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Ein Abend im Stammcafé

1

Eigentlich hatte ich kaum geglaubt, daß ich es wiedersehen würde. Die Miene des Doktors, als er das letztemal bei mir drinnen war, war so ernst, daß sie mir auffallen mußte, so stark ich auch fieberte. Tatsächlich war das Fieber nach seinem Besuch gestiegen, und ich hatte kein rechtes Bewußtsein dessen, was sich zugetragen hatte. Ich erinnerte mich nur, daß ich geglaubt hatte, durch pesttriefende, dumpfige Morastwälder zu wandern, wo sich die Lianen bei jedem Schritt um meine Beine schlangen, wo die Luft ein Nebel von giftigem Blütendampf war, und wo verschlungene Reptilien im Moorwasser lauerten.

Tiefrote Kelche mit langen Pistillen leuchteten überall aus dem Dunkel; hie und da strichen ihre klebrigen Fühlfäden mir übers Gesicht, und ich machte wahnwitzige Anstrengungen, um ihnen auszuweichen – ich hatte die unumstößliche Überzeugung, daß diese Blumen fleischfressend waren. Endlich, nach tagelangem Marsch durch die Fieberhölle kam ich in eine Luft, die ich atmen konnte, kühle Hände strichen mir über die Stirne; man gab mir kaltes Wasser zu trinken! Mir wurde besser und besser, und ich las in den Augen rings um mich, daß niemand sich das erwartet hatte. Ja, die Augen um mich – – sie waren ja freundlich, aber – – ich weiß nicht, was ich ihnen noch las, außer Freundlichkeit. War es Besorgnis um mich, Angst vor einer Rezidive? Vielleicht, aber manchmal glaubte ich, Angst vor mir in ihnen zu lesen, Furcht, reine Furcht vor mir. Lächerlich, so schwach wie ich war, hätte ich ja keiner Fliege etwas zuleide tun können. Aber davon abgesehen hatte ich über nichts zu klagen, absolut nichts. Man behandelte mich freundlich, man gab mir Wasser zu trinken, alles zu essen, was ich vertragen konnte; und am Abend eine kleine Dosis irgendeines Schlafmittels. Am Abend vor meinem Besuch im Stammcafé hatte ich sogar den Eindruck gehabt, daß meine Dosis stärker war als sonst. Ich schlief unruhig, ich erwachte, schlummerte ein und fuhr aus unerquicklichen Träumen auf; und der folgende Tag verging in einer halben Betäubung, bis ich mich plötzlich aufraffte und ausging. Das war gegen Abend; es dämmerte schon auf den Straßen. Meine Beine trugen mich wunderbar sicher nach einem so langen Fieber. Natürlich lenkte ich meine Schritte zum Caféhaus, das war ja selbstverständlich.

Der Wirt saß, als ich kam, wie gewöhnlich hinter dem Büfett. Die Gasflamme hinter ihm warf den gewöhnlichen Reflex auf seinen Glatzkopf. Ich blieb an der Türe stehen und starrte diesen Reflex lange an. Mir kamen fast die Tränen in die Augen, wie ich so stand und ihn ansah; er war wie ein alter lieber Bekannter, wie das Insignium des Ortes, an dem ich mich befand. Ja, da saß der Abt von St. Artemisia mit seinem Heiligenschein um das Haupt. Evviva! Ich war wieder gesund und konnte meinen Dienst bei ihm mit neuen Kräften antreten!

»Heil dir, o Abt der St. Artemisia-Bruderschaft!« rief ich. »Hier bin ich. Hatte man mich so rasch zurückerwartet?«

»Ich hatte überhaupt nicht mehr erwartet, Sie zu sehen«, knurrte der Wirt, ohne sich von seinem gepolsterten Lehnsessel zu erheben. Ich bemerkte, daß sein Bart viel grauer und dünner war als das letztemal. Ja, ja ... der Klosterdienst in dieser Bruderschaft greift die Kräfte an. Aber meine waren wieder neu!

Er reichte mir die Flasche mit der grünen Flüssigkeit. Ich goß ein Glas ein, gab ein paar Tropfen Wasser dazu und erhob das Glas.

»Heil dir, St.-Artemisias Wein, der du opalgrün und ätherisch bist wie der Abendhimmel!« deklamierte ich. Denn der bloße Anblick des Trankes, den ich solange nicht gekostet, erfüllte mich mit berauschendem Übermut. »Heil dir! du bist wie der Abendhimmel. Unter dir liegt der verpfuschte Tag mit allen seinen Sorgen, und durch dich erschließt sich der Ausblick in die erlesensten Himmel der Träume.«

Der Wirt starrte mich noch immer mit einem bösartigen Ausdruck im Gesicht an. Ich begann seine Grimmassen satt zu kriegen.

»Ist niemand von den anderen da?« fragte ich.

»Noch nicht. Aber sie kommen schon. Hierher kommen alle wieder. Auch die, die man nicht erwartet hätte.«

Das ging doch zu weit.

»Was soll das heißen!« rief ich. »Was ist das für ein Empfang? Glaubst du vielleicht, ich habe kein Geld? Bitte sieh her!«

Ich zog die Börse heraus und schlug sie demonstrativ auf den Tisch. Als ich dies tat, fuhr ich zusammen. Soviel ich wußte, hatte ich nur einige Kupfermünzen darinnen gehabt, als ich in die Anstalt kam; jetzt klang sie, als wäre sie voll Geld. Ja wahrhaftig, da lag die eine fette Münze auf der anderen. Wie war das zugegangen?

Ah – ja, gewiß, die freundlichen Leute in der Anstalt mußten mir das hineingelegt haben! Ich schüttelte sie aufs Büfett vor den Alten hin.

»Siehst du?« sagte ich. »Man braucht dich nicht immer um Kredit anzubetteln, du alter – ich suchte nach einem häßlichen Ausdruck, aber wurde weich – alter Veteran!«

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich!« brummte er mürrisch.

Ich nahm mein Glas und setzte mich in die dunkle Stammecke, wo ich so viele Tage und Abende gesessen hatte.

Viele Tage und Abende, ja ... Sommertage und Wintertage, schöne Abende und häßliche Abende. Draußen hatte es geschneit und geregnet, oder die Sonne hatte geschienen, Sommerwinde waren gerauscht, und Herbststürme hatten gepfiffen, und Jahr für Jahr war ich mit den Brüdern der St.-Artemisia-Bruderschaft hier drinnen gesessen. Ob Sonne oder Regen, bedeutete nicht viel in der dunklen Ecke; denn da war immer Dämmerung. Eine graugelbe Dämmerung, in der das Licht der Straße sich gegen das Licht der zuckenden Gasflamme brach, die den lieben langen Tag über unseren Köpfen brannte. Es war eine Dämmerung wie in einer katholischen Kirche, in den Seitenschiffen, wo die Beichtstühle stehen, eine Dämmerung, die uns paßte, die wir auf die Welt dort draußen verzichtet hatten. Was fragten wir nach den Tagesereignissen? Könige starben, Völker änderten ihre Gesetze oder erklärten einander den Krieg, was ging das uns an? Alles war ja doch nur Schein, langsam verlaufende Äußerungen von Kräften, die niemand verstand. Zuletzt, einige Zeit, bevor ich ins Krankenhaus gebracht wurde, war ein Krieg ausgebrochen, gegen den alle anderen Kriege Stürme im Wasserglas waren. Das jahrhundertalte, gesetzliche Weltgebäude war in seinen Grundfesten erzittert. Gog hatte sich gegen Magog erhoben – was kümmerte das uns? Man sprach vom Ende aller Dinge, von Weltendämmerung – was kümmerte das uns? Drinnen bei uns war immer Dämmerung, aber es war die Dämmerung, in der die Sinne schärfer fühlen, und das innere Auge deutlicher sieht. Nein, wie konnte der Krieg uns etwas angehen? Das einzige, was wir befürchteten, war, daß er uns St. Artemisias grünen Wein rauben könnte ... Aber noch war es nicht so weit gekommen! Ich erhob mein Glas:

»Heil dir, o du der Weisheit Wein! Du birgst Glück und Unglück. Du bist bitter, und du bist hold. Du blendest uns, und du läßt uns schärfer sehen. Du schenkst uns die Illusionen und zugleich die Melancholie, die die Illusionen durchschaut. Du bist das Elixier der Weisheit.«

Ich leerte mein Glas, und im selben Augenblick stand mein Freund Hermann am Tisch. Ich hatte ihn nicht einmal kommen gehört.

Hermann! Wie verändert er aussah! Gealtert, geradezu greisenhaft. Seine Kleider hingen an ihm herunter, und seine Augen lagen so tief in den Höhlen, daß ich sie kaum sehen konnte. Sein Gesicht war staniolweiß, wie die Kapsel der großen Flasche vor mir.

»Du sitzest hier!«

Ich nickte lächelnd.

»Wie du siehst! Du hattest vielleicht nicht erwartet, mich wieder hier zu sehen?

Er antwortete nicht auf meine Frage.

»Verfluchte Zeiten«, sagte er. »Ich habe kürzlich einen Artikel geschrieben, einen Artikel, aber weißt du, einen Artikel, der sich gewaschen hat – und ihn der Zeitung gegeben. Nun, und kannst du dir so etwas denken? Sie haben ihn ohne weiteres abgelehnt!«

Ich suchte so sympathisch auszusehen, als ich konnte. Hier drinnen in unserer kleinen Ecke war es Usus, daß wir, wenn alle versammelt waren, einander zustimmten und uns gegenseitig bewunderten; und Hermanns Artikel – die wenigen, die er schrieb – waren unserer Anerkennung sicher. Aber aufrichtig gesagt –

»Trinkst du nicht?« sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Sieh her, alter Freund, laß dich doch nicht von einem zufälligen Mißerfolg verstimmen.«

Hermann nahm die Flasche und goß ein.

»Das wäre damals, als ich noch interner Mitarbeiter war, nie passiert.«

»Das will ich glauben!« sagte ich, obgleich ich innerlich zugeben mußte, daß zwischen den Artikeln, die Hermann damals schrieb und denen, die er jetzt schrieb, ein Unterschied war. »Aber findest du nicht selbst, daß du, wie du es jetzt hast, viel freier bist?«

»Ja, freier schon, aber – « er trank einen Schluck aus dem Glase. Der Alte dort drüben – er nickte nach dem Büfett.

»Ja, er kann mit dem Kredit manchmal unangenehm sein, aber seine Ware ist unverfälscht.«

»Das ist sie!« Hermann nahm einen neuen Schluck, und die Falten auf seiner Stirn begannen sich zu glätten. »Du hast recht! Das hier ist das freie Leben! Was schert es mich, wenn sie einen Artikel refüsieren! Ich werde einen anderen schreiben, den sie nicht zu refüsieren wagen, so gerne sie auch wollen. Den letzten schrieb ich, als ich von hier um fünf Uhr früh nach Hause kam. Da schreibe ich faktisch am besten. Ja, eigentlich habe ich sonst überhaupt keine Arbeitslust.«

»Worüber war er?«

»Ach, Philosophie. ›Paradoxe und Aphorismen‹, habe ich ihn genannt.«

Ich nickte. Hermanns Artikel pflegten aus lose zusammengefügten Aphorismen zu bestehen, außer wenn sie literarhistorisch waren und Wilde behandelten.

»Wie geht es denn den anderen?« fragte ich, um ihn auf ein anderes Thema zu bringen.

Hermann beugte sich näher zu mir.

»John geht es schlecht«, sagte er mit gesenkter Stimme.

»So! Aber nein!«

»Ich spreche mich nicht über anderer Leute Laster aus«, sagte Hermann. »Du weißt, was ich immer sage: Ein Laster muß der Mensch haben, um nicht unterzugehen. Aber John trinkt zuviel von dieser Ware hier.«

Ich nickte.

»Und ich möchte nicht unfreundlich sein,« fuhr Hermann fort, »aber seine letzten Zeichnungen waren unter aller Kritik. Die reine Wiederholung, wieder und wieder dasselbe. Ich habe mich die letzten Tage wirklich gefürchtet, ihm zu begegnen. Er erwartet natürlich Anerkennung, aber man hat doch sein künstlerisches Gewissen, wenn man schon kein anderes hat.«

Er trank einen neuen Schluck. Seine Hände zitterten nicht mehr. Er wollte offenbar noch etwas über den Zeichner hinzufügen, als dieser plötzlich in Gesellschaft eines fremden Mannes an unserem Tisch stand. Ich mußte von Hermanns Worten sehr präokkupiert gewesen sein; denn eigentümlicherweise hatte ich sie gar nicht kommen gehört. John machte perverse Zeichnungen nach chinesischem Muster und war auch von den mittelalterlichen Heiligenminiaturen beeinflußt. Er war so lang und mager wie immer; seine Hände bewegten sich in zitternden Schlängelungen, die an die Linien seiner eigenen Zeichnungen gemahnten. Der Fremde wurde als Schauspieler vorgestellt. Es war ein fahler, gedunsener Mann mit stechenden Augen und dichtem schwarzem Haar. Hätte John das Haar gezeichnet, es wäre zu Blumenranken oder Schlangen geworden.

Auch John zeigte keinerlei Erstaunen, mich hier zu sehen. Ich war wirklich verletzt.

»Ich möchte wissen, ob einer von euch mir in der ganzen Zeit, die ich krank gelegen bin, einen Gedanken geschenkt hat.«

John antwortete nicht, aber ich sah ein verächtliches Zucken um seine Nasenflügel.

»Du weißt, ich verabscheue alle Sentimentalität«, sagte er. »Übrigens kannst du froh sein. Eine Kur in der Anstalt tut einem gut.«

»Aber ich war schwer krank. Der Doktor hat nicht geglaubt, daß ich es überstehen würde.«

»Unsinn«, sagte John. »Was hast du zu meinen Zeichnungen im Blatt gesagt, Hermann?«

Hermann hatte jetzt ziemlich viel getrunken. Seine Augen hatten einen fernschweifenden Ausdruck. Bei Johns Frage schien er zur Wirklichkeit zurückzukehren. Er betrachtete ihn mit einem strahlenden Blick.

»Ausgezeichnet!« rief er. »Sie sind wie von der Flasche hier inspiriert. Ebenso unschuldig dem Aussehen nach, ebenso voll von giftiger Bedeutung.«

»Bravo!« rief der Schauspieler.

»Aber giftig oder nicht giftig,« fuhr Hermann fort, »das sind ja nur Worte. Alles ist ein Traum. Hier drinnen träumen wir gute Träume, hier drinnen leben wir, während die anderen draußen, die sich einbilden, daß sie leben, nur von Alpträumen gequält werden.«

»Ich werde einen Mönch zeichnen,« sagte John, »der aus einer Absinthflasche in den Kelch einschenkt, und ringsherum, in einer Ranke werde ich zeichnen: Siehe, mein Erlöser. Das wird zugleich tief frevlerisch und tief fromm sein.«

»Sie sind groß!« rief der Schauspieler.

»Du hast das Geheimnis des grünen Giftes verstanden«, sagte Hermann.

Eine Pause entstand. Die Gasflamme über uns sauste, und drüben am Büfett saß der Alte zusammengesunken in seinem Lehnstuhl.

Plötzlich sagte John:

»Weiß der Teufel, wie das ist, aber ich habe immer mehr und mehr Angst auszugehen. Bei Tageslicht eine der Hauptstraßen hinunterzugehen, ist mir glatt unmöglich. Ich bekomme Schüttelfrost und kalten Schweiß.«

Der Schauspieler setzte sich in einer interessierten Pose zurecht:

»Was Sie sagen! Das ist aber eigentümlich! Ich für meine Person –«

Hermann unterbrach:

»Ich schließe mich John an. Es kostet mich eine Anstrengung, die ich nicht beschreiben kann, über belebte Plätze zu gehen. Und manchmal ist es mir schon passiert, daß ich hungrig nach Hause gehen mußte, weil ich mich nicht in ein Café getraut habe.«

Der Schauspieler lispelte:

»Das ist ja entsetzlich! Ich sollte es verstehen, aber ich kann es nicht begreifen. Wenn ich auftrete –«

Hermann begann schwermütig zu zitieren:

»Ich wälze mich auf sünd'gem Pfühl
Befleckt ist meiner Unschuld Linnen,
Das Licht des Tages dünkt mich schwül,
Das Dunkel nur taugt meinen Sinnen.«

Während Hermann rezitierte, sah ich wie verhext den Schauspieler an. Erst jetzt bemerkte ich, daß er eine große Narbe an der Stirn hatte. Vielleicht hatte sein Haar sie früher verdeckt. Jetzt sah ich sie, und nicht genug damit. Ich sah, daß es eigentlich keine Narbe war, sondern eine offene Wunde. Während ich sie noch anstarrte, hob der Schauspieler die Hand, wie um sich zu kratzen. Als er die Hand entfernte, sah ich, daß ein Wurm an einem seiner Nägel hing. Ich stieß einen Schrei aus:

»Aber Mensch! Was machen Sie denn?«

Er betrachtete mich erstaunt. Dann begriff er, was ich meinte, und hielt mir den Wurm entgegen.

»Er ist ganz harmlos!« lächelte er.

Sowohl Hermann wie John sahen mich erstaunt an.

»Ja, was denn? Was ist denn mit dir?«

John strich sich das Haar aus der Stirn und zeigte mir eine Wunde, ganz ähnlich der des Schauspielers. Hermann beugte den Kopf vor, so daß ich seinen Nacken sehen konnte, und da hatte er eine ähnliche Wunde hinter dem Ohr, wenigstens fünf Zentimeter lang, und von kleinen Tieren wimmelnd. Ich starrte sie sprachlos an. Sie zuckten die Achseln.

»Das kommt mit der Zeit! Hast du selbst keine?«

»N – nein, Gott sei Dank«, sagte ich mit unklarer Stimme, aber dabei fühlte ich einen inneren Schauer des Schreckens. Unten an meinem linken Unterarm kribbelte etwas, leise, unaufhörlich. Ich hatte es bis dahin nicht gespürt. Während die anderen das Gespräch wieder aufnahmen, schlug ich unbemerkt den Rockärmel zurück ... Gütiger Gott, ich hatte selbst solch eine Wunde, vier, fünf Zentimeter lang, voll von wimmelndem Ungeziefer ... und ich hatte nichts davon gewußt, und sie hatten es in der Anstalt nicht bemerkt ... das war unverantwortlich ... Lange saß ich wie betäubt da, ohne aufzumerken, was die anderen redeten. Nun hörte ich sie wieder.

Der Schauspieler gestikulierte:

»Nein, meine ärgste Stunde am Tage ist der frühe Morgen. Ich pflege in der grauen Dämmerung mit einem Ruck zu erwachen. Mein Herz pocht, und ich bilde mir alle möglichen gräßlichen Dinge ein. Ich liege da und grüble über den Sinn des Lebens nach. Das ist furchtbar. Aber untertags habe ich keine unangenehmen Empfindungen.«

»Das ist, weil Sie Schauspieler sind«, sagte ich brutal. »Sobald Sie wach sind, spielen Sie sich selber Rollen vor. Nur des Morgens sehen Sie sich selbst in die Augen. Ich begreife, daß Sie erschrecken.«

Ich weiß nicht, warum ich in dieser Weise sprach, aber ich war von einem unüberwindlichen Widerwillen gegen ihn erfüllt. Hermann winkte mit der Hand ab:

»Aber, aber! Keine bitteren Worte in unserer kleinen Ecke. Die Flasche ist wie das Grab, sie versöhnt alles, sie verklärt alles! Aber eines schmerzt mich an den Worten unseres Freundes, des Schauspielers. Nämlich, daß er sagt, er grübelt über den Sinn des Lebens nach. Das Leben ist eine Folge von Tagen, die einander ablösen. Das einzige, was ihm irgendeinen Sinn gibt, ist der Rausch. Seht mich an! Jetzt bin ich bald betrunken und demzufolge glücklich.«

»Glücklich!« sagte John.

»Ja, glücklich. Wenn ich betrunken bin, bin ich von der Zeit befreit. Tausend Jahre sind für mich wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre. Das Zeitbewußtsein ist es, das uns zu Menschen macht, und Mensch sein, heißt unglücklich sein.«

»Aber bevor wir nicht die Paralyse erreicht haben,« lispelte der Schauspieler, »sind wir auf jeden Fall doch nicht glücklich. Der Rausch ist ein Vorgeschmack, eine Vorbereitung, aber die Paralyse ist das Ziel. Das ist meine Ansicht.«

Mich packte die Wut.

»Wer interessiert sich für Ihre Ansichten? Schauspieler! Was ist ein Schauspieler anderes, als eine Garderobe und eine Sammlung Grimmassen? Wie können Sie überhaupt Schauspieler sein? Sie schielen ja!«

Das letzte kam mir unfreiwillig über die Lippen. Ich hatte es bis dahin nicht gesehen: Der Kerl schielte faktisch. Aber man durfte es ihm doch nicht in dieser Weise ins Gesicht schleudern ... Ich wollte für mein Betragen um Entschuldigung bitten und wußte nicht, wie ich es formulieren sollte. Ich sah meine alten Freunde fragend an und prallte vor Entsetzen zurück. Ich konnte weder Hermanns noch Johns Blick auffangen; ihre Augen starrten blöde und inhaltlos, jedes nach einer anderen Richtung, und wenn sie versuchten mich anzusehen, dann rollten die Augen ohne Halt in den Höhlen. Gütiger Gott, war ich in einem Tollhaus? Der Schauspieler hatte sich erhoben und stand mit der Hand im Rockaufschlag da, den Kopf zurückgeworfen. Aber als er den Blick auf mich heften wollte, um mich zu vernichten, rollten seine Augen hin und her, ganz hilflos. Das war so komisch, daß ich in Lachen ausgebrochen wäre, wenn ich dabei nicht so wahnsinnige Angst gehabt hätte. Plötzlich verzerrten sich seine Züge vor Raserei. Er stampfte mit dem Fuß, während die Augen in ihren Höhlen herumrollten, immer rascher, immer rascher. Plötzlich sank er auf seinem Stuhl zusammen, mausetot.

»Du hast ihn ermordet«, hörte ich Hermanns und Johns Stimmen.

Wie in aller Welt konnte er in dieser Weise tot umfallen? Aber da lag sein verzerrtes Gesicht und starrte aus dem Sessel hinauf, bis der Körper sich überschlug und zu Boden fiel. Die Augenlider schlossen sich über den wahnsinnigen Augen, und anstatt dessen begann etwas Schwarzes aus ihnen zu fließen. Es floß und floß, es wuchs zu einem ganzen Fluß an, der sich über den Boden ringelte. Er wurde dicker und dicker! War das Blut? Plötzlich sah ich, daß es kein Blutstrom war, sondern eine Schlange, die sich mit trägen, satten Bewegungen vorwärts ringelte. Die Augen waren opalgrün. Jetzt hob sie den geringelten Oberkörper und kam näher. Ich zitterte vom Scheitel bis zur Sohle. Aus der Ferne hörte ich Hermann rezitieren:

»Laß durch meine Kehle rinnen
Prickelnd feurig Wein,
Und ich will mich nicht besinnen
An Freund Hein.«

Ich machte eine wahnwitzige Anstrengung, um mich aus dem Sessel zu erheben ... Endlich ging es. Ich hatte den Tisch zwischen dem Tier und mir. Rasch, rasch, nur hinaus.

Ich bekam die Türe auf, ich lief, ohne mich umzusehen. Draußen war es stockfinster. Ich bog um eine Ecke nach der anderen, um das Reptil irrezuführen, aber hinter mir hörte ich das leise Zischen seiner Schlängelungen. Mit einemmal merkte ich, daß die dunklen Straßen mit Bäumen bepflanzt waren; große, triefende Äste zeichneten sich vom Himmel ab. Lianen verflochten sich zwischen ihnen und schlangen sich um meine Beine. Dunkelrote Blumenkelche mit langen Fühlfäden flammten im Dunkel unter den Baumstämmen. Was war das für ein eigentümlicher Geruch, den sie verbreiteten? Absinth, süßer, stinkender Absinth! Der Boden unter meinen Füßen wurde weicher und weicher; ich sank bei jedem Schritt ein, und der Schweiß strömte mir aus allen Poren. Mit einemmal plumpste ich in lockeren Morast und hatte den Hals voll von süßem, stinkendem Sumpfwasser – Absinth, Absinth! Hinter mir hörte ich das Rascheln der großen Schlange, die sich durch den Sumpf heranringelte. Ich krümmte mich wie ein Wurm am Angelhaken, um ihr zu entkommen, aber die absinthgrünen Augen waren schon dicht neben mir, und ich fühlte den Gestank ihres Atems – Absinth – – Mich schüttelte ein Grauen, das mich beinahe sprengte, ich wollte in den Fiebersumpf hinabtauchen, um mich zu retten; aber nun wand sie sich um mich – grüngelber Schleim tropfte aus ihren Mundwinkeln – jetzt legte sie ihren platten Kopf an meinen – die kleinen Augen glommen verschleiert – jetzt verging ich –

Was war das?

Eine kühle Hand strich über meine Stirn, jemand in einem weißen Kleid beugte sich über mich und gab mir etwas zu trinken. Ich hörte eine Stimme sagen:

»Die Krise scheint vorüber zu sein. Ich glaube, wir können die Zwangsjacke abnehmen.«

Ich schlug die Augen auf. Das Licht, so matt es war, schnitt mir in die Seele, aber beglückend köstlich. Ich lag in einem abscheulichen Gewand mit weiten Ärmeln da, über mich beugte sich der Doktor und die weißgekleidete Pflegerin. Meine Glieder schmerzten vor Müdigkeit. Ich mußte gekämpft haben wie ein Besessener. Der alte Doktor sah mich einige Augenblicke an, und als er sich zum Gehen wandte, hörte ich ihn murmeln:

»Es würde mir Spaß machen – na also Spaß? – zu wissen, in was für einer Hölle der die letzten zwei Stunden gewesen ist.«


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