem Herrn Botschafter zu seiner Überraschung erfahre, bei uns habe einhändigen wollen. Nun war unser Verdacht rege. Doller nahm sich einen Wagen und fuhr auf die Botschaft …«

»Wo sich herausstellte, daß die Unterschrift des Botschafters gefälscht war!«

»Ja! Vollendet gefälscht; bis zum kleinsten Zug genau nachgeahmt. Der Gauner war am Vormittag auf der Botschaft gewesen und hatte dem Comte del Cornaga erklärt, er käme eben aus Paris und habe im Auftrag des dort wohnenden Pedro de Novarro, eines vornehmen Spaniers, an den spanischen Militärattaché Major Ruiz de Danis in Berlin fünftausend Mark zu zahlen. Da er aber in Erfahrung gebracht habe, daß der Major sich zurzeit in Rom befände, so bäte er den Botschafter, diese fünftausend Mark in Empfang zu nehmen, um sie dem Herrn Major bei seiner Rückkehr zu behändigen. Der Botschafter, der für den angeblichen Grafen Gothem sofort eingenommen war, fand sich dazu auf die freundlichste Weise bereit, worauf der Schwede bemerkte, er habe kein bares Geld, wohl aber einen Wechsel, den er umzusetzen wünsche. Zugleich bat er, da er in Berlin fremd sei, ihm ein Bankhaus zu empfehlen und der Form halber um eine kurze schriftliche Bescheinigung, daß der Botschafter die bewußten fünftausend Mark nach Empfang an den Major Ruiz de Danis zu zahlen bereit sei.«

»Aha! Ein neuer Trick, sich eine dringend benötigte Unterschrift zu verschaffen. Dieser Mann dürfte sein Gesellenstück schon lange hinter sich haben. Und der Botschafter witterte keine unlautere Absicht bei der doch nicht gewöhnlichen Zumutung?«

»Nein, er willfahrte dem Hochstapler, gab seine Unterschrift, die alsbald von unserem falschen Grafen nachgeahmt und auf den Unglückswechsel gesetzt wurde, und er gab auf Gothems Ersuchen ihm sogar den uns bekannten Diener mit, dem der falsche Graf bei uns das für Major de Danis bestimmte Geld einhändigen wollte.«

»Die wirkliche Absicht war natürlich, durch die Begleitung des Botschaftsdieners Ihnen seine Angaben zweifellos erscheinen zu lassen. Das muß man sagen, der Kerl versteht sein Handwerk! Wo mag er aber die Unterschrift des Botschafters unter das Papier gesetzt haben?«

»Der Konsulatsdiener brauchte einige Zeit, um einen Kraftwagen zu besorgen.«

»Natürlich! Und der edle Schwede, der wahrscheinlich nie etwas von Schweden gesehen hat, abgesehen von schwedischen Pünschen, wartete inzwischen in einer Schreibstube. Wahrhaftig, ich bin auf den Wechsel gespannt. Die immerhin schnell gemachte Arbeit des Mannes muß ich mir genauer ansehen. Soviel dürfte gewiß sein, wie die Dinge liegen, dürfen wir von heute auf morgen nichts erwarten. Wir werden uns an die morgenländische Weisheit zu halten haben, die empfiehlt, auf dem Teppich der Geduld Platz zu nehmen und die Pfeife des Abwartens zu schmauchen.«

Die Herren erhoben sich gleichzeitig. »Gut, ich werde mich in Geduld fassen, Herr Recking. Aber warum halten Sie, der uns allen als so eine Art Hellseher, möchte ich sagen, gilt, den Fall für so wenig aussichtsreich?«

»Einmal wegen des Vorsprungs, den der angebliche Schwede gewann, und dann, weil ich lügen müßte, wenn ich schon auch nur den geringsten Angriffspunkt entdeckt zu haben vorgäbe. Ins Leere werfe ich meine Fangstricke nicht gern aus.«

»Aber Sie hoffen doch, einen Anhalt zu finden?«

»Ich hoffe, daß er sich mir sogar aufdrängt. Bisher war der Zufall noch immer mein verläßlichster Adjutant; er wird mir auch diesmal seine Dienste nicht versagen.«

Der Kommerzienrat geleitete den Detektiv bis vor die Tür. »Und Herr Jens Lyhne?« fragte er.

»Der brave Lyhne wird meine Kreise ebensowenig stören wie ich die seinen. Wir haben ganz voneinander abweichende Arbeitsgepflogenheiten.«

»Nun, dann werde ich ihn nur beiläufig davon in Kenntnis setzen, daß auch hier noch weitere Nachforschungen angestellt würden. Und nun noch dies, verehrter Herr Necking: ich darf mir doch die Freiheit nehmen. Ihnen für alle Fälle eine Summe anweisen zu lassen?«

Der Detektiv, seine Handschuhe zuknöpfend, wehrte mit einer Kopfbewegung ab. »Das ist eine Angelegenheit, die Zeit hat, bis ich meinen Auftrag ausgeführt habe. Nun muß ich mich aber wirklich beeilen.«

Friedrich Lürsen sah ihm mit Wohlgefallen nach. Unwillkürlich mußte er lächeln, als er sich die letzten Worte Ralf Reckings wiederholte. In der Tat, die Gepflogenheiten dieses jungen Meisters seines Fachs, der sich durch seine Findigkeit so schnell einen geachteten Namen in Deutschland gemacht hatte, unterschieden sich von denen des dänischen Kollegen auffällig. Der selbstbewußte Jens Lyhne erkundigte sich, bevor er nach den Einzelheiten des Falles fragte, zunächst einmal eingehend über den ihm in Aussicht gestellten Lohn und stellte vor allem eine Spesenrechnung auf.

*

Wenige Minuten später trug ein Kraftwagen Ralf Recking durch die Friedrichstraße. Ein ununterbrochener Menschenstrom schob sich vor den hochragenden Häusern dahin. Die Luft bebte vom Weltgetriebe; hier war das unaufhörlich zuckende Herz des großstädtischen Lebens. Bis zu den Dächern hinauf und über sie noch hinaus schwebten und klebten die bunten Reklamen. Hast war die Losung, die den zweiteiligen Menschenstrom unaufhaltsam dahintrieb; betörende, hinreißende Eile und Überhast schienen jedermanns Schritte zu lenken.

Aber an den Ecken und Straßenkreuzungen staute sich die Menge. Vor einer Litfaßsäule, wo der Detektiv seinen Wagen halten ließ, lasen Neugierige die auf weißes Papier gedruckten Theaterzettel. Aus tausend Zeilen lockte die Sirene Vergnügen: Zirkus, Konzerte und alle erdenklichen Freuden verheißend. Dazwischen ein hochroter Zettel an auffallender Stelle mit der fettgedruckten Überschrift: »Vermißt!«

Ralf Recking hatte den Anschlag schon vom Wagen aus erspäht. Er trat heran und überflog den Text, den er selbst vor einer knappen Stunde an die Druckerei gegeben hatte. Aus den wenigen Zeilen ging hervor, daß der achtjährige Schüler Jörg Bahr sich vor zwei Tagen frühmorgens auf den Weg in die Vorschule gemacht habe, dort aber nicht eingetroffen sei und seitdem vermißt werde. Es folgten eine Beschreibung des Aussehens und der Kleidung des Knaben und die Bitte, zweckdienliche Mitteilungen gegen eine Belohnung von eintausend Mark an den besorgten Vater richten zu wollen.

Die Druckerei hatte gut und schnell gearbeitet. Der Detektiv klappte den Schlag seines Wagens wieder zu, und in kurzer Zeit fuhr er vor der Einfahrt des großen Seidenwarenhauses Bahr vor, aus der sich um diese Stunde zahlreiche Angestellte entfernten. Die mächtigen Rolläden wurden herabgelassen, Eisentüren fielen ins Schloß. Putzfrauen stiegen die Treppen hinauf. Als der Blick des Detektivs vom Aufzug aus einen der offenstehenden Arbeitsäle überflog, war auch schon die letzte Angestellte mit flinken Füßen in das abendliche Treiben der Straße hinausgeeilt.

Vor dem Arbeitszimmer des Kaufherrn standen noch einige der älteren Angestellten, die sich flüsternd und mit bekümmerten Mienen unterhielten. Sie traten vor Ralf Recking zur Seite. Er hörte hinter sich seinen Namen; einer der Männer mußte ihn erkannt haben. Ein schmächtiger, hochschultriger Buchhalter führte ihn zu Heinrich Bahr.

Der blasse, in begreiflicher Aufregung verstört aussehende Mann atmete tief auf: »Gott sei Dank, daß Sie da sind, Herr Recking!« Er reichte dem Detektiv die Hand und wies nach dem Stuhl neben dem Schreibtisch. »Ich danke Ihnen, daß Sie den Anschlag besorgen ließen. Ich hatte den Kopf verloren.« Mit einer jähen Bewegung fuhr er sich mit dem Tuch über die Stirn. »Mein armer Junge! Alle fünf Minuten rief ich meine Hausdame an. Ergebnislos! Ich fürchte, es ist kein gewöhnlicher Großstadtunfall, bester Herr Recking; wir müßten doch sonst irgendwelche Nachricht haben, aber auf keiner der Unfallstellen ist etwas bekannt. Glauben Sie, daß ein Verbrechen geschehen sein könnte? Was sagen Sie? Verschweigen Sie mir Ihre Gedanken nicht.«

Der Detektiv suchte den tieferregten Mann zu beruhigen. »Vorderhand liegt weder für die eine noch für die andere Auffassung irgendein zwingender Grund vor. Sie dürfen auch nicht vergessen, daß ich ja zunächst nichts weiter weiß, als was ich auf Grund unserer Unterredung durch den Fernsprecher auf das Plakat drucken ließ. Es wird davon abhängen, was ich durch eine ausführliche Schilderung des bedauerlichen Vorfalls weiter höre, ob sich ein Anhaltspunkt oder irgendein Fingerzeig nach der einen oder anderen Richtung findet. Aber das wird nur möglich sein, wenn Sie sich zu sammeln suchen. Wollen Sie denn hier bleiben?«

»Durchaus nicht. Ich wartete nur, bis Sie kamen. Sie sind pünktlich auf die Minute, wie ich sehe.«

»Und jetzt wollen Sie in Ihre Wohnung fahren?«

»Nachdem wir uns gesprochen haben. Ich wohne dicht am Wannseebahnhof Friedenau.«

»Und wie fahren Sie nach Hause, Herr Bahr?«

»Sonst mit der Bahn. Warum fragen Sie?«

»Wir könnten von hier in meinem Wagen fahren, den ich unten warten ließ. Ich bringe Sie hinaus, und Sie könnten mir unterwegs erzählen.«

»Das wäre allerdings das beste. Indessen, viel Neues habe ich meinem schon telephonisch an Sie gerichteten Hilfeschrei nicht hinzuzufügen. Mein lieber, kleiner Jörg ist verschwunden, das ist alles!«

»Nein, das ist nur der Anfang. Ein paar Fragen müssen Sie mir unterwegs schon noch erlauben. Sind Sie bereit?«

»Ja, wir können fahren.« Heinrich Bahr ließ dem Detektiv den Vortritt. Der Fahrstuhl trug sie hinunter. Das Haus lag jetzt schon in tiefer Stille.

»Wohin?« fragte Ralf Recking, die Wagentüre öffnend.

»Begasstraße 54,« sagte Herr Bahr, der sich müde seufzend in die Polster fallen ließ. Als der Detektiv sein Feuerzeug entzündete, um sich eine Zigarette anzubrennen, sah er, daß der unglückliche Vater die Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, geschlossen hielt. Gewiß hatte der Mann in den letzten Nächten kein Auge zugetan.

Nachdem das Gefährt in die Leipziger Straße eingebogen war, fuhr Herr Bahr erschreckt in die Höhe. »Bitte, fragen Sie mich! Fragen Sie nach allem, was Ihnen zu wissen nötig scheint.«

Ralf Recking begann: »Sie kamen am Donnerstag, wie heute, nach der Geschäftszeit nach Hause und hörten …«

»Nein – verzeihen Sie, daß ich unterbreche. Es ist doch besser, ich erzähle alles zunächst selbst. Es fällt mir ein, daß ich Ihnen am Apparat doch nur die allgemeinsten Angaben machte. Die Sorgengeschichte begann schon am Donnerstag mittag um zwölf Uhr. Ich pflege erst am Abend in meiner Wohnung zu essen. Mittags nehme ich ein Frühstück in der Stadt ein. Ich wollte gerade dazu aufbrechen, als mich Fräulein Hempel, meine Hausdame, anläutete und fragte, ob Jörg bei mir im Kontor wäre. Es kam vor etlichen Wochen ab und zu vor, daß er mich im Geschäft abholte. Das war aber jedesmal vorher abgemacht worden; ich wollte damals mit ihm zum Photographen.«

»Ist Ihr Sohn selbständig von Friedenau zu Ihnen gefahren?«

»Ja. Und es machte ihm großes Vergnügen, daß ihm das erlaubt wurde. Wie gesagt, ich hatte alles genau mit ihm besprochen, und ein Fehlgehen war unmöglich. Sonst kam er allerdings nie allein bis nach Berlin herein. Fräulein Hempel fragte also an, und ich antwortete sehr erstaunt; worauf ich hörte, daß mein Sohn, der um elf aus der Schule kommen mußte, bis ein Uhr noch nicht nach Hause zurückgekehrt wäre. Mitschüler, die Fräulein Hempel ausfragte, sagten ihr, daß mein Junge gar nicht in der Schule gewesen sei. Das genügte, um mich zu veranlassen, sofort heimzufahren. Der Junge war noch immer nicht da. Ich eilte nun in die Schule und traf Jörgs Klassenlehrer noch dort an. Ich war im höchsten Grade bestürzt, als mir der Herr versicherte, daß mein Junge nicht nur am Donnerstag in der Schule gefehlt habe, auch am Dienstag und Mittwoch wäre er nicht in der Klasse gewesen.«

Ralf Recking achtete auf jedes Wort. Er hielt es nicht für gut, den bekümmerten Vater in seinem Bericht zu unterbrechen.

»Das schien mir ganz unbegreiflich, denn mein braver Junge ging an beiden Tagen zur richtigen Zeit nach seiner Schule und kam pünktlich zur richtigen Stunde wieder nach Hause. Daß er nicht absichtlich die Schule versäumt haben konnte, stand bei seinem Lehrer wie bei mir fest. Auch unter den Mitschülern Jörgs ist nicht ein einziger, der ihm einen Dummenjungenstreich dieser Art zutraut. Sie glaubten alle, Jörg sei krank. Das Rätselhafteste all dieser Unerklärlichkeiten ist folgendes. Am Dienstag gegen Mittag wurde der Direktor der Schule telephonisch – angeblich von Fräulein Hempel – angerufen, die ihm meldete, Jörg sei leicht erkältet und müsse zwei Tage daheim bleiben. Sagen Sie selbst, ob es nach alledem noch möglich ist, an ein zufälliges Unglück zu glauben?«

»Das scheint unter diesen Umständen allerdings nicht glaubhaft. Da scheidet die Annahme eines Unglücksfalles aus. Unverständlich ist mir nur, warum Sie mich nicht eher benachrichtigt haben.«

»Ich suchte, unterstützt von der Polizei, ganz Friedenau und halb Schöneberg ab. Ich hoffte doch von Minute zu Minute, Jörg werde wiederkommen. Ist es sehr schlimm, daß auf diese Weise ein Tag verloren ging?«

»Könnte irgend jemand wünschen, daß Sie Ihren Sohn nicht bei sich behalten?« sagte Ralf Recking rasch, der Antwort ausweichend. »Sie werden sich das allerdings selbst schon gefragt haben.«

»Das ist es ja! Ich kann mir keinesfalls denken, nicht einmal vermuten, wo ein Feind zu suchen sein könnte. Aber in den Niederungen der Verbrecherwelt gibt es ja bekanntlich Halunken, die aus dem Kinderraub ein Gewerbe machen …«

Der Detektiv wehrte den Gedanken ab: »Bestimmte Vermutungen bestehen also nicht? Sie sind sich keiner persönlichen Feindschaft bewußt? Und Sie sind Witwer. Lebt die Familie Ihrer verstorbenen Gattin hier?«

Heinrich Bahr verneinte. »Meine Gattin besaß keine näheren Angehörigen, als sie starb. Ich will Ihnen gelegentlich von dem traurigen Schicksal, das mich heimsuchte, mehr sagen.«

»Bitte, verschieben Sie das nicht. Ich muß alles wissen. Unzart scheinende Fragen dürfen Sie nicht verletzen. Lebten Sie in ungetrübtem Glück mit Ihrer Frau? Wer war sie? Wo lernten Sie sich kennen?«

»Hat das wirklich nicht Zeit – ich meine, – wo wir doch jetzt an Näherliegendes zu denken haben?«

»Sie würden mir meine Aufgabe mit Beantwortung einer jeden Frage, die mir wissenswert erscheint, sehr erleichtern.«

»Nun, wenn es sein muß. Übrigens sind wir gleich bei meiner Wohnung angelangt. Sie haben noch Zeit?«

»Ihre Angelegenheiten gehen im Augenblick allem anderen vor.«

»Dann darf ich Sie bitten, mit hinaufzukommen.«

Auf der Treppe wurden sie von Fräulein Hempel empfangen. Herr Bahr stellte den Detektiv vor, der von ihr in den Salon geleitet wurde. Der Raum war gediegen, aber ohne besonderen Kunstgeschmack eingerichtet. Ralf Recking sah sofort, daß er nicht allzuoft benützt wurde. Ein großes Ölgemälde, eine jugendliche Dame mit lächelndem Mund, in Federhut und Pelz, fesselte ihn. Ob das die verstorbene Hausfrau war?

Da trat Herr Bahr ins Zimmer. »Setzen wir uns,« sagte er. In dem hellen Licht sah er noch elender und verfallener aus als vorhin.

»Sie wünschten einiges über Jörgs Mutter zu hören,« begann er. »Hier sehen Sie ihr Bild.« Er wies auf das Ölgemälde in dem schweren Goldrahmen. »Ich lernte meine Frau in Brüssel kennen, wo das Seidenhaus von Fouchard, dessen Familie meine spätere Gattin Eugenie angehörte, seinerzeit zu den bedeutendsten zählte. Mein Schwiegervater machte leider Bankrott. Eugenie besaß keine Mitgift, als wir getraut wurden. Das war für mich insofern eine Enttäuschung, als mein eigenes Geschäft noch in kleinen Anfängen steckte und mich mein Schwiegervater vor der Verlobung im Glauben hielt, daß seine Tochter eine glänzende Partie sei. Ich darf das offen aussprechen, denn es gelang mir, den Umschwung der Verhältnisse sehr rasch zu überwinden, da ich meine Frau aufrichtig liebte. Léon Fouchard, mein Schwiegervater, überlebte den Zusammenbruch seines Geschäftshauses nur um wenige Wochen. Geschwister besaß meine Frau nicht. Ein Jahr nach unserer Trauung wurde Jörg geboren. Ich hätte somit alles zum Glück gehabt, zumal sich mein Geschäft unerwartet gut entwickelte.«

»Wenn der Tod Ihnen nicht Ihre Frau Gemahlin entrissen hätte?«

Heinrich Bahr zögerte mit der Antwort. Erst nach längerer Pause begann er: »Dieser unglückselige Tag kam erst viel später. Jörg war schon sechs Jahre alt. Nicht viel hätte gefehlt, und das Kind wäre mir damals schon verlorengegangen.«

»Wie ist das zu verstehen, wenn ich fragen darf?« Ralf Recking unterdrückte eine zweite Frage. Er glaubte aus den zögernden Worten herausgehört zu haben, daß die Ehe nicht ungetrübt gewesen war.

»Meine Frau führte noch einigen Briefwechsel mit ihrer Heimat. Besonders einer Jugendfreundin war sie sehr zugetan, die nach ihrer Heirat von Brüssel nach London gezogen war. Vor zwei Jahren folgte meine Frau einer Einladung nach England. Sie hatte den Fuß kaum aufs Schiff gesetzt, da ereilte sie der Tod. Ich darf Ihnen Einzelheiten erlassen, denn die Explosionskatastrophe, der die ›Thetis‹ bei ihrer Ausreise zum Opfer fiel, ist gewiß noch in Ihrem Gedächtnis. Meine Frau gehörte zu den unglücklichen Passagieren, die niemals wiederkehren sollten.«

»Und wie hängt dieser schwere Schlag, der Sie heimsuchte, mit Ihrem Sohn zusammen?« fragte Ralf Recking, als Herr Bahr schweigend verharrte.

»Ach ja! Das war das einzige Glück im Unglück. Ich konnte meine Frau nicht begleiten, denn es bestanden damals glücklicherweise bald überwundene Störungen in meinem Geschäftsbetrieb, und ich mußte unbedingt in Berlin bleiben. Mein Junge trug den Arm in der Binde, den er sich beim Turnen verstaucht hatte; es war nicht gefährlich, aber immerhin genug, daß ich entgegen den Bitten meiner Frau, die das Kind durchaus mitnehmen wollte, Jörg hier behielt. Wäre er mitgereist, hätte er sicher das Los seiner Mutter geteilt. Und nun mußte mich heute noch dieser Schlag treffen, um mich vollständig unglücklich zu machen.«

Ralf Recking beschattete seine Augen mit der Hand. Eine Zeitlang war nichts im Zimmer zu hören als der gleichmäßige Schlag der eichenen Standuhr und ab und zu dazwischen ein Aufseufzen des bekümmerten Vaters, der unablässig nach der Tür horchte. Dann schrillte draußen die Klingel, und Heinrich Bahr sprang auf und eilte zur Tür. Eine Männerstimme klang zu Ralf Recking herein. Gleich darauf brachte der Hausherr einen Herrn Nuck, wie er ihn vorstellte, ins Zimmer. Herr Nuck, in einer der angrenzenden Straßen wohnend, war mit seinem zehnjährigen Töchterchen gekommen. Das Mädchen hatte ganz verweinte Augen und sah erschrocken zu Ralf Recking auf. Es war die Jugendgespielin des vermißten Jörg Bahr. Die Kinder waren alltäglich zusammen gewesen und liebten sich zärtlich. Es war begreiflich, daß Herr Bahr sein Söhnchen bei dieser Familie zuerst gesucht hatte.

»Ich dachte nicht daran, Ihnen zu sagen,« wandte er sich an den Detektiv, »daß mein Junge am Dienstag gegen Abend bei Annemarie Nuck gewesen ist. Das war nicht auffallend, da ja noch kein Mensch ahnte, daß er am Vormittag, wie auch am Tage vorher, nicht in seiner Klasse gewesen war.«

»Ich selbst habe den Jungen nicht gesehen,« sagte Herr Nuck. »Und ebensowenig meine Frau. Sonst wäre mir sein absonderliches Wesen gewiß aufgefallen, von dem unsere Annemieze nachher uns erzählte. Nur daß auch sie in dem lebhaft erregten Gebaren des Kleinen an jenem Abend nichts Besonderes gesehen hat. Erst seit er fehlt, gewannen diese Dinge Bedeutung.«

»Das ist begreiflich,« meinte Herr Bahr. »Ich selbst war ja mit Blindheit geschlagen. Hinterdrein, als ich mir jeden Augenblick des Zusammenseins mit dem Jungen wieder ins Gedächtnis rief, erinnerte auch ich mich seiner Hastigkeit beim Abendessen und seiner Einsilbigkeit am Dienstag abend; Fräulein Hempel, die ihn zu Bett brachte, will ihn am Dienstag unterdrückt weinen gehört haben. Sie machte Licht, aber da lag er anscheinend schon in tiefem Schlummer, und sie glaubte sich getäuscht zu haben.«

»War das am Dienstag abend?« fragte der Detektiv Fräulein Hempel, die hinter Annemarie Nuck eingetreten war. »Entsinnen Sie sich dessen ganz genau? War es nicht am Mittwoch?«

»Nein, am Dienstag. Am Mittwoch schlief er sofort ein; er schien sehr ermüdet.«

»Und dem Direktor der Schule«, forschte Recking weiter, »wurde von unbekannter Seite telephonisch mitgeteilt, daß Ihr Sohn zwei Tage das Zimmer hüten müsse? Das wäre also Dienstag und Mittwoch gewesen.«

»Ja, so ist es. Schließen Sie etwas daraus?«

»Vielleicht. Ich könnte mir aus diesen beiden Angaben zusammenreimen, daß die Entfernung Ihres Sohnes, wie ich es einmal nennen will, zuerst für Mittwoch geplant war, im letzten Augenblick aber auf einen anderen Tag verschoben wurde. Ihr Töchterchen, Herr Nuck, sah den kleinen Kameraden also nur einmal, und zwar am Dienstag?«

»Ja! Sie hat ihn gesehen und gesprochen. Und zwar in unserem Hausflur. Er machte ihr eine Andeutung, daß er vielleicht nicht mehr in die Schule zu gehen brauche, aber sie dürfe es niemand sagen. Und dann schenkte er ihr zwei Bonbons. Ich habe die Stanniolhülle und das Seidenpapier mitgebracht.«

»Das ist ein guter Gedanke, Herr Nuck. Diese Kleinigkeiten können von großem Wert sein.«

»Das dachte ich mir. Und deswegen kam ich auch.«

Ralf Recking betrachtete die Stanniolstückchen und das weiße Papierchen, an dem noch eine Spur von Schokolade haftete.

»Also wenigstens eine kleine Handhabe!« sagte er dann. »Ich nehme diese Sachen an mich. Könnte ich sonst noch etwas erfahren?«

Plötzlich fiel Fräulein Hempel ein: »Ein winziges Federkielchen in Papier könnte ich Ihnen noch bringen, das ich in Jörgs Stube gefunden habe. Da Ihnen solche Kleinigkeiten wertvoll scheinen …«

»Aber geschwind, liebstes Fräulein! Versteht sich! Solche Kleinigkeiten, wie Sie es nennen, können die wertvollsten Anhaltspunkte bieten. Nichts, nicht das geringste ist unwesentlich!«

Als Fräulein Hempel mit dem Federkiel – einem Zahnstocher – wiederkehrte, erhellte sich Ralf Reckings Gesicht. »Gottlob!« sagte er, als er die Seidenpapierhülle betrachtet hatte. »Der goldene Firmenaufdruck des hiesigen Luxuspapiergeschäfts von Lohmer. Die erste Handhabe wäre gefunden! Ich kann Sie nun schon über einen Punkt beruhigen, Herr Bahr: der oder auch die mutmaßlichen Entführer Ihres Sohnes sind nicht unter jenen Leuten zu suchen, von denen Sie heute sprachen.«

»Und das scheint Ihnen durch dies Stückchen Papier annehmbar?« fragte Heinrich Bahr ungläubig und doch freudig erregt.

»Diese Bonbonhüllen und das Papier mit dem Namen Lohmer sind mir Goldes wert. Diese Art von Bonbonverpackung wird bekanntlich bei ganz auserlesenen Dessertbonbons verwendet, wie sie beispielsweise nur in unseren ersten Weinrestaurants oder Hotels zum Nachtisch gereicht werden. Und was diese verpackten Gänsekielzahnstocher anbelangt, so bürgt mir der Name der darauf angebrachten Firma für die Art der Käufer. Ich bin mit diesen Fingerzeigen sehr zufrieden. Wollen Sie mir, bitte, jetzt noch die Photographie Ihres Sohnes geben.«

Als Ralf Recking das Bild eine Weile betrachtet hatte, erhob er sich. Liebkosend fuhr seine Hand über den goldblonden Scheitel der kleinen Annemarie. »Nun hast du keine Angst mehr, wie? Ich will mir rechte Mühe geben, dir deinen lieben Spielkameraden recht bald wiederzubringen!«

*

Als Ralf Recking die innere Stadt wieder erreicht hatte, waren längst alle Geschäfte geschlossen. An ein Aufnehmen irgendeiner Spur war zunächst nicht zu denken. Aber auch der andere Fall lag ihm am Herzen, und da er nicht zu den Menschen gehörte, die auf morgen verschoben, was heute zu erledigen war, lenkte er seine Schritte nach dem Alexanderplatz. Im Polizeipräsidium durfte er hoffen, noch einen der diensthabenden Herren anzutreffen, die um die Wechselfälschung wußten. Polizeihauptmann Eckhardt begegnete ihm auf der Treppe.

»Eben will ich gehen, lieber Recking. Und nun kommen Sie, um mir die Nachtruhe zu rauben.«

Ralf Recking drückte dem Freund lächelnd die Hand. »Mein lieber Eckhardt, Ihre Befürchtung ist grundlos. Ich freue mich aber, daß ich Sie vor Torschluß noch abgefaßt habe. Sagen Sie mir, wer die Wechselfälschung bearbeitet, die am Donnerstag bei Lürsen & Doller ins Werk gesetzt wurde.«

»Ich selbst. Wieviel Privathäscher brachte denn die Firma auf die Beine?«

»Ach so! Natürlich war der Däne Jens Lyhne schon bei Ihnen?«

»Ja, allerdings nur sehr kurz.«

»Ich werde Sie, wie Sie mich kennen, nicht länger aufhalten. Sie haben den Wechsel und einen Stock hier?«

»Kommen Sie! Sie sollen beides sehen. Es ist wenig genug, aber wer die nötige Einbildungskraft besitzt, kann trotzdem damit weit kommen.«

Hauptmann Eckhardt schloß sein Dienstzimmer und in diesem einen Schrank auf. Ralf Recking schaltete die elektrische Birne über dem Schreibtisch ein. Eckhardt legte den Spazierstock und das Papier vor ihn hin.

»Außerordentlich geschickt gemacht!« sagte der Detektiv, das Wechselformular gegen das Licht haltend. »Mit bloßem Auge ist bei keiner Unterschrift ein unsicherer Strich zu sehen. Sicher und mit fester Hand hingesetzt. Der Mann ist, wie ich schon zu Kommerzienrat Lürsen sagte, sicherlich kein Neuling.«

»Das glaube ich auch. Die Geschichte mit dem Botschafter gehört sogar zum Dreistesten, was mir seit langem vorgekommen ist.«

Ralf Recking nahm seine Bleifeder und kopierte die Handschrift, deren wichtigster Teil ihm die von dem angeblichen Grafen Gothem bei Lürsen & Doller vollzogene Quittung war. Die energischen Grundstriche, besonders bei dem F und dem G des Namens Fredrik Gothem fielen ebenso auf wie die Art, mit der eine Schleife unter den Namen gezogen war; und alles Augenfällige war naturgemäß wertvoll. Nach wenigen Minuten wanderte die Bleifedernachahmung in Ralf Reckings Brieftasche.

»Hat's lange gedauert?«

»Kaum der Rede wert. Herr Lyhne machte sich die Sache leichter; er legte auf das Geschriebene gar keinen Wert. Ihn fesselte nur der Stock, den er für dänische Arbeit erklärte.«

Ralf Recking lachte. »Ja, und daraufhin fuhr er nach Warnemünde und verhaftete dort einen Oberstleutnant mit einem Köfferchen, das statt der sechsundneunzigtausend Mark eine Perücke enthielt.«

Nun lachten beide.

»Dänische Arbeit?« Der Detektiv wog den Stock in der Hand. »Will mir nicht einleuchten. Aber die Grafenkrone gefällt mir. Die Schnittflächen der Gravierung sind noch scharf, und das Metall glänzt noch wie nach dem ersten Schnitt. Das wird einen Versuch lohnen.«

Er pauste die Krone mit der unteren Fläche des Bleistiftes auf ein Stück Papier. »Das wäre für heute genug. Ich danke Ihnen, Eckhardt. Daß ich Ihr besonderer Quälgeist bin, liegt leider in der Natur der Dinge und im Lauf der Welt.«

»Hat nichts zu sagen. Solche Quälereien lassen sich noch ertragen. Möchten Sie mehr Glück haben! Wir stehen noch vor einem undurchdringlichen Dunkel. Nachforschungen in Helsingborg ergaben, daß kein Graf Gothem dort bekannt ist.«

»Das nahm ich ohne weiteres an. Aber selbst wenn sich der Hochstapler einen echten Namen geliehen hätte, würde die Nachforschung in Helsingborg ergebnislos gewesen sein.«

»Möglich, aber es war doch der natürliche Weg. Ich persönlich glaube allerdings, daß der angebliche Schwede sich noch in Berlin aufhält, weil erfahrungsgemäß Herrschaften, die viel für ihre Person zu fürchten haben, in der Großstadt noch immer verhältnismäßig gut geborgen sind. Unser Sicherheitsdienst auf den Bahnhöfen ist, wie der Gauner sehr wohl wissen wird, genau unterrichtet.«

»Daran erlaube ich mir in diesem Fall zu zweifeln,« meinte der Detektiv. »Dazu ist mir der Anstrich des Mannes mit dem schwedischen Paß und dem französisch abgefaßten Wechsel zu international. Seine Beziehungen deuten mir mehr ins Ausland, wo er auch – vielleicht zufällig – die nötigen Kenntnisse über den Major Ruiz de Danis herhaben mag. Solche Leute steuern nach vollbrachter Tat gern wieder ins Weite. Na, das wird die Zukunft lehren. Nur eine Frage noch, lieber Eckhardt. Haben Sie die Schrift der Quittung mit den eingehenden Meldezetteln der Hotels und Pensionen vergleichen lassen?«

»Versteht sich. Leider ohne Erfolg.«

»Auch das war bei einem, der sein Handwerk versteht, vorauszusehen. Nun, leben Sie wohl, lieber Freund.«

»Haben wir nicht denselben Weg?« fragte der Hauptmann, das Zimmer abschließend.

»Leider muß ich noch zum ›Stadtanzeiger‹; auch sonst gibt es gerade jetzt für mich mehr als reichlich Arbeit. Wenn ich die Fäden ausgesponnen habe, melde ich mich wieder bei Ihnen.«

Noch ein eiliger Händedruck, dann sprang Ralf Recking auf den gerade unter der Bahnüberführung haltenden Motoromnibus. Der Wagen brachte ihn fast bis vor die Tür des Berliner Stadtanzeigers. Als er den geräumigen Neubau des großen Zeitungsunternehmens betrat, fand er alle Fenster hell erleuchtet. Ein dumpfes Rasseln und Dröhnen kam aus den Hofgebäuden. Hier ruhte die Arbeit nicht, wenn es draußen Nacht war. Auch einer der ihm bekannten Herren saß noch am arbeitüberhäuften Tische. Über einen wahren Berg von Papieren und Zeitungsblättern reichte der Beamte dem Detektiv die Hand.

»Sie beehren mich, Herr Recking? Dann geht etwas Wichtiges vor. Sonst hätten Sie angerufen. Wen haben Sie denn zur Beruhigung des Menschengeschlechts dingfest gemacht?«

»Niemand! Ich lege erst eine Angel aus. Haben Sie noch einen Platz in Ihrer Annoncenbeilage für mich übrig?«

»Für die Morgenausgabe? Das wird schwer sein. Die Postauflage kommt gleich aus der Presse, da ist nichts zu machen. Höchstens in der Stadtauflage könnte es noch gehen. Wieviel Raum wäre nötig?«

»Nur ein paar Zeilen. Und die Berliner Ausgabe genügt mir vollkommen. Ich schreibe schon, wie Sie sehen.«

Eine Minute später überlas der gefällige Zeitungsmann das von Ralf Recking beschriebene Blatt und lachte: »Weiter nichts? … ›Graveur wolle sich gegen angemessene Belohnung sofort telephonisch unter Lützow 3068 melden, der in den letzten Wochen in eine silberne Zylinderkrücke eine neunzackige Krone gravierte. Verschwiegenheit zugesichert.‹«

»Ein Versuch. Habe ich Glück damit, bringt er mich eine gute Strecke weiter.«

»Schön, Herr Recking. Daß Sie nichts nutzlos ins Blatt setzen, weiß ich. Die Morgenausgabe soll es bringen. Wären Sie fünf Minuten später gekommen, wäre es unmöglich gewesen. Die silberne Zylinderkrücke rührt selbstverständlich aus einem Einbruchsdiebstahl her. Einbruch in einem gräflichen Haus, was?«

»Amtsgeheimnis!«

»Und der Dieb schon über alle Berge?«

»Woraus schließen Sie das?« fragte Ralf Recking belustigt.

»Weil ich mich aus einer früheren Unterhaltung mit Ihnen zu entsinnen glaube, daß Sie mit Anzeigen sehr sparsam umgehen, um die gesuchten Ehrenmänner nicht stutzig zu machen. Sie sehen, ich vergesse nichts, was Sie mir an Kniffen verraten.«

»Künftig werde ich vorsichtiger sein; ich sehe, daß ich mir sonst gefährliche Nebenbuhler großziehe.«

Ein kurzer Dank, ein verbindlicher Händedruck, und der Fahrstuhl trug Ralf Recking hinunter. Er wanderte eine große Strecke zu Fuß in der Richtung nach seiner Wohnung. Der heutige Abend befriedigte ihn noch nicht, denn in beiden Fällen, die ihm der Tag gebracht, ruhte alles auf mehr oder weniger luftigen Hoffnungen. Nur zu leicht war es möglich, daß ihm der Boden, auf dem er jetzt seine Pläne aufbauen wollte, schon am nächsten Morgen unter den Füßen weggezogen wurde, wenn ihm nicht der Zufall, wie so oft, günstig blieb. Aber eine Beruhigung erfüllte ihn: das Vertrauen zu seiner Überzeugung, daß man dem Gefühl nachgehen müsse. Auch Jens Lyhne pflegte das zu tun, ohne aber in diesem Falle zum Ziele gelangt zu sein. Warum sollte es ihn jedoch täuschen, dem es sich so vielfach als stärkste Hilfe erwiesen hatte?

Wenn die Anzeige keinen Erfolg brachte, dann fehlte ihm im Falle des falschen Grafen der Angriffspunkt, von dem aus weiterzuarbeiten ihm vorschwebte. Und nicht besser erging es ihm im Falle Bahr, wenn er nicht festzustellen vermochte, in welche Hände die Federkielzahnstocher des Luxuspapiergeschäftes gewandert waren. Und andere Wege sah er für sich zunächst nicht vor sich. Das blieb der Nachteil gegenüber den staatlich organisierten Kriminalisten, daß dem Privatdetektiv nur seine persönliche Findigkeit und Geschicklichkeit zu Gebote standen, während die Polizei mit einem Massenaufgebot auftreten konnte. Sie sperrte die Bahnhöfe und die Häfen, sie umlauerte die Schlupfwinkel, wo nach ihrer Kenntnis die Spitzbuben aus und ein zu gehen liebten; sie konnte große Strecken zu gleicher Zeit absuchen lassen. Demgegenüber waren die Mittel eines allein arbeitenden Detektivs beschränkt. Er war einzig auf sich angewiesen. Um so achtungswerter war dann allerdings auch sein Erfolg. Ralf Recking mußte über sich selbst lächeln, daß er heute, mit ehrgeizigen Plänen spielend, anfing, ungeduldig und unruhig zu werden. Damit kam er nicht vorwärts. Er hatte den beiden Herren Bahr und Lürsen Geduld gepredigt und ertappte sich selbst auf grenzenloser Ungeduld.

Er steckte sich eine Zigarette an, schlug den Mantelkragen hoch und gelobte, sich am heutigen Abend durch keinen Gedanken mehr mit beiden Fällen zu beunruhigen. Erst nach einem tüchtigen Nachtmarsch durch den schweigenden Tiergarten und ein gutes Stück nach Charlottenburg hinaus langte er in seiner Wohnung an. Die kühle Luft hatte ihm wohlgetan. Traumlos schlief er bis zum lichten Morgen.

*

Nach einem erfrischenden Bad machte Ralf Recking sich auf den Weg in die Lohmersche Papierhandlung, die Sonntags nur eine Stunde geöffnet war, und ließ sich von einem der bedienenden Fräulein zum Inhaber des Geschäftes führen. Als er nach einer knappen Viertelstunde das Haus wieder verließ, lag auf seinen Lippen ein befriedigtes Lächeln. Die Auskunft des sehr bereitwilligen Herrn Lohmer, dem er den Gänsekielzahnstocher in seiner Umhüllung vorgelegt, lautete ermutigender, als der Detektiv erwartet hatte. Solche Umhüllungen mit goldenem Firmenaufdruck führte das Geschäft erst seit wenigen Wochen; früher wurde der in kleiner Perlschrift gemachte Aufdruck in roter und blauer Schrift hergestellt. Bisher war von den neuen Beständen überhaupt noch nichts im Kleinhandel abgegeben worden, da erst noch einige Reste der alten Art abgesetzt werden sollten. Über den Verkauf der neuen Zahnstocher hatten die Geschäftsbücher einwandfrei Aufschluß gegeben; es handelte sich vorerst nur um drei gelieferte Posten, von denen einer an den Generalkonsul Rembert nach dessen Grunewaldvilla, ein zweiter an den Erbküchenmeister des Prinzen Friedrich Anton, Oberstleutnant v. Mößlacher, nach der Neuen Kantstraße, und der dritte Posten an die Hotelleitung des »Königshofs« gesandt waren.

Nach Ralf Reckings Meinung schieden die ersten beiden Käufer ohne weiteres aus. Der nächste Gang mußte also dem Hotel Königshof gelten. Eben winkte sich Ralf Recking einen Kraftwagen heran, als in einem zweiten, ihm entgegenfahrenden ein Herr dem Fahrer das Haltezeichen gab und lebhaft herauswinkte. Recking erkannte, daß es Kommerzienrat Lürsen war. Der Wagen hielt.

»Hocherfreut, Herr Recking, daß ich Sie treffe! Denken Sie, was mir zugestoßen ist!« Und Herr Friedrich Lürsen zog einen Brief mit dänischer Marke aus der Tasche. »Die Saat Ihres Kollegen Jens Lyhne ist unheilvoll aufgegangen. Offenbar muß sich der Herr auf unser Haus berufen haben, als er in Warnemünde den Oberstleutnant verhaften wollte. Denn soeben erhalte ich als Sonntagsmorgengruß diesen sacksiedegroben Brief, worin sich der Oberstleutnant bitter beschwert. Scheint ein sehr kriegerischer Herr zu sein, der uns mit einer Schadenersatzklage droht, weil er durch uns die größten Unannehmlichkeiten gehabt habe.«

»Wegen seiner Reserveperücke?« Ralf Recking lachte.

»Ja, lesen Sie nur selbst. Der ganze Hofstaat des Fürsten scheint sich über den unliebsamen Vorfall lustig zu machen. Mir äußerst peinlich, wie Sie sich denken können …«

Kaum hatte der Detektiv den Brief in die Hand genommen und nach der Unterschrift gesehen, als er sich mit der Hand nach der Stirn faßte. Was war das? Unter diesem Briefe stand groß und deutlich, von fester Männerhand geschrieben: »v. Mößlacher, Oberstleutnant z. D., Erbküchenmeister Seiner Fürstlichen Durchlaucht des Prinzen Anton Friedrich!«

Er lächelte gezwungen: »Was hat denn dieser Unglückswurm hier zu schaffen …!«

»Das ist doch der Herr,« sagte Kommerzienrat Lürsen, die nur gemurmelten Worte auffangend, »der nach Herrn Lyhnes Meinung der Täter war!«

»Welcher Täter? – Entschuldigen Sie! Der Name – gerade hatte ich ihn mir notiert – in einer ganz anderen Angelegenheit. Ein drolliger Zufall!«

»Ich verstehe nicht, Herr Recking,« sagte Friedrich Lürsen. »Wenn wir von einer Angelegenheit reden, darf ich doch wohl voraussetzen, daß es sich ausschließlich um die unsere handelt. Ich finde die Suppe, die mir Herr Lyhne eingebrockt hat, wenig angenehm.«

Da reichte der Detektiv den Brief zurück; er hatte gar nicht gehört, was der Kommerzienrat sagte. »Ich komme bald zu Ihnen,« sagte er. »Ich will heute noch zur spanischen Botschaft. Brauche einige weitere Aufklärungen. Bis dahin wird sich auch dieser Zufall aufgeklärt haben, der mich hier zu äffen schien. Sagen Sie nur eins: Hat sich Herr Jens Lyhne darüber geäußert, wie er zu der Auffassung gekommen ist, hinter diesem Oberstleutnant v. Mößlacher herjagen zu müssen?«

Friedrich Lürsen hatte sich beruhigt; einen Augenblick war er an Ralf Recking irre geworden, der verschiedene Fälle zusammenzuwerfen schien.

»Über seine Beweggründe hat sich der Däne ausgeschwiegen. Und dann – Auffassung ist eben Auffassung. Im übrigen finden Sie mich immer zur gewohnten Zeit in meinem Kontor.«

Ralf Recking blieb noch eine Weile stehen und sah dem Wagen des Kommerzienrats nach. Dann stieg er in die vorgefahrene Kraftdroschke und nannte als Fahrziel das Hotel Königshof.

Wunderlich blieb es doch, daß ihn dieser Name stutzig gemacht, der wie ein Kobold beim neckischen Spiel bemüht schien, den einen Fall in den anderen hineingreifen zu lassen. Der Erbküchenmeister hatte sicherlich nichts mit dem Wechselfälscher zu tun und gewiß noch weniger mit der Kindesentführung, die ihre Aufklärung finden mußte. Und nun klang sein Name in beide Fälle hinein, die nichts miteinander gemein haben konnten. Trotz dieses augenblicklichen Gedankens behielt Reckings Gesicht einen nachdenklichen Zug.

Der Direktor des großstädtischen Hotelpalastes, dem der Detektiv kein Fremder war, sah erstaunt, aber keineswegs unfreundlich auf. Dann reichte er ihm bewillkommnend die Hand.

»Ehe ich zu meinem eigentlichen Anliegen komme,« begann Ralf Recking, als er sich mit dem Direktor allein sah, »gestatten Sie mir eine Frage, die mir eben durch den Kopf schoß: Kennen Sie einen Oberstleutnant v. Mößlacher?«

»Mößlacher?« Der Direktor sah nach der Decke. »Oberstleutnant Mößlacher? … Der Name ist mir nicht unbekannt. Sie wissen, daß hier viele Offiziere verkehren. Doch – warten Sie mal! Heißt nicht so der Hofchef des Prinzen Friedrich Anton? Natürlich! Wenn Sie den meinen, Herr Recking – den alten Herrn kenne ich. Sehr genau sogar. Vor anderthalb Jahren wurde ja bei uns die Hochzeitstafel des Prinzenpaares ausgerichtet.«

»Das scheint der Herr zu sein, den ich meine. Verkehrte er in letzter Zeit bei Ihnen?«

»Ich erinnere mich nicht. Es könnte sich nur um einen Besuch unseres Weinrestaurants handeln, und auch das scheint mir ausgeschlossen. Zudem nehme ich mit Sicherheit an, daß der alte Herr in der jetzigen Jahreszeit auf dem Landsitz des Fürsten tätig ist. Ein prächtiger Herr, trotz einiger Wunderlichkeiten. Hoffentlich ist nicht bei ihm eingebrochen worden?«

»Bewahre! Es war nur eine belanglose Frage. Verehrter Herr Direktor, ich bitte Sie um eine andere Auskunft, ich wünsche zu wissen, ob vor wenigen Tagen in Ihrem Hotel jemand seine Mahlzeit eingenommen hat, in dessen Begleitung dieser Knabe sich befand.« Der Detektiv reichte seinem Gegenüber die Photographie des kleinen Jörg Bahr.

Der Direktor hatte kaum seinen Kneifer aufgesetzt und das Bild mit ausgestreckter Hand vor sich gehalten, als er auch schon lebhaft nickte. »Mit dem kleinen Kerlchen unterhielt ich mich noch vor einigen Tagen. Kinder in diesem Alter fallen auf, und bei diesem blondlockigen Burschen täusche ich mich nicht. Der war mit seiner Mutter bei uns und sollte aus einem hiesigen Pensionat abgeholt werden. Die Dame hat dreimal mit ihm hier gespeist … auf ihrem Zimmer.«

»Am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag?«

»Ich glaube. Das läßt sich sofort feststellen. Der Dame ist hoffentlich nichts zugestoßen? Ach nein; nach Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen gewiß nicht, Herr Recking!«

In der Tat hatte der Detektiv lange kein so zufriedenes Gesicht gemacht wie bei dieser Mitteilung, die seine kühnen Hoffnungen so schnell rechtfertigte.

Die Dame, die sich als Mutter des Knaben ausgegeben hatte, war nach der Angabe des Gästebuches eine Frau Wilhelmine van Breuch aus Amsterdam. Der Gatte habe sie, wie der Portier versicherte, am letzten Donnerstag gegen zwei Uhr mittags abgeholt. Der Portier hatte den Herrn, der mit einem Auto gekommen war, aber nur sehr flüchtig gesehen. Jedenfalls sei er sehr gut angezogen und in großer Eile gewesen. Frau van Breuch sei schon in der Halle mit ihrem Jungen auf und ab gegangen und ungeduldig gewesen.

»Worauf ungeduldig?«

Der Portier machte eine Handbewegung. »Unsereins hat das so im Gefühl. Die Abfahrt ging dann auch sehr schnell. Die Frau hatte schon vorher bezahlt.«

»Ich möchte gern wissen, ob Frau van Breuch nicht ursprünglich überhaupt eher abreisen wollte.«

»Stimmt!« besann sich der Portier. »Ursprünglich hatte die Dame nur bis Mittwoch das Zimmer gemietet, das fällt mir jetzt ein.«

»Vielleicht vermag Ihnen der Zimmerkellner noch einiges zu sagen,« warf der Direktor ein. »Die Dame hat ihre Mahlzeiten, wie ich schon sagte, auf dem Zimmer genommen. Benötigen Sie mich noch? Sonst möchte ich mich verabschieden.«

»Vielen Dank! Lassen Sie sich nicht abhalten. Ich darf Sie nur immer wieder meines Dankes versichern. Was den Zimmerkellner anlangt, so muß ich freilich noch von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch machen.«

»Sie haben also nur Frau van Breuch und diesen Knaben gesehen?« forschte der Detektiv weiter, als gleich darauf der Kellner, geschmeichelt, daß er eine wichtige Aufklärung geben sollte, vor ihm stand. Da zeigte ihm Ralf Recking die Photographie, die auch der junge Mann sofort als die des jungen van Breuch erkannte. »Den Gatten sahen Sie nicht?«

»Persönlich nicht. Aber ich vermittelte einige Male ein Ferngespräch zwischen der Baronin und ihm.«

»Ah, das ist sehr wichtig. Wie oft geschah das?«

»Zweimal, Herr Recking. Die Baronin erwähnte, daß ihr Gemahl auswärts zu tun habe. Sie wäre lange Zeit auf Reisen gewesen und hätte ihr Söhnchen hier in einem Pensionat untergebracht. Jetzt wäre sie nach Berlin gekommen, um das Kind wieder mit nach Holland zu nehmen.«

»Waren Sie Zeuge der Ferngespräche? Besinnen Sie sich recht genau. Ich sehe, daß Sie ein heller Kopf sind, und von Ihrer Antwort hängt viel ab.«

»Ich verstand in der Tat einiges, aber es waren belanglose Worte, die sich auf die Abreise bezogen. Frau Baronin sprach Französisch.«

»Belanglos ist in diesem Falle nichts, mein Freund.«

»Das erstemal telephonierte Frau Baronin, wenn ich mich recht erinnere, am Mittwoch gegen elf Uhr vormittags. Ich mußte ihr sagen, wie sie das Zimmertelephon zu bedienen hätte. Sie rief eine Nummer unter Amt Steinplatz an.«

»Das wäre demnach Charlottenburg und die Nähe des Zoologischen Gartens.«

»Der Nummer entsinne ich mich nicht mehr. Ich machte mir noch mit dem Aufräumen des Frühstückstisches zu schaffen, denn alle Speisen wurden der Frau Baronin aufs Zimmer gebracht. Der junge Baron hatte mit gefrühstückt. Frau Baronin holte ihn jeden Morgen aus seinem Pensionat ab und brachte ihn, nachdem sie mit ihm gefrühstückt hatte, wieder in die Pension zurück. Als sie nun am Mittwoch telephonierte, schien sie erschrocken. Ich hörte, wie sie in den Apparat rief: ›Aber es ist doch alles fertig, Jean! Das geht doch nicht! Dann muß ich mit Jörg allein abfahren.‹ All dies sagte Frau Baronin französisch.«

»Und das nennen Sie belanglos? Lieber Freund, ich will Ihnen einmal etwas verraten – reinen Mund müssen Sie selbstverständlich halten. Ihre Auskunft wird sich bezahlt machen. Sehr nobel sogar. Ich werde dafür sorgen, daß Sie reichlich bezahlt werden. Auch stehe ich Ihnen mit einem Vorschuß schon jetzt zur Verfügung.«

»O bitte, Herr Recking!« wehrte der Zimmerkellner ab. »Man hat seine Stellung und ist gefällig, wo man kann. Womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß unverhoffte Nebeneinnahmen von unsereinem abgelehnt würden. Aber ich kann ja so wenig zur Sache tun. Daß ich Französisch so gut wie meine Muttersprache verstehe, ist schließlich kein Verdienst.«

»Wußte Frau van Breuch, daß Sie Französisch sprechen?«

»Ich glaube nicht.«

»Und nachdem Frau van Breuch gesagt hatte: ›Dann muß ich allein abfahren,‹ war das Gespräch zu Ende?«

»Dann hatte Frau Baronin lange den Hörer am Ohr, während sie mit der freien Hand das Kind streichelte. Mir kam es so vor, als wenn von dem Kinde die Rede sei –«

»Sollten Sie das nicht vielleicht erst jetzt glauben, wo ich Sie auf das Kind besonders aufmerksam gemacht habe?«

»Mein Gott, nein. Es drehte sich doch alles um den Knaben. Frau Baronin hatte ihn lange nicht gesehen. Sie konnte sich nicht genug tun, ihn zu liebkosen. Was das Telephonieren anbetrifft, so dachte ich mir, daß es vielleicht Paßschwierigkeiten gäbe. Einmal fiel das Wort › l'ambassade‹ –«

Ralf Recking fuhr mit einem Ruck herum. »Menschenskind! Wirklich und wahrhaftig › l'ambassade‹? Gesandtschaft?«

»Dessen erinnere ich mich genau. Ich nahm an, daß sich der Herr Jean, mit dem Frau Baronin redete, auf die Gesandtschaft begeben und dort einen Paß für den Knaben verlangt hatte. Aber es schien ihm unmöglich gewesen zu sein. Welche Schwierigkeiten einem da mitunter gemacht werden, davon kann ich ein Lied aus meiner eigenen Erfahrung singen.«

»Das glaube ich Ihnen! Jetzt aber bitte ich, strengen Sie Ihr Gedächtnis an. Hörten Sie denn gar nichts als das eine Wort Gesandtschaft? Frau van Breuch kann doch nicht nur gerufen haben: ›Die Gesandtschaft!‹«

»Wörtlich besinne ich mich beim besten Willen nur darauf. Ich glaube aber, Frau Baronin sagte etwas wie: ›Was willst du dich aufhalten mit der Gesandtschaft?‹ oder ›Was geht uns die Gesandtschaft an?‹ Ich war schon mit dem Servierbrett auf dem Wege zur Tür, als sie sich in diesem Sinne äußerte. Und was das zweite Telephongespräch anbelangt, das am Donnerstag mittag etwa um ein Uhr stattfand, so dürfte Sie das sehr enttäuschen. Das fand schon bei gepackten Koffern statt und bestand nur aus wenigen Worten. Ich schnappte nur das eine auf: ›Endlich!‹ Damit legte Frau Baronin hastig den Hörer auf die Gabel und umarmte ihr Söhnchen. Dann holte ich den Gepäckdiener, und das übrige dürfte Ihnen mein Herr Chef oder der Portier bereits gesagt haben.«

Ralf Recking ging mit großen Schritten auf dem Teppich auf und ab.

»Ich danke Ihnen, lieber Freund. Wie heißen Sie doch?«

»Eduard Molle; ich werde aber nur ›Fritz‹ genannt.«

»Schön, Fritz. Was haben Sie heute nachmittag vor?«

»Von vier Uhr an habe ich Ausgang.«

Ralf Recking zog einen Fünfzigmarkschein aus der Brieftasche. »Hier, Herr Molle, nehmen Sie das als den Vorschuß, von dem ich sprach. Und nun sagen Sie: wollen Sie mir von vier bis fünf Ihre freie Zeit opfern?«

»Solange Sie wünschen, Herr Recking!« Des Kellners Augen strahlten. »Wie kann ich aber so viel annehmen?«

»Lassen Sie das gut sein. Und hören Sie. Sie erwarten mich kurz nach vier unten am Ausgang. Einverstanden?«

»Einverstanden!«

Als sich der Kellner umdrehte, war der Detektiv schon aus der Tür. Ein Kraftwagen trug ihn nach seiner Wohnung. Als ihn sein Diener Franz kommen sah, verzog er unwillkürlich den Mund zu einem breiten Grinsen. Er kannte seinen Herrn; wenn der mit einem derartigen Gesicht die Treppe heraufkam, dann war ein großer Schlager fällig, und da durfte er sich's leisten, laut zu sagen: »Ich gratuliere, Herr Recking!«

Der Detektiv schlug seinem Faktotum freundschaftlich auf die Schulter. »Abwarten, mein Lieber! Vorderhand Zylinder raus! Gehrock! Hat jemand angeklingelt?«

»Herr Bahr aus Friedenau. Er läßt sagen, daß er bis halb ein Uhr unterwegs sei. Er werde dann wieder anrufen.«

»Armer Kerl!« sagte Ralf Recking bei sich. »Da rennst du nun verzweifelt wieder von Haus zu Haus, während ich dir die schönste Beruhigung ansagen will!« Er läutete in Friedenau an. Fräulein Hempel meldete sich, und ihre erste Frage lautete nicht anders, als der Detektiv erwartet hatte.

»Bedaure, nein sagen zu müssen, mein verehrtes Fräulein! Ganz so schnell schießen wir selbst in Preußisch-Berlin nicht, wie Sie sich das in Friedenau denken. Aber wenn ich Ihnen sage, daß ich einen Riesenschritt vorwärts gekommen bin – eine Glanzleistung von Zufalls Gnaden –, so soll das keine Beruhigungspille sein, sondern der Ausdruck meiner eigenen Freude über einen unverhofft raschen Erfolg. Das bestellen Sie, bitte, Herrn Bahr, sowie er heimkommt.«

Fräulein Hempel dankte von Herzen. Ob er denn nicht mehr verraten könne?

»Zunächst nicht. Aber es trifft sich gut, daß ich Sie allein spreche. Ich bitte Sie, mir, ohne Herrn Bahr davon zu benachrichtigen, eine Photographie von Frau Bahr zu verschaffen. Wird das möglich sein?«

Fräulein Hempel glaubte, das versprechen zu können, obwohl sie sich durchaus nicht denken konnte, was das Bildnis der Mutter mit dem Wiederfinden von Jörg zu tun haben sollte. Der Detektiv bat sie noch, ihn von halb fünf Uhr an an der Kreuzung der Begasstraße mit dem Dürerplatz zu erwarten und das Bild mitzubringen. Zehn Minuten später jagte der Kraftwagen mit ihm in die stille Regentenstraße hinein, wo er den Wagen warten ließ und Seiner Exzellenz dem außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter des Königreichs Spanien, dem Grafen del Carnaga, seine Aufwartung machte.

*

In liebenswürdiger Gesprächigkeit wurde von Seiner Exzellenz der Fall des falschen Grafen Gothem vorgetragen. Der Spanier erklärte, dieser Betrug sei das raffinierteste Gaunerstück, das ihm während seiner Amtsführung vorgekommen sei, obwohl er mit Spitzbuben nicht das erstemal im Leben zu tun habe, was ihm Herr Recking gewiß glauben werde, da er, der Gesandte, früher Attaché in Südamerika gewesen sei.

»Er verstand es, mich schnell für sich einzunehmen,« sagte der Graf. »Es war ein gut aussehender Mann mit vortrefflichen Manieren und vollendeter Weltgewandtheit. Der Ausdruck seiner Augen war fast kindlich offen. Ich kann mir sehr wohl denken, daß sie sehr schmachtend blicken können und den Frauen gefährlich sind. Das war übrigens das einzige, das nicht so recht zu dem vornehmen Schweden passen wollte, die ja kühl bis ans Herz hinan scheinen. Aber ehe in mir Bedenken in dieser Richtung erwachten, überraschte er mich durch Kenntnis der besten spanischen Familien, soweit er sie in Paris kennengelernt haben konnte, so daß ich mit ihm plauderte wie mit einem alten guten Bekannten. Im Gespräch über gesellschaftliche Dinge entpuppte er sich als großer Lebemann, der, mit Glücksgütern offenbar reichlich versehen, anscheinend nur an seine Zerstreuung zu denken brauchte. Nicht im Traum wäre mir der Argwohn gekommen, daß sich der Mann mit schwarzen Plänen trug und mein Entgegenkommen aufs schmählichste mißbrauchen würde.«

Im großen und ganzen stimmte die Darstellung, die der Graf del Carnaga von dem Besuch des falschen Schweden machte, mit der von Kommerzienrat Lürsen gegebenen überein. Ein Punkt jedoch – und für den in einer bestimmten Richtung nach Anhaltspunkten suchenden Detektiv ein äußerst wesentlicher – war ihm bisher von Lürsen nicht mitgeteilt worden. Der Fremde hatte schon am Mittwoch den Botschafter zu sprechen versucht.

»Darf ich Euer Exzellenz bitten, mir die genauere Zeit zu nennen?«

»Ich war nach Dresden gereist und kehrte erst am Abend nach Berlin zurück; mein Diener, der dem Mann diese Nachricht gab, wird gewiß die genauere Stunde anzugeben vermögen.« Der Botschafter klingelte.

»Ricardo,« wandte er sich an den Eintretenden, »welche Zeit war es, als der Hochstapler das erstemal mich zu sprechen versuchte?«

»Es war ziemlich früh, Herr Graf. Keinesfalls später als um zehn.«

»Wünschen Sie von dem Diener noch mehr zu wissen?« wandte sich der Botschafter an Ralf Recking, der verneinte und sich dankend erhob.

»Hoffen Sie, den Betrüger dingfest zu machen?« fragte der Botschafter.

»Ich bin ihm auf der Spur, Exzellenz.«

»Das freut mich zu hören. Darf man wissen …?«

»Ich werde nicht verfehlen, Euer Exzellenz im gegebenen Zeitpunkt ausführlich Bericht zu erstatten. Zur Stunde sind die Fäden, die mir zu entwirren bleiben, noch zu verschlungen. Jedenfalls darf ich das eine schon jetzt aussprechen, daß dieser Graf Fredrik Gothem oder wie er heißen mag, noch ganz andere Dinge auf dem Kerbholz haben dürfte als diesen dreisten Betrug. Ich vermute, daß in dem Schuldbuch des Ehrenmannes noch Dinge zu finden sind, um deren Erkenntnis die Justiz sich schon seit Jahren bemühte.«

»Also ein Staatsverbrecher?«

»Sagen wir ein staatsgefährlicher, für den eine Kette zu schweißen höchste Zeit ist. Ich denke, daß das, was jetzt nur auf Vermutung und Wahrscheinlichkeit beruht, binnen kurzem beweiskräftig sein wird.«

Als Ralf Recking sich außerhalb der Botschaft befand, mußte er über sich selbst lächeln, mit welch tollkühner Zuversicht er den »Grafen Gothem« mit einem Verbrechen in engstem Zusammenhang sah, für das die Welt bisher nur lose Vermutungen gehabt, und dem nachzugehen er einen einzigen Angriffspunkt entdeckt zu haben glaubte.

War aber das, was er mutmaßte, richtig, dann konnte man dagegen die Verbrechen des an Lürsen verübten Betrugs und der Kindesentführung als unbedeutend ansehen.

Als der Detektiv am Nachmittag vorm »Königshof« im Kraftwagen vorfuhr, wartete dort ein modisch gekleideter, braungelockter Jüngling, in dem er von weitem den Zimmerkellner Eduard Molle, Fritz genannt, erkannte. Er hatte sich nach seinen Begriffen sehr fein gemacht; aus der Brusttasche floppte ein violettes Seidentuch, und als der Windzug des heranrollenden Wagens ihm den hellen Überzieher lüftete, erblickte Recking an der Innenseite ein breites goldgesticktes Mantelmonogramm, wie es liebende Bräute dem Jüngling ihrer Wahl zu schenken pflegen.

»Nun, Freund Fritz,« begann der Detektiv, als der Wagen den Weg über den Leipziger Platz nahm, »ist Ihnen in der Zwischenzeit noch etwas eingefallen, ohne daß Sie Ihre Einbildungskraft dabei allzusehr anstrengen mußten?«

»Ich habe reiflich über alles, was mit dem Aufenthalt der Baronin in Zusammenhang stehen könnte, nachgedacht,« antwortete Herr Eduard Molle, der eine derartige Frage vorausgesehen hatte, und gab sich Mühe, sich möglichst gewählt auszudrücken. »Mir ist doch noch verschiedenes aufgefallen.«

»Was könnten Sie mir noch sagen?«

»Ich dachte mir, der Umstand, daß die Baronin jede Mahlzeit auf dem Zimmer einnahm, kann seine besonderen Gründe gehabt haben, wiewohl Ausnahmen vorkommen.«

»Was für Gründe hätten das im vorliegenden Fall sein können?«

»Das Nächstliegende wäre vielleicht, daß Frau Baronin nicht gesehen werden wollte.«

»Ganz gut! Da Sie übrigens vom Essen reden – Sie sagten mir heute, daß Frau van Breuch mit ihrem Söhnchen zu frühstücken pflegte. Darunter verstehen Sie im allgemeinen das erste Frühstück. Warum verschweigen Sie mir, daß an einem Tage ein sogenanntes ›komplettes Diner‹ aufgetragen wurde? Wenn ich nicht irre, am Dienstag.«

»Ganz richtig! Das wird Ihnen der Direktor gesagt haben. Es war tatsächlich der Wunsch der Baronin, als sie ihren Sohn aus dem Pensionat abgeholt hatte, daß das Kind gleich eine ordentliche Mahlzeit bekam. Daran finde ich nichts. In solchen Pensionaten wird für viel Geld oft wenig für das leibliche Wohl der kleinen Schützlinge geboten.«

Ralf Recking lachte belustigt. »Der Direktor sagte mir kein Wort von dem Diner. Überhaupt niemand.«

»Dann stehe ich vor einem Rätsel, Herr Recking,« erklärte Molle ehrlich erstaunt. »Es wäre mir hochinteressant, einen Einblick in Ihr Metier, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu gewinnen. Ich habe früher sehr häufig Detektivgeschichten gelesen, ohne mir je träumen zu lassen, daß es mir eines Tages vergönnt sein würde, mit einem unserer Meisterdetektivs in Berührung zu kommen.«

»Und selbst eine wichtige Rolle in einer Detektivgeschichte zu spielen,« ergänzte Ralf Recking. »Des Rätsels Lösung ist übrigens sehr einfach. Ich erhielt von dritter Seite gestern abend diese kleinen Gegenstände des Nachtisches vom Dienstag überreicht.« Damit zog er das Stanniolpapier und den Gänsekielzahnstocher aus der Westentasche. »Erkennen Sie das als Zutaten zu dem von Frau van Breuch bestellten Diner?«

»Ja! Solche Zahnstocher in Papier führt allerdings heutzutage jedes bessere Haus. Im ›Königshof‹ sind sie seit Jahren im ständigen Gebrauch.«

»Meinen Sie?«

»Ja, Herr Recking. Anders liegt die Sache mit dem Stanniol des Dessertbonbons. Die habe ich selbst aufgetragen. Frau Baronin hatte sie besonders des jungen Barons wegen bestellt. Sie, Herr Recking, müssen wohl seitdem mit dem jungen Baron zusammen gewesen sein und seine Taschen untersucht haben. Es wird ihm doch nichts Ernstliches zugestoßen sein? Verzeihen Sie, Herr Recking – etwa gar eine Beraubung der Baronin und ihres Sohnes im D-Zug?«

»Nein, lieber Herr Molle. Diesmal führt Sie Ihre Vorstellungskraft, die Sie so wacker durch Detektivgeschichten befruchtet haben, irre. Ganz so schlimm ist es nicht. Und wenn Sie sonst noch Mutmaßungen in dieser Art hegen, so denken Sie vor allem daran, daß eine der vornehmsten Pflichten Verschwiegenheit ist.«

»Was das betrifft, Herr Recking, so können Sie sich auf mich verlassen. Ich bin verschwiegen wie ein Grab.«

»Recht so! Und da vorn liegt ja schon der Dürerplatz. Wollen Sie, bitte, hier auf mich warten.«

Der Wagen hielt und beide stiegen aus. Ralf Recking sah schon nach wenigen Schritten eine schlanke Gestalt, und auch Fräulein Hempel hatte ihn bemerkt.

»Das war eine schöne Post,« sagte sie, während ihr die freudige Erregung vom Gesicht zu lesen war. »Sie fanden also eine sichere Spur?«

Er nickte und war überrascht, wie ungemein vorteilhaft Fräulein Hempel im hellen Tageslicht aussah; gestern abend im Halbdunkel war sie ihm älter vorgekommen. Sie schien das Beobachtende seiner Blicke zu fühlen, und ein schnelles Rot flammte über ihre Wangen.

»Ja, die habe ich,« antwortete er, im stillen feststellend, daß das Erröten sie entzückend kleide. »Der Anhaltspunkt, den mir die kleine Freundin Ihres Vermißten gab, ließ mich schneller vorwärtskommen, als ich anfänglich hoffte.«

»Der kleine, bunte Kram, den der Vater von Annemarie Nuck mitbrachte?«

Ralf Recking nickte. »Dieser und Ihr Gänsekielchen. Haben Sie das Bild, um das ich bat? Und unbemerkt mitgebracht?«

»Ja, hier ist es. Ich tue es unerlaubterweise, aber es geschieht doch zum Besten von …«

»Von Herrn Bahr,« ergänzte er, sie von der Seite anblickend.

»Zum Besten der Sache. Sonst hätte ich nicht gewagt, die Photographie fortzunehmen. Ich nahm sie aus einem Album. Herr Bahr wird es doch nicht erfahren?«

»Nein. Wäre das übrigens wirklich so schlimm? Herr Bahr macht nicht den Eindruck, ein Menschenfresser zu sein.«

»O nein, er ist so gut!«

Wieder sah Ralf Recking, wie das schöne Mädchen rot wurde, und seine Gedanken gingen in besonderer Richtung.

Fräulein Hempel sprach eifrig weiter: »Ich möchte nur alles vermeiden, was ihm nicht recht ist. Und gerade das Bild seiner verstorbenen Frau … Ach, ich kann das nicht so erklären, wenn Sie mir das nicht von selbst nachfühlen.«

»Doch, doch! Aber ich mußte das Bild haben. Es soll bald wieder an Ort und Stelle kommen.« Er zog es aus der Umhüllung und warf einen Blick darauf, wobei er mit Genugtuung bemerkte, daß das Bild auf der Vorderseite den Namen »Eugenie«, die Ortsbezeichnung »Brüssel« und ein Datum trug. Es stellte Frau Eugenie Bahr in einem ähnlichen Kleid vor, wie sie es auf dem im Salon hängenden Gemälde trug. Die Gesichtszüge waren ansprechend; auch auf diesem Bilde lächelte sie, und um die Augen flatterte ein Zug, der, wenn man aufrichtig sein wollte, etwas leichtfertig anmutete. Allerdings durfte man nicht vergessen, daß diese Frau aus Belgien stammte.

»Nur eine Minute,« sagte Ralf Recking. »Ich habe meinem Begleiter noch eine Anweisung zu geben. Ich folge Ihnen dann, um mit Herrn Bahr zu sprechen.«

»Das wird ihn sehr beruhigen. Sie können ja verstehen, wie ihn diese Tage mitnehmen. Wenn Sie den herzigen, prächtigen Jörg gekannt hätten, würden Sie es freilich noch besser verstehen.«

»Sie haben ihn sehr gern?«

»Es ist ein Junge, den man liebhaben muß. Aber nun werde ich vorausgehen. Auf Wiedersehen!«

Ralf Recking behielt das Bild in der Hand und deckte seinen einen Handschuh darüber. Bei Eduard Molle angelangt, sagte er wie beiläufig: »Ich hatte da eben eine gute Bekannte zu begrüßen, wie Sie beobachten konnten. Die Dame würde Ihnen gefallen haben.«

»Das mag wohl sein, Herr Recking. Ich konnte sie der Entfernung wegen aber nicht sehen.«

»Ich will Ihnen wenigstens einen Blick auf ihr Bild gestatten, das sie mir verehrt hat. Finden Sie nicht, daß das Mädchen recht hübsch aussieht?«

Herr Molle nahm die Photographie in seine Hand und rief: »Aber, Herr Recking! Das ist sie ja! Das ist doch die Frau Baronin! Ja, wie kommt sie denn plötzlich hierher nach Friedenau?«

Der Detektiv lächelte. »Lieber Fritz, darüber sollen Sie sich heute nicht mehr mit schweren Gedanken belasten. Es genügt mir, daß Sie in dem Bilde sofort Frau van Breuch erkannten. An dieser Feststellung lag mir sehr viel, obwohl ich meiner Sache schon so gut wie sicher war. Mit Ihrer Beraubung im D-Zug war es also diesmal nichts.«

»Um so besser, Herr Recking!« Damit gab der junge Mann das Bild zurück. »Sagten Sie der Baronin, daß ich hier am Auto wartete?«

»Warum nicht gar, mein Lieber! Das mit dem Bild war nur eine Kriegslist. Die Dame, die Sie da vorn stehen sahen, war eine andere als diejenige, welche Sie auf der Photographie erkannten.«

»Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr!« gestand Molle.

Der Detektiv klopfte ihm auf die Schulter. »Das Nähere erzähle ich Ihnen gelegentlich, wenn ich Ihnen noch eine kleine Belohnung wegen Ihrer dankenswerten Hilfe einhändige. Für heute brauche ich Sie nicht mehr. Genießen Sie Ihren Sonntag.«

»Vielen Dank, Herr Recking! Gleichfalls!«

Eduard Molle sah dem Davonschreitenden kopfschüttelnd nach. Allmählich dämmerte ihm, daß er nur zum Zwecke eines notwendigen Erkennungsdienstes mit hier herausgenommen war.

*

Eine Minute blieb Ralf Recking auf dem Treppenabsatz stehen und überlegte. Dann war er mit sich einig, daß heute noch nicht die Stunde gekommen sei, um dem heimgesuchten Mann da droben die volle Wahrheit zu sagen. Gewichtige Gründe sprachen dagegen. Noch blieben Fäden zu entwirren und Geheimnisse zu entschleiern, hinter die nur der ahnende Blick zu schauen vermochte.

Deshalb beschränkte er sich fürs erste darauf, Herrn Bahr zu wiederholen, was er schon vorher durch den Fernsprecher mitgeteilt hatte: »Ich habe eine sichere Spur und weiß, daß Ihr vermißter Sohn am Leben ist. Fassen Sie sich in Geduld und lassen Sie mir nur noch wenige Tage Zeit!«

Sie saßen sich in Heinrich Bahrs Herrenzimmer gegenüber, das viel behaglicher eingerichtet war als der Salon. Eichene Möbel, ledergepolsterte Armstühle und ein Perserteppich harmonierten angenehm mit der übrigen Einrichtung. Gute Stiche an den Wänden straften das erste Urteil, daß in diesem Hause wenig Geschmack herrsche, Lügen. Die Herbstsonne schien schräg durch das Blätterwerk einer Balkonlaube und zog helle Streifen über die Tischplatte. Sie überhauchte auch das blasse Gesicht des Hausherrn mit einem warmen Schimmer.

»Glauben Sie nicht, daß ich mich in Geheimnisse eindrängen oder an alte Wunden rühren will, wenn ich Sie jetzt bitte, noch einmal auf einiges zurückzukommen, was Sie mir gestern nur andeutungsweise sagten,« begann Ralf Recking. »Sie sprachen gestern –« fuhr er fort und verbeugte sich dankend, als ihm der Hausherr eine Kiste Zigarren herüberreichte, »Sie sprachen von einer Jugendfreundin, der Ihre Gattin besonders zugetan gewesen sei. Wie hieß diese Dame? Und hörten Sie wieder von ihr?«

»Ich entsinne mich nur ihres Mädchennamens genau: Suzanne Bergère. Sie hatte nach England geheiratet. Irre ich nicht, so hieß ihr Gatte Rayler. Es war aber ein Doppelname. Rayler war ein Teil davon. Meine Frau nannte ihre Freundin stets Suzanne, wenn sie von ihr sprach, und um den Briefwechsel kümmerte ich mich nicht. Damals beschäftigten mich ja auch andere Dinge viel mehr. Geschäftliche Sorgen, wie ich schon gestern andeutete. Ich war nicht einmal in der Lage, diese Suzanne nach der Katastrophe mit der ›Thetis‹ zu benachrichtigen. Suzanne selbst war es, die mir später einen herzzerreißenden Brief aus London schrieb, nachdem sie den Namen meiner Frau unter den Opfern der ›Thetis‹ gelesen hatte.«

»War es nicht auffallend, daß diese Suzanne Rayler nicht sofort telegraphisch anfragte, wo Ihre Frau bliebe?«

»Mir fiel es nicht auf. Auch gelangte die Nachricht von der Explosionskatastrophe ja noch am selben Tag nach England. Da wird die Dame doch gewußt haben, was geschehen sein mußte. Sie hatte meine Gattin in London auf dem Bahnhof abholen wollen; alles war bis ins kleinste geregelt. Ich nehme an, daß Suzanne nach dem Unglück sofort nach Hoek van Holland telegraphiert und das Entsetzliche erfahren hat; war doch meine Frau die erste, deren Tod festgestellt werden konnte. Man fand am Kai ihr halbverbranntes Oberkleid, Teile ihres Schmuckes und ihren Mantel. Ich erkannte, an Ort und Stelle gerufen, jeden dieser grausigen Überreste sofort.«

Ralf Recking sah einem Rauchring nach. In Hoek van Holland, kurz vor ihrer Überfahrt nach Harwich war vor zwei Jahren die ›Thetis‹ in die Luft geflogen; das war im Vorhafen geschehen, als die letzten Güter empfangen wurden und der stattliche Dampfer, der von Harwich seine Fahrt über den Kanal antreten sollte, zum letztenmal auf dem Kontinent angelegt hatte. Kurz nach der Katastrophe war die Vermutung aufgetaucht, daß es sich um ein Attentat auf das Schiff gehandelt hätte. Die unmittelbar daraufhin mit aller Energie aufgenommene Untersuchung hatte leider nicht zu der Ermittlung des Täters oder seiner Genossen geführt. Obwohl größere Versicherungen auf Güter der ›Thetis‹, wie sich schnell feststellen ließ, nicht abgeschlossen waren, sprachen trotzdem noch heutigestags manche davon, daß es bei der Explosion auf einen Versicherungsbetrug abgesehen gewesen sei. Denn leider waren ja Fälle schon häufiger vorgekommen, in denen Schiffe mit zu hoch versicherten Gütern oder minderwertige, aber hoch versicherte Schiffe von verbrecherischen Kapitänen selbst absichtlich versenkt oder auf den Strand gesetzt wurden.

»Besitzen Sie den Beileidsbrief der Dame noch, Herr Bahr?«

»Nein. Ich habe nichts aufgehoben, was mich an jene Tage erinnerte. Da wir nun einmal an jene traurigen Geschehnisse wieder rühren, will ich Ihnen gestehen, daß meine Ehe in der letzten Zeit keine glückliche war.«

Ralf Recking nickte. Diese Worte bestätigten seine Vermutungen.

»Ich nehme willig die Schuld auf mich, auch wenn ich nicht sowieso über die Tote nur Gutes sagen dürfte. Ich mag damals, ein Jahr bevor es zu der englischen Reise kam, meine Gattin recht vernachlässigt haben, weil ich völlig von meinem Geschäft, dessen Zukunft auf dem Spiel stand, in Anspruch genommen wurde. Die Vermögenslage sah mitunter nicht sehr rosig aus, und ich muß es noch heute schmerzlich beklagen, daß ich nichts dagegen tun konnte, auch meine Frau darunter leiden zu sehen. Gesellschaftlich konnte ich ihr gar nichts bieten, während ich oft bis in die späte Nacht hinein über meinen Rechnungen saß und manchmal überhaupt nicht nach Hause kam. Diese Zeit entfremdete mir das Herz meiner Frau, die schon einmal den Zusammenbruch eines Kaufhauses miterlebt hatte und nun ein neues Unglück hereinbrechen sah, das sie noch härter mitzunehmen drohte als das erste. In dieser Zeit knüpfte meine Frau engere Beziehungen zu ihren alten Freunden an. Ich gönnte ihr die Ablenkung und Zerstreuung von Herzen. Dann kam ihr der Wunsch, einmal ein paar Wochen wieder unter lebensfrohen Menschen zu sein …«

»Gestatten Sie!« Ralf Necking beugte sich nach der Aschenschale vor. »So war also jene Suzanne Bergère nicht die einzige, mit der Ihre Gattin in Briefverkehr trat?«

»Das nehme ich an. Meine Frau erzählte viel von Neuigkeiten, die sie aus ihrer alten Heimat erfahren hatte. Sie bekam also sicherlich auch aus Brüssel Briefe. Sie dürfen nicht vergessen, daß Leon Fouchard, mein Schwiegervater, vor seinem Bankrott ein großes Haus machte. Eugenie war verwöhnt und umschwärmt. Die Bewerber zogen sich aber zurück, als sie über die Vermögenslage des alten Fouchard nicht mehr im Zweifel waren. Was soll ich Ihnen weiter erzählen? Was Sie mit den Gedanken quälen, die mich später so oft bedrückten? Geradezu folternd suchte mich noch oft der eine heim, es möchte Eugenie leid geworden sein, meine Werbung angenommen zu haben. Es wird ja oft in der Not des Lebens ein Rettungsanker gesucht und gefunden, und die Reue kommt zu spät. Von ganzer Seele beklage ich es, wenn ich schuld daran sein sollte, daß meine Frau mich aus peinlichen Erwägungen heraus etwa erhört hätte. Mein Trost war, daß sie den Jungen liebte. Anders zwar als ich. Es war nicht ihre Art, sich wie deutsche Mütter von früh bis spät für ihn abzuquälen, zumal wir sehr verläßliche Dienstboten hatten. Aber anderseits wieder brach ihre Liebe zu dem Kinde oft fast leidenschaftlich durch. Ich habe dem Jungen lange, vielleicht zu lange verschwiegen, daß seine Mutter nicht mehr lebt. Er sollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie von uns gegangen war. Nach seinem Glauben war sie auf Reisen, und erst vor kurzem, nachdem sich Jörg schon längst an Fräulein Hempel gewöhnt hatte, wagte ich es, durchblicken zu lassen, daß seine Mutter von ihrer großen Reise wohl nie mehr wiederkehren werde. Er nahm es ungläubig auf, und ich behielt mir vor, ihm die ganze grausame Wahrheit erst später zu entdecken.«

Recking hatte aufmerksam zugehört. »Das erklärt mir vieles. Das ist auch so etwas, was Sie für unwesentlich halten mochten, und was gerade jetzt und für mich sehr wichtig war. Und sagen Sie, Herr Bahr, dürfte ich nun noch den einen oder den anderen Namen von den näheren Bekannten erfahren, die seinerzeit im Hause Ihres Herrn Schwiegervaters aus und ein gingen? Ich werde Sie dann nicht weiter mit Fragen belästigen.«

Heinrich Bahr wehrte leicht mit der Hand ab, als wolle er sagen: »Fragen Sie nur ruhig. Was meine wundeste Stelle blieb, wissen Sie.« Dann nannte er nach kurzem Besinnen ein paar Freundinnen, eine Henriette Gaston, eine Therese Briqueville, eine gewisse Lydia, die außerordentlich schön gewesen sei und einen amerikanischen Millionär geheiratet habe. Und er schloß: »Das war offenbar auch kein geringer Schmerz für meine Frau, daß ihre besten Freundinnen so glänzende Heiraten schlossen.«

Ralf Recking nickte verständnisvoll. »Und die jungen Herren, die es sich in Monsieur Fouchards Haus wohl sein ließen? Gab es nicht am Ende Jugendfreunde – wie zum Beispiel die reizende kleine Nuck Ihren Jörg zum Jugendfreund hat?«

»Allerdings. Da war ein gewisser Serrurier; er machte meiner nachmaligen Braut den Hof, blitzte aber ab. Es war ein eleganter Kerl, aber ein armer Teufel, der außerdem im Rufe großen Leichtsinns stand.«

»Wie nannte sich dieser Herr mit Vornamen?« fragte Ralf Recking scheinbar gleichgültig.

»Ich glaube Jean. Richtig, Jean Serrurier. Ein hübscher Mensch, der es zu etwas hätte bringen können, wenn er nicht so leichtsinnig gewesen wäre. Ich hatte ihn nicht einmal ungern. Er sprach sieben lebende Sprachen. Wer weiß, was jetzt aus ihm geworden ist.«

Ralf Recking hatte sich zurückgelehnt und blinzelte ins Licht. Keine Muskel seines Gesichts verriet, was in ihm vorging.

Zwar schwebte ihm noch eine Frage über die Auffindung der äußerlichen Erkennungszeichen der Frau nach der Dampferkatastrophe auf den Lippen, aber er unterdrückte sie, froh, daß Herr Bahr von den Ereignissen, die für ihn selbst in der Erinnerung so unheilvoll zu sein schienen, einigermaßen abgelenkt worden war. Was er noch wissen mußte, konnte er nunmehr auch anderswo erfragen.

Als er sich erhob, klopfte Fräulein Hempel und fragte, ob sie den Tee bringen dürfe. Ralf Recking fing einen besorgten Blick auf, den sie zu dem Hausherrn hinüberwarf. Er blieb noch eine Weile sitzen und rauchte seine Zigarre zu Ende.

»Und nun?« fragte Herr Bahr, als er Recking zur Tür geleitete.

»Nun gehe ich unentwegt auf mein Ziel los. Daran wollen Sie immer denken, so traurig es Ihnen ums Herz sein mag. Gestern tappte ich noch im dunkeln und suchte. Heute sehe ich klar. Die jetzige Unterredung war mir sehr wertvoll. Bald werden Sie wieder im gewohnten Geleise sein. Nur um eins bitte ich Sie: halten Sie sich bereit, unter Umständen auf ein Telegramm von mir ungesäumt dorthin zu reisen, wohin die Depesche Sie rufen sollte.«

»Gut, ich muß mich ja fügen. Und einen Vertreter habe ich auch.«

»Um so besser!« Der Detektiv ging mit raschen Schritten nach der Treppe.

*

Als Ralf Recking nach einem Spaziergang, der ihn von der Begasstraße bis in den Steglitzer Stadtpark geführt hatte, mit der elektrischen Bahn in seiner Straße eintraf, sah er einen Mann vor seinem Hause auf und ab gehen, der ihn, als er die Tür aufschloß, scharf ansah, dann aber unschlüssig stehen blieb.

Der Detektiv sollte bald erfahren, wer das gewesen war. Der Diener Franz meldete ihm: »Soeben war der Graveur Zinkmann hier, nachdem er vorher telephoniert hatte. Hoffentlich war es recht, daß ich ihn herbestellte. Jetzt wartet er unten; er sagt, morgen habe er keine Zeit, und er sei gekommen, um sich die ausgeschriebene Belohnung zu holen.«

Ralf Recking lächelte. »Nichtig! Das hätte ich fast vergessen. Ist auch durch die Ereignisse überholt. Na, doppelt genäht hält besser. Rufen Sie den Mann herauf, Franz.«

Zwei Minuten später stand Herr Zinkmann im Arbeitszimmer des Detektivs. »Ich komme wegen der Anzeige, lieber Herr! Da war's doch gut, daß ich gewartet habe. Ich selber hatte das Ding nicht gelesen. Ich schlief nach Tische. Aber meine Frau liest den Stadtanzeiger von A bis Z. Die Zwangsversteigerungen und die Gelegenheitskäufe, die Stellenangebote – kurz jede Spalte von oben bis unten.«

»Vortrefflich! So muß es sein. Da mußte sie auch meine Anzeige wegen der Stockkrücke finden. Nehmen Sie Platz, Meister!«

»Jawoll, Herr Recking. Ich wurde aus meinem schönsten Schlaf gerüttelt und rieb mir die Augen munter. Es stimmte alles bis aufs Haar. Vorige Woche habe ich die Grafenkrone graviert.«

»Wann war das?«

»Gestern vor acht Tagen sollte der Stock fertig sein. Er war's aber nicht. Montag abend war ich mit der Arbeit fertig. Der Stock war für ein Geschenk bestimmt; ich glaube für einen Grafen in Kopenhagen.«

»Ganz richtig. Vielleicht sogar für einen schwedischen Grafen?«

»Nee, Herr Recking. Mir ist es nicht anders, als wenn der Herr Oberstleutnant von Kopenhagen geredet hätte.«

»So? Der Besteller hat sich als Oberstleutnant ausgegeben? Hat er keinen Namen genannt und keine Adresse hinterlassen?«

»Das war nicht nötig. Ich werde doch den ältesten meiner Kunden kennen – den Herrn Oberstleutnant v. Mößlacher!«

»Was sagen Sie?« Ralf Recking fuhr mit einem Ruck herum. Schon wieder dieser Name. Das war ja wie verhext. Zum dritten Male stieß er auf den Namen dieses Oberstleutnants. Erst verhaftete Jens Lyhne diesen Mann, dann war dieser es, der aus dem Papiergeschäft in der Friedrichstraße seine Zahnstocher bezog, und nun, damit aller guten und bösen Dinge drei seien, entpuppte er sich auch noch als Auftraggeber der Stockgravierung! Das ging entweder nicht mit rechten Dingen zu, oder der Erbküchenmeister der Prinzen Friedrich Anton war ein ganz außerordentlicher Pechvogel und Unglücksrabe und außerdem anscheinend nur deswegen geschaffen, um allen Detektiven das Leben sauer zu machen.

Nach der Beschreibung des Spazierstockes, die der Meister Zinkmann gab, war kaum noch zu bezweifeln, daß sich der Mößlachersche Stock auf dem Polizeipräsidium befand, zumal der Meister auch eine Skizze seiner Gravierung aufs Papier warf, die fast völlig mit der Pauspapierskizze übereinstimmte, die sich in des Detektivs Besitz befand.

»Also gestohlen!« sagte Ralf Recking vor sich hin.

»Unmöglich!« rief der Graveur. »Für den Oberstleutnant lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Sie mißverstehen mich. Der Stock dürfte Ihrem Auftraggeber entwendet worden sein.«

»Das geb' ich eher zu. Aber da kann sich der Dieb auf böse Geschichten gefaßt machen. Mit dem Herrn Oberstleutnant ist nicht gut Kirschen essen, wenn er in die Hitze kommt. Schade, daß Sie nicht mitangehört haben, wie bei mir die Wände wackelten, als die Krücke nicht am Sonnabend fertig war.«

Der Detektiv lächelte. Dann entnahm er seiner Tasche einen Zwanzigmarkschein. »Eigentlich gehört er Ihrer Frau, die meine Anzeige entdeckt hat, Herr Zinkmann.«

»Wird bestellt, Herr Recking. Besten Dank!«

Der Detektiv schrieb sich die Wohnung des Mannes auf, dann klingelte er. »Packen Sie meine Koffer, Franz. Ich reise heute nacht.«

»Auf wie lange?«

»Vier Tage!«

Der wohlgeschulte Diener, dem diese kurze Angabe genügen mußte, war schon an der Tür, als sein Herr ihn zurückrief. »Ein Fach lassen Sie frei.«

»Sehr wohl!«

Da wußte Franz, daß sein Herr noch selbst etwas einpacken werde. Die leeren Fächer pflegten jenes für einen Detektiv so unentbehrliche Handwerkzeug und Beiwerk aufzunehmen, das oft schon der Aufdeckung eines Verbrechens gedient hatte, und das Ralf Recking bei guter Laune seine Maskenverleihanstalt zu nennen pflegte.

Aber noch gehörten die Abendstunden nicht ihm. Noch einmal mußte er auf die Polizei, wo es galt, die Meldekarte, die »Frau van Breuch« im »Königshof« geschrieben hatte, einzusehen. Als er mit Hilfe des Beamten, der über die Störung seiner Sonntagsruhe recht wenig erbaut war, endlich den gesuchten Meldezettel in der Hand hielt, verzog er die Lippen zu einem Schmunzeln.

»Nun, hat sich die Mühe wenigstens gelohnt?« fragte der Beamte.

»Ich denke. Heben Sie, bitte, diese Meldungen gut auf.«

»Das soll geschehen, auch wenn ich Ihre Zuversicht nicht teile, Herr Recking. Sie sollten die Sache, wenn Sie wirklich einmal eine Spur mit unendlicher Geduld und Mühe herausgetüftelt haben, doch lieber unseren Leuten überlassen. Wir mögen das nicht immer so zart anfassen wie Sie, das will ich zugeben. Aber auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, und ich habe noch nie bereut, einen Spitzbuben nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt zu haben. Sie persönlich aber würden sich weitere Mühe sparen, statt Ihre Nachtruhe zu opfern.«

»Ganz schön, lieber Freund! Aber Sie sind selbst nicht für Arbeitsüberbürdung. Wozu sollte ich da die große Glocke läuten und Ihre Unterbeamten in Bewegung bringen, wenn ich etwas ganz allein leisten kann?«

»Weil viele Hunde des Hasen Tod sind. Einem einzelnen kann so'n Häseken noch immer entschlüpfen.«

Ralf Recking zündete sich belustigt eine Zigarette an. »Haben Sie mit mir so schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Mit Ihnen allerdings nicht. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel.«

»Das ist recht, daß Sie noch ein gutes Haar an mir lassen. Ich werde alles daransetzen, auch im vorliegenden Fall mir ein gutes Zeugnis von Ihnen zu holen.«

Er bedankte sich und ging. In dem alten Beamten aber war der Amtsneid wach geworden. Er ließ sich die Meldungen der letzten Tage bringen und suchte angestrengt, ob etwas gegen eine Frau van Breuch vorläge. Wenn es ihm gelingen sollte, einem so siegessicheren Privatdetektiv noch im letzten Augenblick eine Beute abzujagen, so würde ihm das ein Hochgenuß sein. Außerdem war ihm für diesen Fall eine Belobigung oder eine Belohnung sicher.

Aber sein Bemühen war umsonst. Ärgerlich gab er die nutzlose Grübelei auf. Zu gern hätte er einmal einen Jagdzug gemacht, wie ihn dieser junge Detektiv mit den hellen, klaren Augen, die vorhin so überlegen spöttisch geblinzelt hatten, ein Mal über das andere unternahm. Aber schließlich ermüdete er bei dem Versuch, etwas aus dem Namen der Frau van Breuch herauszuklügeln. Mißmutig schob er die Papiere weit von sich, nachdem es ihm klar geworden war, daß es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe tun.

*

Ralf Recking, der nach ununterbrochener Fahrt über Aachen in Brüssel anlangte, begab sich vom Nordbahnhof geradeswegs in das auf dem benachbarten Boulevard befindliche Detektivbureau Martin, wo ihn sein Kollege, ein Flamländer mit lebhaften Manieren, erwartete.

»Pünktlich auf die Minute, lieber Herr Recking!« rief er, dem auf der Schwelle Stehenden zueilend und ihm die Hand schüttelnd, aus. »Pünktlich wie ein Deutscher! Besten Dank für Ihr Telegramm. Sie haben sich übrigens gar nicht verändert, seit wir uns auf unserer internationalen Weltausstellung zum letzten Male gesehen haben. Verjüngt sehen Sie aus. Und wie unendlich viel hat sich seitdem verändert! Wer hätte das damals auch nur im Traum gedacht. Und gestern Ihre Depesche von Frankfurt – ausgezeichnet! Kein Wort zu viel, keine Kleinigkeit übersehen. Wir hatten infolgedessen leichtes Arbeiten. Wir können gleich zum geschäftlichen Teil übergehen, vorausgesetzt, daß Sie nicht zuvor zu frühstücken wünschen.«

Ralf Recking dankte; er habe im Speisewagen zwischen Aachen und Löwen für sein leibliches Wohl gesorgt. »Ich will nur hoffen, daß ich Ihnen nicht zu viel Mühe gemacht habe, Herr Martin.«

»Gar nicht! Hören Sie! Zurzeit lebt kein Mensch des Namens Serrurier hier in Brüssel, wie Sie das in Ihrem Telegramm durchblicken ließen. Aber die alten Adreßbücher gaben uns sogleich Auskunft. In dem vor sechs Jahren erschienenen glänzen sogar zwei Serruriers. Einer, namens Joseph, war Schloßverwalter des verstorbenen Königs Leopold – der schied aus, ist auch mittlerweile verstorben. Der andere, Jean mit Vornamen, dürfte der Gesuchte sein; er ist, wie Sie vermuteten, Bankbeamter –«

»Also doch! Ich schloß darauf lediglich aus der vorzüglichen Kenntnis gewisser Geschäftsgepflogenheiten, die der Mann, den ich suche, an den Tag gelegt hat. Ich freue mich über meine richtige Vermutung.«

»Als Bankbeamter hat Monsieur Serrurier Rue de la Montagne Nummer 79 gewohnt. Ich erkundigte mich in dem Hause und erfuhr, daß der Mann seit vier Jahren Brüssel verlassen habe, zuvor aber bei der hiesigen Bank von Lambert, einem Rothschildschen Unternehmen, auf der Rue d'Egmont angestellt gewesen sei. Diese Feststellung kam mir um so gelegener, als ich im Bankhaus Lambert einen alten, lieben Freund habe. Was war einfacher, als daß ich sofort zu meinem Freund Schepen – so heißt der prächtige Mensch – hinfuhr und mich nach einem Jean Serrurier erkundigte? Schepen kennt den Mann sehr gut. Es ist ein flotter Kavalier und durchaus kein Dummkopf gewesen. Aber ich sah auch, daß Schepen gleich bei meiner ersten Frage die Stirne runzelte. Dann fragte er mich, ob ich etwa wegen alter Schulden des Serrurier Erkundigungen einzöge.«

»Aha!«

»Nun, wenn Schepen anfänglich nicht recht mit der Sprache heraus wollte, so änderte sich das sehr schnell, als ich ihn in ein Gasthaus zu einem guten Tropfen einlud. Ich erfuhr, daß Serrurier nicht freiwillig seine Stellung in dem Bankhaus aufgegeben, sondern daß man ihn im Verdacht einer ganzen Anzahl von Unregelmäßigkeiten gehabt hatte, ohne daß es möglich gewesen wäre, ihn dieser Verfehlungen zu überführen. Die Veruntreuungen eines anderen Beamten, der sich das Leben nahm, kamen ihm zugute. Er verließ seine Stellung, nachdem er, wie wir sagen, das Zuchthaus mit dem Ärmel gestreift hatte. Mein Freund Schepen machte mir dann wertvolle Mitteilungen über den Aufwand, den der Mann getrieben, dessen Herkunft jener aber sehr geschickt zu erklären gewußt habe. Er ist jedenfalls eine sehr einnehmende Persönlichkeit gewesen, die sich besonders in den höheren Gesellschaftskreisen mit Leichtigkeit und Anstand zu bewegen und vor allem bei der Damenwelt einzuschmeicheln verstand. Dabei, wie gesagt, ein kluger Kopf, der vielseitige Interessen hatte oder vorzutäuschen wußte.«

»In welcher Richtung bewegten sich diese Interessen?«

»Er soll ein Sprachgenie gewesen sein. Außerdem soll er technisch sehr gut beschlagen sein, er verstand Mathematik und besaß nicht geringe chemische Kenntnisse …«

»Chemie auch?«

»Jawohl, davon sprach Schepen besonders. Dieser Serrurier scheint ein vielseitiger Mann gewesen zu sein.«

»Ihr Freund Schepen stand dem Manne näher?« fragte Ralf Recking.

»Er war im Geschäft anfangs sein Vertrauter, zog sich aber später, ohne daß es zum Bruche zwischen beiden gekommen wäre, unauffällig von ihm zurück, denn er wurde den Gedanken nicht mehr los, daß die Mittel, mit denen Serrurier sein verschwenderisches Leben führte, nicht auf rechtmäßige Weise erworben seien. Es war dies allerdings ein Verdacht, der sich nicht beweisen ließ. Serrurier verließ übrigens Brüssel bald danach.«

»Nannte Schepen eine Familie, in der der Mann viel verkehrte? Etwa den Namen Fouchard?«

»Nein, an den Namen erinnere ich mich nicht. Schepen deutete nur an, daß Serrurier in allen vornehmen Häusern ein gern gesehener Gast war.«

»Steht Ihr Freund noch in Fühlung mit dem Mann?«

»Er hat den weiteren Lebensgang seines früheren Kollegen nicht ganz aus den Augen verloren. Serrurier übersiedelte von hier aus nach Paris, später lebte er in Deutschland und England. Aber über keinen dieser Aufenthaltsorte weiß Schepen etwas Bestimmtes zu sagen. Zuletzt traf er ihn hier vor zwei Jahren, als er aus dem Laden eines Uhrmachers in der Rue du Bois Sauvage trat. Damals sei ihm Serrurier merkwürdig scheu erschienen.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Schepen meinte, Serrurier sei erschrocken gewesen, einem alten Bekannten in den Weg zu laufen, er habe ihm offenbar ausweichen wollen. Schepen hat diese Begegnung nicht vergessen; er schwört darauf, Serrurier habe damals etwas verbergen wollen. Er ließ sich aber nicht so kurz abfertigen, kam mit dem ehemaligen Kameraden, der übrigens genau so elegant aus sah wie früher, ins Gespräch und bekam zu hören, daß Serrurier einen Oheim in Paris beerbt habe und mit dem Gedanken umgehe, sich zu verheiraten. Und wieder einige Zeit später schrieb der Mann an Schepen aus Paris, er betreibe jetzt dort ein Bankgeschäft unter der Firma Charembeaux & Co., und es wäre ihm erwünscht, wenn Schepen gelegentlich Kunden aus der Heimat an ihn weisen würde.«

»Konnte Ihr Freund Schepen das tun?«

»Er hat sich gehütet. Er studierte seitdem die Zeitungen mit Eifer in der Erwartung, daß die Welt eines Tages Wunderdinge von dem Bankinstitut Charembeaux & Co. zu berichten haben würde. Freilich, geschehen ist das allerdings nicht. Schepen hörte nur von Bekannten, daß dieses Bankgeschäft auch heute noch besteht. Mehr konnte ich von meinem Freund nicht erfahren.«

»Ich danke Ihnen, verehrter Freund!« Ralf Recking erhob sich. »Sie haben mir einen Gefallen erwiesen, für den ich Ihnen nicht genug danken kann. Einen Dienst, der sich gut bezahlt machen wird. Sie sollen von mir hören.«

»Ich wüßte nicht, was mir angenehmer wäre. Daß Sie mit mir zufrieden sind, ist mir der schönste Lohn. Und nun sind Sie hoffentlich heute den Tag über mein Gast und erzählen mir Neuigkeiten aus Berlin?«

Ralf Recking sah nachdenklich auf die Uhr. »Ich wollte, ich könnte es. Aber mein Besuch bei Ihnen war nur der Anfang zu weiteren Arbeiten. Für den Augenblick bleibt mir keine Zeit zum Plaudern. Ich verspreche Ihnen, alles nachzuholen, wenn das Stück aus ist.«

»Der Fall Serrurier?«

»Ich glaube, wir dürfen es so nennen.«

»Dann wage ich freilich nicht. Sie aufzuhalten. Wenn ich Ihnen noch behilflich sein kann, zählen Sie auf mich; aber ich weiß, daß Sie sich in Brüssel besser zurechtfinden als mancher, der hier geboren ist.«

»Keine Schmeichelei, lieber Kollege! Sie überschätzen meine Ortskenntnisse. Bis zu Ihrem ›Manneken Pis‹ getraue ich mich allenfalls hinzufinden, wo die Rue du Bois Sauvage liegt, ist mir aber unbekannt.«

»Die Straße, die ich vorhin erwähnte, wo jener Uhrmacher wohnt? Suchen Sie den? Glauben Sie, daß Ihr Serrurier dort etwa Schmucksachen loszuschlagen versucht hat?«

»Nein. Aber den Mann muß ich aufsuchen.«

»Dazu nehmen Sie die Straßenbahn und steigen an der Nationalbank aus; dann sind Sie an Ort und Stelle. Der Uhrmacher heißt Pasteur, Jacques Pasteur.«

»Der Name läßt sich nicht vergessen. Und Ihren Freund Schepen würde ich gern um die Liebenswürdigkeit bitten, an Jean Serrurier ein Telegramm zu richten. Wenn Sie ihm erklären, daß ich gekommen wäre, um seinen alten Verdacht zu bestätigen …«

»Dann bietet er die Hand, verlassen Sie sich darauf, lieber Herr Recking. Ich übernehme das. Lassen Sie mich nur machen. Setzen Sie das Telegramm auf?«

Ralf Recking schrieb ein paar Zeilen, dann riß er das Blatt aus seinem Taschenbuch. »Das wird genügen.«

Herr Martin las halblaut: »Habe Grundstückkäufer für Sie, biederen Mann aus Provinz Limburg, namens Gerard. Wieviel lassen Sie mich dabei verdienen und wann dort zu treffen? Gruß Schepen.«

Über das Gesicht des Flamländers ging ein breites Lachen. »Auf den Köder wird er anbeißen. Ich schlage nur vor, Sie setzen vor den Namen Schepen noch dessen Vornamen Aristide.«

»Einverstanden. Die Antwort aus Paris können wir noch heute erwarten. Bitte, schicken Sie sie mir nach Rotterdam, Hotel Boymans.«

»Mein Gott, Sie reisen wohl mit Siebenmeilenstiefeln?«

Recking lachte. »Manchmal wünschte ich sogar, ich besäße den berühmten fliegenden Koffer. Und nun leben Sie wohl für heute, ich werde Ihre Hilfe nicht vergessen.«

Herr Martin sah dem Deutschen nach. So ging ein Jäger, der eine Fährte aufgespürt hatte und sich nicht eine Sekunde zum Verschnaufen gönnte, bis er das Wild zur Strecke brachte. Und wenn er selbst auch nur die Dienste eines Treibers bei diesem Jagen versehen durfte, er war vom Jagdfieber angesteckt und kam aufgeregt bei Aristide Schepen an.

Ralf Recking fand ohne große Mühe den Uhrmacher Jacques Pasteur, bei dem er länger als eine Stunde blieb. Es war eine ernste Besprechung, die den alten Meister Pasteur nicht wenig in Schrecken setzte.

Bis zum Abgang seines Schnellzugs blieben dem Detektiv noch anderthalb Stunden, die er unweit des Nordbahnhofs im Botanischen Garten verbrachte. Von einer der Musikbühnen klangen die Töne eines Konzerts zu ihm herüber, und allenthalben ergingen sich die vergnügungsfrohen Brüsseler im Sonnenschein. Anmutige Frauengestalten kamen mit ihren Kindern die sorglich geharkten Wege daher. Modische junge Herren machten kokett geputzten Dämchen den Hof, die Blumen im Gürtel trugen. Es wurde gescherzt und gelacht, und wenige schienen sich Gedanken darüber zu machen, ob heute Werk- oder Feiertag sei. Man sah ihnen an, wie leicht sie das Leben zu nehmen verstanden, diese jungen, gewandten Herren mit den wippenden Stöckchen und den sorgsam gebügelten Hosen, diese Damen, die mit ihren Seidenkostümen und schönen Augen prunkten. Ralf Recking dachte auf seiner Bank, wo er, neben flämischen Kinderwärterinnen sitzend, dem vorüberwogenden Menschenstrom zuschaute, vergangenen Tagen nach. Wie heute dies leichtlebige Geschlecht, mochten hier einst auch jene gelustwandelt sein, deren Spuren er nachging, und deren Namen ihm genannt worden waren: der lebenslustige Léon Fouchard, dessen Geschäftslage verzweifelt war, der dennoch das größte Haus in Brüssel machte, emsig bedacht, seiner Tochter einen Gatten zu suchen, damit sie versorgt sei; Eugenie Fouchard, deren Lippen so süß lächelten, daß sie einen Schwarm von Verehrern hinter sich herzog, bis die vorsichtigen Freier merkten, daß im Hause von Léon Fouchard nicht alles Gold war, was glänzte; die schöne Suzanne Bergère, die einen reichen Engländer geheiratet und später angeblich ihre zärtlich geliebte Eugenie Fouchard, nachdem diese an einen deutschen Philister verheiratet war, auf ihr englisches Landgut eingeladen hatte, das jene nie erreichen sollte – weil es vermutlich nichts als ein Luftschloß war. In diesen Kreis von damals gehörte auch die graziöse Lydia, die sich sogar einen amerikanischen Millionär eingefangen haben sollte – Frau Eugenie Bahrs Freundinnen, die ihren Vorteil besser zu nutzen verstanden hatten als Fouchards Tochter, von deren deutschem Gatten man bereits nach so kurzer Ehe von Zahlungsschwierigkeiten zu munkeln wußte.

Oder hatte es nur einer erfahren? Einer, mit dem Eugenie noch immer Briefe wechselte, nach England oder nach Paris, wo der hübsche, auffallend elegante Jugendfreund und Verehrer gerade weilte, der den fremden Schönen in sieben Sprachen die Köpfe verdrehen konnte, und dessen schmachtende Augen Eugenie Bahr nie vergessen hatte: der leichtsinnige Jean Serrurier. Ein Mann, der seinen Einfluß kannte und ihn zu nutzen verstand, der vielleicht Eugenie wirklich leidenschaftlich liebte, es dabei aber trefflich verstand, mit dem Angenehmen das Nützliche zu verbinden, Gold herbeizuzaubern, und der zur Erlangung dieses Zwecks vor keinem niederträchtigen, raffiniert ausgeheckten Verbrechen zurückschauderte.

Denn so einer mußte der Jean Serrurier sein, den Ralf Recking im Geiste vor sich sah.

*

Als Ralf Recking das Kontorhaus der »Südholländischen Reederei Batavia« betrat, sagte er zu dem ersten Buchhalter, der zwischen den langen Reihen klappernder Schreibmaschinen stand, nichts weiter als:

»Führen Sie mich, bitte, zu Mijnheer van Jercken.«

Der Buchhalter machte ein verblüfftes Gesicht, und auch die Augen der jungen Mädchen an den Tischen, wo die Reisernten Javas berechnet und die Frachten der Westindiensegler gebucht wurden, maßen den Fremden neugierig.

»Das wird kaum möglich sein, mein Herr,« sagte der Buchhalter. »Zumal um diese Stunde. Auch ist es üblich, sich beim Herrn Reeder vorher anzumelden. In keinem Falle wünscht Mijnheer van Jercken durch unvorhergesehene Besucher gestört zu werden.«

Ein paar Maschinen hörten auf zu klappern, ein verstohlenes Kichern klang dazwischen, und eine ältere Schreiberseele nickte zu den Worten des Buchhalters bestätigend.

»Diesen Fall sah ich voraus,« antwortete der Detektiv, »und habe mir erlaubt, ein paar Worte auf meine Karte zu schreiben. Nehmen Sie, bitte.«

Einen Augenblick drehte der Buchhalter das Kärtchen zögernd in der Hand; dann verschwand er.

»In seinen Anordnungen,« erläuterte der alte Schreiber, dessen Rücken krumm gebogen war, »ist unser werter Herr Chef sehr eigen. Er empfängt nur ganz prominente Persönlichkeiten.«

»Was Sie sagen!« Ralf Recking schnippte ein Stäubchen von seinem Zylinder.

Doch schon kam der Buchhalter ins Zimmer zurück und verbeugte sich lebhaft: »Mijnheer van Jercken läßt bitten, Sie möchten eintreten, Herr Recking!«

»Alle Wetter!« Der alte Schreiber verkroch sich ziemlich kleinlaut hinter seiner Statistik. Die Schreibfräuleins machten große Augen und folgten dem Fremden mit ihren Blicken, und die Verwunderung wuchs, als die Unterredung desselben mit dem sonst so kurz angebundenen Chef über eine Stunde währte. Nicht einmal die Unterdirektoren wurden in dieser Zeit vorgelassen.

»Was für ein Zauberwort stand denn auf der Karte?« wurde der Buchhalter von seinen Kollegen bestürmt; doch der zuckte die Achseln. Erst als ihn Subdirektor Groot ausfragte, sagte er, der deutsche Detektiv habe unter seinen Namen die Worte gesetzt: »Ich habe das Rätsel der ›Thetis‹ gelöst.«

»Der ›Thetis‹?« Der Direktor trat einen Schritt zurück. »Haben Sie das wirklich gelesen, Mann?«

»Es ist, wie ich sagte. Es scheint, daß die unglückselige Geschichte noch immer nicht zur Ruhe kommen soll.«

»Oder gerade! Gerade, mein Lieber! Und ein Deutscher, sagen Sie, ist es, der das Rätsel gelöst haben will?«

»Sein Name ist Ralf Recking.«

»Den habe ich schon gehört oder gelesen. Ich glaube, er hat einen guten Klang. Immerhin, wenn man bedenkt, daß unsere besten Köpfe jahrelang an der Arbeit gewesen sind, um das Dunkel aufzuhellen, das über der Explosion lastet, und kein Ergebnis erzielt haben – soll man da wirklich glauben, daß dieser Deutsche etwas gefunden und festgestellt hat?«

Da kam aus Mijnheer van Jerckens Zimmer ein Klingelzeichen. Der Diener, der hineineilte, kam mit der Meldung zurück, Mijnheer van Jercken lasse Subdirektor Groot bitten, sofort zu ihm zu kommen.

Als dieser das Privatkontor betrat, fand er den Detektiv und seinen Chef über den mit Papieren bedeckten Schreibtisch gebeugt, und er erschrak, als sich der Reeder aufrichtete. Mijnheer van Jerckens Gesicht war bleich und verstört.

»Groot,« sagte er, »Sie müssen mich ein paar Tage vertreten. Erlauben Sie, daß ich die Herren miteinander bekannt mache. – Und dann, Groot, schicken Sie mir, bitte, alle Akten, die mit der Katastrophe der ›Thetis‹ in Verbindung stehen, noch vor Abend in meine Wohnung. Diese Schriftstücke und Ausweise hier nehme ich selbst mit.«

»Werden Sie in der Stadt bleiben, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«

»Voraussichtlich nicht. Richten Sie sich ganz so ein, als wenn ich verreist wäre. Sprechen Sie aber zu niemand davon.«

Der Subdirektor versicherte, alle Wünsche zu erfüllen. Mijnheer van Jercken drückte ihm die Hand. Dann verschloß er sorgfältig die auf dem Tisch ausgebreiteten Papiere in eine Handmappe.

»So, Herr Recking, und nun will ich Sie zum Versicherungsgeschäft von Reeper begleiten. Wünschen Sie zu fahren? Es ist nicht in nächster Nähe.«

»Danke, ich schlage vor, wir gehen.«

»Das entspricht sehr meiner augenblicklichen Stimmung. Nach diesen Eröffnungen habe ich keinen sehnlicheren Wunsch, als an die frische Luft zu kommen. Ich kann immer noch nicht glauben, was Sie für gewiß halten, ich hoffe, daß Sie doch zu schwarz sehen.«

»Trotz der zweifellosen Übereinstimmung der Handschrift auf der Passagierliste mit der von mir in Berlin von dem Meldezettel abgezeichneten?« fragte der Detektiv.

»Ich kann es nicht glauben, weil ich jedes Vertrauen an die Menschen zu verlieren fürchte, wenn das alles so sein sollte, wie Sie es mir erklärten. Ich kann einen einzelnen Menschen einer solchen Schurkerei nicht für fähig halten.«

»Das ehrt Sie, Mijnheer. Leider erleben wir über das Maß des Menschenmöglichen immer wieder neue Überraschungen. Auch teile ich Ihre Ansicht nicht, daß der Schuft Mithelfer und Mitwisser seines Verbrechens gehabt hat.«

»Der Brüsseler Uhrmacher sollte tatsächlich ahnungslos gewesen sein?«

»Davon bin ich felsenfest überzeugt, nachdem ich den Mann selbst gesprochen habe. Er war wie aus allen Himmeln gefallen. Hätte ich ihm nicht die Lage der Dinge klarzumachen verstanden, würde er noch heute darauf schwören, daß der Mann, der das höllische Uhrwerk bei ihm bestellte, ein Russe gewesen ist. Und die Erzählung, die der damalige Russe – seitdem hat er die Nationalität oft genug gewechselt! – dem ahnungslosen Pasteur aufband, war gar nicht ungeschickt erfunden.«

»Was sagte er dem Manne?«

»Er sei Besitzer bedeutender Seidenfabriken in Wologda – ich konnte inzwischen feststellen, daß in Wologda keine Seide gesponnen wird –, und er habe eine Maschine erfunden, die tausend Seidenfäden mit einem Schlage zu arretieren vermöge. Hierzu benötige er eben jenes Uhrwerk, dessen Hebel mit einem Gewicht von dreißig Pfund aufschlagen müsse. Das Werk sollte eine zehntägige Laufzeit haben, zu deren Ende der Hebel kräftig herabstoßen und die Maschine in Tätigkeit setzen sollte. Das Ganze sei eine zu patentierende Erfindung, und deshalb müsse Meister Pasteur reinen Mund halten. Sein Wort hat der Ahnungslose bis gestern treu gehalten.«

Mijnheer van Jercken fiel von einer Überraschung in die andere. Sie gingen »de Boompjes« entlang, den mit herrlichen Bäumen bepflanzten Maaskai, den Stolz der Rotterdamer Bürger. Am linken Ufer dehnten sich die Docke und Warenhäuser. Sirenen heulten und Dampfpfeifen brüllten, Kräne arbeiteten, und flinke Barkassen schossen an langsam gleitenden Fischkähnen vorbei durch die Flut.

Und nun wandten sie sich rechts, wo berußte Schauerleute an den Bergen von Kohlen hantierten, mit den schwarzen Armen Stück für Stück von dem Berge zu den Schiffen fördernd, zu den Seegiganten, deren Atemstoß wohl in einer Sekunde verpuffte, was ein einzelner Schwerarbeiter in tagelanger Arbeit heranschleppte.

»Hier lag die ›Thetis‹. Ich sah sie einen Tag vor ihrem Unglück,« sagte Mijnheer van Jercken, und es klang wie ein Seufzer. »Und da vorn sehen Sie das Haus der Versicherungsgesellschaft Reeper, die dem Serrurier die Versicherungssumme von hunderttausend Gulden ausbezahlte. Ist es denn wirklich zu glauben, daß ein Verbrechen so viele Jahre vorher in allen Einzelheiten so sicher geplant und vorbereitet werden konnte?«

»Jedenfalls arbeitete dieser zähe Bursche mit unbeirrter Festigkeit auf sein Ziel los. Er ließ sich Zeit zu seinen Vorbereitungen, kein Zug verrät Hast, kein Schritt Unvorsichtigkeit. Er konnte warten. Möglich, daß er eher ans Ziel zu kommen gedachte, daß Eugenie seinen Lockungen länger widerstand, als vorgesehen war. Zuletzt erreichte er doch, was er wollte.«

Der oberste Beamte der Gesellschaft Reeper war ein guter Bekannter des Reeders. Nach einigen einführenden Worten, die aber nichts von den Entdeckungen Ralf Reckings durchblicken ließen, zeigte dieser Beamte sich gern erbötig, seinen Besuchern die Versicherungsverträge, um deren Einsichtnahme sie baten, vorzulegen. Es waren zwei im allgemeinen gleichlautende Lebensversicherungspolicen. Beide Scheine waren zu einer nunmehr neun Jahre zurückliegenden Frist ausgestellt worden, zu jener Zeit, als Heinrich Bahr sich um die Hand von Eugenie Fouchard bewarb. Und die Versicherten hießen: Eugenie Fouchard und Jean Robert Serrurier.

Sie hatten sich gegenseitig auf den Todesfall in Höhe von hunderttausend Gulden versichert. Unter den von einem Bevollmächtigten der Gesellschaft beurkundeten Nebenabmachungen befand sich die, daß der Vertrag auch dann zu Recht weiterbestehe, wenn der eine oder der andere der Versicherten eine Ehe mit einer dritten Person eingehe, wobei die Gesellschaft die Verpflichtung auf sich genommen hatte, den abgeschlossenen Vertrag dem betreffenden Ehegatten geheimzuhalten.

»Jetzt wird mir auch das Letzte klar!« sagte Ralf Recking.

»Derartige Klauseln kommen mitunter vor,« erläuterte der Beamte. »Schon um in jeder Hinsicht einer Trübung des Familienlebens, insonderheit der einer Ehe vorzubeugen. Auch im vorliegenden Falle hätte es einen Schatten beschwören heißen.«

»Und Sie hatten gar keinen Verdacht, als Sie die Versicherungssumme an Herrn Serrurier auszahlten?« fragte Mijnheer van Jercken.

»Dazu lag keine Veranlassung vor, da die Police doch aus einem Zeitpunkt stammt, der sieben Jahre zurücklag. Der Tod der Frau Eugenie Bahr – wie das ursprüngliche Fräulein Fouchard laut einem Nachtrag der Police nunmehr hieß – war ja durch die Behörde festgestellt worden.«

»Ohne daß ihr Leichnam gefunden worden wäre!« sagte der Reeder.

»Die Behörde rechnete, wie Ihnen ja bekannt ist, mit der furchtbaren Gewalt der Katastrophe, die so ungeheuer war, daß man von den großen Spiegelscheiben eines benachbarten Wohnhauses kaum mehr einen einzigen Glassplitter zu erkennen vermochte; alles war in winzige Körnchen geschlagen.«

»Das ist richtig.«

»Wie denn überhaupt erst durch die Nachfrage der Hinterbliebenen die Verluste größtenteils festgestellt wurden. Noch nach Wochen schwemmte die Flut hier und da Teile von Umgekommenen an Land.«

»Ja, das stimmt leider alles,« bestätigte der Reeder. »Von einem unserer Inspektoren, der die ›Thetis‹ hingeleiten sollte, wurde ja auch nichts wiedergefunden. Und ebensowenig von den Arbeitern, die den Unglückswagen samt der furchtbaren Sprengmasse bedienten, die wir für Amerika bestimmt glaubten.«

»Bis der Gedanke auftauchte, daß es ein Schurke auf einen Versicherungsbetrug abgelegt habe! Nun, wir haben uns seitdem auch daran gewöhnen müssen, daß unsere Vermutungen sich durch nichts beweisen ließen. Denn Sie wissen wohl,« wandte sich der Beamte an Ralf Recking, »daß sich nicht einmal das explodierte Gefäß, das gerade auf dem Kai verladen wurde, hinsichtlich der Art seines deklarierten Inhalts oder seines Besitzers hat feststellen lassen.«

»Allerdings,« bestätigte der Deutsche, »weil eine ganze Reihe von Kisten und Gefäßen vernichtet wurde. Den Schurken begünstigte eben das Glück.«

»Und wenn es sich nun doch anders verhalten haben sollte? Man sträubt sich geradezu, anzunehmen, daß ein einzelner einen so teuflischen Plan auszuhecken fähig war. Wenn es sich nur um einen Leichtsinnigen gehandelt hat, der tatsächlich den Sprengstoff, der vielleicht zu technischen Zwecken gebraucht wurde, unter falscher Deklaration auf das Passagierschiff eingeschmuggelt hat? So mußte es sich meiner Meinung nach verhalten haben und damit scheidet die Frage nach dem Verbrecher aus.«

»Es tut mir sehr leid,« sagte Ralf Recking, »diese Meinung nicht teilen zu können.«

»Wie? Sie wollen doch wohl nicht sagen …? Sie kamen doch nicht zu uns, Herr Recking, um …«

»Ich kam lediglich zu Ihnen, um zu lückenloser Prüfung aller Dokumente die beiden Policen kennenzulernen. Weiter möchte ich Ihnen für heute nichts sagen. Was ich feststellen wollte, habe ich erreicht. Die Unterschriften der Policeninhaber stimmen mit zwei anderen Unterschriften, die ich aus Berlin mitbrachte, überein. Mit einer Unterschrift auf einem Wechsel und mit einer Unterschrift auf einer Fremdenanmeldung. Diese Übereinstimmung ist nur außerordentlich wertvoll. Und nun danke ich Ihnen, mein Herr!«

Der Beamte geleitete die Herren mit erschrockenem Gesicht bis an die Treppe.

»Furchtbar! Gar nicht auszudenken!« sagte Mijnheer van Jercken. »Was nun? Was nun?«

Ralf Recking erwiderte ruhig und bestimmt: »Nun wird die Justiz binnen kürzester Zeit in der Lage sein, ihr schweres Amt zu erfüllen. Meine Beweiskette ist geschlossen.«

»Sie wollen sofort mit mir nach Paris?« fragte der Reeder.

»Das hängt von Nachrichten ab, die ich aus Brüssel erwarte. Ich hoffe, ich finde im Hotel Boymans eine Depesche. Und was Ihre Begleitung anlangt, so waren Sie es selbst, Mijnheer, der den Wunsch äußerte, mit mir zu kommen.«

»Dazu bin ich entschlossen. Ich muß klar sehen.«

Ralf Recking hatte richtig gehofft; im Hotel fand sich ein Telegramm vor. Als der Detektiv es entfaltete, lächelte er. Er reichte das Blatt dem Reeder:

»Kommen Sie! Serrurier ist in Brüssel und trifft sich heute acht Uhr abends mit Aristide Schepen. Ich bin an allen Schnellzügen des Nordbahnhofs. Martin.« – »Nun, und was werden Sie tun?« fragte Mijnheer van Jercken.

»Ich werde versuchen, so schnell wie möglich nach Brüssel zu kommen.« Er hatte schon das Reichskursbuch in den Händen. »Wenn ich nicht irre, bleibt der nächste D-Zug in Antwerpen liegen. Das stört meine Rechnung. Glücklicherweise sind wir nicht auf die Bahn angewiesen. Ich schätze die Strecke von hier bis Brüssel auf hundert Kilometer.«

»Oh, etwas mehr dürften es sein, auch in der Luftlinie.«

»Es ist nicht weiter als von Berlin bis Magdeburg. Ein Katzensprung für einen guten Kraftwagen.«

»Nichts einfacher,« sagte der Reeder. »Ich besitze zwei Wagen.«

»Wird dankend angenommen!«

Eine Viertelstunde später flog der Kraftwagen die Kulenborger Straße entlang.

*

Die Glocken von St. Jean-Nikolas verkündeten die siebente Abendstunde, als der Wagen sich dem Brüsseler Nordbahnhof näherte. Der Detektiv Martin verließ eben mißvergnügt das Bahnhofgebäude, weil der Schnellzug von Breda, den er erwartet hatte, ohne seinen deutschen Kollegen in die Halle eingefahren war, als er sich beim Namen gerufen hörte. Erstaunt erkannte er Ralf Recking.

»Also doch!«

»Steigen Sie ein. Mijnheer van Jercken wird die Güte haben. Ihnen Platz zu machen. So – sehen Sie, es geht schon. Und nun geben Sie, bitte, unserem Führer den geradesten Weg zu Ihrem Freunde Schepen an. Ist ein leidliches Hotel in dessen Nähe?«

»Ah, Sie wollen sich gewiß sofort umkleiden und in das Gewand des ehrbaren Herrn Gerard schlüpfen, des Provinzialen, der sich für die Grundstücke in Paris interessiert und dazu ausersehen ist, von Monsieur Serrurier über den Löffel barbiert zu werden? Höchste Zeit; aber doch noch gerade in zwölfter Stunde hereingehuscht. Durch mein Telegramm erfuhren Sie, daß sich Serrurier ahnungslos Punkt acht Uhr mit Aristide Schepen treffen wird? Ich stand eine Höllenangst aus. Sie könnten die Stunde versäumen.«

»Wo ist der Treffpunkt verabredet?«

»In einer kleinen Taverne. Ebenfalls in der Avenue Fonsny. Sie heißt ›Zur Forelle‹.«

»Sehr gut. Mit der Maske des Mannes aus dem Limburgischen hat es keine Eile. Im Gegenteil! Serrurier würde mit Recht Verdacht schöpfen, wenn der Biedermann aus der Provinz schon zur Stelle wäre.«

»Sie haben recht. Die Hauptsache ist aber doch, Sie haben den Menschen, auf den Sie Jagd machen, Herr Recking. Sie finden ihn und werden zugreifen.«

»Ihn wohl. Aber seine Begleiterin und Helferin würde mir entgehen; ihr Aufenthaltsort wäre dann sicher nicht aus dem Verhafteten herauszubringen. Sie müssen das schon mir überlassen, wie ich die Schlinge zuziehe. So, da sind wir ja schon in der Avenue Fonsny. Welche Nummer wohnt Herr Schepen?«

»Zweiundzwanzig. Er versprach mir, bis gegen dreiviertel acht Uhr in seiner Wohnung zu warten. Sie liegt im zweiten Stock. Soll ich Sie hinaufbegleiten?«

»Nein, es ist besser, ich steige hier aus und gehe das Stück. Nur noch eine Frage und eine Bitte. Von einer Dame, die ich in Serruriers Begleitung vermute, wissen Sie nichts?«

»Kein Wort. Er hat lediglich Schepen durch den Fernsprecher angerufen, wie Sie gleich erfahren werden.«

Ralf Recking nickte. »Und Sie haben wohl die Güte, sich Mijnheer van Jerckens anzunehmen? Ein recht gutes Hotel, nicht wahr?«

»Oh, um mich machen Sie sich keine Sorge,« meinte der Reeder. »Ich bin ja gewissermaßen nur Zaungast und werde mich schon irgendwo zurecht finden, bis Sie zurück sind.«

»Damit wäre uns beiden wenig gedient. Nein, vertrauen Sie sich der Findigkeit von Herrn Martin an, Mijnheer, der Ihnen das beste Hotel aussuchen wird. Ich komme vielleicht erst spät zurück. Und nun eine kleine Bitte, lieber Herr Martin. Geben Sie möglichst bald dies Telegramm nach Berlin auf.«

»Wird besorgt. Und den Herrn bringe ich in den ›Hof von Flandern‹.«

»Und Sie können sich morgen für mich freihalten?«

»Unbedingt!«

Noch ein Winken, und der Kraftwagen fuhr weiter. Ralf Recking machte vor dem bezeichneten Hause halt und stieg die engen, steilen Treppen empor. Auf sein Schellen öffnete Aristide Schepen selbst. Er war längst zum Ausgehen fertig, hatte ungeduldig gewartet und war nun angenehm überrascht, daß der deutsche Detektiv doch noch kam.

»Offen gesagt, mir war etwas bänglich zumute, denn so leicht läßt sich dieser Pfiffikus nicht an der Nase führen. Nun Sie da sind, fällt mir eine Zentnerlast vom Herzen.«

»Und dennoch muß ich Sie zunächst mit dem Mann allein lassen.« Ralf Recking gab Herrn Schepen, dessen ganzes Wesen einen ehrlichen, weichherzigen, guten Menschen verriet, hierfür die gleiche Erklärung, wie vorher Herrn Martin.

»Ich verstehe,« gab der Bankbeamte zur Antwort. Seine milden und freundlichen grauen Augen blickten dabei etwas beklommen. »Es leuchtet mir ein, aber wie speise ich dann Serrurier ab? Für große Verstellungen eigne ich mich nicht. Wenn ich in dieser Angelegenheit mich überhaupt so bereitwillig finden ließ, so hat das einen besonderen Grund. Da war ein unverschuldet in Bedrängnis geratener Kamerad von mir – Gott hab' ihn selig! – der ist leider eines Tages der Versuchung erlegen und hat in seiner Verzweiflung, als sein Vertrauensbruch ans Licht kam, selbst zur Waffe gegriffen. Es war nur ein einziger, geringfügiger Fall, den er auf sein Gewissen geladen hatte, und der – davon bin ich überzeugt! – noch dazu sehr milde Richter gefunden haben würde. Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, da wurde Stein auf Stein auf ihn, der mein treuer Freund gewesen war, gehäuft, während ich fest davon überzeugt blieb und es noch heute bin, daß alle anderen groben Unregelmäßigkeiten in unserer Kasse dem leichtsinnigen Jean Serrurier zur Last zu legen waren. Beweise fehlten leider, und der arme Tote konnte sich nicht verteidigen. Immer aber habe ich im stillen der Hoffnung gelebt, Serruriers Schuld, mag sie noch so fein gesponnen sein, möchte eines schönen Tages einmal ans Licht kommen. Und da kamen Sie …«

»Ja, da kam ich, und ich bin dabei, die Schurkereien dieses Menschen zu entlarven. Das deutete Ihnen mein Kollege Martin an.«

»Ganz recht! Und ich verriet ihm, was ich konnte. Ich war auch sofort erbötig, das von Ihnen gewünschte Telegramm, das nach Paris ging, auf mich zu nehmen. Aber warum ich das tat, mein Herr? Nur, um die Ehre meines toten Kameraden zu retten oder wenigstens dazu behilflich gewesen zu sein.«

»So dachte ich mir's. Geben Sie mir Ihre Hand, Herr Schepen! Und nun meinen Sie, es wäre genug des falschen Spiels, das Sie auf sich genommen hätten, und da ich nun glücklich da bin, um die Verstellung weiter zu spielen, hegen Sie den aufrichtigen Wunsch, Ihrer Ihnen so wenig zusagenden Rolle ledig zu werden. Ist es das, was Sie mir sagen wollten?«

»Gewiß, Herr Recking! So dachte ich es mir. Sie finden Jean Serrurier in der ›Forelle‹; greifen Sie zu. Mich aber lassen Sie, wenn es geht, aus dem Spiel.«

Der Detektiv überlegte. Die Uhr zeigte auf zehn Minuten vor acht. Schneller Entschluß war nötig. Dann sagte er: »Es geht nicht. Geht beim besten Willen nicht. Das würde keine ganze Arbeit geben. Überwinden Sie sich. Denken Sie daran, daß ich Ihren toten Kameraden glänzend rechtfertigen werde. Seien Sie überzeugt, daß dieser Serrurier viel, unendlich viel mehr auf dem Gewissen hat, als Sie ahnen, und führen Sie wenigstens noch dies einemal das Versteckspiel durch, das Ihrer ehrlichen Natur zuwider ist. Sagen Sie, daß der Mann aus Limburg Ihre Nachricht noch nicht bekommen haben dürfte, daß es aber ein Mann sei, der für ein gutes, einträgliches Geschäft wie gerufen käme. Verbürgen Sie sich dafür, daß sie ihn bis morgen abend unbedingt zur Stelle schaffen. Reden Sie von Gerards Unerfahrenheit und rühmen Sie sein Vermögen. Seien Sie nicht bescheiden mit Ihren Forderungen, die Ihnen von Serrurier als Prozente zugestanden werden müßten. Dann schöpft er keinen Verdacht. Trinken Sie ein gutes Weinchen dazu; das gibt Mut. Und vor allem versuchen Sie, daß Serrurier morgen abend wiederkommt. Und sinkt Ihnen der Mut trotz alledem, so denken Sie, daß ich in Ihrer Nähe bin. Reißen alle Stricke, dann muß ich noch heute zupacken – so ungern ich's tue.«

»In meiner Nähe, sagten Sie? Als Gast in der Taverne? Wird das nicht auffallen?«

Ralf Recking lächelte, im stillen aufatmend, daß er Aristide Schepen herumbekommen hatte. »Ob als Gast, das weiß ich nicht. Aber das werden Sie ja sehen. Merken Sie eins: Wenn ich das linke Auge einkneife – sehen Sie, so wie jetzt zum Beispiel! – dann heißt das: Lassen Sie nicht locker! Drücken Sie durch! So, und nun gehen Sie voran. Ich folge unbemerkt.«

Schepen seufzte: »Vortrefflich gesagt, lieber Herr. Aber ich gestehe offen, ich wollte, diese Stunde wäre vorüber …«

Ralf Recking vertiefte sich in die Auslagen eines Antiquitätenhändlers; von diesem Platze aus konnte er bequem beide Seiten der Straße überblicken. Schepen war schon in der Tür der Taverne verschwunden, und die Uhr hatte acht geschlagen. Es waren noch genug Leute unterwegs – Angestellte, die aus den Geschäften kamen, Soldaten, junges Volk, alle mehr oder minder eilig –, aber auf niemanden wollte das Bild passen, das in der Vorstellung des Detektivs von dem Gesuchten lebte. Ein Herr trat allerdings jetzt auf die Taverne »Zur Forelle« zu, doch der trug einen braunen Spitzbart, was der Beschreibung nach bestimmt nicht zu Jean Serrurier stimmte. Als der Mann jetzt aber das gemalte Schild über dem Eingang musterte und darauf die Tür der Taverne aufklinkte, wußte der Wartende, daß er den Gesuchten vor sich sah.

Im nächsten Augenblick hatte er auch schon leise die Tür aufgemacht und betrat den Vorraum der Weinstube, der als Laden eingerichtet war, als der Besitzer der Taverne den Gast gerade in das dahinter liegende Zimmer geleitete.

»Ich hätte Sie nicht wiedererkannt!« hörte da Ralf Recking Aristide Schepen sagen. »Seit wann tragen Sie diesen Bart?«

Indes kam der Wirt zurück und rief dem Pikkolo zu, er solle sofort das Gas anstecken. Der Detektiv sah, daß andere Gäste nicht anwesend waren. Nun winkte er verstohlen dem Wirt, machte ihm ein Zeichen, daß er schweigen solle, und betrat mit ihm den rechts vom Laden gelegenen Raum, wo er den Überraschten eilig über den Zweck seines Besuches aufklären konnte.

Als wenige Minuten später vor Aristide Schepen und seinem Gast ein hochgewachsener Kellner in weißer Schürze den Wein auf den runden Tisch stellte, hätte nicht viel gefehlt und Schepen hätte sich verraten. Glücklicherweise wußte er mit einem erkünstelten Hustenanfall sein Erröten zu bemänteln, in das ihn der unvermittelte Eintritt dieses Kellners versetzte.

Geräuschlos zog sich Ralf Recking zurück, ehe ihn der volle Blick des aufsehenden Serruriers traf, und leise zog er den grünwollenen Vorhang zu, der das Hinterstübchen vom Laden trennte. Er hatte sofort gesehen, daß der schöne Spitzbart Serruriers falsch war. Diesem Menschen lag demnach daran, in Brüssel nicht alten Bekannten in den Weg zu laufen.

Schepen entschuldigte sich, daß er seinen Monsieur Gerard nicht habe mitbringen können. »Ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Wie konnte ich auch ahnen, daß Sie hier sind, als ich Ihnen nach Paris telegraphierte. Es ist ärgerlich, aber ich konnte es beim besten Willen nicht ändern.«

Der Detektiv atmete erleichtert auf. Für einen Anfänger schauspielerte Schepen gar nicht übel.

»Damit habe ich auch nicht gerechnet,« antwortete Serrurier. »Ich wollte aber die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Ihnen guten Tag zu sagen, alter Kamerad. Sie haben von meiner Anwesenheit in Brüssel, wie ich Sie bat, niemand erzählt?«

»Keiner Menschenseele! Obwohl ich nicht recht verstehe –«

»Ein Geschäftskniff, nichts weiter! Ich sondiere hier einen Hauskauf, für den sich eine Pariser Großfirma interessiert. Ihnen Näheres zu sagen, würde zu weit führen. Jedenfalls wünschte ich, bei den seriösen Geschäften nicht auf Schritt und Tritt von Bekannten umlauert zu werden, die dann meine Anwesenheit nach Paris berichten. Doch das nur nebenbei, alter Freund! Sie haben sich Zeit gelassen, einmal von sich ein Lebenszeichen zu geben.«

»Ja, nicht immer bietet sich Gelegenheit.«

»Wenn man die Augen aufmacht, nicht zu selten. Ich habe Brüssel nie aus den Augen verloren. Hier ist viel herauszuholen.«

»Sie meinen?«

»Sie werden mich schon verstanden haben, alter Freund. Ihr Telegramm ließ ja glücklicherweise keine andere Deutung zu. Der Mann hat viel Geld, nicht wahr?«

»Das ohne Frage –«

»Auch das glaubte ich aus Ihrem Telegramm herauszulesen, sonst wäre ich nicht so rasch gekommen. Durch meine Hände gehen jetzt sehr artige Summen, so daß ich es nicht nötig habe, einer Bagatelle nachzulaufen. Wie hoch schätzen Sie den Mann ein? Was wünscht er anzulegen? Wann werde ich ihn erwarten dürfen?«

»Das sind drei Fragen auf einmal. Ich denke, wir leeren erst einmal unser Glas auf die alte Zeit.«

»Auf die alte, ehrliche Kameradschaft, versteht sich. Sie sind grau geworden. Sie haben Runzeln, mein Lieber. Sie waren auf dem besten Wege einzutrocknen. Sie müssen sich an mir ein Beispiel nehmen. Verdienen, schnell verdienen, geschickt verdienen, das ist das wahre Lebenselixier, das ich an mir erprobt habe. Als ich Ihr Telegramm las, sagte ich mir: Endlich! Endlich kommt der alte Freund, der ein Lebensalter nichts von den Freuden der Welt und immer nur die weißgetünchten Wände von Lambert gesehen hat, auf die richtige Fährte.«

»Wie gesagt, es fehlte die günstige Gelegenheit. Mit Monsieur Gerard glaubte ich sie ins Haus treten zu sehen. Er wird mindestens auf sechsmalhunderttausend Franks eingeschätzt.«

»Nicht zu verachten,« sagte Serrurier.

»Er sucht parzellierten Boden im Weichbild von Paris. Weiß der Kuckuck, wie er darauf verfallen sein mag. Aber was in solch echtem Limburger Dickschädel einmal sitzt …«

»Das soll man um Himmelswillen nicht daraus verjagen! Sehr richtig!«

»Und wenn ich ihn hierherführen kann, das hoffe ich Ihnen morgen früh sagen zu können. Bis dahin wird er meine Benachrichtigung bestimmt erhalten haben.«

»Ja, aber seine Antwort? Mir bleibt nur noch morgen Zeit …«

»Das sage ich ja. Morgen kann Monsieur Gerard hier sein.«

»Machen wir die Stunde fest. Eine frühe Nachmittagstunde. Abends müssen wir reisen.«

Der Kellner steckte sein Gesicht in die Tür. »Beliebten Sie zu rufen, mein Herr?«

Aristide Schepen fing einen kurzen, blinzelnden Blick auf. Unwillig drehte sich Serrurier herum. Doch da war das Gesicht des Kellners auch schon wieder unbeweglich.

»Nun, da Sie da sind, mein Freund,« sagte Schepen, »bringen Sie noch einmal die gleiche Marke. Man kann nicht auf einem Beine stehen.«

»Ich sagte ›wir‹,« begann Serrurier. »Es kam ein junger Mann von Charembeaux mit mir in unserer Geschäftsangelegenheit hierher. Wie gesagt, es wäre mir nur möglich, den Herrn aus Limburg noch hier zu sprechen, wenn er nachmittags käme. Könnten wir uns in Ihrer Wohnung treffen?«

»Wo Sie wollen. Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können, daß er eintrifft. Nun aber erlauben Sie, daß wir davon sprechen, was im Falle eines zustandekommenden Abschlusses für mich abfiele.«

»Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren, alter Freund!« Serrurier klopfte ihm auf die Schulter. »Kannten Sie mich je als Knicker? Ich biete Ihnen gut und gern, was zurzeit mehr als der Brauch ist: sagen wir fünfzehn Prozent.«

Schepen dachte der Mahnung des Detektivs. »Auf fünfundzwanzig hatte ich gerechnet …«

»Was, der Tausend! Sind Sie bei Trost?« Serrurier lächelte. »Das gibt Ihnen niemand.«

Da kam der Kellner mit der frischen Flasche. Schepen vermied es, ihn anzusehen. Er fühlte, daß er sich nicht mehr lange zu beherrschen vermochte; er mußte zu Ende kommen.

»Es ist das meine Forderung, die Sie mir zugestehen müssen.« Dabei sah er nicht auf und rieb den Rand seines Glases. Die Verlegenheit entging Serrurier nicht, er sah sein Gegenüber forschend an.

»Muß? Ich muß Ihnen nichts zugestehen, gar nichts,« erwiderte er nachdrücklich. »Ich bin auf diesen Mann nicht angewiesen. Wenn ich auch offen sagen will, daß es töricht wäre, eine Henne davonhuschen zu lassen, die so schöne goldene Eier legen kann. Um so mehr scheint Ihnen an meinem Zugeständnis zu liegen, alter Freund! Wie mir scheint, brauchen Sie dringend eine Summe. Jetzt begreife ich, warum Sie sich an mich erinnerten. Sie werden zugeben, daß es nicht alltäglich ist, das Schweigen langer Jahre plötzlich zu unterbrechen. Auch täuschen Sie mich nicht mit Ihrer forschen Art, die Sie heute zeigen, über die Verlegenheit, in der Sie sich befinden. Gestehen Sie, Aristide Schepen!«

»Ich? Was denn? Ich dachte nur – das gute Geschäft sollte man zu machen suchen; der Mann ist unerfahren wie ein Kind. Die Gelegenheit bietet sich so leicht nicht wieder.«

»Alter Freund!« Schepen zuckte unter dem Schlag, den ihm Serrurier freundschaftlich-derb auf die Schulter versetzte, ordentlich zusammen. »Sagen Sie mir in aller Spitzbubenehrlichkeit, wieviel in der Kasse fehlt!«

Schepen stöhnte. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Seien Sie offen! Und Sie sollen die Summe haben; morgen schon unter Umständen.« Die lauernden Blicke Serruriers ließen ihn nicht los. Schepen war schon daran, aufzuspringen und fortzustürzen. Da bewegte sich der grüne Vorhang. Sekundenlang war des Kellners Gesicht zu sehen. Hatte der genickt? Da verstand der Bankbeamte blitzschnell, um was es sich handelte. Dieser Serrurier hielt ihn für seinesgleichen, sah ein Werkzeug in ihm, das er sich gefügig machen wollte. Er durchschaute den Elenden, der ihm zutraute, was er selbst getan hatte. Und der jäh in ihm aufsteigende Ekel vor diesem Menschen gab ihm die Kraft, seine falsche Rolle zu Ende zu spielen.

»Eine verfehlte Spekulation. Sie haben es erraten. Ich dachte an Sie. Sie sollten mein Retter werden.«

»Die Summe, wie hoch?«

»Oh, keine zehntausend. Ich könnte sie ersetzen, aber ich hänge am Geld …«

Serrurier lachte. Sein Gesicht erheiterte sich zusehends:

»Schön, mein Lieber, Sie sollen mich nicht umsonst gerufen haben. Wir beide gehören zusammen. Ich sagte schon, in diesem famosen Brüssel ist eine Menge zu schaffen. Ohne weiteres sollen Sie fünfundzwanzig Prozent haben. Der Fall Gerard wird Ihr Gesellenstück sein. Morgen sollen Sie den ersten Gewinn einstreichen. Sagen wir um vier in Ihrer Wohnung. Sie werben Freude haben, wenn wir den ersten Vogel zusammen gehörig rupfen. Stoßen wir auf unser Geschäft an!«

Die Gläser klangen.

»Ich muß bis fünf Uhr im Geschäft sein. Es könnte auffallen, wenn ich eine Ausrede mache. Wäre es nicht gut, wenn ich Monsieur Gerard auf sechs Uhr bestellte? Wäre es dem Manne gegenüber nicht auch unverfänglicher, wir träfen uns wieder hier, statt in meiner Wohnung?«

Serrurier nickte. »Sie gefallen mir immer besser, Schepen! Sie fangen an, für unser Geschäft zu denken. Ihre Erwägung hat etwas für sich. Schleppen Sie den Mann Punkt sechs hierher. Aber es ist die äußerste Stunde. Sieben Uhr dreißig geht mein Zug, den ich eigentlich schon heute benützen wollte.«

»Und wohin gebe ich Ihnen Nachricht, daß alles bereit ist?«

»Rufen Sie die Nummer 2711 an. Ich wohne in einer Privatpension.«

»Und Sie werden am Fernsprecher selbst sein? Ich werde meinen Namen nicht nennen. Ich werde sagen, ich sei Monsieur Gerard.«

»Gut. Die Not macht Sie erfinderisch. Sie haben recht. Vorsicht überall – auch, wo sie nicht so notwendig ist, wie in diesem Fall. Denn der Fernsprecher hängt in meinem Zimmer in der Vorstadt Laeken.«

»So wäre alles erledigt.«

»Alles!« Jean Serrurier trank den Rest seines Weines. »Verschwiegenheit brauche ich nicht zu empfehlen. Denken Sie an die Zukunft! Sie soll golden werden. Und noch eins! Denken Sie nicht etwa daran, Ihre Stellung bei Lambert aufzugeben!«

»Weshalb nicht?«

Da lachte Serrurier wieder laut auf. »Weil wir die gute Firma noch recht oft und ausgiebig gebrauchen werden, mein lieber Geschäftsfreund! Aber darüber lassen Sie uns später sprechen. Sie bringen Gerard, wenn er an der Angel zappelt, persönlich nach Paris.«

»Zu Charembeaux & Co.!« Schepen erhob sich. »Ich werde mich freuen, die Firma kennen zu lernen.«

»Die sollten Sie kennen,« sagte Serrurier lachend, nach dein Mantel greifend. »Ober glauben Sie im Ernst, daß dieser Monsieur Charembeaux ein Mensch von Fleisch und Blut ist?«

»Natürlich nicht! Ich verstehe!« Nun lachte auch Aristide Schepen. Lachte aus befreitem Herzen, daß die schwere Stunde vorüber war.

»Pünktlich zur Minute!« Serrurier winkte. Der Kellner hatte gerade noch Zeit, mit einem gewandten Satz hinter den Schenktisch zu eilen. Dann sprang er eilfertig hinzu und riß die Tür auf.

»Auf Wiedersehen, mein Herr!« Er machte eine Verbeugung mit fliegender Serviette, um die ihn der Zimmerkellner aus dem »Königshof«, der braungelockte Herr Eduard Molle, Fritz genannt, beneidet hätte.

Dann überzeugte er sich, daß Serrurier eine Droschke bestieg. Als er ins Zimmer zu Aristide Schepen zurückkehrte, fand er ihn in begreiflicher Aufregung hin und her gehend, und es vergingen Minuten, bis er sich wieder beruhigte.

»Das vergesse ich mein Lebtag nicht!« stöhnte er, während er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirne wischte. »Ich bin ganz erschöpft. So ein Schuft! So ein Spitzbube! Die ganze Nacht werde ich kein Auge zutun. Haben Sie schon so etwas erlebt, Herr Recking?«

Der Detektiv hatte die Kellnerschürze abgelegt. »Bringen Sie eine Flasche Champagner,« sagte er dem neugierig nähertretenden Wirt. »Das wird Ihre Lebensgeister erfrischen, lieber Herr Schepen. Jetzt wollen wir's uns gemütlich machen. Ob ich so was schon erlebt habe, fragen Sie? Meine Hochachtung. Sie spielten Ihre Rolle mit einer Natürlichkeit, die manche schauspielerische Glanzleistung eines alten Praktikers in den Schatten stellt.«

»Ist das Ihr Ernst?« Schepen richtete den Kopf empor.

»Meine Hand darauf! Ihre Fragen vor allem waren so geschickt, daß Sie mir zeitraubende Stunden gespart haben. Und was das Allerwichtigste ist: jetzt soll uns der Kerl nicht mehr entrinnen. Seiner Sünden Maß ist gerüttelt voll.«

»Aber morgen … wissen Sie,« erklärte Aristide Schepen, »wenn Sie mich morgen aus dem Spiel lassen wollten, würden Sie mir wahrhaftig einen großen Gefallen tun; nehmen Sie es mir nicht übel.«

»Gewiß nicht. Ich will es Ihnen versprechen. Was ich mit Ihrer Hilfe zu erzielen hoffte, glückte wider Erwarten. Die noch übrig bleibende, traurige Arbeit soll ohne Sie zu Ende geführt werden. Haben Sie für den Rest des heutigen Abends noch etwas vor?«

Als der Bankbeamte verneinte, rief Ralf Recking den »Hof von Flandern« an und bat, Mijnheer van Jercken und sein Kollege Martin möchten ihm und Aristide Schepen noch bei einem Glase Wein in der »Forelle« Gesellschaft leisten. Die beiden Herren versprachen, sich sofort auf den Weg zu machen.

»Ist das Wild im Garn?« fragte der Brüsseler Detektiv. »Schon hinter schwedischen Gardinen? Sollen wir den Sieg feiern?«

»Sie vergessen, daß ich Sie bat, Sie möchten sich für morgen für mich frei halten. Dabei bleibt es. Ich bitte Sie nur zum Kriegsrat.«

»Um so besser!« Ralf Recking glaubte förmlich zu hören, wie sein Kollege aufatmete. Der Mann brannte darauf, mehr zu spielen als den müßigen Zuschauer.

*

Es war um die Mittagstunde des folgenden Tages, und der Köln-Aachener Schnellzug mußte in wenigen Minuten einfahren, als Ralf Recking auf dem Bahnsteig des Brüsseler Nordbahnhofs wartend auf und ab ging.

Die letzte Nacht und der vergangene Morgen hatten ihn nicht müßig gesehen. Wenn er gestern davon gesprochen hatte, daß ein Kriegsrat gehalten werden sollte, so war das nicht zu viel gesagt. Die Stunden waren genützt, um die letzten Maschen des Netzes eng zusammenzuziehen, dem ein Schuldbeladener bisher auf fast wunderbare Weise entgangen war, zusammengezogen um den Schlupfwinkel, der durch eine unvorsichtig genannte Fernsprechnummer zu finden sein mußte. Gleich nach dem Zusammensein mit Mijnheer van Jercken und seinen beiden anderen Helfern hatte Ralf Recking das einsame Landhaus im Vorort Lacken aufgesucht, in dem Serrurier als Francois Soule mit »Frau und Kind« eine möblierte Wohnung bezogen hatte. Sie war von Geheimpolizisten umstellt für den Fall, daß dieser Soule im letzten Augenblick seine Abreise von Brüssel auf einen früheren Zeitpunkt zu verlegen für gut befinden sollte.

Ernstlich rechnete der Detektiv indes nicht mehr mit dieser Möglichkeit. Dieser Soule, der nachgerade mehr Namen hatte als die Zwiebel Häute, glaubte sich sicher. Der falsche Bart war die letzte Vorsichtsmaßnahme des Mannes gewesen, der durch das bisherige Gelingen seiner Pläne mit keinem Fehlschlag mehr zu rechnen schien, der sogar schon wieder die Fäden zu neuen Unternehmungen geschickt zu fügen gewußt hatte. Selten war das Maß eines schlauen Verbrechers voller gewesen, und Ralf Recking glaubte, mehr als bloßen Zufall darin erkennen zu dürfen, daß es ihm vorbehalten war, den Unseligen endlich unschädlich zu machen.

Die Räder des einfahrenden Schnellzuges rollten noch, als der Blick des Detektivs schon alle Fenster und Abteiltüren abspürte. Der Mann, den er erwartete, kam mit diesem Zuge nicht an; aber er entdeckte ein anderes bekanntes Gesicht. Im nächsten Augenblick stand er, den Hut schwenkend, vor einer jungen Dame: »Fräulein Hempel! Seien Sie willkommen! Und allein, wie ich sehe?«

»Ja! Herr Bahr erkrankte durch die Aufregungen der letzten Woche ernstlich, und der Arzt erklärte, daß er die Reise nicht machen dürfe, zumal ja alles in Ihren Händen gut aufgehoben sei. Aber Herr Bahr fühlte sich doch sehr beruhigt, als ich mich erbot, ihn zu vertreten. Ich bin sehr froh, daß ich Sie gleich am Bahnhof finde, das dürfen Sie mir glauben.«

Der Detektiv winkte eine Droschke heran und setzte sich an ihre linke Seite. »Und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie die weite Fahrt nicht gescheut haben. Nun braucht der Knabe nicht erst fremden Händen übergeben zu werden.«

»Er ist wirklich hier?« Es klang wie ein Aufjubeln, und Ralf Recking freute sich über ihr hübsches Gesicht in seiner lebhaften Röte. Und abermals empfand er es als ein überaus seltenes Glück, daß dies schöne, gemütvolle Mädchen dem unglücklichen Vater des geraubten Knaben wie ein Geschenk des Himmels ins Haus gesandt worden sei. Der Knabe würde gewiß noch viel durchmachen müssen, aber er konnte nun nicht mehr zugrunde gehen, so lange Fräulein Hempel ihn betreute. Sie war offenbar liebend um ihn besorgt, und das Kind stand ihrem Herzen näher als dem seiner eigenen Mutter.

»Ich finde Jörg hier?« wiederholte sie. »Und er lebt? Er ist gesund?«

»Das nehme ich an. Ich sah ihn noch nicht.«

»Lassen Sie uns eilen. Ich – wir sind auf alles gefaßt. Als wir Brüssel als Aufgabeort auf Ihrem gestrigen Telegramm lasen, öffneten sich uns die Augen. Es sind Verwandte oder Bekannte von Herrn Bahrs verstorbener Gattin, die die Entführung ins Werk setzten, nicht wahr? Es ist den Leuten um eine Erpressung zu tun?«

»Nein, so liegen die Dinge nicht.«

»Handelt es sich um einen Akt der Rache? Vielleicht hatte Herr Bahr Feinde in Brüssel zurückgelassen; wie soll ich sagen? Vielleicht konnte es jemand Herrn Bahr nie verzeihen, daß er ihm die Freundin wegheiratete, und der es sich zur Aufgabe setzte, das Lebensglück des schwer genug geprüften Mannes endgültig zu zerstören?«

»Grübeln Sie nicht. In einer Stunde werden Sie alles wissen.«

»Und wohin führen Sie mich jetzt? Nicht zu dem Entführer Jörgs?«

»In den ›Hof von Flandern‹, liebes Fräulein, wo ich mich mit guten Freunden treffe.«

»Kann der schlechte Mensch nicht während dieser Zeit entkommen?«

»Schwerlich! Er müßte denn auf einem Besen durch den Schornstein in die Hölle fahren. Sie dürfen beruhigt sein. Seit gestern abend ist der Mann – der übrigens außer der Mitschuld an der Entführung des Knaben noch ein stattliches Sündenregister hat und tief im Schuldbuch ungesühnter Verbrechen steht –, ohne daß er es ahnt, von jedem unbeobachteten Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten. Das Landhaus ist umstellt, und die Fernsprechzentrale überwacht jedes Wort, das von dort aus gesprochen werden könnte. Wer es auch sein mag, der das umstellte Haus verlassen will, wird auf Schritt und Tritt verfolgt.«

»Und warum haben Sie, wenn der Fuchs im Bau ist, noch nicht zugegriffen?«

»Weil wir planmäßig zu Werke gehen. Der Hauptangriff ist auf Punkt zwei Uhr festgesetzt. Übrigens haben uns die Ferngespräche, die heute vormittag belauscht werden konnten, sehr wertvolle Fingerzeige gegeben. Wir wissen, daß die Abreise des gesuchten Paares – denn es handelt sich außer um den Verbrecher noch um eine Frau – erst für die Abendstunde geplant ist. Wir erfuhren das schon von anderer Seite, erhielten aber die genaue Zeit durch eine Droschkenbestellung bestätigt. Ohne eine glückliche Verkettung von Zufällen, wobei mir die Freunde, die ich Ihnen gleich vorstellen werde, tatkräftig halfen, hätten wir von heute nacht an die Spur des kleinen Jörg in Paris suchen müssen.«

»In Paris?« Fräulein Hempel schlug die Hände zusammen. »Kamen denn die Entführer aus Paris nach Berlin? Der arme Jörg! Welchem Geschick wäre er da entgegengegangen!«

»In Paris wohnt das verbrecherische Paar. Daß die Rückreise über Brüssel erfolgte, hat seinen Grund darin, daß der Schuft hier, wie wir aus Telephongesprächen errieten, Helfershelfer für unlautere Geldgeschäfte sitzen hat. Daß sich die Abfahrt des Gauners um einen Tag verzögerte, verdanken wir der Mithilfe eines hiesigen Bankbeamten, der – zum Schein natürlich nur! – weitere derartige unsaubere Geschäfte mit ihm zu machen versprach. Doch da sind wir! Der eine Herr ist ein Reeder, ein Holländer, namens van Jercken, mit dessen Wagen wir gleich nach Laeken hinausfahren werden. Der kleinere ist mein hiesiger Kollege Martin. Mich selbst entschuldigen Sie wenige Minuten, da ich eine Maske anlegen muß.«

»Ehe wir uns trennen, bitte ich Sie noch, diesen Brief entgegenzunehmen.«

»Einen Brief? Von Herrn Bahr?«

»Nein, von Kommerzienrat Lürsen, der sich bei Herrn Bahr oft nach Ihrem Aufenthalt erkundigte. Als er hörte, daß ich zu Ihnen führe, überbrachte er mir den Brief mit vielen Grüßen, und Sie möchten ja recht bald von sich hören lassen.«

»Soll geschehen!« Ralf Recking lächelte und steckte den Brief ein. Er winkte Herrn Martin herbei und machte ihn mit Fräulein Hempel bekannt. Dann sah er auf seine Uhr.

»Ich bin in fünf Minuten zurück. Fräulein Hempel wird gut tun, etwas zu essen. Im übrigen bleibt alles wie abgemacht. Der letzte Akt im Landhaus wird kurz werden; in der ›Forelle‹ wäre nur ein unnötiger Auflauf entstanden. – Ah, da ist ja auch Mijnheer van Jercken!«

Zwanzig Minuten vor zwei Uhr trat Ralf Recking in das Frühstückszimmer. Er trug eine aus leicht ergrauten Haaren gemachte Perücke, und Fräulein Hempel sagte lächelnd: »Wissen Sie auch, wem Sie ähnlich sehen?«

»Nun?«

»Herrn Bahr. Nur den Bart brauchten Sie noch wie er zu tragen. Sogar Ihr Anzug hat denselben Schnitt wie Herrn Bahrs Anzüge.«

Der Detektiv lächelte. »Der Bart wird im geeigneten Augenblick nicht fehlen.«

Zu viert stiegen sie in den Kraftwagen. Auf dem Vordersitz saß Fräulein Hempel neben Mijnheer van Jercken, der ein ernstes Gesicht machte. Den Rücksitz hatten Herr Martin und Ralf Recking eingenommen. Der Führer war, an Stelle von dem des Reeders, ein wegekundiger Beamter der Brüsseler Polizei.

»Für alle Fälle,« sagte Herr Martin, »habe ich eine Axt unter den Sitz gelegt, falls wir die Türe sprengen müssen.«

»Nur kein Jagdfieber!« mahnte Ralf Recking. »Ich habe mich als Aristide Schepen telephonisch angemeldet. Bis zum Haustor schütze ich mich durch einen Sonnenschirm vor lästigen Blicken. Hat er dann einmal geöffnet, so werde ich dafür sorgen, daß er dem Dienstmädchen keine Befehle mehr geben kann, die Sie zurückhalten.«

»Und Ihr Revolver?«

»Sechsläufig. Seien Sie unbesorgt, lieber Kollege. Ich liebe keine blutige Arbeit.«

»Das glaube ich, aber man kann doch nicht wissen …«

»Dschiudschitsu!« sagte der Deutsche, einen leichten Rauchring blasend.

Herr Martin schwieg und betrachtete Fräulein Hempel. Er fand sie auffallend hübsch und anziehend.

»Ich komme nächstes Jahr bestimmt nach Berlin,« sagte er. Aber niemand antwortete. So fuhren alle vier schweigend eine Weile. Der Wagenführer war der erste, der sprach: »Noch vierhundert Schritt, meine Herren!«

»Um Gottes willen!« rief Herr Martin. Langsam fahren, halten!«

Im nächsten Augenblick stand der Wagen. Ralf Recking verließ ihn mit seinem Schirm als erster. Wenige Schritte später stieß er auf einen Nichtstuer, der an einem Zaun lehnte und gemütlich eine pechschwarze Zigarillo rauchte. Aus verschlafenen Augen blinzelte der den Vorüberkommenden an; als der Detektiv ihn französisch leise fragte: »Nichts Neues?«, gab er, ohne seine gemütliche Faulenzerstellung zu ändern, ebenso leise zurück: »Eben wurde ihnen das Essen gebracht. Suppe, zwei Gänge, Obst. Für drei Personen. – Galgenmahlzeit.«

Fünfzig Schritt weiter kauerte ein Leierkastenmann. Er streckte dem Detektiv seinen abgegriffenen Hut hin. Als Ralf Recking eine Silbermünze hineingleiten ließ lispelte er: »Sie dürften jetzt beim Nachtisch sein, mein Herr Kapitän.«

Ralf Recking lächelte befriedigt. Seines Kollegen Leute hatten offenbar den Ehrgeiz, ihm als Ausländer ihre Findigkeit in glänzendem Lichte zu zeigen.

Im Vorgarten sprengte ein hinkender Gärtner den Rasen und sagte: »Erster Stock rechts.«

Der Detektiv hielt den Schirm aufgespannt. Eine Sekunde ruhte seine Hand zögernd auf dem Drücker der Haustür; aus dem Erdgeschoß kamen die Klänge eines Klaviers. Irgendein neuer Gassenhauer wurde gespielt, mit hartem Anschlag und zu viel Pedal. – Dieses Spiel der Katze mit der Maus war Ralf Recking unbehaglich. Er stieß die Tür auf und stieg rasch die Stufen bis ins erste Geschoß empor. Dann zog er am Glasgriff der altmodischen Klingel. Schritte kamen, und eine Männerstimme sagte: »Lassen Sie …«

Als der Herr die Tür aufriß, schreckte er zurück und schien Lust zu haben, sie sofort wieder zu schließen. Aber Ralf Recking fragte ebenso schnell: »Herr François Soulé, nicht wahr? Ich komme von der Meldeabteilung und soll Sie einiges fragen.«

»Fassen Sie sich kurz,« antwortete Serrurier, der den falschen Bart wie am vorhergehenden Abend trug. »Ich reise mit meiner Familie noch heute nachmittag. Ich wüßte nicht, was die Meldeabteilung da noch von uns wünschen sollte.«

»Nur eine Formsache, mein Herr,« gab der Detektiv zur Antwort. »Darf ich eintreten? Ich benötige Tinte.«

Der Detektiv gewahrte in Serruriers Gesichtsausdruck eine Mischung von Mißtrauen und Ärgerlichkeit; er überhörte den gereizten Ton des Mannes: »Halten Sie mich nicht auf. Wir sind beim Mittagbrot, und ich erwarte jeden Augenblick einen Geschäftsfreund.«

»Nur eine Minute!« Damit trat der Detektiv über die Schwelle. »Vor allem, mein Herr, es hört uns doch niemand?«

»Was soll das?« fragte Serrurier, stutzig geworden. Nur der Gedanke, das Mädchen, das noch auf dem Flur stand, nicht zur Zeugin eines Auftritts zu machen, den er ahnte, veranlaßte ihn, auf die nächste Tür zu weisen.

»Nur eine Minute!« wiederholte Ralf Recking. Im selben Augenblick stand er seinem Gegner in einem mäßig großen, hellen Salon gegenüber. Als Serrurier zusammenzuckte, weil die Klingel schon wieder hell und heftig anschlug, während unten das Klavierspiel wie abgehackt aufhörte, sagte er: »Geben Sie sich keine Mühe, Jean Robert Serrurier. Sie sind verhaftet!«

Der Überrumpelte zuckte zusammen. Dann riß er sich empor und war mit einem Satz am Fenster. Als ihm der Detektiv nachstürzte, schlug unter dem Druck von Serruriers Arm die Scheibe prasselnd in Splitter. Blitzschnell schwang sich der Belgier ins Freie und ebenso schnell starrte dem Verfolger der Lauf einer Waffe entgegen. Ein Knipsen … und sie versagte.

Im nächsten Augenblick hatte Ralf Recking Serruriers Handgelenk umspannt, nur einen Augenblick, in dem ein Hilfeschrei aus dem Nebenraum gellte, während Martin, von zwei Kriminalbeamten gefolgt, in den Salon stürzte. Serrurier riß sich los. Mit einem gewaltigen Ruck ließ er sich aus dem Fenster in die Tiefe schnellen.

Als er sich, rücklings zusammengesunken, erheben wollte, umspannten ihn die Fäuste des vermeintlichen Gärtners wie mit Eisen. Eine Sekunde später saßen seine Hände wie in einen Schraubstock gepreßt in den Handschellen eines Kriminalbeamten. Einen Augenblick sah Ralf Recking, wie sich die Augen des Überwältigten in unnatürlicher Größe öffneten, dann sich schlossen, und das aschgrau gewordene Gesicht verzerrte sich in zusammengebissener Wut und Ohnmacht. Die Polizisten schleppten ihn, dem die Füße den Dienst plötzlich zu versagen schienen, von den Beeten herunter in eine offene Sommerlaube des Gartens, wo sie ihn endgültig fesselten.

Hinter Ralf Recking war die Verbindungstür zum Nebenzimmer aufgerissen worden, fiel aber ebenso schnell wieder ins Schloß, und der Hilfeschrei von vorher wiederholte sich.

»Soll ich?« fragte Herr Martin.

»Natürlich! Nur erst den Knaben hinaus! Fräulein Hempel wartet auf der Treppe.«

Ralf Recking griff in die Tasche seines Mantels. Er hörte, wie sein Kollege Martin den Nebenraum betrat und wie gleichzeitig ein neuer Aufschrei erfolgte. »Was soll das? Was geht hier vor? Was wollen Sie von uns?« klang die Frauenstimme. »Ich beschwöre Sie, mein Herr, es ist ein Irrtum, eine Verwechslung.«

»Ich möchte Sie allein sprechen,« klang Martins Stimme. »Es ist besser, daß der Knabe nichts von unserer Unterredung hört.«

»Wer gibt Ihnen das Recht, hier einzudringen?«

»Seien Sie nicht so hitzig, meine Dame. Sie sollen alles hören. Aber du, mein Junge, geh hinaus … oh, er versteht mich nicht. Er spricht nur Deutsch, Madame?«

»Sie kommen wegen des Kindes?« Sie wandte sich an den Knaben. »Warte vor der Tür, mein armer Junge!«

»So, Madame,« hörte man jetzt den Brüsseler Detektiv ruhiger fortfahren, während auf dem Flur den Schritten des verängstigten Knaben ein frohlockender Schrei folgte, aus dem Ralf Recking Fräulein Hempels Stimme heraushörte.

»Madame, geben Sie Ihr Versteckspiel auf. Sie wissen, wie ich sehe, daß wir wegen des Knaben zu Ihnen kommen.«

»Wo ist mein Gatte? Was berechtigt Sie, in diesem Haus solchen Lärm zu machen?« erwiderte sie ausweichend.

»Ihr Gatte wird augenblicklich einem Verhör unterzogen. Sie können das Ihrige abkürzen, wenn Sie zugeben, den Knaben widerrechtlich entführt zu haben.«

»Das ist nicht wahr! Er ist mein Sohn. Ich schwöre es Ihnen!«

»Sie irren, die Mutter dieses Kindes ist nicht mehr am Leben.«

Ein Hoffnungsstrahl blitzte in ihr auf. Wenn es sich wirklich nur um die Entführung handelte? Wenn die Häscher nur der Berliner Spur nachgegangen waren und keinen anderen Grund hatten …

»Die Mutter des Kindes ist nicht mehr am Leben?« wiederholte sie. »Nun, mein Herr. Es hat keinen Zweck, zu leugnen. Das Kind ist in unsere Obhut gegeben worden. Mein Gatte ist an dieser Entführung, wie er Ihnen sagen wird, so unschuldig wie ich selbst.«

»Genug Ihrer Märchen! Ich forderte Sie auf, zu gestehen, statt dessen –« Da brach Herr Martin mitten im Wort ab.

Mit dem gellenden Schrei »Heinrich!« sank die Frau, in verzweifelter Abwehr die Arme von sich streckend, in die Knie. Die Augen in irrer Angst auf die Tür gerichtet, sank sie hintenüber. In der geöffneten Tür stand Ralf Recking, der einen ergrauten Kinnbart angelegt hatte.

»Eugenie Bahr,« sagte er nähertretend, »jetzt wagen Sie hoffentlich nicht länger zu leugnen.« Er legte die Hand auf ihren Arm: »Ich verhafte Sie. Ihr Schrei hat Sie überführt.«

Damit nahm er seinen falschen Bart ab.

»Und nun wissen Sie gewiß auch,« fuhr er fort, während Martin und ein auf dessen Wink eintretender Assistent die halb Ohnmächtige aufrichteten, »daß es nicht die Entführung des Knaben Jörg allein ist, die Sie vor den Richterstuhl führen wird. Daß sich das Muttergefühl in Ihnen regte, nachdem Sie sich allerdings zwei Jahre Zeit dazu ließen, würde Ihnen jeder Richter verzeihen. Ich verhafte Sie als die Mitwisserin und Helferin Jean Serruriers, insbesondere wegen Beihilfe und Mittäterschaft an dem Verbrechen, das an der ›Thetis‹ verübt wurde, und wegen Versicherungsbetruges!«

Eugenie Bahr richtete sich auf; Ralf Recking bewunderte ihre Fassung, als sie sagte: »Ich gestehe, daß ich schwer gefehlt habe. Aber ich bin nur schuld an der Entführung meines geliebten Kindes. Ich wußte viel und ahnte Furchtbares, aber ich half Jean Serrurier nur einmal bei seinen bösen Plänen – damals, als ich einwilligte, die Rolle einer bei der Explosion Umgekommenen zu spielen. Und auch das tat ich nur unter einem unerklärlichen Zwang, den er auf mich bis zu dieser Stunde ausübte.«

Ralf Recking erwiderte nichts. Er wandte sich leise an den Assistenten. Der Mann sollte bei Eugenie Bahr warten, bis ein geschlossener Wagen zu ihrer Abholung käme.

Als er sich zum Gehen wandte, traf ihn ein flehender Blick aus Eugenies Augen. »Dürfte ich mein Kind noch einmal sehen?«

Ralf Recking zog die Brauen zusammen. Die Antwort fiel ihm schwer. Dann sagte er, freundlicher als zuvor: »Seien Sie mutig. Es ist besser für beide Teile, wenn Sie den Knaben nicht mehr unter diesen Umständen sehen. Ich darf Ihnen versichern, daß er in guter Hut ist und bleiben wird.«

Dann wandte er sich, in einem letzten Blick der Frau begegnend, die ihr Haupt, dem man auch in dieser Stunde noch die Spuren der einstigen Schönheit ansah, tief auf die Brust herabsinken ließ …

Als er den Garten des Landhauses betrat, fuhr ein zweispänniger Wagen vor, dem drei Herren entstiegen. Wie Martin seinem deutschen Kollegen zuflüsterte, war es der Polizeipräsident mit zwei Regierungsbeamten. Als er sich Recking näherte, der zu Mijnheer van Jercken getreten war, lüftete er den Hut und sagte: »Herr Recking, ich beglückwünsche Sie zu dem außerordentlichen Erfolg.«

»Ich darf ihn mir nur zum Teil zuschreiben, Exzellenz. Ohne die Unterstützung meines Kollegen Martin und Ihrer Beamten wäre mir der Erfolg versagt gewesen. Ich bin erstaunt, daß Sie bereits unterrichtet sind.«

»Besten Dank für das Lob meiner Leute. Meine Geschwindigkeit beruht durchaus nicht auf Hexerei. Ich bestieg den Wagen, als mir einer meiner Beamten telephonisch meldete, daß Sie dies Haus betreten hätten. Die Meldung machte mir ein als Strolch verkappter junger Mann. Ich darf Ihnen wohl sagen, daß ich auf die Entwicklung dieses Falles sehr neugierig bin; ich wollte Sie noch an Ort und Stelle um eine mündliche Erklärung des, wie ich sehe, gelungenen Fanges bitten.«

»Das soll gern geschehen.« Der Detektiv schilderte den gefährlichen Augenblick.

»Wahrlich, ein Walten der ewigen Gerechtigkeit!«

»Das war es, Exzellenz. In der Entlarvung dieses Verbrechers dürfen wir zweifellos mehr sehen als einen blindwaltenden Zufall, obwohl mir dieser bei meinem einmal erwachten Verdacht, wie schon so oft, ein sehr schätzenswerter Bundesgenosse war.«

»Sie folgten also nicht von Anfang an einem bestimmten Ziel, das Ihnen vorschwebte?«

»Nein! Zwei verschiedene Fälle gingen nebeneinander her, die nichts miteinander gemein zu haben schienen.« Ralf Recking berichtete, wie er am gleichen Tage zu Kommerzienrat Lürsen wegen des Wechselfälschers und zu Kaufmann Heinrich Bahr wegen des vermißten Söhnchens gerufen worden sei und alles weitere, bis zu dem Augenblick, wo durch ein einziges von einem Zimmerkellner aufgefangenes Wort beide Spuren in ein Geleise einlenkten.

»Den weiteren Ausgangspunkt,« fuhr er dann fort, »bildete für mich das Schicksal der ›Thetis‹. Ich hatte die seither im Sand verlaufene Untersuchung aufmerksam verfolgt seit dem Tage, da der Dampfer durch eine Dynamitexplosion verheert wurde. Durch Untersuchungen war festgestellt worden, daß beim Abladen der für die ›Thetis‹ bestimmten Güter von einem Wagen ein großer Gegenstand der Windekette entglitten, auf das Pflaster gestürzt und unmittelbar danach explodiert war. Wagen und Bespannung waren vom Erdboden verschwunden; wo das Fuhrwerk gehalten hatte, gähnte ein breiter Trichter. Die Eisenplatten der ›Thetis‹ waren wie von einem Riesenhammer getroffen und zerrissen. Sterbende, Verbrannte und Verwundete bedeckten den Platz. Die Größe des Unheils ließ sich erst nach und nach übersehen. Noch nach Monaten kamen Anfragen nach teuren Vermißten. Verschiedene Leichen der getöteten Reisenden waren behördlich festgestellt worden, unter ihnen befand sich die der Gattin des Kaufmanns Heinrich Bahr.«

Der Detektiv machte eine Pause. Aus der offenen Sommerlaube, wo die Polizisten den gefesselten Serrurier umstanden, kam ein heiserer Schrei des Mannes, der bis dahin noch immer die Lippen verschlossen gehalten hatte.

»Es ist möglich, daß er beim Sprung aus dem Fenster eine innere Verletzung erlitten hat,« sagte Ralf Recking, als sie sich der Laube näherten. »Ich bitte, nach dem Polizeiarzt zu schicken. Sie, lieber Herr Martin, beenden inzwischen die Hausuntersuchung.«

»Die körperliche Untersuchung brachte uns in den Besitz einer gefüllten Brieftasche,« sagte der Brüsseler Detektiv. »Sie enthält in deutschen Kassenscheinen mehr als fünfundneunzigtausend Mark. Die Beute des Berliner Betrugs.«

Ralf Recking wies auf den stöhnenden Gefangenen. »Sicher verübte er den Berliner Betrug aus Geldnot. Auch die Gier, mit der Serrurier auf das Telegramm Schepens einging, wird durch Geldschwierigkeiten zu erklären sein. Nur in einem sehe ich noch nicht klar, warum der Mann nach Brüssel reiste, statt von Köln geradeswegs nach Paris zu fahren.«

»Vermutlich, weil er Zickzackwege bevorzugte, die eine Spur am leichtesten verwischen.«

»Das ist nicht ausgeschlossen, lieber Herr Martin. Fest steht jedenfalls – das geht schon aus der Kürze der Zeit hervor –, daß das Paar nicht zuvor in Paris war, ehe er hierher reiste. Das Schepensche Telegramm mußte von hierher nachgesandt werden.«

»Erzählen Sie, bitte, zu Ende. Sie waren bei der Schilderung des Unglücksfalles der ›Thetis‹ stehen geblieben. Ich gestehe, daß ich das Unerhörte eines Attentats auf das Schiff und die auf ihm befindlichen Menschen nie ernsthaft in den Bereich der Erwägungen gezogen habe. Man brauchte ja nur daran zu denken, in welche Gefahr sich ein an Bord befindlicher Verbrecher selbst gebracht haben würde, um den Gedanken nicht weiter zu verfolgen.«

»Diese Gefahr fiel für den Schurken fort. Die ›Thetis‹ sollte auf hoher See explodieren. Der Attentäter wollte gewiß im letzten Augenblick auf seine Kiste, die das Dynamit enthalten haben mag, eine hohe Versicherungssumme aufnehmen. Solche Versicherungen werden ja von den Banken noch in letzter Stunde auf telegraphischen Anruf aufgenommen. Vielleicht schlug der Versuch fehl. Dann blieb ihm ja immer noch der Anspruch auf die Lebensversicherung.«

»Sie meinen, der Mensch hätte Frau Bahr geopfert?«

»Eugenie Bahr sollte das Schiff in Harwich verlassen, nachdem ihr Gepäck hoch versichert war. In Einzelheiten bringt hoffentlich die Untersuchung klares Licht. Die Explosion war erst zu erwarten, nachdem die ›Thetis‹ die englische Küste voraussichtlich wieder verlassen hatte. Beweis: das bei dem hiesigen Uhrmacher Jacques Pasteur in Auftrag gegebene Werk – eine Höllenmaschine mit dem starken Arretierhebel! – das erst nach zehntägiger Laufzeit den Hebel auslösen sollte. Die Teufelsmaschinerie aber stak in dem Gestell, das von der Windekette herabglitt. Der Aufprall auf den harten Boden brachte die vorzeitige Katastrophe.«

»Und wie entging dann die Frau dem Unheil? Sie mußte doch schon auf der ›Thetis‹ sein.«

»Das ist richtig. Als das Schiff zur Einnahme der letzten Frachten noch einmal am Südkai des Vorhafens anlegte, waren alle Reisenden an Bord. Man darf aber nicht vergessen, daß nur ein Teil der Kajüt- und Zwischendeckpassagiere von der Explosion getroffen wurde, fast nur die gerade auf Deck sich aufhaltenden. Dies Glück im Unglück teilte Eugenie Bahr. Sonst hätte Serrurier auch ihr Leben auf dem Gewissen. Nach der Katastrophe floh alles an Land. Bald senkte sich das Dunkel des Abends über die schauerliche Unglücksstätte. Wertgegenstände lagen zwischen den Toten und Verwundeten. Serrurier nützte dies aus. Noch haben wir sein Geständnis nicht, aber wir werden erfahren, in welch wohldurchdachter Weise er den Tod Eugenie Bahrs vorzutäuschen verstand.«

»Wie ich höre, wird die Madame in diesem Hause bewacht,« sagte der Präsident. »Da werden wir es, wenn der Mann nicht vernehmungsfähig ist, vielleicht von ihr hören …?«

»Exzellenz!« rief plötzlich Ralf Recking. »Hier scheint etwas vorgefallen zu sein.«

Aus dem Hause kam eilig der eine Beamte, der Frau Bahr zu bewachen hatte. Er berichtete, die Verhaftete sei, nachdem sie um ein Glas Wasser gebeten habe, wie leblos vom Stuhle gesunken.

Mit ein paar Sätzen sprang Ralf Recking die Treppe hinauf. In das Zimmer eilend, hob er das bis auf den Bodensatz geleerte Trinkgefäß gegen das Licht. Dann roch er daran.

»Wie war das möglich?« Ein tadelnder Blick traf die Beamten. Ruhiger fügte er hinzu: »Vielleicht war es besser so.«

Die anderen folgten mit gespannten Gesichtern. Scheue Blicke streiften die Leblose.

»Nun?«

»Zyankali,« sagte Ralf Recking, die Hand Eugenies loslassend. Er nahm ein weißes Tuch vom Tisch und breitete es über ihr Gesicht. Der hinzukommende Polizeiarzt konnte nur die Art des tödlichen Giftes bestätigen.

»Wo nahm sie es her?« fragte der Präsident leise.

»Sie fand offenbar Zeit, es sich zuzustecken, als sich im Salon der Auftritt mit Jean Serrurier abspielte,« meinte Herr Martin.

Ralf Recking warf noch einen Blick menschlichen Mitempfindens zurück. Als sie wieder die Treppe hinabstiegen, sagte er: »Die unglückliche Frau trug das Gift schon lange bei sich. Ich glaube ihren Worten, da sie sagte, sie habe unter einem unerklärlichen Zwange gehandelt. Sie hat gefehlt, aber auch viel gelitten. Sie mag oft genug davor gezittert haben, daß die Entlarvung nahe.«

»Aber wo mochte sie das Gift verborgen haben? Die Beamten, die ihr das Glas Wasser reichten, ließen sie doch nicht aus den Augen.«

»Wir wissen von Aristide Schepen, daß Serrurier chemische Studien trieb. Diese Kenntnisse dienten seinen dunklen Plänen. Daß es ihm gelang, sich Gift zu verschaffen, darf man ohne weiteres annehmen. Bemerken Sie den Ring an der herabhängenden Hand der Toten? Es war ein sogenannter Giftring, ein Reif, der an Stelle der Siegelfläche eine kleine Kapsel enthält. Ein Druck genügte, um das darin verborgene Gift unauffällig in das Glas gleiten zu lassen.«

Der Polizeiarzt untersuchte Jean Serrurier. Er redete ihn laut an und schüttelte ihn; der Gefangene befand sich in einem Zustand der Betäubung. Die Fesseln wurden ihm abgenommen, und der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. Als er sich erhob, gab er die Erklärung ab, Serrurier habe sich bei dem Sprung aus dem Fenster eine Verletzung der Wirbelsäule zugezogen, man habe mit einer Lähmung mindestens einer Körperhälfte zu rechnen. Näheres werde erst die eingehende Untersuchung im Spital ergeben.

»Er ist nicht vernehmungsfähig?« fragte der Polizeipräsident.

»Ob der Geist klar geblieben ist, wird sich erst zeigen.«

»Er leidet Schmerzen?« sagte Ralf Recking.

»Dem Stöhnen nach, ja.«

Der Präsident wandte sich an einen der Herren, die mit ihm gekommen waren: »Ordnen Sie die Überführung mit dem Krankenautomobil an.« An Ralf Recking sich wendend, fuhr er fort: »Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Kehren Sie mit zur Stadt zurück?«

»Ich möchte erst noch die Untersuchung der Papiere beendigen. Später stehe ich Euer Exzellenz zur Verfügung.«

»Also sehe ich Sie wieder! Nehmen Sie fürs erste nochmals die Versicherung meiner Hochachtung. Es dürfte Ihnen nicht leicht nachzumachen sein, so schnell ein Gerüst von untrüglichen Beweisen aufzurichten. Ich nehme von diesem traurigen Anlaß sehr schätzenswerte Belehrungen mit mir.«

*

Fräulein Hempels erster Gang führte sie zum nächsten Postamt, um dem besorgten Vater die schmerzbefreiende Kunde zu drahten, daß sich Jörg gesund und wohlbehalten in ihrer Obhut befinde und sie sich beeilen werde, mit ihm auf schnellstem Wege nach Berlin heimzukehren. Dann war sie mit ihrem Schützling in den »Hof von Flandern« gefahren und erwartete in großer Unruhe die Rückkehr des Detektivs. Das verstörte und verschüchterte Kind machte ihr Sorgen, und seine Fragen verwirrten sie, so daß sie froh war, als Ralf Recking eher zurückkehrte, als sie erhoffte.

»Nun stellen Sie mich dem kleinen Kerl als guten Onkel vor,« rief er schon von weitem. »Das ist ja ein prächtiger Junge.« Er strich ihm durch das weiche Lockenhaar. »Dein Vater und deine liebe kleine Freundin, die blonde Annemieze Nuck, werden sich freuen, wenn du nach Hause kommst.«

Jörg fragte zutraulich: »Woher kennen Sie mich und Annemieze?«

Recking griff in die Brusttasche. »Ich trage dein Bild bei mir. Aus Tausenden hätte ich dich herausgekannt. Und Annemieze gab ich mein Wort, daß ich dich zu ihr zurückbrächte.«

Der Knabe lächelte. Dann fragte er ernst: »Und Mama? Wird sie nicht schelten? Sie sagte doch, ich müsse warten, bis Papa nachkäme. Ich will ihm sagen, daß ich Deutsch sprechen will.«

»Was willst du, mein Herz?«

»Ich mag nicht Französisch lernen, wie es Onkel Jean will. Ich will nicht mehr zu Onkel Jean.«

»Sollst du auch nicht. Verlaß dich darauf. Heute abend setzen wir uns in die Eisenbahn und fahren nach Hause.«

Fräulein Hempel war ans Fenster getreten. »Immer spricht er von diesem Onkel Jean,« sagte sie zu Ralf Recking. »Das ist also der Entführer, den Sie Jean Serrurier nannten. Hat man ihn verhaftet?«

Ralf Recking nickte, zögerte aber, sich deutlicher auszusprechen.

»Ist es nicht furchtbar, daß Jörg die Frau dieses Serrurier für seine Mutter hält? Ich kann es ihm nicht ausreden und weiß gar nicht, was ich ihm antworten soll.«

»Gnädiges Fräulein,« die Stimme Reckings sank zum Flüsterton – »wenn es Wahrheit wäre …«

Fräulein Hempel zitterte. »Dann ist das Unfaßbare doch wahr. Heinrich Bahrs Frau wäre nicht umgekommen?«

»Sie sagen es,« gab er leise zurück. »Sie war die Begleiterin Serruriers. Erschrecken Sie nicht: Eugenie Bahr lebt nicht mehr.« Kurz schilderte er dem todblassen Fräulein, was vor einer Stunde in dem Laekener Landhause geschehen war.

Er schloß seine so schonend wie möglich ausgesprochenen Aufklärungen: »Fürchten Sie nicht, ich wollte Ihnen zumuten, diese traurigen Geschehnisse Herrn Bahr berichten zu müssen. Ich werde Sie begleiten. Zwar führt mich noch ein Weg ins Polizeispital, aber damit ist alles getan. Was weiter noch geschehen muß, geht durch andere Hände. Ich schlage Ihnen vor, wir belegen Schlafplätze in dem um acht Uhr Brüssel verlassenden Durchgangszug.«

Es klopfte, und der Zimmerkellner bestellte, Herr Recking werde an den Fernsprecher gebeten.

Man rief ihn ins Spital. Mijnheer van Jercken begleitete ihn. Sie fanden Ärzte und Untersuchungsrichter am Bett Serruriers. Es war eine unverkennbare Wendung zum Schlimmsten eingetreten. Jean Serrurier hatte die Schuld an der Katastrophe der ›Thetis‹ nicht zugegeben. Er lag in traumartiger Betäubung und ließ sich nur mit größter Mühe zu kurzen Unterredungen erwecken.

»Erleichtern Sie Ihr Gewissen,« redete ihm der Untersuchungsrichter eindringlich zu. »Ihre Verletzung ist schwer. Sie werden bald vor dem Throne des gerechten, ewigen Richters stehen.«

Der Kranke stöhnte. »Retten Sie mich! Ich gestehe … ich bin schuldig … helfen Sie mir …«

Er starb unter den Händen des Arztes.

Schweigend verließ Mijnheer van Jercken mit Ralf Recking das Haus. Auf der Straße atmete der Holländer auf.

»So ist dem Lauf der Gerechtigkeit ein Ziel gesetzt,« sagte er. »Wäre es zu einer Verhandlung gekommen, so wäre ein tiefes Erschrecken durch die Welt gegangen. Das ist uns nun erspart.«

»Und die über der Wahrheit schwebenden Zweifel?« fragte Ralf Recking. »Es wird sich nun manches nie völlig aufklären lassen.«

»Sie haben mir alle Zweifel zerstreut, und wir hörten ja das Geständnis des Sterbenden. Damit ist, wenn auch anders, als ich dachte, der Zweck meiner Reise erfüllt.«

»Auch meine Arbeit ist getan. Ich reise mit dem Abendzug.«

»Grüßen Sie Ihre schöne Heimat!« sagte der Holländer. »Mögen Sie in der Ausübung Ihres Berufs, den ich bewundern gelernt habe, allezeit glücklich sein. Bleiben Sie der frohgemute Kämpfer. Nicht jeder hat Zeit und Gelegenheit, die Früchte seines Berufes so zu kosten.« Und um Mijnheer van Jerckens Mundwinkel schwebte das verlorene Lächeln des Verzichtens. »Unsereins erkennt nachträglich von der bunten Herrlichkeit nur die Zahlen und Daten. Sie erleben die feinen Erregungen und die großen Stürme. Ich werde oft an Sie denken, wenn ich ›de Boompjes‹ entlang gehe oder zum Kontor fahre.«

Noch ein herzliches Händeschütteln, und die Herren trennten sich. Ralf Recking holte Fräulein Hempel und Jörg Bahr ab zur Heimfahrt. Als er ihr die Fahrkarten gab, sagte er: »Ich hätte beinahe vergessen, den Brief zu lesen, den Sie mir von Kommerzienrat Lürsen mitbrachten. Aber die Vergeßlichkeit ist entschuldbar. Dieser Brief wird nichts sein als ein Notschrei, wo ich bleibe, oder die Frage, ob ich meinen Auftrag von Lürsen & Doller vergessen habe.«

Er überflog die Zeilen und lächelte. »Kommen Sie so schnell wie möglich zu mir,« schrieb Friedrich Lürsen. »Der kriegerische Oberstleutnant v. Mößlacher kam gestern abend wieder nach Berlin und kündigte mir seinen Besuch an. Diesmal richtet sein Zorn sich nicht gegen den Dänen Jens Lyhne allein, sondern auch gegen Sie, verehrter Herr Recking. Er will wissen, wie Sie dazu kamen, seinen Graveur wegen seines Spazierstockes mit silberner Krücke zu verhören. Und dann? Wo stecken Sie zurzeit? Ich gebe zu, daß Ihnen die väterlichen Sorgen unseres lieben Heinrich Bahr vorgehen müssen. Aber lassen Sie uns recht bald wissen, ob Sie auch in unserem Falle ›Graf Gothem‹ noch etwas zu erreichen hoffen. Ich muß mich sonst entschließen, auf eine soeben von ihrem Kollegen Lyhne eingegangene Depesche zu antworten. Er kabelt: ›Totsichere Spur. Schicken Sie umgehend Vorschuß dreitausend.‹ Was raten Sie mir?«

»Da muß ich wahrhaftig schnell noch ein Telegramm an Friedrich Lürsen aufgeben,« sagte der Detektiv lachend. »Sie entschuldigen mich eine Minute, verehrtes Fräulein …«

Und er ging in das Bahntelegraphenbüro und drahtete: »Fall Graf Gothem erledigt. Behalten Sie die dreitausend und nehmen Sie die fünfundneunzigtausend, die ich mitbringe, dazu. Auf Wiedersehen – Ralf Recking.«

 

*

 


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