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An Bord der »Niao«

.Den Europäer, der nach dem Indischen Ozean reist, begleitet gern die Hoffnung, sein Weg möchte ihn nach einer jener weltfernen Inseln führen, wo Europens übertünchte Höflichkeit noch völlig unbekannt ist und er sich, einem Robinson gleich, in die Anfänge aller Zivilisation hineingestellt sieht. Die Sehnsucht auf Entdeckerpfaden zu wandeln, ist gewiß so alt wie die Lust an den Ozeanreisen selbst. Sie erfüllt zu sehen, ist aber nur wenigen beschieden, denn der Eilande, wo der Europäer noch auf Wilde stößt, die in köstlichem Urzustande dahinleben und noch keinen Weißen zu Gesicht bekommen haben, sind nicht eben mehr geworden.

Der Weltreisende von heute muß schon zufrieden sein, wenn unweit seines Kurses eine kleine, nur selten besuchte Insel liegt. Und obendrein glücklich, wenn es kein tückischer Zufall ist, der ihm zu solchem Besuche verhilft.

Der Zufall, der unsere kleine Gesellschaft mit einer Insel dieser Art bekannt machte, war in einem Sturm zu suchen, der unseren chinesischen Dampfer »Niao« heimsuchte, nachdem uns die letzten blauen Bergketten des zinnreichen Bangka außer Sicht gekommen waren. Niao heißt zu deutsch Vogel. Unsere »Niao« besaß den Ehrgeiz, mit uns von Palembang an der Südostküste Sumatras übers Meer nach Singapur zu fliegen. Nach dem taifunartigen Sturm, den sie in der Berhalla-Straße abzureiten hatte, war ihr Gefieder bis zur Unkenntlichkeit zerzaust. Unter anderem hatte die See den Steuerbordkutter und die Davits an sich gerissen. Nie mochte ein Vogel einen trostloseren Anblick gewährt haben als die »Niao« in dem Augenblick, wo wir uns zum ersten Mal wieder an Deck wagen und, uns an die ausgespannten Seile klammernd, den angerichteten Schaden bestaunen konnten.

»Allerhand!« sagte der holländische Steuermann. Und der redselige französische Regierungs-Ingenieur Robinet, der, bisher sorgsam in irgend einer Ecke verstaut, mit einem ganz grünen Gesicht ans Licht der Sonne stieg, hatte nur das eine Wort: »Havarie ...!«

Wie gesagt, es sah an Deck bös aus, und der Kapitän – auch ein Holländer – gab später zu, daß er in der letzten Nacht wieder angefangen habe, an Wunder zu glauben. Denn das sei immerhin etwas Ähnliches, daß sich solch' alte Arche wie die »Niao« noch so tapfer durchgeschlängelt habe. (Richtiger hätte er sagen müssen »durchgeschlingert«.) Die »Niao« war nicht mehr das jüngste Schiff, das zwischen Sumatra und Malakka hin und her pendelte. Sie hatte ihre Geschichte, war von dem ehemaligen fuchsschlauen Vizekönig Li-Hung-Tschang von einer europäischen Werft angekauft und jahrelang der Stolz des Nanyang-Geschwaders auf dem Yangtszekiang gewesen, bis vollwertigere »Kriegsdschunken« sie verdrängt hatten. Beim Übertritt ins Zivilleben – sprich: in die Kauffahrteiflotte – hatte man sie abgerüstet und frisch und möglichst bunt bemalt. Als Galionsfigur hatte sie ihren Vogel bekommen, der freilich mehr mit einem Drachen Ähnlichkeit hatte, und vor allem fehlten am Bug nicht ein paar große gemalte Augen, ohne die ja ein chinesisches Fahrzeug seinen Weg nicht sehen kann.

Daß die »Niao« diesesmal mit einem blauen Auge davongekommen war, gereichte uns zur Freude, und wir hatten nichts dagegen einzuwenden, als der Kapitän erklärte, er werde vor der nächsten Insel vor Anker gehen. Ein Widerspruch hätte ja auch nicht viel genützt. Der Franzose schien wieder einmal recht zu behalten. Irgendwo hatte es die »Niao« im Leibe. Ausschlaggebend aber war vor allem der Umstand, daß unser Trinkwasser gleichzeitig mit den Davits über Deck gegangen war.

Das Eiland Joka, vor dem der Anker fiel, liegt ungefähr in der Höhe des Kaps Djabung und annähernd halbwegs der Inseln Lingga und Bangka, von denen Lingga dem Archipel den Namen geliehen hat. Die Gruppe, hauptsächlich von Malayen und Chinesen, daneben von Arabern und vielen anderen asiatischen Fremdlingen bewohnt, gehört zu einer niederländischen Residentschaft. In gewöhnlichen Atlanten wird man das Eiland Joka vergeblich suchen.

Dieses einsam am äußersten Rande der Lingga-Gruppe liegende Inselchen erschien uns nach dem Unwetter, das uns einen Tag und eine Nacht so fürchterlich zusammengerüttelt hatte, besonders schön. Ein saftiges Grün bedeckte es in seiner ganzen Länge; Hütten aus Bambus mit Palmblätterdächern lugten zwischen den in wildester Üppigkeit prangenden Hängen hervor; eine Reihe schlanker Palmen, zahlreichen Masten gleichend, bedeckte den Ufersaum, auf dem sich alsbald ein Haufe von Eingeborenen sammelte. Dabei war die Luft von wundervoller Klarheit, und die See, zwar noch bewegt, glich im Vergleich zu vorher einem sanften, blauen Teich. Bald in rotem, bald in blauem metallischem Glanz schimmernde Papageienfische schossen über dem Wasser dahin.

Zwei holländische Matrosen und ein hübscher junger Javaner ruderten uns an das Gestade. Wir alle, die wir uns Passagiere der »Niao« nennen durften, saßen im Boot: der französische Ingenieur, der in jedem dritten Satz daran erinnerte, daß er die ganze Gegend schon kenne und der tatsächlich in jüngeren Jahren von Cochinchina aus schon einmal Sumatra besucht hatte – ein hagerer, älterer, meist wortkarger Holländer, der in Geschäften nach Singapur ging und, wie Monsieur Robinet behauptete, ein Eisenholzhändler sein müsse – ein englischer Arzt namens Dr. Simpson – ein junger Kaufmann aus deutschem Hause auf Tamatave – und endlich ich. Im letzten Augenblick schloß sich noch der Steuermann der Expedition an. Er wog fast zwei Zentner und ersetzte den Ballast.

Anfangs ging alles gut, und nichts schien sich einfacher gestalten zu sollen als unsere Landung. Daß wir es mit harmlosen Insulanern würden zu tun haben, sahen wir schon an ihren Bewegungen; sie schwenkten Tücher, was sie wahrscheinlich den Weißen, die vor uns kamen, abgesehen hatten; etliche führten eine Art Freudentanz auf, wobei sie taktmäßig ihre Schenkel mit den Händen bearbeiteten, und andere wieder gaben uns mit den Armen allerlei Zeichen, wie sie ein Signalgast nicht schöner winken kann. Wir machten uns kein Kopfzerbrechen, was sie uns in einer Zeichensprache, die wir doch nicht enträtseln konnten, zu sagen hatten, zumal wir uns ja an Ort und Stelle in wenigen Minuten mit ihnen auszusprechen dachten. Wahrscheinlich auch wieder durch Gesten, was erfahrungsgemäß, je schwieriger die Verständigung ist, beide Teile desto mehr zu erfreuen pflegt. Hinterdrein mag sich mancher von uns Vorwürfe gemacht haben, daß wir ihre Zeichen nur als zutraulichen Willkommengruß ansahen.

Wir waren nun eine Seemeile von unserem Schiff und noch annähernd hundert Meter vom Ufer entfernt. Die Ruderer waren warm geworden, zumal die Sonne wieder wettmachen zu wollen schien, was sie durch ihr unentschuldigtes Ausbleiben in den verflossenen Stunden versäumt hatte. Wir sind in das liebliche Landschaftsbild versunken, und der Steuermann beißt gerade die Spitze einer pechschwarzen Zigarre ab – als es einen fürchterlichen Krach gibt, daß wir uns blitzartig in die Arme sinken, mit den Köpfen aneinander stoßen, dann vornübergeschleudert werden und mit den Beinen in der eigens dazu angefertigten Luft wackeln.

Als wir wieder aus den Augen zu blinzeln vermögen, finden wir uns samt und sonders im Vorderteil zusammengelegt – als einfache Folgeerscheinung des Galileischen Gesetzes vom Beharrungsvermögen. Gleichzeitig stellten wir fest, daß wir, statt neun, unser nur noch acht im Boot waren und daß der Boden des Fahrzeuges ein Loch aufwies, durch das man eine entzückende Aussicht in die mit bunten Korallen besäte Tiefe gehabt haben würde, wenn nicht an eben dieser Stelle ein artiger Springquell emporgeschossen wäre. Im übrigen saß das Boot fest wie in einem Schraubstock. Von unten hatte sich ein Stück Riff in seine Eingeweide gebohrt, verschiedene verdächtige Anzeichen aber deuteten an, daß das Festsitzen nicht zum Dauerzustand auszuarten, sondern daß unser Boot in der Dünung sehr bald gänzlich aus den Fugen zu gehen versprach.

Die Aussicht, daß einem der Boden unter den Füßen hinweggezogen wird, ist niemals wonnig zu nennen, und das brave Horazische » Aequam memento rebus in arduis ...« hat seine Schleuder.

Besorgt blickten wir nach dem Ufer und »peilten« die Strecke. Sie war selbst für einen guten Schwimmer beachtenswert. Ein Blick nach der »Niao« zurück, wo man von unserer verteufelten Lage überhaupt noch nichts gemerkt hatte, war noch hoffnungsloser, und die Insulaner hinwieder am Ufer rannten zwar wie wild durcheinander, schienen aber kein Boot bei der Hand zu haben, um uns Hilfe zu bringen. Wie sich später herausstellte, lagen ihre Prauwen und Ausleger allesamt friedlich in einer Bucht, eine Seemeile unterhalb unserer Unglücksstelle.

Die Besonnensten unter uns waren augenscheinlich der Steuermann und der lange Holländer. Der Steuermann brummte, nachdem er sich vergewissert hatte, daß bei dem Schiffbruch seine schwarze Zigarre endgültig über Bord gespült worden war, mit größter Seelenruhe: »Allerhand!« Der Holländer aber warf, ohne eine Miene zu verziehen, seinen Rock ab und stürzte sich – er, der Älteste von uns allen! – kopfüber in die Fluten ... nicht etwa, um sich so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen, sondern unser Boot umkreisend nach dem Javaner Tulara zu tauchen, der bedauerlicherweise unter Wasser geblieben war.

»Was will er nur?« fragte der Franzose. »Hat er den Verstand verloren? Denkt der gute Mann, uns durch Tauchen wieder flott zu bekommen? Wie denken Sie, mein Herr Steuermann?«

»Wird ihn kaum lebendig herausfischen«, knurrte der nur.

»Und setzt wegen eines Kulis sein Leben aufs Spiel!« tadelte Dr. Simpson. »Dabei verrinnen kostbare Minuten.«

»Wie denn? Was denn?« fragte Monsieur Robinet aufhorchend. »Meinen Sie im Ernst, daß der Mann des Malayen wegen ins Wasser gesprungen ist? Da taucht er übrigens auf! Ah ... und was wollen Sie damit sagen, daß kostbare Minuten verrinnen? Wir sitzen fest, und ich habe eine Beule am Kopf. Beides ist höchst unangenehm. Aber man wird uns sofort holen kommen. Es ist Glück im Unglück, daß wir festsitzen.«

Das Boot ächzte und knirschte.

»Fragt sich bloß, wie lange noch!«

Der Ingenieur wurde kreidebleich. Erst jetzt ging ihm ein Licht auf, daß die größere Gefahr unser noch wartete. » Hélas ... Sie wollen doch nicht etwa sagen ...?!«

»Halten Sie vor allem jetzt keine Gespräche«, unterbrach ihn der Steuermann. Und er rückte vorsichtig auf der Ducht nach rechts, da sich der Holländer von links her an den Dollen des Bootsrands anklammerte. Sein linker Arm umspannte die Brust des leblos an ihm hängenden Javaners. Der junge Hamburger aus Tamatave griff mit zu. Es gelang unseren vereinten Kräften, Tulara wieder ins Boot zu ziehen. Ein heller Blutbach rieselte ihm über die Stirn.

»Wir Ärmsten!« jammerte Robinet kläglich. Und Dr. Simpson, der am andern Bootsende saß und seinen Browning schußfertig machte, knurrte etwas von Zeitverlust.

Dann feuerte er drei Schuß in die Luft. Die anderen Patronen versagten.

»Gut«, sagte der Steuermann. »Nun werden sie hellsichtig werden. Aber sicher ist nichts auf der Welt. Ich verteil' jetzo die Rollen.«

»Wohl! Es eilt«, nickte Dr. Simpson. Das Knirschen unserer Nußschale wurde unheimlicher.

»Kracht der Bau zusammen – und ich wette, daß er kracht, ehe uns der Kap'tain abholt – dann sind da zunächst die zwo Fässer. Eins ist für Sie, Mynheer und Sie«, wandte sich der Steuermann an den Holländer und mich. Das zweite sollten Robinet und Dr. Simpson anfassen. Er selbst und die beiden Matrosen wollten sich mit den Duchten und Bootsplanken begnügen. Der junge Hamburger sollte sich an den Rockkragen der beiden Matrosen festhalten. »Nun kann's losgehen«, schloß der Dicke. »Das ist die richtige Verteilung.«

»Stimmt nicht ganz«, sagte der Holländer und wies auf Tulara. »Und der da?«

Es lag etwas in seiner Stimme und in seinem Blick, daß der Steuermann rot wurde wie ein gescholtener Schuljunge. »Ich dachte ...« stotterte er. »Aber wenn er noch am Leben ist –«

»Dann müssen wir ihn retten! Die beiden Fässer sind das Tragfähigste.«

»Nun stören Sie sämtliche Anordnungen«, schimpfte Dr. Simpson, lenkte aber gleichfalls ein, als ihn ein Blick des Holländers traf. »Außerdem kommt es vielleicht nicht zum Äußersten.« Und er machte mit dem Kopf eine Bewegung in der Richtung zur »Niao«, wo eben ein Boot ins Wasser gelassen wurde. Mit den Händen hielt er bereits das eine Faß. Der Ingenieur klammerte sich an der anderen Seite fest. »Wird es uns auch beide tragen?« fragte er schon zum zweiten Mal. Doch da ging auch schon eine grüne Woge gischtend über uns hinweg ... einer von den großen Rollern, wie wir sie aus den letzten Tagen nur zu gut in der Erinnerung hatten.

Als sie polternd und donnernd, während wir krampfhaft lange Hälse machten, sich an unseren Leibern emporreckte, hob sie zugleich das Boot. Es brach und barst. Alle neun kamen wir mit der Nase ins Wasser, um in der nächsten Sekunde zwar wieder aufzutauchen, aber uns ebenso voneinander getrennt zu sehen, wie wir vordem eng zusammengestaut gewesen waren. Ich sah Planken und Trümmer, Köpfe und Hände ... und vor allen Dingen das schwärzliche Faß vor mir. Es drehte und rollte, aber ich bekam es glücklich zu fassen. Bei seiner langen, schlanken Form war es sogar recht handlich. Da außerdem das Wasser angenehm lauwarm war, war es kein Kunststück, sich an ihm festzuhalten. Nur der Holländer, mit dem ich mich doch in diesen Rettungsring teilen sollte, war vorerst nirgends zu erspähen.

Aber dann unterschied ich die einzelnen Kameraden. Unwillkürlich zählte ich. Da war der dicke Steuermann; daneben Simpson und Robinet mit dem anderen Wasserfaß; etwas weiter zurück trieben die Matrosen mit dem Hamburger. Jeder hatte sich der verständigen Weisung gemäß mit dem Unabwendbaren so gut abzufinden gewußt, wie es eben ging, und eigentlich verzagt sah niemand aus. Menschlicher Voraussicht nach mußten uns Fässer und Balken tragen, bis die Hilfe nahte.

Und jetzt ... jetzt entdeckte ich auch den Holländer. Er war allen anderen voraus. Er schwamm, mit dem rechten Arm kraftvoll rudernd, schnurgerade dem Ufer zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er war, wie gesagt, der Älteste von uns, und er war der einzige, der auf die kleinen Stützen verzichtet hatte, die auf uns verteilt waren ... der Mann zugleich, der uns alle beschämte! Denn dieser Mann, der damals noch niemand von uns namentlich bekannt war, dachte nicht an seine eigene Rettung: Wie vorher, da er den Javaner aus der Tiefe hervorgezogen hatte, hielt er auch jetzt Tularas hilflosen Körper. Sein linker Arm umpreßte den Hals des leblosen braunen Mannes, der ihn nicht mehr anging als uns alle. Tulara war kein Matrose, sondern eigentlich Pantry-Gast auf der »Niao« – ein aufmerksamer und geschickter Diener, der sich vorteilhaft von den chinesischen Stewards an Bord unterschied. Er hatte uns alle mit der gleichen Aufmerksamkeit bei Tische umkreist und war lächelnd unseren kleinsten Bedürfnissen dienstwillig zuvorgekommen, wobei es keinem eingefallen war, ihn nach seinem Namen zu fragen. Aber er war nichts als eine Nummer in der ungeheuren Zahl malayischer Bediensteter, wie sie dem Reisenden zur Hand gehen. Er hatte die ruhigen, stillen Augen und das ebenmäßige Malayengesicht von der mahagonigelben Farbe, das einen in der weiten ozeanischen Welt auf Schritt und Tritt begegnet. Nichts Besonderes an ihm, außer daß sein Gesicht vielleicht noch regelmäßiger, seine Bewegungen noch geschmeidiger und gefälliger waren ... einer von Hunderttausenden. Und vor allem – kein Europäer.

Für den Holländer aber, der sein Leben für ihn einsetzte, war er ein Mensch.

Endlich kam Hilfe von der »Niao«.

Sie ruderten, was die Riemen hielten. Wir brauchten keine Todesangst auszustehen. Ganz ruhig und gemächlich trieben wir dahin. Dem Roller, der uns so plötzlich emporgehoben und das Boot vollends zum Wrack gemacht hatte, war kein zweiter gefolgt. Die Matrosen, die den Hamburger in ihre Mitte genommen hatten, unterhielten sich laut und scherzend – und dabei erfuhren wir später, daß sie beide nicht einmal richtig schwimmen konnten, sondern nur gelernt hatten, sich bei Gefahr zäh festzuklammern. Aber sie waren, wie gesagt, gutes Mutes, und das geschickt gesteuerte Hilfsaktionsboot zog auch schon die Ruder ein und fischte Dr. Simpson und Monsieur Robinet samt ihrem Wasserfaß auf. Ein paar Minuten, und wir waren alle unserem unfreiwilligen Bad entrissen. Nur der Holländer noch nicht.

Er hatte wirklich keinen Blick zurückgeworfen. Als unser Boot ihn einholte, gewann er eben festen Boden unter den Füßen. Er richtete sich auf und versuchte, auch den Javaner auf die Füße zu stellen. Da das nicht gehen wollte, nahm er ihn, sich nur eine kurze Rast zum Atemschöpfen gönnend, wie ein kleines Kind auf beide Arme und watete vollends dem Ufer zu. Auf der Buhne des Strandes angekommen, bahnte er sich eine Gasse durch die ihn mit neugierigem Lärmen umdrängenden Männer von Joka. Dann warf er ein paar herrische Worte zu den sich scheuer zurückhaltenden Weibern und Kindern hin. Daß er zu ihnen in ihrer Sprache redete, verstärkte das Lärmen zu freudiger Ausgelassenheit. Die bereits früher von uns beobachtete rhythmische Bearbeitung der Schenkel mit den Handflächen setzte von neuem ein, während die Frauen mit klirrenden Halsketten herbeieilten und eine geflochtene Bastmatte vor den Holländer hinbreiteten. Wieder ein paar knappe Worte, und der Holländer hatte sämtliche Gaffer von sich gewiesen, die sich infolgedessen uns widmeten. Das Radebrechen durch Gesten nahm seinen Anfang.

Der Steuermann schüttelte sich wie ein Pudel. Dann machte er ein paar Schritte zu dem Mynheer, der wieder, als sei er ganz auf sich allein gestellt, daran ging, mit dem Javaner Wiederbelebungsversuche anzustellen. Wir sahen, wie er dem auf die Bastmatte Gebreiteten die Arme taktmäßig hob und wieder gegen die Brustwand drückte.

»Allerhand!« nickte der Steuermann, und diesmal lag wirkliche Hochachtung in seinem Lieblingswort. »In dem Mann ist Draht. Aus dem Mann hätt' ein Kap'tain oder ein Steuermann werden können.«

»Und mancher kann sich ein Beispiel dran nehmen!«

»Tja ... das ist nun, wie es ist. In dem einen steckt's von Anbeginn, und ein anderer kann sich auf den Kopf stellen, es kommt nichts Gescheutes dabei heraus.«

»Alle Menschen sind eben verschieden.«

»Bis auf die Malayen«, warf der auf einmal wieder merkwürdig mutig gewordene Monsieur Robinet ein. »Sie stehlen alle. – Und der Javaner lebt also wirklich?«

Dr. Simpson konnte es bestätigen. »Das Bad jedenfalls hat ihm nichts geschadet. Nur die vermaledeite Klippe hat ihm den Schädel verletzt.«

»Schwer?«

»Das wird sich finden. Bevor ich praktiziere, wünsche ich einmal an der Sonne zu trocknen. Es tut gut.« Damit streckte er sich in den Sand und jagte die braunen Kinder aus dem Weg.

Wir ruhten. So beschwerlich für uns der kurze Weg nach dieser Insel war, so schön breitete sie sich jetzt vor unseren Blicken aus. Nur der Holländer ruhte nicht, bis sein Schützling Tulara, den Dr. Simpson endlich doch genauer zu untersuchen für gut befand, in einer Bambushütte untergebracht war.

Die Anerkennung, die von allen Seiten dem Holländer für sein Rettungswerk gezollt wurde, hatte zur Folge, daß der französische Regierungs-Ingenieur Robinet jetzt derjenige war, der am lautesten in das Loblied auf den Mynheer einstimmte.

»Wenn es auch ein einfacher Malaye ist – es bleibt eine schöne Tat. Der Javaner ist, wie ich jetzt erst sehe, derselbe fixe Bursche, der uns gestern unsere Gläser so brav nach jedem Schluck wieder vollschenkte. Wird er durchkommen, Doktor? Arbeitet die Lunge wieder?«

Dr. Simpson nickte. »Die Kopfwunde wurde durch das dichte, gekrauste Haar gemildert. Übrigens hat der Mynheer nicht allzu schwer zu schleppen gehabt. Nun – für eine mutige Tat habe ich immer Verständnis. Wie heißt der Mann?«

»Hab' auch schon nachgedacht. Muß mir früher mal in Palembang in die Quere gelaufen sein«, sagte der Steuermann, den die Insulaner mit besonderer Scheu umringten. Wohl wegen seines stattlichen Körperumfangs mochten sie ihn für unseren Führer halten. »Wir können ihn oder abends den Kap'tain fragen. Aber der Name tut nichts zur Sache. Gewiß ist, daß er seine Sache gut gemacht hat, und da kann ich nur wieder sagen: Allerhand!«

»Und Sie sagten, er sei ein Holzhändler?« fragte ich Robinet, während wir uns zu einem kleinen Streifzug durch das Innere Jokas fertig machten.

»Ohne Zweifel! Wie Sie gehört haben werden, bin ich mit der ganzen Gegend von früher her vertraut. Sumatra sagt mir nichts Neues. Und von meinem Aufenthalt vor zwanzig Jahren sind mir eine Menge Holländer vom Schlage des Mynheers in der Erinnerung. Diese Urwaldpioniere sind alle nervig, sehnig, intelligent. Und sie haben, wie wir sahen, ein Herz im Leibe. Damals war ich Zeuge einer Jagd auf einen Königstiger und lernte ihre Tapferkeit bewundern. Sie sind würdige Kameraden. Übrigens eine hochinteressante Jagd! Ich werde Ihnen erzählen ... und das Merkwürdigste ist, daß mich unser holländischer Freund lebhaft an einen jener Jagdteilnehmer, zu denen ich, wie gesagt, zählte, erinnert. An den Helden unseres damaligen Abenteuers. Im Boot vorhin schon plötzlich stand das Bild jenes anderen vor mir, der damals die Bestie zur Strecke brachte. Dieselben Augen, versichere ich Sie ... die gleichen, einen so seltsam durchdringenden Augen, die an sich braun sind und doch einen Stich ins Grüne haben. Solche Blicke durchdringen und faszinieren, und, wie gesagt, man vergißt sie nicht. Ich fragte gelegentlich brieflich einen meiner Freunde, was aus jenem Tigerjäger geworden sei, und da hörte ich, daß er kurz nach unserem Abenteuer dem Sumpffieber erlag. Das Urbild von Nervenspannkraft, Muskelstärke und organischer Gesundheit, Mußte er so elend zugrunde gehen! Wäre das nicht der Fall, so könnte ich glauben, unser Mynheer und mein alter Jagdfreund wären ein und dieselbe Person.«

»Vielleicht ein Bruder von ihm –«

»Keine Idee! Ich sagte ja, diese gewissen Holländer, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, gleichen alle einander. Ah, und unser Holländer hat es vorgezogen, bei dem braunen Kuli zu bleiben, statt sich dieses Eiland genauer anzusehen. Na, am Ende hat er nicht zu viel versäumt. Auch diese Inselchen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Und finden Sie nicht, daß die Hitze unerträglich wird?«

Wir wanderten und klommen die dicht mit Mangrovenhecken bestandenen Hänge hinan, wo sich etwa vierzig Hütten der Eingeborenen erhoben. Sie ruhten auf Steinschlag, der vom Ufer heraufgeschafft war, um gegen die ungesunden Ausdünstungen des Bodens Schutz zu bieten. Es ist wohl unnötig, zu sagen, daß die Sauberkeit in den Hütten von Joka nur mäßig war. Dafür hatten unsere Wirte eine Angewohnheit, die sie mit ihren melanesisch-malayischen Mischbrüdern auf einzelnen Karolineninseln teilen, nämlich die, einen großen Teil ihrer Gebrauchsgegenstände mit Curcuma oder Gelbwurz honiggelb zu färben. Gelbwurz war in ihr an sich blauschwarzes Haar gestrichen, mit Gelb hatten sie ihre Leiber bemalt und ihre wenigen Kleidungsstücke verunziert. Und alles färbte gelb ab!

Ein Eiland, ganz im Urzustande, wie es Robinson fand, war unsere Insel jedenfalls nicht. Die holländische Regierung trieb von ihr Steuern in Gestalt von Kokosnüssen ein, und die stämmigsten und muskulösesten Männer der braunen Gesellschaft verdingten sich, wie wir erfuhren, als Träger oder Säger oder auf den Prauwen von Sumatra oder gar in den englischen Hafenstädten Penang und Singapur.

Mit Kokosnüssen und dem im Feuer gerösteten Taro wurden wir bewirtet. Den Tisch bildete eine große, umgestürzte Kiste, zwei kleinere dienten unseren Respektspersonen – dem gewichtigen Steuermann und dem Mynheer – als Sessel, und unsere Wirte, durch die entbehrlichen Kleinigkeiten heiter gestimmt, die wir für sie aus unseren Taschen herauskramen konnten, kauerten mit bewundernswerter Ausdauer im Kreise um uns herum.

»Nun, Ihre mutige Tat hat also besten Erfolg gehabt, wie ich höre«, wandte sich der französische Ingenieur an den Holländer. »Der arme Bursche, falls er durchkommt, kann Ihnen nicht genug danken. Sie lassen ihn doch hier, nicht wahr?«

»Nein, ich werde dafür sorgen, daß er mit uns aufs Schiff und nach Singapur geht. Ich kenne dort einige Ärzte.«

» A la bonne heure! Sie opfern sich geradezu, mein Herr. Jeder andere würde sich mit dem bisher Erreichten genügen lassen und den Mann dann ruhigen Gewissens seiner hiesigen Sippschaft überantworten.«

»Ich glaube, Sie irren. Jeder andere nicht«, antwortete der Holländer. »Auch sind Sie falsch unterrichtet, wenn Sie die hiesigen Leute zur Sippe Tularas rechnen. Er zählt zu den buddhistischen Bedawis, wie ich ihm gestern anmerkte, und die haben mit den hiesigen Jokanern, die harmlos sind, aber auf einer ungleich tieferen Kulturstufe stehen als die Bedawis, nicht das geringste zu tun. Sie sind so verschieden – von der Sprache ganz abgesehen – wie etwa der Franzose vom Holländer oder vom Deutschen.«

»Was Sie sagen! Ich sehe, Sie sind Kenner der einzelnen Stämme, die diese Inselreiche beglücken. Für Völkerkunde habe ich nur beiläufiges Interesse. Die Neigungen sind verschieden verteilt. Aber was mir weh tut, mein lieber Herr, das ist, daß Sie einen so scharfen Strich zwischen uns Franzosen und Ihren Landsleuten ziehen wollen. Da tun Sie beiden unrecht. Gerade heute nachmittag habe ich mir gestattet, eine Lanze für die Holländer einzulegen. In den erhabensten Eigenschaften finden wir uns. Ihrer heutigen Tat hätte sich jeder Franzose rühmen mögen. Und Sie haben sie um ihrer selbst willen getan, ohne zu fragen, ob Sie Ihr Leben für einen Europäer einsetzten oder für ... wie soll ich mich ausdrücken? ... für einen solchen Massenartikel, wie ihn ein simples Mitglied eines braunen Völkergemisches von vielen Millionen darstellt –«

»Bitte!« Kurz, aller Höflichkeit zum Trotz, unterbrach der Mynheer den Ingenieur mitten im Worte. »Ich wünsche weder Ihre Anerkennung für etwas, was selbstverständlich war, noch teile ich Ihre Ansichten über die Leute, unter denen ich seit einem Menschenalter lebe.«

Robinet sprang auf die Füße. »Nichts lag mir ferner, als Sie nur im geringsten zu verletzen, lieber Freund! Ich würde untröstlich sein, wenn gerade Sie mich mißverstehen sollten.«

»Gerade ich?« wiederholte der Mynheer, kniff das rechte Auge ein und sah, ein wenig lächelnd, Robinet scharf an.

»Jawohl! Gerade Sie!« fuhr der Franzose in seinem unverbesserlichen Wortschwall fort: »Es ist mir keineswegs gleichgültig, wie Sie über mich denken. Mögen Sie lächeln, weil es nun einmal gallische Art ist, das Herz auf der Zunge zu tragen ... stillschweigend verehre ich Sie seit der ersten Sekunde. Sie müssen nämlich wissen, daß mich Ihr Anblick an einen alten, lieben, tapferen Kameraden Ihrer Nation erinnert. Wahrhaftig! Sie haben ganz und gar die Augen des unvergleichlichen Jägers van Huysden –«

»Wie?«

Deutlich sah ich, wie bei der Nennung dieses Namens eine Bewegung durch den Holländer ging. Doch völlig ruhig fragte er: »Was ist mit dem Mann, den Sie erwähnen?«

»Er sieht Ihnen ähnlich. Er sah Ihnen ähnlich. Leider ist der Tapfere nicht mehr am Leben. Wenn es Sie fesselt, werde ich heute abend von ihm und einer aufregenden Tigerjagd erzählen. Jetzt ist die Zeit zu knapp.«

»Eine Tigerjagd, an der Sie teilnahmen?«

»Eine, bei der ich um ein Haar ums Leben gekommen wäre.«

»Alle Wetter! Da bin ich begierig ...«

»Sehen Sie, Mynheer, wir verstehen uns wieder! Wir werden uns noch ausgezeichnet unterhalten. Sie gehen in Geschäften nach Singapur?«

»Erraten –«

»Das wußte ich. Ich täusche mich selten. Ihr Pioniere des Urwalds seid aus Tausenden herauszukennen!«

Der Steuermann machte dem Gespräch ein Ende. Er drängte zur Rückfahrt.

»Ganz meine Ansicht«, fiel ihm der bewegliche Franzose ins Wort. »Was zu sehen war, haben wir gesehen, und im Dunkeln über diese versteckten Teufelsklippen zurück zu rudern, hieße die sämtlichen Götter Indiens und Polynesiens versuchen.«

Der verletzte Javaner wurde auf einer Matte zu unserem Boot getragen. Dr. Simpson machte seine anfängliche Gleichgültigkeit dadurch wieder gut, daß er die Überführung leitete.

»Der Fall interessiert mich«, hörten wir ihn zu dem Holländer sagen. »Und außerdem haben Sie vorhin ein richtiges Wort gesprochen. ›Gut ist, was schlechthin sein soll, was seinen Wert in sich trägt.‹ Ich glaube, das hat ein Engländer zuerst gesagt. Irre ich mich nicht, war es William Whewell.«

»Zu meinem Bedauern irren Sie aber, Herr Doktor«, nahm ich das Wort. »Was Sie eben zitieren, hat ein Landsmann von mir gesagt ... Immanuel Kant!«

»Oh! Nun, das macht nichts. Dann könnte es wenigstens William Whewell gesagt haben.«

*

Niemand war froher als der Kapitän, nun er uns bis auf den letzten Mann wieder an Bord hatte. Lange und herzlich schüttelte er dem Mynheer die Hand, der, einen verstohlenen Blick hinter sich werfend, geheimnisvoll etwas zu flüstern hatte.

Als bald darauf der Kapitän gefragt wurde, wie denn eigentlich der Holländer heiße, kratzte er sich hinterm Ohr und zog ein Gesicht wie eine faule Feige. »Hab' ich doch wahrhaftig vergessen, mir seine Papiere richtig anzusehen. Ich werd' das Bordjournal hernach holen.«

»Aber es schien doch, als wären Sie längst alte Bekannte?«

»Tja, das soll wohl sein. Aber wie das so geht. Er sagt zu mir »Kap'tain«, und ich sprech' zu ihm man bloß »Mynheer«. Na, und nu ... tja, da wollen wir mal ans Abendbrot denken.«

Wir gingen Anker auf mit unserem alten Kurs, und die Insel, die uns ein Boot gekostet hatte, blieb hinter uns im tiefen Licht des reglos blauen Himmels. Geruhig wunderten und strömten die Wogen in der wundervollen Färbung, die ihnen die schnell sinkende Sonne lieh. Wie ein wandernder Feuerbrand, in Gold auflodernd und in Karmin verfließend, lag ihr Glühen über den Fluten.

Wir glitten schnell dem Äquator zu. In den Kabinen, wo wir uns umzogen, empfing uns die bleierne Hitze, die tagsüber ungestört über der »Niao« gebrütet hatte. Was konnte uns willkommener sein, als daß wir das Abendessen an Deck einnehmen sollten? Nicht lange, und über dem verdunkelten Meer flammten die Sterne auf. Nun schwanden auch die letzten Schattenrisse der Inseln, an deren Blinkfeuern wir vorüber fuhren.

Dr. Simpson kam mit guten Nachrichten. Er hatte die Kopfwunde des Javaners genäht.

»Und glauben Sie, daß der arme Schelm bei dieser Hitze durchkommt?«

»Oh ... Das empfinden diese braunen Menschenkinder nicht so, wie unsereins. Sie haben diese Gluthitze ja immer aus erster Hand. Übrigens stelle ich mit Vergnügen fest, daß sich ein kleiner Luftzug zu regen beginnt.«

»Na tja«, meinte der Kapitän, »aber man sehr leise.« Der Steuermann löste ihn ab. »Wir verstehen unter Nachtwind eigentlich etwas anderes.« Und er fuhr sich mit der breiten Hand über die Stirn, über die unablässig der Schweiß herniederrann.

Als wir unsere holländischen Zigarren in Brand gesetzt hatten und uns in den Deckstühlen zurücklehnten, begann der Mynheer plötzlich: »Wie war das noch, Monsieur Robinet ... wollten Sie nicht von Ihrer Tigerjagd erzählen?«

»Warum nicht? Ich kenne keine Abspannung. Fahre ja auch nicht zum erstenmal über die imaginäre Linie des Äquators. Wenn die Herren mir zuhören wollen – ich bin zu allen Schandtaten bereit.«

Wir versicherten, uns wäre nichts angenehmer. Tatsächlich waren wir von der Hitze allesamt etwas zu träge, um große Konversation zu machen. Um so besser, wenn einer so lebhaften Blutes war, daß er uns unterhalten wollte, während wir nichts zu tun hatten, als aufzupassen, daß unsere Vorstenlands nicht ausgingen und unser Soda mit Anis nicht gar zu tropenwarm wurde.

Monsieur Robinet nippte an seinem Getränk und schlug ein Bein übers andere. »Über Tigerjagden ist natürlich schon übergenug gesagt und geschrieben worden, so daß kaum noch etwas Neuartiges vorzubringen ist. Wer aber, wie ich, eine derartige Jagd mit all ihren Schwierigkeiten und Aufregungen mitgemacht hat und beinahe ihr Opfer geworden wäre, der weiß doch so manches zu berichten. Ich säße nicht unter Ihnen, wenn ich damals nicht kaltes Blut und – na sagen wir ruhig, eine vorbildliche Geistesgegenwart gezeigt hätte. Sie bestand darin, wie Sie gleich hören werden, daß ich mich im entscheidenden Augenblick hinwarf und tot stellte, während die Eingeborenen sich eilends in Sicherheit brachten. Ich schicke das voraus, denn dann werden Sie besser verstehen, warum ich auf die feigen und heimtückischen Malayen nicht eben gut zu sprechen bin. Es soll Ausnahmen geben ... gewiß. Was die Kerls aber anbelangte, mit denen ich damals zu tun hatte, so war das eine ausgemachte Schwefelbande, an die ich ungern erinnert werde. Wenn ich trotzdem, meiner Gewohnheit zuwider, Ihnen heute die damaligen Vorgänge zu schildern versuche, so liegt das hauptsächlich daran, daß mir gerade heute jene alte Geschichte in überraschender Deutlichkeit wieder einfiel. Gewissermaßen schwebten wir ja außerdem heute auch in Lebensgefahr ... und der Taifun gestern war auch eine ungemütliche Sache. Aber beides war doch ein Kinderspiel gegen die bangen Augenblicke, die ich damals durchmachte, als mir schon der heiße Atem eines zum Wahnsinn gereizten Königstigers über mein Gesicht wehte.«

»Kann ich Ihnen nachfühlen«, sagte Dr. Simpson. »Waren Sie denn unbewaffnet?«

»Wieso? Ah, ich verstehe! Weil ich sagte, daß ich mich tot stellen mußte? Nein, ich hatte selbstverständlich ein braves holländisches Militärgewehr. Aber ich werde Ihnen alles im Zusammenhang und in der richtigen Reihenfolge erzählen. Ich hätte auch nicht den aufregendsten Punkt vorwegnehmen sollen. Schadet aber nichts ... es gab deren mehrere. Obwohl alles zwanzig Jahre zurückliegt, ist es mir noch, als wäre es gestern gewesen. Übrigens liegt mir nichts ferner, als meine Person in den Vordergrund jenes Abenteuers rücken zu wollen. Die Jagdgeschichte ist vielmehr ein Loblied auf einen holländischen Nimrod im besten Sinne des Wortes und, was ich heute schon einmal auf die Gefahr hin, ein Schmeichler genannt zu werden, sagte, ist das, daß bei den Holländern, mit denen ich zusammentraf, ein unvergleichlicher Todesmut und Schneid zuhause ist ... ohne jemand anders in seinen nationalen Gefühlen irgendwie zu nahe treten zu wollen.«

»Wohl!« sagte Dr. Simpson, und er gähnte. »Das war die sogenannte Einleitung, nicht wahr?«

»Wenn Sie nichts dawider haben – ja«, antwortete Robinet und gab seinem Korbstuhl eine leichte Drehung, so daß er weniger den Engländer, sondern mehr uns übrigen im Auge hattet Vielleicht sagte er sich im stillen: ›Bilde dir nur nicht ein, daß ich mein Abenteuer deinetwegen auftische.‹ »Ich lernte, wie ich schon andeutete, einige Ihrer Kollegen kennen, Mynheer, die zu den Ersten gehörten, die sich den unerschöpflichen Reichtum des Urwaldgebietes, das sich bis hart an Palembang heranstreckt, zunutze zu machen verstanden. Sie wissen, daß es damals noch nicht die großen Waldkonzessionen gab, wie vor zehn Jahren die Djambi-Maatschapy eine erwarb. Einzelne unternehmungslustige Köpfe betrieben den Handel mit den kostbaren Eisenholzstämmen sozusagen unter der Hand. Es war gewissermaßen der erste Axthieb, der sich eine bescheidene Bresche in den Rand des Urwalds legte. Dementsprechend war die Umgebung von Palembang noch unwirtlicher und weit gefährlicher als heute – obwohl man auch heutzutage noch wenige Meilen vor der Pfahlbaustadt die Elefanten trompeten und die Tiger brüllen hören kann. Vor zwanzig Jahren aber war das einfach toll. Ich darf mir die Frage erlauben, Mynheer, ob Sie damals bereits geschäftlich in jene Gegend kamen?«

»Geschäftlich? Nein, nein. Aber fahren Sie nur fort. Ihre Geschichte verspricht, mir sehr reizvoll zu werden.«

»Es soll mir genügen, wenn ich Sie nicht ermüde«, gab der Franzose mit einem überlegenen Seitenblick auf den sein Getränk umrührenden Simpson zur Antwort. »Zwischen Palembang und einigen größeren Kampongs, die in südlicher Richtung stromaufwärts lagen, war damals ein Postdienst eingerichtet worden ... eine wahre Schreckens- und Uriasstrecke für die Briefträger. Nicht nur nach Sonnenuntergang, wie es gemeinhin Tigerart ist, sondern zu allen Tageszeiten lauerte hier eine Bestie im dicken Gewirrs zwischen den Urwaldriesen, die an erschreckender Furchtbarkeit alles bisher Dagewesene übertraf. Seit Monaten hatte sie sich hier festgesetzt, ohne daß ihr beizukommen war. Sie fiel die Posten und die Herden bis ins Weichbild der Stadt hinein mit einer Blutgier an, die einfach unerhört war. Ein Briefbote nach dem andern wurde von ihr zerfleischt, und ganz Palembang war wie in Schrecken erstarrt. Dazu kam noch, daß sich die Eingeborenen, angeblich aus religiösem Aberglauben, der Vertilgung des Ungeheuers widersetzten. In der Hauptsache aber war es die blasse Furcht, die jeden lähmte. Das Untier wurde als ebenso groß und kräftig geschildert, wie es verwegen und gefräßig war ... mit einem Worte, es war der furchtbarste Würger, der je, soweit sich die ältesten Greise zu erinnern vermochten, auf Sumatra gehaust hatte. Der Zustand wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Der eine Kampong – Sie müssen mir verzeihen, daß ich mir das Wortungeheuer seines Namens nicht gemerkt habe – drohte buchstäblich entvölkert zu werden. Was die Raubtierzähne nicht zerfleischten, floh in wilder Verzweiflung. Die Post mußte eingestellt werden, denn obwohl die Boten längst einen Umweg über den Fluß machten, entging dem Tiger kaum einer. Es ist erwiesen, daß diese Tiere gute Schwimmer sind. Der Schrecken Palembangs wechselte mit einer verblüffenden Geschwindigkeit selbst zur Flutzeit über den Fluß und verstand es, sich im Nu durch den zähesten Schlamm und über die kanalartigen Nebenflüsse, deren Palembang so viele hat wie Venedig, an sein jeweiliges Opfer heranzupirschen.

Der Resident, mit Klagen bestürmt, setzte einen bedeutenden Preis auf die Erlegung des Monstrums aus. Umsonst – niemand wollte es wagen. Das war ausgerechnet die Zeit, wo ich von Cochinchina in Palembang eintraf.«

»Der Retter erschien«, sagte Dr. Simpson, da der Franzose sich eine Pause zum Anzünden einer neuen Zigarette gönnte.

»Freut mich, daß Sie wieder munter sind, Mylord. Vom Retter werden Sie gleich hören. Ich selbst betrachte mich nur als bescheidenes Werkzeug bei der Aktion. Ich kam also an, als die Frage am brennendsten geworden war. Meine Gastfreunde machten betrübte Gesichter. Ihr Holzhandel drohte ins Stocken zu geraten, denn es fanden sich keine Holzfäller und Säger mehr, die ihr Leben aufs Spiel setzen wollten. Da der Aufruf des Residenten, wie gesagt, ungehört verhallt war, beschlossen meine Freunde die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Am Abend meiner Ankunft fand im Klubhaus eine letzte Beratung statt, an der ich teilnahm. Man machte zunächst Vorschläge, wie man gemeinsam vorgehen wollte. Drei abgerichtete Elefanten, mit denen man am nächsten Tage ausrücken wollte, waren schon besorgt. Man wollte die ganze Gegend umstellen und mit Feuer umkreisen, und dann sollten in der üblichen Weise die Jäger auf den Elefanten ankommen, während die Treiber, mit Trommeln und Pauken bewaffnet, Lärm schlagen sollten. In umfänglicher Weise wurden die Rollen verteilt, und ich als Gast hielt es gewissermaßen für meine Ehrenpflicht, mich der Jagd anzuschließen. Mir war bekannt, welche Scheu der Königstiger vor den Stoßzähnen und der Rüsselkraft der Elefanten hat, und das Ganze versprach mir nichts anderes zu werden als ein amüsantes Schauspiel, zumal das Wort ›Furcht‹ ein Begriff ist, den ich glücklicherweise nicht kenne.

Die Sache hatte nur einen Haken. Ein jüngerer Mann, den ich bis dahin nicht beachtet hatte, bat ums Wort und erklärte, wenn die Sache so einfach läge, daß man nur die Elefanten zu besteigen brauche, so wundere er sich, daß man auf diesen Gedanken nicht schon eher gekommen sei. Es sei aber allen bekannt, daß dieser Tiger seinen Schlupfwinkel im unwegsamsten Sumpf und sein Revier in einer von hundert Wasserarmen zerrissenen Gegend habe, wo ihm beileibe kein Elefant beikommen könne. Der ganze Apparat, den man aufgeboten habe, sei unnütz, da der Plan verfehlt sei.

Der Schwierigkeiten, gab man dem Sprecher zur Antwort, sei man sich leider bewußt, aber man dürfe nichts unversucht lassen. Oder ob Mynheer van Huysden – so hieß also mein Mann – etwa etwas Besseres vorzuschlagen habe. »Allerdings«, lautete die Antwort. »In dem zerschnittenen Gelände hier bleibt nichts anderes übrig, als das Tier in seinem Dickicht aufzusuchen.«

»Und wer soll das machen?« fragte einer, und völlig, gelassen erwiderte der junge Mann: »Ich.« Die Bewegung war allgemein, denn der junge Holländer war erst wenige Tage da. Man hatte ihn im Walde zwar beobachtet, aber nur einen Konkurrenten in ihm vermutet: nun stellte sich heraus, daß er nebenbei ein leidenschaftlicher Jäger war. Damals konnte noch kein Mensch ahnen, was Wahres daran war. Der nächste Tag aber sollte es bereits zeigen. Einige der Anwesenden ließen sich von der unerschütterlichen Ruhe des Mannes anstecken und versprachen ihre Hilfe. Und für mich, der ich, wie Sie sich denken können, sofort Feuer und Flamme für das Unternehmen war, gab es natürlich kein Besinnen: ich schloß mich dieser Tigerjagd zu Fuß nun erst recht an, obwohl mich ältere Herren der Gesellschaft aufs eindringlichste abzuhalten versucht hatten ... Nun, sie kamen bei mir an den Falschen!«

»Hm ...« machte plötzlich der lange Holländer, der neben mir saß, und ich glaubte genau zu sehen, wie es in seinem Gesicht zuckte. Galt sein Räuspern der Eitelkeit des plappermäuligen Robinet? Sein Schmunzeln der Erwartung irgend eines besonders saftigen Stückes Jägerlatein?

Der Franzose war sehr feinhörig und gab sogleich eine nähere Erklärung: »Ich war noch ziemlich jung, und die Herren waren redlich um mich besorgt. Allein, wenn mich anfänglich nur die Lust, ein aufregendes, nervenprickelndes Schauspiel zu sehen, gelockt hatte, so war jetzt mein wahrer Jagdeifer geweckt. Längst vor der festgesetzten Stunde fand ich mich tags darauf am Stelldicheinplatze ein. Bei der Verteilung der Schützen wollte es ein herrlicher Zufall, daß ich gerade dem jungen van Huysden als Begleiter attachiert wurde, der als Erster in das Dickicht vorgehen wollte. Das war so recht nach meinem Herzen! Die übrigen Jäger sollten mit schußbereiten Gewehren von rechts und links gelegenen Punkten aus folgen. Jeden der Hauptschützen begleiteten ein paar Eingeborene, beziehungsweise Javaner, die sich durch einen für ihre Begriffe fürstlichen Lohn dazu hatten gewinnen lassen.

Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen den gefährlichen und mühseligen Weg, den wir, zunächst in einer schmalen Prauw, flußaufwärts, dann in atemraubendem Gewürge durch das dichteste Dorn- und Baumgewirr zurücklegten, schildern wollte. Es genügt, daß ich Ihnen sage, daß wir unsere Mitjäger sofort aus den Augen verloren und daß es uns, mir und meinem Kameraden, vorbehalten blieb, den Kampf mit der Bestie allein aufzunehmen.«

»Ihnen allein?« warf der Mynheer ein. »Alle Wetter!«

»Ja, es war eine tolle Sache! Ganz auf uns allein gestellt, wie ich mir's gewünscht hatte, mußten wir sie ausfechten, denn unsere beiden Malayen flüchteten wie Schafsleder in eine Bambushütte, die von den Waldarbeitern zufällig gerade an der Stelle errichtet war, von wo aus uns das Tier zuerst zu Gesicht kam. Sein Anblick ist mir unvergeßlich und übertraf meine verwegensten Vorstellungen. Zweifellos war der Unhold größer als ein ausgewachsener Löwe und auch robuster gebaut. Was mir aber den ersten gelinden Schreck in die Glieder jagte, war das Innewerden des unverzeihlichen Leichtsinns, der mich mein Militärgewehr einen Augenblick hatte aus der Hand geben lassen. Ich hatte es einem der beiden braunen Kerls zum Halten gegeben. Stellen Sie sich mein langes Gesicht vor, als ich mich umdrehe und gerade noch sehe, wie diese erbärmlichen Hasenfüße mitsamt meiner Schußwaffe Reißaus nehmen!«

»Das wird ja immer schöner!«

»Ganz meine Ansicht, Mynheer! Hilflos einer Bestie von derartig vorsintflutlicher Größe sich ausgeliefert zu sehen, das ist in der Tat selbst für den kaltblütigsten und beherztesten Draufgänger der Höhepunkt der Gefühle. Im ersten Augenblick war ich wie erstarrt! Erst der erste Schuß aus der Flinte meines Begleiters riß mich aus der Betäubung. In schneller Aufeinanderfolge jagte Ihr Landsmann zwei Kugeln dem Raubtier entgegen. Beide Schüsse gingen fehl –!!«

»Gott sei's geklagt!« Der Holländer schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Unnötig, zu sagen, daß unserem Tiger das Pfeifen der Kugeln zu mißfallen schien. Laut knurrend peitschte er mit dem Schweif den Boden. Eine armstarke Liane, die hinter ihm von einem Eisenholzbaum herunterreichte, wurde wie ein Strohhalm zur Seite geschleudert. Im nächsten Augenblick schnellte das Untier in die Höhe und kommt sprungweise, in gewaltigen Sätzen, in gerader Richtung auf van Huysden und mich los. Mein Nachbar kniet nieder und schießt auf eine Entfernung von hundert Metern, fehlt aber wieder!! Um so sicherer bewegt sich der Tiger auf uns zu. Ich hatte glücklicherweise wieder völlig kaltes Blut, aber unwillkürlich, weil meiner Wehrlosigkeit mir bewußt, suchte ich mir doch notgedrungen einen Platz, der hinter van Huysden liegt. Kein Vernünftiger wird mir das verargen. Man kann verwegen, man kann tollkühn sein – aber man soll nicht die Götter versuchen! Mein Holländer warf sich vollends auf die Erde, suchte sich hinter einem mäßig dicken, verfaulten Baumstamm zwischen den Farnen zu decken und feuerte von hier aus seinen vierten Schuß auf eine Entfernung von dreißig Metern. Die Kugel traf das Tier mit solcher Wucht am vorderen Schulterblattrand, daß es zurückgeworfen auf seine Hinterpratzen fiel. Wild aufbrüllend schnappte es nach der Wunde und sprang nun in großen Sätzen heran ... seltsamerweise jedoch nur mich, während ich nun rückwärts eilte, beachtend, wobei es van Huysden vollkommen übersehen haben mußte.

Van Huysden hütete sich, um nicht die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich zu lenken, sein Gewehr zu laden, sondern verhielt sich mäuschenstill ... mir in meiner Lage damals wenig tröstlich, aber von der Vernunft geboten. Ohne seine Besonnenheit wären wir höchstwahrscheinlich beide unrettbar verloren gewesen.

Der mich verfolgende Tiger, der nun das Tempo seiner Schritte etwas gemäßigt hatte, ließ mich nicht aus den Augen. Er passierte Huysden zu seiner Rechten in einer Entfernung von drei Schritten; erst als er etwa sieben weitere Schritte getan hatte, lud Huysden wieder und warf sich so behutsam wie möglich um den alten Urwaldstamm herum, um mit dem daran fest angelegten Hinterlader einen fünften Schuß zu wagen. Er lag noch nicht vollkommen geschützt, als der Tiger, seine Bewegung wahrnehmend, zurückschaut, ihn jedoch abermals übersieht. Und nun wurde selbst mir die Sache ungemütlich. Der sichere Tod war, wie ich glaubte, mir nahe. Zwei Sätze trennen die Bestie noch von mir – blitzschnell werfe ich mich hin, und jedem anderen wären die Sinne vergangen ... im nächsten Augenblick höre und fühle ich bereits den entsetzlichen Odem des fürchterlichen Würgers haarscharf vor meinen Ohren – da endlich kracht ein Schuß! Huysden feuert!

Was dann folgte, weiß ich lediglich aus dem Munde meines Retters, denn – ich brauche mich dessen nicht zu schämen! – ich habe eine ganze Weile wie leblos in der sumpfigen Telle gelegen, in die ich mich, um mich tot zu stellen, hinwarf. Als ich die Augen aufschlug, umringten mich Huysden und die inzwischen wieder zum Vorschein gekommenen Malayen. Auch die übrigen Jäger, vom Schießen herbeigelockt, fanden sich ein. Meine tastende Hand greift in das tiefe, weiche Fell des erlegten Tigers, van Huysden hat ihn von meiner Brust hinwegziehen müssen. Sein Meisterschuß hatte das Untier hinter und etwas unter das rechte Ohr getroffen. In demselben Augenblicke, wo sein furchtbares Gebiß mir den Kopf vom Rumpfe reißen wollte, war der Tiger zusammengebrochen. Er war über zwei und einen halben Meter lang und annähernd anderthalben Meter hoch ... ein wahres Monstrum von noch nie gesehener Fürchterlichkeit.« ...

»Schauderhaft!« Dr. Simpson erhob sich zu halber Höhe. »Ich kann nun aller Welt erzählen, daß es mich, als ich den Äquator überquerte, gegruselt hat.«

Robinet zuckte mit den Schultern. »Spotten ist wohlfeil. Dazu langt ein bequemer Sitz im Schaukelstuhl. Nun, ich bin heute kein guter Erzähler gewesen. Die Hitze tat das ihrige. Aber so etwas will auch nicht erzählt sein, so etwas muß man kalten Blutes erlebt haben.«

»Allerdings!« stimmte der Kapitän ihm zu, und um seine Mundwinkel spielte ein beinahe niederträchtiges Lächeln. »Sind Sie nicht derselben Meinung, Mynheer –?« wandte er sich an den Holländer, auf dessen Namen er angeblich nicht hatte kommen können.

Der machte eine abwehrende Handbewegung und blinzelte ihn verständnisinnig an.

»Wer dergleichen nicht durchgemacht ... nicht Sekunden durchlebt hat, die einem in ihrer Grausamkeit wie Ewigkeiten Vorkommen,« fuhr Robinet unbeirrt fort, »der ist schnell bei der Hand, Jägerlatein zu wittern.«

»Und oft mit Recht«, sagte Dr. Simpson. »Die schlechtesten Erzähler sind es bekanntlich nicht, die Dichtung und Wahrheit munter verquicken. Und dann liegt Ihre Jagd zwanzig Jahre zurück. Es wäre also durchaus verzeihlich, wenn Sie –«

»Ganz und gar nicht!« unterbrach der Franzose. »Wort für Wort ist an meiner Geschichte wahr. Und die Rolle, die ich darin spiele, habe ich absichtlich bescheiden geschildert. Wäre van Huysden noch am Leben, würden Sie ein andres Loblied über mich hören; er könnte alles bis aufs Tüttelchen bestätigen.«

Und in diesem Augenblick geschah das Unerwartete: Unser Holländer, Robinets aufmerksamster Zuhörer, sagte plötzlich mit erhobener Stimme: »Sie sind im Irrtum, Monsieur Robinet. Ihr Kronzeuge, den Sie aus dem Jenseits beschwören, kann mit gutem Gewissen durchaus nicht Ihre Aufschneidereien bestätigen.«

»Bravo!« der Kapitän rieb sich die Hände. »Das haben Sie gut gesagt, Mynheer van Huysden ...«

Robinet schnellte wie von der Tarantel gestochen in die Höhe. »Wie? Was? ... und ›van Huysden‹? ... Am Ende gar – der Bruder?« stotterte er. »Ich bitte um eine Erklärung ...«

»Die soll Ihnen werden. Zunächst die eine, daß ich niemals einen Bruder gehabt habe. Zum zweiten, daß ich noch genau so lebendig bin wie an dem Tage, wo ich mit Hilfe von zwei Javanern bei Palembang einen Königstiger schoß, während Sie, Monsieur Robinet ... während Sie –«

» Hélas! Ich beschwöre Sie, Mynheer ...!« Robinet hob abwehrend beide Hände und sank ganz gebrochen in seinen Sessel zurück. Wenn jetzt auf dem Platze, wo die schlanke, ranke Gestalt Mynheers van Huysden stand, zehn Tiger aufgetaucht wären, er hätte kein bestürzteres Gesicht machen können. Er bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton hervor.

Auch wir anderen machten kein Hehl aus unserer Überraschung. Der Engländer bemerkte hingegen gelassen: »Ich muß gestehen, daß der Schluß vergnüglicher ist, als die Einleitung es versprach. Seien Sie uns willkommen, Mynheer van Huysden ...«

»Ich will mich auf eine kurze Erklärung beschränken«, nahm der das Wort. Angesichts der kläglichen Miene, die der Franzose zog, schien er entschlossen, den Aufschneider zu schonen. »Das Gedächtnis von Monsieur Robinet ist erstaunlich, und ich habe mit wachsender Bewunderung verfolgt, wie genau er einzelne Phasen jener Jagd, die eine meiner ersten Tigerjagden war, wiedergab.«

Robinet atmete auf: »Gott sei gelobt ... Sie sind ganz der alte Edelmann. So kann nur ein Holländer sprechen und mich in Schutz nehmen.«

Der Mynheer lächelte. »Um etwas vorweg zu nehmen, so bin ich von meinem Vater her allerdings Holländer und auf Java geboren. Mütterlicherseits bin ich Deutscher. Mein Großvater war Schulmeister in Quakenbrück.«

»Auch das noch!« Dr. Simpsons Heiterkeit kannte jetzt keine Grenzen mehr. Er wollte uns alle einladen. Doch daraus wurde nichts. »Ich denke, es ist spät geworden«, sagte van Huysden, und der Franzose erklärte kleinlaut, er für seine Person fühle sich in der Tat etwas angegriffen ... die freudige Überraschung, Mynheer van Huysden, den er längst tot geglaubt habe, frisch und munter wiederzusehen, überwältige ihn.

»Sie sind auch in diesem Punkte wenigstens zum Teil richtig unterrichtet gewesen, und ich ersehe, daß Sie sich nach mir erkundigt haben. Ich schwebte, kurz nach jener denkwürdigen Jagd, lange zwischen Tod und Leben. In der Verlassenheit eines Kampongs, im Innern des Landes, warf mich das Schwarzwasserfieber schwer darnieder, und nur die aufopfernde Pflege, die ich bei einigen Ureinwohnern erfuhr, erhielt mich am Leben. Damit haben Sie, meine Herren, zugleich eine Erklärung dafür, warum für mich ein Malaye kein »Massenartikel« und etwas anderes ist als »ein simples Mitglied eines braunen Völkergemisches«. Ich bin auch kein Eisenholzhändler, wie Herr Robinet annimmt, sondern schlechthin ein Jäger –«

»Und zwar der beste,« mischte sich der Kapitän ein, »den wir auf ganz Sumatra haben! Ich bekam von Mynheer van Huysden einen Wink, seinen Namen nicht zu verraten. In Wahrheit kennen wir uns schon seit mancher guten und bösen Fahrt, die meine alte »Niao« nach Singapur macht. Es bildet stets ein besonderes Ereignis, wenn unser verehrter Mynheer mit seinen kostbaren, neu erlegten Tiger- und Pardelfellen in Singapur eintrifft. Na, und was die Tigerjagd betrifft, die uns, in einer freilich neuartigen Beleuchtung, Herr Robinet aufgetischt hat, so kenne ich die auch schon, seit ich diese Dschunke fahre – ja, wo ist denn der Herr Regierungs-Ingenieur?«

Der Platz Robinets war leer. Der Windmacher hatte die Gelegenheit benützt, sich sang- und klanglos in seine Kajüte zurückzuziehen.

»Und wie verhielt es sich in Wirklichkeit mit jener Tigerjagd?« fragte Dr. Simpson. »Sie werden uns doch das Vergnügen machen, daß Sie diesem Großsprecher gehörig die Maske vom Gesicht reißen?«

Mynheer van Huysden schüttelte den Kopf. »Er hat eine recht andere Rolle damals gespielt ... da brauche ich kein Geheimnis daraus zu machen. Doch denke ich, er wird sich die Sache zur Lektion dienen lassen, auch wenn ich mich nicht auf seine Kosten lustig mache.«

Und dabei blieb dieser Deutsch-Holländer und gab uns damit einen neuen Beweis seiner vornehmen Wesensart. Der französische Regierungs-Ingenieur Robinet blieb für uns unsichtbar, und auch als die »Niao« in Singapur einlief, hatte er es ungemein eilig, von Bord zu kommen.

Ich habe Mynheer van Huysden nicht wiedergesehen. Aber mit dem Kapitän trafen wir – der junge Mann, der von Tamatave kam, und ich – uns eines Abends in einer vielbesuchten holländischen Tapperei. Wir erfuhren, daß sich der Javaner Tulara auf dem Wege der Besserung befinde. Der Mynheer hatte ihn zu deutschen Ärzten in Pflege gebracht. Der Kapitän konnte uns nicht genug Rühmliches über ihn erzählen.

Und dabei lüftete er auch den Schleier über die alte Tigerjagd. Robinet war in seiner dichterischen Freiheit so weit gegangen, die Rollen der einzelnen Teilnehmer nach Gutdünken miteinander zu vertauschen. »Oder, sagen wir schon ruhig«, meinte der Kapitän, »das Blaue vom Himmel herunter zu lügen. Der Prahlhans hatte, wie ich von Mynheer van Huysden weiß, schon in der »Sozieteit« von Palembang das große Messer geführt, so daß er schließlich durch eine Wette dazu gedrängt wurde, an der Jagd überhaupt teilzunehmen, wovor er sich sonst schön würde gehütet haben. Aber gleich bei Beginn des Unternehmens hat er schmählich das Hasenpanier ergriffen und sich in ein Blockhaus eingeriegelt ... in dasselbe, wohinein sich nach seiner Erzählung die Malayen in Sicherheit brachten. Das waren aber, im Gegensatz zu Monsieur Robinet, mutige Jungens, die nicht von Mynheer van Huysdens Seite wichen. Ihnen ist dann all das begegnet, als der Tiger anrückte, was Herr Robinet erlebt haben will. Er ist dann weidlich verhöhnt worden und seitdem auf die Malayen nicht gut zu sprechen. Und in der »Sozieteit« sollte er seine verlorene Wette bezahlen. Aber weil er allzu sehr gejammert hat, hat man ihm die Summe geschenkt. Von einem Feigling wollten die Herrschaften nicht einen Gulden haben. Übrigens hat ihn Mynheer van Huysden wiedererkannt, richtig sicher seiner Sache ward er aber erst, als uns dieser eitle Bramarbas seinen hanebüchenen Aufschnitt vorsetzte. Es kann eben niemand aus seiner Haut heraus,« schloß der Kapitän, »mag sie nun weiß oder schwarz oder braun sein.« ...

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