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Der Mord auf der Promenade du Midi

1

Der morgendliche Tag schimmerte blau wie eine Schwertlilie über den Italien zugekehrten Landzungen. Der Asphalt auf der Promenade du Midi war noch blank-schwarz von Tau, die ersten Rauchsäulen stiegen über den flachen Dächern der Villen auf, und das Brausen des erwachenden Mentone konnte noch nicht das rasselnde Anschlagen des Mittelmeers an den Strand übertönen. Auf dem einen oder andern Balkon sah man morgenfrische Menschen Tee trinken, aber die meisten Fensterläden waren geschlossen wie schlummerschwere Augenlider, und hinter ihnen schliefen die Glücklichen, denen es beschieden war, die angenehmen Orte dieser Erde zu bewohnen.

Hie und da glitt ein Auto, nichts von dem Verbot ahnend, das Autos untersagt, die Strandpromenade zu befahren, dem Herzen der Stadt zu. Vor dem Musikpavillon der Esplanade starrte ein französischer Polizist mit Kapuze und flacher Uniformmütze, die Hände auf dem Rücken, über das Meer nach Ventimiglia hinüber. Befürchtete er einen faschistischen Angriff auf dem Seeweg, und erwog er die Möglichkeit, die eindringenden Schwarzhemden zu arretieren, so wie Bismarck die englische Armee zu arretieren gedachte, wenn sie in Holstein landete? Das Geräusch von Autoreifen ließ ihn jedenfalls seine strategischen Betrachtungen vergessen. Er wandte sich langsam um und sah nicht weniger als drei Autos die Promenade du Midi entlang rasen. Er runzelte die Brauen. Das begann schon zu häufig zu werden! Ein klares deutliches Verbot gegen den Autoverkehr stand am Endpunkt der Promenade zum Cap Martin angeschlagen, und trotz alledem –

Er ging den gesetzwidrigen Vehikeln entgegen. Das ist das Eigentümliche an einer Polizeiuniform, daß sie eine Sprache spricht, die unvergleichlich besser und rascher verstanden wird als die Stimme des Gewissens. Der Anblick seiner flatternden Kapuze genügte, um das erste Auto rasch in eine Quergasse einbiegen zu lassen. Das zweite Auto bremste unschlüssig. Das dritte, das die Aussicht auf die Polizeikapuze nicht so frei hatte, entsendete ein betäubendes Heulen – ein Ersuchen um freie Passage! Der Polizist, dessen Name Perrichon war, errötete vor Ärger und hob seinen Stab. Das Auto Nummer zwei bog hastig in eine Quergasse ab. Der Schutzmann zückte nichtsdestoweniger Bleistift und Schreibblock, um seine Nummer zu notieren, als er in unerwarteter Weise unterbrochen wurde.

Das dritte Auto zeigte keinerlei Zeichen von Reue, o nein, es kam in voller Karriere über die Promenade du Midi herangesaust. Plötzlich schlingerte es, als hätte es einen Stoß bekommen, torkelte ein paar Sekunden über die Straße hin und her wie ein Betrunkener und nahm dann direkt Kurs auf Herrn Perrichon! Über die Absicht des Chauffeurs konnte kein Zweifel obwalten: er gedachte sich mit Gewalt freie Passage zu erzwingen. Herrn Perrichon riß die Geduld. Er würde ihnen schon zeigen, daß mit einem französischen Polizisten nicht zu spaßen ist! Wenn dieser Mensch sich einbildete, daß man einen › agent‹ so mir nichts dir nichts überfahren kann, wie man eine Katze überfährt, war er im Irrtum. Das würde man ihm schon beibringen! Jetzt war das Auto so gut wie an ihn herangekommen. Er blieb auf seinem Posten stehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Erst in der letzten Sekunde wich er zur Seite, aber nur, um sich mit einem Tigersprung auf das Trittbrett des Autos zu schwingen und das Lenkrad zu ergreifen.

»Monsieur!« rief er dem Chauffeur zu. »Das geht zu weit! Nicht genug, daß Sie das Verkehrsverbot auf dieser Straße nicht respektieren, Sie versuchen noch dazu, mich niederzurennen, wenn ich Sie aufhalten will! Bleiben Sie sofort stehen.«

Der Mann am Volant antwortete nicht. Er saß zurückgelehnt mit einem sonderbaren Lächeln um die Lippen da. Nicht einmal jetzt, wo der Konstabler über ihn gebeugt stand, machte er Miene zu gehorchen. Herr Perrichon zog selbst die Handbremsen an, so daß sie knirschten.

»Monsieur,« murmelte er zwischen den Zähnen, »dieser Spaß wird Ihnen teuer zu stehen kommen.«

Der Mann am Volant schwieg noch immer. Der Schutzmann musterte ihn scharf. Es gab nur eine Erklärung für sein Betragen: er war total betrunken.

»Monsieur,« sagte Herr Perrichon zum drittenmal. »Das wird eine sehr ernste Geschichte für Sie werden! Nicht genug damit, daß Sie auf einer verbotenen Straße fahren und mich niederzurennen versuchen, sind Sie noch obendrein dermaßen betrunken, daß Sie nicht reden können. – Darf ich um Ihren Führerschein bitten!«

Der Mann am Volant antwortete nicht. Seine Augen waren weit geöffnet, und das eigentümliche Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Nun wurde es dem Schutzmann zu dumm. Er packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn energisch. Im nächsten Augenblick löste sich sein Griff. Der Mann am Volant war steif wie Holz! Er musterte ihn mit einem neuen Gesichtsausdruck, bevor er die Pfeife an den Mund führte. Ein schrilles Signal zerschnitt die Morgenluft von Mentone.

Auf das Signal der Alarmpfeife tauchten zwei Männer in Kapuzen aus der Anlage um den Musikpavillon auf. Sie eilten im Laufschritt auf das Auto zu. Aber gleichzeitig fuhr ein Herr in der rückwärtigen Abteilung des Autos aus seinen Reisedecken auf. Er schien bis dahin geschlafen zu haben, denn er starrte den Schutzmann verständnislos an und murmelte:

»Was ist denn los? Wo sind wir?«

Herr Perrichon antwortete mit seinem düstersten Tonfall:

»Sie sind in Mentone, mein Herr. Wer sind Sie selbst? Und wer ist der Herr, der am Volant sitzt?«

Der Herr im Reiseplaid schüttelte sich, wie um den Schlaf aus den Gliedern zu bringen.

»Mein Name ist Alkmaar,« sagte er, »und das ist mein Onkel, Wilhelm Alkmaar. Warum halten wir denn hier? Onkel! Was ist denn los?«

Schutzmann Perrichon war ein Mann, der in seinen freien Stunden viel las, und seine Lektüre war immer ein und dieselbe: Detektivromane! Es war sein Traum, vom gewöhnlichen Polizisten zum Detektiv zu avancieren. Seine Ideenwelt war eine getreue Wiederspiegelung der Ideenwelt der erwähnten Romane. Und die Erinnerung an eines ihrer ständigen Motive stand plötzlich – übrigens nicht ganz unberechtigt – mit visionärer Deutlichkeit vor ihm. In jeder zweiten Geschichte von geheimnisvollen Todesfällen kam ein Mord vor, als dessen Urheber sich ein Neffe entpuppte, der seinen Onkel einer Erbschaft wegen aus dem Wege räumte. Manchmal war es auch ein jüngerer Bruder, der einen älteren ermordete, aber meistens war es ein Neffe, der sich seines Onkels entledigte.

»Sie können sich Ihre Rufe ersparen!« sagte er kalt zu dem jungen Mann. »Ihr Onkel ist tot – jawohl, tot! Und da es etwas ungewöhnlich ist, daß ein toter Mann am Volant eines Autos sitzt, müssen Sie sich schon damit abfinden, sich bis auf weiteres als arretiert zu betrachten!«

In diesem Augenblick waren die beiden Kollegen des Herrn Perrichon bei dem Auto angelangt. Der junge Mann im Reiseplaid starrte um sich, wie um sich zu vergewissern, daß dies kein Alptraum war. Schutzmann Perrichon wandte sich an seine Berufsgenossen und sagte mit einer der Gelegenheit angepaßten Stimme:

»Ein seltsamer Fall, ein geradezu einzig dastehender Fall! Das Auto kommt mit voller Geschwindigkeit über die Promenade du Midi heran. Ich gehe ihm entgegen, um es zu stoppen. Der Mann, der am Volant sitzt – der Onkel dieses Herrn! – lebt noch, denn ich höre ihn mit der Autohupe lärmen. Aber bevor ich noch das Auto aufhalten kann, ist er tot!«

Der junge Mann im Reiseplaid schien das Wort ergreifen zu wollen, aber Herr Perrichon schnitt es ihm mit einer Geste ab.

»Sparen Sie Ihre Worte, bis Sie vor dem Untersuchungsrichter stehen! Sie werden sie nötig haben!«

2

Ein kleiner dicker Herr von ausgesprochen semitischem Äußeren saß auf dem Trottoir vor der Scapini-Bar. Er blinzelte wollüstig in die heiße Vormittagssonne und verfolgte unter seinen langen schwarzen Wimpern die Monoplanflüge der Möwen über dem türkisblauen Wasser des Mittelmeers. Ab und zu senkte er den Blick und beobachtete mit nicht geringerem Interesse eine Szene, die sich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße abspielte. Da saß ein Bettler in einem Rollstuhl. Er hatte ein Holzbein, und es war sein Wunsch, den Passanten, nachdem er ihr Mitleid erregt hatte, Veilchensträußchen zu verkaufen. Jedesmal, wenn jemand vorüberging, rollte er den Stuhl um eine halbe Drehung vor und streckte mit einem wimmernden Gruß die Veilchensträußchen aus. Aber das Unglück verfolgte ihn in mehr als einer Weise, er war dick, sein Gesicht glänzte vor Fett, und der Bauch, der oberhalb des Holzbeins vorquoll, war schwer wie ein Polster. Noch hatte er kein einziges Sträußchen angebracht. Die Damen bekamen einen abwesenden Blick, wenn sie ihn hörten, und die Herren sahen aus, als suchten sie sich an die Anzahl der Neptunmonde zu erinnern. Damit hätte er sich vielleicht noch abgefunden. Aber da war etwas anderes, das ihn offenbar bis zum Wahnsinn reizte. Ein Rudel kleiner Gassenbuben mit Cherubgesichtern und schwarzen Augen hatte in seiner Nachbarschaft Posten gefaßt. Sooft eine Pause in dem Touristenstrom eintrat, begannen die kleinen Lausbuben eine private Prozession. Sie defilierten einer nach dem andern, die Nase in der Luft, vorbei, und vor dem Rollstuhl angelangt, zuckten sie zusammen, als hätten sie gerade eine flehende Stimme gehört. Ihre ungewaschenen Züge nahmen einen Ausdruck vornehmer Zerstreutheit an, und sie schüttelten herablassend den Kopf. Der Mann mit dem Holzbein ignorierte den ersten, den zweiten und dritten; als der vierte und fünfte vorbeidefilierte, wurde er röter und röter im Gesicht; als der sechste kam, griff seine Hand verstohlen nach der Kurbel der Drehmaschinerie, und als Nummer sieben vorbeitrippelte, war das Maß voll. Der Stuhl flog so rasch vorwärts, als seine linke Hand die Kurbel drehen konnte. Mit der rechten schwang er wütend einen derben Knotenstock durch die Luft, und dabei schrie er aus Leibeskräften: »Verfluchte Rangen! Sales voyous! Ich werd euch schon lehren! Na wartet, ich werd euch lehren! Nie ist auch hier ein Polizeimann – aber ich werd euch lehren – wartet nur, ich werd euch schon lehren!«

Der Rollstuhl schwankte über das Trottoir wie ein Schiff auf hoher See, und der Stock peitschte die Luft, aber das Resultat war jedesmal das gleiche. Die kleinen Schlingel retteten sich, jauchzend vor Entzücken, und warteten nur auf die nächste passende Gelegenheit, um die Vorstellung von neuem zu beginnen. Die ganze Szene war so komisch, daß der kleine korpulente Herr vis-à-vis lachte, als wenn man ihn unter den Fußsohlen gekitzelt hätte. Er war jedoch Weltmann genug, seine Heiterkeit hinter einer Zeitung zu verbergen. Aus diesem Hinterhalt wurde er durch eine Hand gelockt, die sich ihm auf die Schulter legte. Er blickte auf und erkannte einen Landsmann, Jonkheer van Blaringhem aus Rotterdam.

»Ah so, hier sitzen Sie, mein lieber Doktor Zimmertür!« rief der Neuankömmling. »Das ist schön, daß ich Sie gefunden habe. Ich habe schon überall nach Ihnen gefahndet.«

»So?« murmelte der Doktor mit einer Grimasse.

Er hatte sich einen Monat Ferien genommen, die er in Mentone verbrachte. Der Gedanke, daß Jonkheer van Blaringhem, dessen Bekanntschaft er im Hotel gemacht hatte, überall nach ihm gefahndet hatte, berührte ihn nicht übertrieben angenehm. Jonkheer van Blaringhem war ein dicker, etwas asthmatischer Herr, mit vorstehenden blauen Augen und rötlichem Teint, ein richtiger Krautjunker. Außerdem gehörte er zu jenen Leuten, die sich berufen fühlen, die Geschäftsvertreter der Vorsehung an dem Orte zu sein, an dem sie sich gerade aufhalten. Der Bettler auf der gegenüberliegenden Seite rollte pustend und stöhnend seinen Stuhl an seinen Platz zurück.

»So so, Sie haben überall nach mir gefahndet,« wiederholte der Doktor. »Ich versichere Ihnen, daß Sie Ihre Zeit vergeuden. Es sind interessantere Menschen in Mentone zu sehen.«

»Wer denn?« fragte der holländische Edelmann, indem er ohne weiteres an dem Tische Platz nahm.

»Beispielsweise der Bettler vis-à-vis!« erwiderte der Doktor. »Wenn Sie ihn so sehen, glauben Sie es vielleicht nicht. Aber tatsächlich ist er nichts Geringeres als ein glänzendes Beispiel für eines der Grundgesetze des Lebens und des Universums, nämlich das Gesetz des Rhythmus. Aber die kleinen Gassenbuben, die sich vorgenommen haben, ihn an den Rand des Wahnsinns zu bringen, zeigen, daß sie dieses Gesetz ebensogut kennen wie er! Sie ziehen nicht alle auf einmal an ihm vorbei, um ihn zu reizen, nein, sie wissen, daß sie mit rhythmischen Intervallen kommen müssen wie Wellen oder Ätherschwingungen, und wenn sie das tun, gehorcht er dem Gesetz des Rhythmus, wie das Instrument dem Bogen gehorcht. Er stürzt nicht dem ersten oder zweiten nach, nein, er beherrscht sich, bis sein Inneres in so starke Schwingungen versetzt ist, daß es zu einem sichtbaren und hörbaren Ausschlag kommen muß! Für einige ist die Dreizahl die heilige Zahl, und sie gehorchen dem Takt eins-zwei-drei. Für ihn ist es die Siebenzahl. Sehen Sie nur! Nummer fünf ging frei aus und Nummer sechs ebenfalls, aber jetzt kommt Nummer sieben! Sehen Sie sich nur seinen Rollstuhl und seinen Stock an! Hören Sie nur seine Ausdrücke! Und stimmen Sie mir bei, wenn ich sage, daß er die bewunderungswürdigste Illustration zum Gesetz des Rhythmus ist und ein Beweis für die Wahrheit von Pythagoras' Lehre von den Zahlen!«

Herr van Blaringhem konnte nur schwer seine Ungeduld bemeistern.

»Glänzend!« murmelte er in einem Ton, der das Gegenteil besagte. »Fabelhaft! Aber Mentone bietet doch immerhin größere Probleme! Wissen Sie, daß ein Polizist gestern früh ein Auto auf der Promenade du Midi stoppen wollte, und im selben Augenblick bemerkte, daß ein Toter am Volant saß!«

»Ein Toter am Volant saß!« wiederholte der Doktor mechanisch. »Aber das ist doch unmöglich!«

»Es ist nichtsdestoweniger Tatsache. Überdies war es ein Holländer.«

»War sonst niemand im Auto?«

»Doch, ein junger Mann, der auch Holländer ist, ein Neffe des Toten. Die Polizei hat sich bis auf weiteres seiner Person versichert.«

»Mord?« fragte der Doktor und warf ihm einen Seitenblick zu.

»Der Polizeiarzt glaubt es. Ursprünglich war es wohl nur eine Idee des Schutzmanns, der das Auto stoppte. Aber jetzt gewinnt diese Hypothese mehr und mehr an Wahrscheinlichkeit. Der Polizeikommissär hat sofort den Staatsanwalt verständigt, der einen Untersuchungsrichter beauftragte, die Sache in Angriff zu nehmen.«

»Warum kann es denn nicht ein Herzschlag sein?«

»Die Symptome sprechen dagegen. Da ist irgend etwas mit den Pupillen – sie sind geradezu abnorm erweitert.«

Der Doktor schüttelte den Kopf.

»Was sagt der junge Mann?«

»Er weiß von nichts! Er schlief, oder stellte sich schlafend, als der Schutzmann das Auto stoppte.«

Doktor Zimmertür blinzelte mehreremal mit den Augenlidern und versank dann abermals in das Studium des dicken Bettlers.

»Was habe ich damit zu schaffen?« fragte er. »Das Gesetz des Rhythmus und die Zahlen des Pythagoras ...«

Herr van Blaringhem fiel ihm streng ins Wort.

»Ist es Ihnen gleichgültig, ob ein junger Landsmann von Ihnen ins Gefängnis kommt oder nicht? Gefängnis? Warum nicht die Guillotine? Hier in Frankreich ist man nicht sentimental. Die Polizei hat schon ausgeforscht, daß der junge Mann der einzige Erbe des Verstorbenen ist und – genug, ich habe ihm Ihre Hilfe versprochen. Das war es, was ich Ihnen zu sagen hatte. Das Verhör vor dem Untersuchungsrichter beginnt in einer Viertelstunde. Kommen Sie?«

Der Doktor trank schmatzend sein Vichywasser aus und bezahlte.

»Ich komme, ich komme,« sagte er. »Aber zuerst habe ich noch eine Pflicht zu erfüllen.«

Er ging quer über die Straße und verhütete einen apoplektischen Anfall des Opfers der kleinen Lausbuben, indem er ihm zwei Veilchensträußchen abkaufte. Das eine gab er seinem Landsmann, der über eine Dekoration die Nase rümpfte und sie in seine Tasche verschwinden ließ. Dann kam er mit.

3

Unterwegs benützte er jedoch die Gelegenheit, einen verspäteten Protest zu erheben.

»Welchen Anlaß haben Sie eigentlich zu glauben, daß ich jemandem in einer Situation wie dieser helfen kann? Ich bin doch kein Kriminalist, ich bin Psychoanalytiker von Profession. Das sollten Sie doch wissen!«

Herr van Blaringhem lächelte verschmitzt.

»Das weiß ich, aber außerdem weiß ich mehr, als Sie glauben! Ein kleines Vöglein hat mir ins Ohr gesungen, daß Sie es waren, der vorvoriges Jahr eine partielle Ministerkrise in Holland hervorgerufen hat, indem Sie den Justizminister des neugebildeten Kabinetts zur Demission zwangen. Stimmt das?«

»Hm –«

»Und dasselbe Vöglein,« fuhr Herr van Blaringhem mit einem immer schlaueren Funkeln im Augenwinkel fort, »dasselbe Vöglein hat mir verraten, daß Sie es waren, der verhinderte, daß ein junger Mann aus sehr bekannter Familie voriges Jahr wegen Vatermord angeklagt wurde. Habe ich recht?«

»Hm –«

»Sie brauchen nicht weiter zu leugnen. Ich weiß schon, was ich sage. Wir sind am Ziel.«

Sie betraten den unansehnlichen Justizpalast der Stadt Mentone. Ein Beamter in Zivil führte sie in einen weißgetünchten Saal, von dessen Wänden die französische Republik und die Göttin der Gerechtigkeit auf sie herniedersahen. An einem majestätischen Schreibtisch saß ein jüngerer, glatzköpfiger Herr, der an einem Protokoll schrieb. An der andern Seite des Tisches saß ein korpulenter junger Mann von siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren. Sein Gesicht war weiß wie Gips. Auch sein Haar war überaus dünn. Aber während die beiden Beamten sicherlich ihr Haar auf dem Altar des Vaterlandes und der Pflicht geopfert hatten, sah es aus, als hätte der junge Mann, den sie eben verhörten, das seine als einen Tribut in ganz andern Tempeln dargebracht; seine Züge waren vorzeitig schlaff, und er hatte große blaue Säcke unter den Augen.

Herr van Blaringhem wurde durch ein Kichern, das an sein rechtes Ohr drang, aufgeschreckt.

»Hier kann man wirklich Recht sprechen,« flüsterte Doktor Zimmertür, »ohne ein Haar auf dem Kopfe des Angeklagten zu krümmen.«

Herr van Blaringhem runzelte mißbilligend die Brauen und warf einen vielsagenden Blick auf den Schädel des Doktors, der keineswegs wohlversehen war. Die Heiterkeit des Gelehrten brach jäh ab.

Der Untersuchungsrichter sah auf.

»Sie sind es, mein Herr, der den Wunsch hat, die Interessen Ihres Landsmanns, Herrn Alkmaar, zu vertreten?«

»Ja.«

»Ihr Name?«

»Doktor Joseph Zimmertür, praktizierender Psychoanalytiker, Amsterdam.«

»Psychoanalytiker? Wie können Sie als Psychoanalytiker die Verteidigung in einer Kriminalsache übernehmen?«

»Alle Handlungen sind ja das Resultat psychischer Prozesse, Herr Untersuchungsrichter. Ohne Motive, bewußte oder unbewußte, keine Handlung. Und es ist mein Beruf, psychische Prozesse zu erforschen und Motive aufzudecken, die andern entgangen sind.«

Der Untersuchungsrichter lächelte skeptisch.

»Na – mich geht das ja nichts an, Herr Alkmaar! Sie übertragen also die Vertretung Ihrer Interessen Ihrem Landsmann, Doktor Zimmertür?«

Der noch junge Mann mit dem schwammigen Gesicht war augenscheinlich die Beute widerstreitender Gedanken. Man las in seinem Blick, daß das Äußere des Doktors ihm kein übermäßiges Vertrauen einflößte. Aber der Doktor war auf jeden Fall ein Landsmann. Schon halb betäubt von den Verhören, die er durchgemacht hatte, neigte er bejahend den Kopf.

»Gut!« sagte der Richter und nickte dem glatzköpfigen Sekretär zu. Dieser begann mit eintöniger Stimme das Polizeiprotokoll abzulesen. Die Tatsachen, die es enthielt, gingen kaum über das hinaus, was der Doktor ohnehin schon wußte oder erriet. Der junge Alkmaar und sein Onkel hatten eine Autotour durch Frankreich nach Italien unternommen. Sie saßen abwechselnd am Volant, aber meistens lenkte der ältere Herr Alkmaar. Am vorhergehenden Morgen waren sie in aller Frühe aus Nizza gestartet; es war ihre Absicht, noch vor dem Abend in Genua einzutreffen. Der junge Herr Alkmaar saß auf dem Rücksitz. Während der Onkel chauffierte, benützte er die Gelegenheit, ein kleines Morgenschläfchen zu machen.

»Sie waren zu früh aufgestanden?«

»Ich hatte mich zu spät niedergelegt.«

»Hm!« Der Untersuchungsrichter nickte bedeutungsvoll. »Sie hatten sich in Nizza amüsiert?«

»Ja.«

»Viel?«

»Ziemlich viel.«

»Auf eigene Faust?«

»Teilweise.«

»Sie amüsieren sich gern?«

»Hm – ja.«

»Aber Ihr Onkel pflegte zu bezahlen?«

»In der Regel – ja.«

»Er protestierte nie?«

»Sehr selten. Er wußte ja, daß ich ihn ohnehin einmal beerben würde, und er amüsierte sich selber ganz gern.«

Der Untersuchungsrichter nickte wieder bedeutungsvoll.

»Aber manchmal protestierte er also doch?«

»Tja – ja, das kann ich nicht leugnen.«

»Sie tun klug daran, es nicht zu leugnen. Wir haben ein schriftliches Zeugnis von einem Kellner Ihres Hotels in Nizza, daß Ihr Onkel Ihnen eine mächtige Strafpredigt hielt, als Sie ein paar Nächte vor der Abreise gegen drei Uhr heimkamen.«

»Das – das ist möglich.«

»Nichtsdestoweniger gingen Sie auch in der Nacht vor der Abreise wieder allein aus, worauf Sie eine neuerliche Szene mit Ihrem Onkel hatten. Stimmt das?«

»Ja – nun ja, es stimmt.«

»Dann frühstückten Sie mit Ihrem Onkel. Das heißt: Ihr Onkel frühstückte, Sie hatten weniger Appetit. Was?«

»Ja – das will ich nicht leugnen.«

»Dann stiegen Sie in das Auto und Ihrer eigenen Aussage nach erinnern Sie sich an nichts, bis der Polizist das Auto auf der Promenade du Midi stoppte und es sich zeigte, daß Ihr Onkel tot am Volant saß.«

»Nein – ich erinnere mich an nichts.«

»Hm.« Der Untersuchungsrichter machte eine Kunstpause.

»Während Ihres Aufenthaltes in Nizza besuchten Sie mehrere Apotheken in der Stadt?«

Der junge Mann erbleichte nicht mehr, denn das war unmöglich. Er starrte schreckgelähmt den Richter an und konnte nur den Kopf bejahend neigen.

»Was kauften Sie?«

Nach längerer Pause kam eine gestammelte Antwort:

»B–belladonna.«

»Ist das nicht ein eigentümlicher Einkauf?«

»Ich weiß nicht ...«

»Wozu wollten Sie Belladonna verwenden?«

Der junge Alkmaar schwieg.

»Antworten Sie! Oder haben Sie nichts zu antworten?«

Noch immer kam kein Laut über die bläulich-blassen Lippen.

»Wissen Sie, daß Belladonna ein Gift ist?«

Der blasse junge Mann fand endlich die Sprache wieder.

»Es ist nicht – Sie irren sich, Herr Richter – es ist wahr, daß ich B–belladonna kaufte, aber das war aus – aus privaten Gründen ...«

»So?« Das Lachen des Richters war eiskalt. »Welchen Gründen, wenn ich fragen darf?«

Sein Opfer senkte den Kopf.

»Ich – eine junge Dame – die sagte, daß meine Augen so schläfrig sind – sie könnte sich für jemanden, der solche Augen hat, nicht interessieren – und deshalb ...«

Der Richter lachte wieder. Ein noch trockeneres Lachen.

»Eine brillante Erklärung! Ich bezweifle keinen Augenblick, daß sie wahr ist. Nur eine Sache ist unangenehm für Sie, Herr Alkmaar. Belladonna ist, wie ich schon erwähnt habe, ein Gift. Genauer bestimmt heißt das Gift, das darin enthalten ist, Atropin. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, ist Ihr Onkel gerade an einer Atropinvergiftung gestorben.«

Es wurde totenstill im Saal.

Der Richter fuhr mit derselben trockenen Stimme fort:

»Die Obduktion ist noch nicht vorgenommen. Aber eine der Eigentümlichkeiten bei Atropinvergiftungen ist die unnatürliche Erweiterung der Pupillen. Wenn Sie mit Ihrem Onkel – Ihrem verstorbenen Onkel – konfrontiert werden, wird es Ihnen auffallen, daß seine Augen ...«

Das war zuviel für die Nerven des jungen Alkmaar. Er schlug die Hände vor das Gesicht, heulte auf und sank zusammen. Der Richter stellte in immer rascherem Tempo und mit immer barscherem Tonfall noch ein halbes Dutzend Fragen. Er bekam nur ein unverständliches Stammeln zur Antwort.

Er erhob sich.

»Wir können das vorbereitete Verhör als abgeschlossen betrachten. Der Angeklagte kann abgeführt werden.«

Mit einer ironischen Verbeugung vor Doktor Zimmertür verließ er den Saal.

4

Eine Stunde später verließ der Doktor selbst den Justizpalast von Mentone. Sein rundliches Gesicht war ein bißchen echauffiert und zeigte einen bekümmerten Ausdruck.

Es hatte sich als unmöglich erwiesen, seinem Protégé irgendwelche weiteren Aufklärungen zu entlocken. Er hatte die ganze Wahrheit gesagt, und er war unschuldig. Belladonna hatte er aus dem Grunde gekauft, den er angegeben hatte. Wenn der Doktor die junge Dame aufsuchen wollte, so würde sie es bestätigen. Sie hieß Suzette und war jede Nacht in der Valencia-Bar in Nizza zu treffen. Er wäre vollkommen unschuldig!

Doktor Zimmertür, der es gewohnt war, die Menschen nach Sokrates' Vorbild zu ›entbinden‹, hörte es ihn beteuern und wußte, daß das eine Unwahrheit war. Der junge Alkmaar trug irgend etwas mit sich herum, womit er nicht herausrücken wollte.

Ein Gespräch mit dem zweiten Hauptzeugen der Angelegenheit, Schutzmann Perrichon, brachte ihm kaum größere Ausbeute. Die Unterredung fand in der Polizeistation statt, und der Schutzmann ließ sich nicht lange bitten, seine Geschichte zum zwanzigstenmal zu erzählen. Im Gegenteil – er illustrierte sie mit zahlreichen Handbewegungen und veranschaulichte den topographischen Hintergrund mit Hilfe der Gegenstände, die auf seinem Schreibtisch lagen.

»Hier stand ich, da wo das Tintenfaß steht, und das Papiermesser ist die Promenade du Midi. Plötzlich höre ich drei Autos hintereinander hupen und drehe mich um. Die Autos waren gerade hier vor diesem Brief. Ich laufe ihnen entgegen, und ...«

Er erzählte und erzählte. Der Doktor hörte schweigend zu. Endlich versiegte der Wortschwall des Schutzmanns. Er ergriff einen der Gegenstände, die er als Anschauungsmaterial verwendet hatte, und sah ihn sich näher an. Dann kicherte er in sich hinein.

»Das ist aber komisch!« verkündete er sich selbst.

»Was ist komisch?«

»Ich sagte Ihnen eben, Monsieur: die Autos hupten gerade hier vor diesem Brief! Und dabei kommt der Brief gerade von dem Mann, der in diesem Hause wohnt!«

»Wovon handelt er?« fragte der Doktor zerstreut.

»Ach, das ist nur so ein verrückter Engländer!« erwiderte der Schutzmann achselzuckend.

»Inwiefern ist er verrückt?«

»Sowie ein Auto vor seinem Hause vorbeifährt, beklagt er sich. Es ist verboten, im Auto über die Promenade du Midi zu fahren, aber viele Autos bemerken das Stoppsignal nicht, und dann schreibt er sofort: ›Nie ist ein Polizist zur Hand, wenn man ihn braucht!‹ Als ob wir von früh bis abends vor seinem Hause Wache stehen könnten!«

Der Doktor streckte mechanisch die Hand nach dem Brief aus. Die Worte des Schutzmanns hatten eine Erinnerung in ihm wachgerufen – eine Erinnerung, die zuerst verschwommen war, aber so allmählich klarere Form annahm. Was hatte doch der Bettler mit den Veilchensträußchen den Gassenbuben nachgerufen? ›Nie ist ein Polizist da – aber ich werd euch schon lehren!‹ Er las das Schreiben des Engländers durch. Es enthielt einen geharnischten Protest gegen die Art, wie die Polizei ihren sonnenklaren Pflichten nachkam. Wenn das nicht anders wurde, mußte der Briefschreiber ›zu andern Maßregeln greifen‹.

»Aber woher wissen Sie, von wem das ist?« rief er. »Es ist ja ›Freund der Ordnung und Gerechtigkeit‹ unterzeichnet.«

»Ja, und wir haben schon andere bekommen, die ›Observator‹ und ›Empörter Steuerzahler‹ unterzeichnet waren,« lachte der Schutzmann. »Aber wir wissen schon, von wem sie kommen. Oberst Lawrence in der Villa Honduras schreibt sie, kein anderer! Die drei ersten unterzeichnete er mit seinem Namen, aber seither ...«

»Seither ist er im anonymen Plural aufgetreten,« murmelte der Doktor gedankenvoll. »Hätten Sie etwas dagegen, mir diese Briefe zu zeigen, Monsieur Perrichon? Wenn Sie sie haben!«

»Warum denn nicht!« nickte der Schutzmann gnädig und suchte einen Stoß Briefe aus seiner Schreibtischlade hervor. Der Doktor las sie aufmerksam durch und verabschiedete sich dann.

Er aß ein verspätetes Lunch in einem Freiluftrestaurant, an der Promenade du Midi. Die Straße, in der die Katastrophe sich zugetragen hatte, ruhte in ungestörtem Frieden in der Mittagsonne. Über das schläfrige Blau des Mittelmeers paddelte ein Wasserveloziped, und auf der Esplanade trippelten kleine Eselchen mit englischen Kindern auf dem Rücken. Gegenüber der Scapini-Bar hatte der Bettler mit den Veilchensträußchen seine Tätigkeit wieder ausgenommen, und auf einem Balkon, etwa fünfzig Meter entfernt, saß ein älterer Herr mit einem Feldstecher. Alles atmete Ruhe. Nichts erinnerte an das Drama des Vortages, dessen einer Teilnehmer tot war, während der andere eben formell wegen des Todesfalles angeklagt wurde ... Der Doktor versuchte sich die Szene in der Phantasie mit Hilfe von Schutzmann Perrichons Anschauungsmaterials zu vergegenwärtigen. ›Das Papiermesser ist die Promenade du Midi; hier, wo das Tintenfaß steht, stand ich; und dort drüben, wo der Brief liegt, bei der Place d'Armes hörte ich drei Autos hintereinander hupen ...‹

Er rief den Kellner zu sich.

»Der Platz dort drüben ist die Place d'Armes, nicht wahr?«

»Ja, Monsieur.«

»Dort an der Ecke liegt eine Villa, eine Villa mit einem Balkon. Auf dem Balkon steht ein Fernrohr mit einem Stativ, ein Herr sitzt davor und schaut durch das Fernrohr. Irre ich mich, wenn ich annehme, daß diese Villa Villa Honduras heißt?«

»Nein, Monsieur, Sie haben ganz recht. Das ist die Villa Honduras.«

»Kennen Sie den Besitzer?«

Der Kellner schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, daß er vor einigen Monaten eingezogen ist, in der toten Saison. Er kam direkt aus Mittelamerika her. Er scheint sehr nervös zu sein. Er geht nie aus. Er sitzt vom Morgen bis zum Abend auf seinem Balkon.«

»Sonst wissen Sie nichts von ihm?«

»Nein, Monsieur.«

Der Doktor nickte. Der Gedanke, der in ihm aufgetaucht war, während er dem Schutzmann Perrichon zuhörte, nahm immer klarere und klarere Form an. Aber war es etwas anderes als ein barocker Einfall? Und wenn er etwas anderes war, war er nicht zu unerhört, um sich beweisen zu lassen? Das kam darauf an! Ja, und gerade davon hing eventuell das Leben und die Zukunft des jungen Alkmaar ab ...

Der Doktor schrak aus seinen Gedanken auf. Ein Auto tutete wütend etwa hundert Meter weit weg auf der Promenade du Midi – eines jener Gesetzesübertreter, gegen die Oberst Lawrence unter so vielen Pseudonymen protestiert hatte. Wo war der Oberst? Er saß noch immer auf seinem Balkon, aber er hatte das Fernrohr so gedreht, daß es gerade auf die Promenade hinunterwies. Augenscheinlich wollte er den frechen Eindringling näher in Augenschein nehmen. Kaum hatte er das Objektiv eingestellt, als ein neues Hupensignal ertönte und ein zweites Auto den Spuren des ersten folgte. Der Schutzmann hatte offenbar recht, als er sagte, daß die Autos sich nicht allzuviel um das Verkehrsverbot kümmerten! Das Fernrohr wurde rasch nach rechts gedreht, aber bevor es noch in die richtige Position gekommen war, ertönte ein drittes Tuten, das an das Geheul eines überfahrenen Hundes erinnerte. Das Fernrohr flog herum und richtete sich auf den letzten Eindringling. Der Doktor konnte nicht umhin, in sich hineinzukichern. Es lag eine unbeschreibliche Komik in den Bewegungen des Teleskops dort oben auf dem Balkon; sie erinnerten an die Gesten einer beleidigten alten Dame, mit einem langstieligen Lorgnon ... Dann brach sein Lachen ab.

Hatte er recht gesehen? War der Lichtblitz ein Reflex der Sonne auf dem Fernrohr, oder war er etwas anderes gewesen?

Lange stand er in tiefe Gedanken versunken da. Kein weiteres Autohupen störte ihn in seinen Grübeleien. Als diese eine Weile angedauert hatten, eilte er, so rasch die Beine ihn tragen konnten, zur Polizeistation zurück, wo er sich die Erlaubnis zu einer Untersuchung von nicht sehr aufsehenerregender Art erbat. Und als diese Untersuchung beendet war, ging sein Weg zum Polizeiarzt, Doktor Taraval.

5

Zeitig am nächsten Morgen rollten drei Autos vom Westen her der Promenade du Midi zu. Der Morgen graute eben über den Landspitzen gegen Italien, der Asphalt war noch schwarzblank vom Tau, und die ersten Rauchsäulen stiegen von den flachen Dächern der Villen auf. Auf dem einen oder andern Balkon sah man morgenfrische Menschen Tee trinken. Die drei Autos rollten in mäßigem Tempo die Promenade entlang. Hie und da stießen sie ein warnendes Hupensignal aus. Augenscheinlich waren sie sich nicht bewußt, daß sie sich selbst auf verbotenem Terrain befanden. Nun passierte das erste die Ecke an der Place d'Armes. Das zweite folgte seinen Spuren. Das dritte drängte sich mit einem Heulen vor, das die Schlafenden an der ganzen Esplanade geweckt haben mußte.

Oben auf dem Balkon der Villa Honduras hatte ein Fernrohr die ganze Zeit über die Fahrt der Autos verfolgt. Bei dem Signal des dritten Autos erstarrte es förmlich vor Empörung. Im selben Augenblick ging in dem Auto etwas Sonderbares vor. Ein großer Regenschirm wurde über den Chauffeur und die Person, die an seiner Seite saß, aufgespannt. Das Auto machte, wie von einem heftigen Stoß getroffen, einen Sprung nach vorwärts, bog um die Ecke einer Quergasse und blieb stehen.

Im Laufe einer Sekunde waren der Chauffeur und der Passagier herausgesprungen. Der Passagier, der links gesessen hatte, reichte seinem Begleiter stumm den noch aufgespannten Regenschirm.

»Was habe ich Ihnen gesagt, Doktor Taraval? Ist das ein ebensolcher Pfeil, wie wir ihn in Alkmaars Auto gefunden haben oder nicht?«

Der Polizeiarzt starrte wie betäubt Doktor Zimmertürs Regenschirm an. Der schwarze Stoff war mit einer klebrigen Masse imprägniert, und darin steckte ein eingebohrter Pfeil. Er war ungefähr einen Zentimeter lang; anstatt mit Federn war er mit einer kleinen Troddel versehen, die ihn auf seiner Fahrt durch die Luft lenken sollte. Er zitterte noch, wie er da in dem Stoff stak, gleich einem giftigen Insekt, das an einem Fliegenpapier hängen geblieben ist und sich loszumachen sucht – oder war es vielleicht Doktor Zimmertürs Hand, die zitterte, während er den Schirm hielt.

»Und Sie behaupten,« murmelte der französische Polizeiarzt, »Sie behaupten, daß dieses Spielzeug – denn das ist ja ein Spielzeugpfeil, wie man ihn auf allen Schießstätten verwendet ...«

Doktor Zimmertür unterbrach ihn.

»Ein Beweis ist immer besser als eine Behauptung. Wo haben Sie den letzten Märtyrer der Wissenschaft?«

Der Polizeiarzt zog eine Schachtel aus einer Tasche und öffnete einen kleinen Spalt. Es enthielt ein lebendes Meerschweinchen. Doktor Zimmertür löste den kleinen Pfeil mit unsäglicher Vorsicht los. Er näherte ihn dem Meerschweinchen und machte einen leisen Stich. Binnen weniger Augenblicke lag das Tier so regungslos da, als wäre es vom Blitz getroffen worden.

»Bei einem Menschen braucht es längere Zeit, um zu wirken,« bemerkte er. »Eine knappe Minute, sollte ich glauben. In Raummaßen ausgedrückt, entspricht dies ungefähr der Entfernung zwischen der Place d'Armes und der Stelle, wo Herr Perrichon in das Auto sprang.«

Der Polizeiarzt starrte das tote Versuchstier mit Augen an, die aus ihren Höhlen zu treten schienen.

»Ich war so fest überzeugt, es sei Atropin,« sagte er, »daß ich eine Obduktion eigentlich für überflüssig erachtete. Aber ...«

»Aber Curare hat dieselbe Wirkung auf die Pupillen,« ergänzte Doktor Zimmertür. »Ich begreife ja vollkommen, daß Sie irrten – und nebenbei gesagt, bin ich nicht so ganz überzeugt, daß der junge Herr Alkmaar die Belladonna nur um seiner schönen Augen willen gekauft hat. Etwas in diesen Augen sagte mir das Gegenteil. Aber für einen Mord bedarf es eines plausiblen Motivs. Und das fehlte in seinem Falle. Zugegeben, der Onkel machte Krach – aber er bezahlte ja doch immer wieder! Und man braucht gerade kein Hamlet zu sein, um es sich zweimal zu überlegen, bevor man zum Degen oder zur Belladonnaflasche greift!«

Doktor Taraval rief: »Er hatte kein plausibles Motiv, sagen Sie? Aber hier! Wo ist hier das plausible Motiv?«

Er wies auf die Schachtel mit dem Meerschweinchen. Sein Begleiter lächelte:

»Lieber Kollege, wenn Sie die neun Episteln durchlesen, die auf dem Schreibtisch des Schutzmanns Perrichon liegen, so werden Sie sehen, daß hier genug und übergenug Motive vorhanden sind. Vor einigen Monaten kam Oberst Lawrence aus Honduras hierher. Er wollte an seinem Lebensabend Ruhe haben. Ruhe und nichts anderes als Ruhe, und er kaufte sich eine Villa in dieser ruhigsten der Städte der Riviera, und zwar in einer Straße, auf der aller Autoverkehr gesetzlich verboten ist. Aber was geschieht? Kaum ist er eingezogen, wird er durch Autos gestört, die dem Gesetz trotzen und über die Promenade du Midi fahren. Er protestiert bei der Polizei; er ›lenkt die Aufmerksamkeit der Behörden auf den stets zunehmenden Verkehr unerlaubter Vehikel‹ in seiner Straße; er nennt sich ›Observator‹, ›Freund der Ordnung und Gerechtigkeit‹ und ›Viele empörte Steuerzahler!‹ Nichts hilft. Die Polizei ist nicht imstande überall Ordnung zu machen. Gut! Er benachrichtigt sie, daß er ›andere Mittel und Wege ergreifen wird‹, und er tut es. Er befestigt eine Windbüchse an seinem Fernrohr, er lädt sie mit Stahlpfeilen, und er taucht die Pfeile in ein Gift, das ihm von seinem zwanzigjährigen Aufenthalt in Mittelamerika wohlbekannt ist – das gefürchtete Curare der Indianer, das die motorischen Nerven sofort lähmt, nicht aber die Gefühlsnerven, und in geringer Dosis das Opfer zu einer lebenden, leidenden Statue macht, aber in einer starken Dosis binnen einer Minute durch Lähmung der Atemorgane tötet. Eine Nebenwirkung ist, daß es die Pupillen bis zur Maximalgrenze erweitert – wie das Atropin! Vorgestern früh statuierte er sein erstes Exempel, gestern, während ich mein Abendessen einnahm, machte er, wenn ich richtig sah, seinen zweiten Versuch, der mißlang, und heute ...«

»Heute wäre der dritte gefolgt,« ergänzte der Polizeiarzt mit einem Schauder. »Wie konnten Sie es wagen, die zwei andern Autos und uns selbst einer solchen Gefahr auszusetzen?«

»Ich hatte ja meinen Regenschirm,« kicherte Doktor Zimmertür stillvergnügt. »Das ist ein vortreffliches Scutum, das uns beide geschützt hat. Und die zwei Autos, die ich engagiert hatte, uns vorzufahren, liefen kein Risiko.«

»Kein Risiko! Wie können Sie das sagen!«

»Nein, die liefen kein Risiko. Denn Oberst Lawrence unterliegt, wie alle Menschen, aber namentlich cholerische Menschen, dem Gesetz des Rhythmus und den heiligen Zahlen des Pythagoras! Und seine Zahl ist drei. Das bewies er vorgestern früh. Herrn Alkmaars Auto war Nummer drei, und das mußte er büßen. Erst als gestern das dritte Auto vorbeifuhr, sah ich den aufblitzenden Pfeil, der mir die Augen öffnete. Und wenn heute der Regenschirm nicht gewesen wäre ...«

Er streichelte ihn befriedigt.

»Und wie kamen Sie auf diese ganze Idee?« fragte der Polizeiarzt mißtrauisch. »War es eine Inspiration, wie in den Romanen?«

»Nein,« sagte Doktor Zimmertür mit einem neuen Lachen. »Es war das Studium eines andern Opfers der Gesetze des Rhythmus, das mich auf die Idee brachte. Und während Sie, lieber Kollege, dafür sorgen, daß Herr Alkmaar freigelassen und der wirklich Schuldige zur Verantwortung gezogen wird – die Polizisten mögen sich nur mit Regenschirmen bewaffnen, wenn sie ihn arretieren – werde ich meine Schuld bei dem Mann abtragen, von dem ich eben sprach!«

Er grüßte, und während der Polizeiarzt ihm noch nachstarrte, ging er mit kurzen, trippelnden Schritten auf die Scapini-Bar zu, vor der sich ein dicker, pustender Bettler im Rollstuhl mit einem Büschel Veilchensträußchen postiert hatte. Doktor Taraval sah, wie er das ganze Blumenlager aufkaufte und schüttelte verständnislos den Kopf.

Dann zuckte er die Achseln und ging, um das zu tun, was die Gerechtigkeit gebot.


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