Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Morgensonne schien in ein in einem reizvoll altmodischen Stil eingerichtetes, mit hohen Möbeln und Büchern angefülltes Zimmer. Auf den Tischen standen bestaubte Flaschen und Retorten, auch physikalische Instrumente. Der Schreibtisch war bedeckt mit zahlreichem, wertvollem, aber unbenutztem Allerlei, und an den Fenstern hingen einst schöne, aber von der Sonne ihrer Farben fast entkleidete, grünseidene Gardinen.

Niemand war darin; es schien überhaupt nicht mehr bewohnt zu werden; ein einsam ausgestorbener Raum, in dem einst ein stiller, emsiger Mensch gewaltet, den lange die Erde bedeckte.

Das Gemach lag zur Rechten, nach dem Garten hinten, in einem weitläufigen Hause in dem großen, nordischen Dorfe Munke. – Es gehörte einem Arzte, dem Doktor de Fouqué, einem Manne, von dessen stummer Eigenart und abgeschlossenem Wesen, bei größter Hilfsbereitheit, zahlreiche Erzählungen im Umlauf waren.

Ringsum in den Dorfschaften und auf den adeligen Gütern war er als Arzt beschäftigt. Er kam und ging mit seinem kurzen Schritt, schaute den Menschen mit scharfem Blick in die Augen und ordnete an, was geschehen solle. Selten vermochte man ihn zu halten: bei seiner ausgebreiteten Thätigkeit fehlte es ihm an Zeit; aber er war auch kein Mann, der an bloßem Schwatzen Gefallen fand.

Er war klein, beweglich, kleidete sich stets schwarz mit blendend weißer Wäsche, besaß eine gelbliche, lederartige Gesichtsfarbe und erinnerte zufolge der ausgeprägten Gesichtszüge und der stark gebogenen Nase an alte Bilder französischer Adelsfamilien.

Fouqué gehörte auch in der That zu einem sehr vornehmen Emigrantengeschlecht, doch sprach er nie über seine Vergangenheit.

Wie es in seinem Hause aussah, wußten nur sehr wenige. Er ließ die Menschen nicht hineinschauen.

Man erzählte von alten, schönen Sachen in den stillen, kühlen, geräumigen Gemächern und von einer großen Eigenart der Einrichtung überhaupt.

In dem breiten, hochgegiebelten, von der Straße weit zurückliegenden und seitwärts von Tannen umstandenen Hause führte zur Linken die Schwester, Fräulein Margerite Fouqué, ein stilles Leben für sich, oder vielmehr ein Leben für ihn, den Bruder. Er hatte dagegen zur Rechten sein Warte- und das oben beschriebene Arbeitszimmer, und neben letzterem sein Schlafgemach. Wenn er morgens sein Fenster aufstieß, sah er in einen wahrhaft wunderbaren, parkartigen Garten. Koulissenartig von alten, prachtvollen Bäumen eingeschlossen; breiteten sich mächtige Wiesengründe aus, deren Schluß eine hohe, schwarze Tannenwand bildete, in deren stillem Revier sich die rasenumschließenden Wege in der Mitte in einen dunkel versteckten Gang verloren.

Hier und dort tauchten unter den Gruppen der Bäume weiß angestrichene Sitzbänke auf; auch unterbrachen mächtige Silberpappeln, deren Blätter der Wind eine metallschimmernde Farbe verlieh, in wundervollem Gegensatz des Kolorits das satte Grün der Eichen und Buchen.

Dieser ganze Park war von einer hohen Mauer umgeben, überhaupt der Gesamtbesitz durch starke Einfriedigungen von der Außenwelt abgeschlossen. Ein seit der Niederlassung der Geschwister in Munke im Hause thätiger Diener und Kutscher, sowie eine Hausmagd bildeten die Domestiken und gingen Fräulein Margarete Fouqué zur Hand.

An dem heutigen Tage sollte sich etwas für Fouqué's sehr Ungewöhnliches begeben. Der Doktor erwartete die einzige Tochter seines vor kurzer Zeit verstorbenen Bruders, eines Witwers, der in einer Stadt des französischen Südens gleich ihm Arzt gewesen war. Sie sollte fortan bei Fouqué's ihre Heimat finden. Esther Fouqué hatte niemanden auf der Welt außer diesen beiden Verwandten.

Schon in der Frühe hatte der Doktor anspannen lassen und war in die entfernt liegende Stadt Horst gefahren. Deshalb war das Arbeitsgemach, in dem er sonst stets um diese Zeit sich aufzuhalten pflegte und den Dampf aus seiner kostbaren Meerschaumpfeife stieß, leer, deshalb harrten im Vorzimmer vergeblich die Patienten seines Winkes.

Fräulein Fouqué gab sich äußerlich in gewohnter Ruhe, befand sich aber doch in einer starken Aufregung. Ihr Leben erhielt nun einen ganz anderen Inhalt. Sie hatte sich an ein still dahinfließendes Dasein gewöhnt, sich des Verkehrs mit Menschen und jeglicher Abweichung von dem streng eingeteilten Tageseinerlei entäußert. Aber neben dieser Erregung erfüllte ihr Inneres doch eine glückliche Spannung.

Esther sollte blendend schön, aber auch klug und liebenswürdig sein. Ihr Vater hatte ihr eine, in einem französischen Institut vorbereitete, höchst sorgfältige Erziehung angedeihen lassen und sie neuerdings, wenn auch mit vorsichtiger Auswahl, bereits in das ziemlich lebhafte Treiben der Gesellschaft seiner Heimatstadt eingeführt. Und nun sollte sie, die im abwechslungsreichen Süden Verwöhnte, in den schweigsamen Norden auf's stille Land unter die Landbewohner.

Man würde den Versuch machen müssen, sie in die Gutsbesitzerfamilien einzuführen. Vielleicht gelang's, obgleich der Adel sich äußerst zurückhielt, stolz und abweisend war, sowie es sich um bürgerliche, nicht von ihm gleichgeachtete Elemente handelte. –

Noch einmal durchwanderte Fräulein Fouqué das ganze Haus. Sie sah in die drei Wohngemächer zur Linken mit ihren alten glänzenden Möbeln, seidenen Vorhängen, reizvoll gewirkten Teppichen und Blumen, und begab sich nach oben, wo sich ihre eigenen Schlaf- und Ankleidegemächer befanden.

Alles war in lichten, weißen Farben gehalten. Reizvolle Kattunstoffe mit sanften Bouquets hingen an den Fenstern, alles blitzte, und in einer solchen durchsichtigen, sauberen Schönheit strahlten auch die beiden nach dem Garten liegenden, in den letzten Tagen von Margerite für Esther hergerichteten Zimmer.

Und dann durchschritt sie den Hof und überflog mit ihren Augen diesen und die Nebengebäude: den Pferde-, Hühner- und Kuhstall. Nicht ein Grashalm wucherte aus dem Pflaster des geräumigen Platzes hervor; strenge Ordnung herrschte, wohin man blickte, und der Park, in der letzten Woche von Tagelöhnern aus dem Dorfe neu in stand gesetzt, erschien in seiner grünen Pracht wie ein märchenhaftes Eden.

Obschon des Anblickes gewöhnt, war sie heute selbst überrascht, als sie die Thür in dem den Hof von dem Parke trennenden, weiß angestrichenen Staket hinter sich schloß und das Auge über den stillen Fleck Erde schweifen ließ. Regungslos standen die dicht aneinandergereihten, eine undurchdringliche Wand bildenden Riesenbäume: Buchen, Eichen und Tannen, und nur in dem Laube der Silberpappeln, die zwischen ihnen hervorragten, und deren unruhig bewegte, hellschimmernde Blätter sich wundervoll gegen das Dunkel der Umgebung abhoben, regte sich fast immer ein leises, silberblitzendes Leben. Und die hellgrünen Rasen lagen da mit den Resten der Thautropfen des Morgens und sogen, umflossen von der goldig schimmernden Sonne, gleichsam die ersten Wonnen des angebrochenen Tages ein, und drunten verlor sich in geheimnisvoller Schönheit der Weg in dem Schwarz der Fichten.

Das würde Esther erfreuen, das würde sie zu entschädigen vermögen für die Lustbarkeiten der Welt, sicher dann, wenn sie Sinn für die Natur besaß!

So dachte Margerite, als sie die Schritte zurücklenkte.

Und dann, kaum zehn Minuten später, Pferdegetrappel und Peitschenknallen, und dem vor dem Hause haltenden Wagen entstieg mit gewohnter, behender Leichtigkeit Doktor Fouqué und Esther; ein junges, sehr dunkel aussehendes junges Mädchen von berückender Schönheit.

»Ah, mein Kind, wie liebreizend du bist, weit schöner noch als die Bilder, die dein Papa uns sandte!« stieß Margerite heraus und führte ihre bei diesem Lob sanft errötende Nichte mit einem Anflug unterordnender Bewunderung oben in die für sie bestimmten Gemächer.

Aber als Esther sich ihres Reisemantels entledigte, den fein geschnittenen Mund öffnete und in einem entzückend klingenden Fremddialekt zu sprechen begann, sah Margerite erst ganz, mit welcher Fülle von Reizen die Natur ihre Nichte überschüttet hatte. Rasch begab sich Esther sodann in's Ankleidezimmer, und nachdem sie sich vom Staub der Landstraße befreit hatte und nun mit ihrer Tante hinabzuschreiten sich anschicken wollte, zog jene sie noch vorher an eines der Fenster im Wohngemach, schob die Vorhänge zurück, und ließ sie einen Blick hinauswerfen in den in Gold schimmernden Park. Ein wundervoller Anblick!

Der Wald zur Rechten und zur Linken warf lange, mystisch dunkle Schatten auf den sanft dahingestreckten smaragdnen Rasen. Ein stiller Azurhimmel sah von oben herab, und nun eben rauschte ein sanfter Windhauch mit silbernem Flimmern durch die Pappeln.

Über Esther's Lippen drängte sich ein Ausruf höchster Überraschung, aber während eine Art Schauer des Entzückens ihr Inneres erfaßte, einer jener, die uns ergreifen können bei dem Anblick der Natur, überkam sie zugleich ein Gefühl unerklärlicher Unruhe. Ohne daß ihre Phantasie eine greifbare Vorstellung schuf, bemächtigte sich ihrer eine schwere Ahnung, daß sie hier an diesem Orte einmal etwas Furchtbares erleben werde.

Aber der grundlos sich ihr aufdrängende Eindruck war auch nicht bleibend, und jetzt ward sie zudem durch ihrer Tante Anrede von ihren Eindrücken befreit.

Während sie die Treppe hinabstiegen und noch unten eine Weile auf dem Flur verharrten, sagte Margerite weich und vorsorgend:

»Höre, mein Kind! Lasse mich dir gleich etwas mitteilen, was deinen Onkel betrifft, damit du ihn nicht falsch beurteilst und auch dich leichter seiner Eigenart anbequemst.

Er ist sehr schroff, schweigsam und oft unnahbar. Bisweilen sehe ich ihn tagelang garnicht, entweder nimmt ihn seine Thätigkeit in Anspruch, oder er wünscht für sich allein zu sein. Aber trotzdem eines: Es giebt keinen gerechteren, besseren und aufopfernderen Menschen. Er lebt nur für andere und verdient unbegrenzte Liebe und Verehrung.«

Als sie das Eßzimmer betraten, fanden sie den Doktor bereits anwesend.

»Nun Esther? Bist du oben zufrieden? Ich hoffe es! – Sage mir, wenn du Wünsche hast! –« begann er und reichte ihr gütig, aber etwas förmlich die Hand.

»O nein, nein! Ich bin sehr glücklich, bei dir und meiner Tante zu sein!« erwiderte das junge Mädchen, gleich ihm der deutschen Sprache sich bedienend, mit liebenswürdiger Zuvorkommenheit.

Als sie jedoch eine Bewegung machte, ihn zu umarmen, nahm er ihre Zärtlichkeit fast verlegen entgegen und hieß sie unter kurzer Abwehrbewegung neben sich Platz nehmen.

Esther ward dadurch eingeschüchtert. Einmal wollte, trotz der Belehrung von seiten Margerite's, die Befürchtung sie beschleichen, dieses neue Leben werde ihrem Herzen Entbehrungen auferlegen. Aber als sie dann sah, wie gütig er mit Margerite war, wie er selbst dem aufwartenden, in einer roten Livree steckenden Diener Pracht freundlich begegnete, besänftigte sie sich sehr rasch wieder. Auch half ihr ihr Naturell. Ihr Vater hatte oft von ihr gesagt, sie sei ein Engel in Menschengestalt.

* * *

In der Folge schien Doktor Fouqué insofern ganz anderen Anschauungen Raum zu geben, als er eines Tages die beiden Damen aufforderte, sich für die folgenden auf eine größere Reihe von Besuchen einzurichten. Er wählte, da seine Thätigkeit dies besser gestattete, die Nachmittage. An dreien solcher waren sie imstande, den vorzugsweise in Betracht kommenden Familien ihre Aufwartung zu machen.

Darüber, daß er Margerite bisher niemals in die Gesellschaft eingeführt hatte, ließ er sich nicht aus. Daß auch sie noch Ansprüche erhob, oder mit solchen wenigstens vor einer Reihe von Jahren im Leben gestanden – sie hatte jetzt eben die Dreißig überschritten – schien ihm garnicht in den Sinn gekommen zu sein. Sie aber hatte, der sanften Eigenart der weiblichen Mitglieder der Fouqué's entsprechend, nie einen Wunsch geäußert. Wie ihr Bruder, dem sie alles verdankte, den sie zugleich zärtlicher liebte, als irgend sonst jemanden auf der Welt, es wollte, so war's für sie Gesetz.

Die anfänglich gehegte Befürchtung, daß die Familien auf den umliegenden Gütern ihnen mit aristokratischem Hochmut begegnen würden, bestätigte sich indessen nicht.

Sie fuhren vor die Schlösser der Grafen Kalten, Keelbeck, Horst, Löhndorf und Lintrugg; wurden von diesen und von den freiherrlichen Familien von Plön, Wielen, Heide und Westerkamp überaus artig empfangen, fanden bei den reichen, hier auf erworbenen Landsitzen lebenden Hamburgern, den Löhndorf's und Kramer's, Heidkathen und Stellau's eine höfliche Aufnahme und machten endlich am dritten Tage den Schluß bei der gräflichen Familie Kiel auf Moorheide, in deren Hause Doktor Fouqué besonders häufig aus- und einging.

Der alte Graf war ein ungewöhnlich großer und starkknochiger Herr mit einem von einem mehrfarbigen, dünnen Backenbart umrahmten, stark gebräunten Gesicht. Er glich in seiner Erscheinung mehr einem amerikanischen Farmer, als einem nordischen Edelmann. Aber seine Art, sich zu geben und zu sprechen, belehrte jedermann, daß er es mit einem vornehmen, des Herrschens und Gebietens gewohnten Manne zu thun habe.

Seine Frau, eine geborene Gräfin von Munkdorff, eine schlanke, schöne Südländerin, war lebendig, sehr klug, aber namentlich in früheren Jahren so unberechenbar gewesen, daß man an ihrem ganz geregelten Verstande hatte Zweifel hegen können. In der That war ihr Vater auch im Irrenhause gestorben.

Kiel's hatten drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, von denen der älteste, der bisher in der Armee gestanden und sich jetzt ganz dem Gutsgeschäft gewidmet hatte, und Komtesse Eva sich auf Moorheide befanden.

Alle Kiel's waren, als Fouqué's ihre Karten dem Kammerdiener übergaben, im Park. Dieser und ein breiter, von alten Bäumen beschatteter Schloßgraben umgürtete das Haus. Man mußte auch, um an das weitläufige, in schweren Rotziegeln gebaute Schloß zu gelangen, über eine Brücke fahren.

Sämtliche Familienmitglieder und einige bei ihnen zu Gast befindliche Herren und Damen waren bis auf den alten Grafen mit Federballspielen beschäftigt, unterbrachen es aber sogleich, als Fouqué's sich näherten. Auch traten sie ihnen mit besonderer Herzlichkeit entgegen. Das Gespräch zwischen den Damen bewegte sich indessen etwas stockend, und Esther ward auch dadurch befangen, daß der junge Graf Hunck von Kiel, ohne sie ein einziges Mal während der Zeit anzureden, kaum den Blick von ihr wandte.

Überdies verließ Komtesse Eva auf eine Meldung des Kammerdieners plötzlich die Gesellschaft, blieb ganz fort und kam erst zurück, als Fouqué's sich bereits wieder draußen vor dem Parkausgang zur Abfahrt anschickten.

Der Diener knüpfte das Wagenschutzleder fest, alle grüßten, ein Hund bellte, und im Abenddämmerschein – eben war die Sonne im letzten Sinken – flog das Gefährt über die gepflasterte Allee fort und bald dann auf sanfteren Wegen, an Feldern und Hecken vorüber, durch die blühende Landschaft dem Dorfe wieder zu.

Ringsum war ein Friede ausgebreitet, als habe ein Engel der Ruhe die Hand ausgestreckt. Unthätig lag auf den sanft sich verdunkelnden Wiesen das Vieh. Kühe, auch Pferde, vereinzelt emportauchend, grasten nicht mehr, und nur im Osten stieg, noch als letztes Zeichen wachen Lebens, ein fast unheimlich sich abzeichnender Herdrauch empor. Er wälzte sich aus einem hohen Hause, das von alten Bäumen umgeben, dicht vor dem Dorfe Munke lag. In ihm wohnte eine seltsame Persönlichkeit und gerade zu ihr wollte Fouqué noch an diesem Abend.

Fouqué's sprachen unterwegs wenig, fast nichts; ein Austausch über die Erlebnisse fand nicht statt, nur einmal sagte der Doktor, einer Bemerkung seiner Schwester Antwort erteilend, in eigentümlicher Weise sich äußernd:

»Nun, worauf kommt's an? Verlangen in sich zurücklassen! Das ist des Wertes Wesen. Ich denke Kiel's werden ein solches Verlangen empfinden. Die Damen sagten mir viel Artiges über euch, auch die beiden Herren. Es sind prächtige Menschen, da, wo sie lieben – aber auch eigenartige. – Es hat seine Gründe.–«

* * *

Am folgenden Tage benutzte Esther den Vormittag, um sich alles, was sie umgab, näher zu betrachten, als es ihr bisher möglich gewesen war. Sie schritt bis an die Grenzen des Parkes, gewann eine hinter den Tannen sich erhebende Anhöhe, schaute über die wogenden Getreidefelder und grünen Wiesen und auf das reizende hingestreckte Dorf Munke mit seinen von schmucken Gärten umgebenen Häusern und Katen. Zuletzt blieb ihr Auge an dem am Ende des Dorfes hoch emporragenden Giebel des Hauses des Herrn Matthias von Rock haften. So hieß der Inhaber des Gebäudes, das Esther's Aufmerksamkeit schon am Abend vorher erregt und sie zu Fragen veranlaßt hatte.

Und bei der Erinnerung an die ihr von ihrem Onkel gemachten Mitteilungen ergriff sie das Verlangen, sich dieses Haus in der Nähe zu betrachten, die ihre Neugierde weckenden damaligen Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Alles, was sie von Herrn von Rock gehört, hatte sie sehr gefesselt.

Herr Matthias von Rock, ein Mann, der die Vierzig noch nicht erreicht, hatte vor einigen Jahren dieses Haus von den Erben eines adeligen Ehepaars erworben. Er war ein Mann, der die Welt und das Leben wie kaum einer kennen gelernt hatte. Nach eigentümlichen Schicksalen und nach schweren Erfahrungen hatte er sich hier, um Ruhe und Frieden zu suchen, niedergelassen. Die Umgegend nannte ihn den Philosophen von Munke, und sonderbarerweise sprach niemand seinen Namen, ohne den Vornamen hinzuzufügen.

Man sagte nicht, Herr von Rock, sondern stets Herr Matthias von Rock, das hatte sich so eingebürgert.

Was er treibe, hatte Esther ihren Onkel gefragt. Er treibe alles und nichts, und jegliches besorge er selbst. Nur in der Frühe käme auf Stunden eine alte Bäuerin, die seine Gemächer in Ordnung halte.

Ob er keinen Verkehr habe? Ja und nein. Er gehe zu niemandem, aber empfinge jeden, der sich ihm nahe. Bisweilen sei er aber auch für Wochen völlig unsichtbar.

Herr Matthias von Rock sei ein ungewöhnlich unterrichteter, geistvoller Mann, aber eine, in seiner Art sich zu geben, oft sehr sonderbare und eine äußerst unberechenbare Persönlichkeit.

Nachdem Esther sich im Hause mit Staubmantel und Sonnenschirm versehen, machte sie sich auf den Weg. Der Doktor war unterwegs, Margerite hantierte in dem Nebengebäude auf dem Hof; es fehlten noch ein paar Stunden bis zur Tischzeit, und im Hause war's einsam, heiß und still, das Verlangen weckend, in der Natur Zerstreuung zu suchen.

Fast eine Viertelstunde brauchte Esther, um an's Ende des Dorfes zu gelangen. Überall große Bauernstellen mit grasbewucherten Eingangshöfen, aufgeschichtetem Holz, leeren Feldwagen, zurückgesetztem Ackergerät und mit hohen, von stagnierenden Wassern umgebenen Mistbergen, auf denen Hähne einherstolzierten und Hühner gackernd Futter suchten.

Bisweilen stand eine Thür zu den Ställen auf, ein wedelnder Pferdeschwanz war sichtbar, oder der scharfe Geruch von Kühen oder Pferden drang durch die heiße Luft.

Matthias von Rock's Haus war ein hohes, verwittertes Gebäude mit alten Sandsteinverzierungen: Eingeschnitzte, große Urnen in der portalartigen Eichenholzthür und herabfallende Guirlanden über den rundhohen, verhangenen Fenstern weckten in Esther ein Etwas, das sowohl ihren Schönheitssinn, als ihre Phantasie anregte. Sie versetzte sich mit ihren Gedanken in Vorstellungen, wie's drinnen aussehen müsse, und sie wünschte, daß sich etwas Menschliches rege.

Unten an den Fenstern hingen Gardinen; sie deuteten auf Bewohner. Ein schwarzer Hund lag, seitab von der Steintreppe, schlafend im Schatten. Hinter dem Gebäude ward einmal Geräusch vernehmbar. Esther hörte unruhiges Flügelschlagen, den Lärm fliehender Hennen und ängstliches Gackern. Dann war alles wieder still.

Doch nun ward mit lautem, tönendem, gleichsam unheilig wirkendem Geräusch die Thür geöffnet, und in dem Eingang erschien, spähend einen Blick über den sauber gehaltenen, zu Seiten mit mächtigen Eichen bestandenen Vorplatz werfend, ein hoher, stattlicher Mann mit dichtem Bart und energischen Zügen. Er glich in seiner Erscheinung eher einem seekundigen Weltreisenden als einem Landmann; sein Körper strotzte in Kraft und Fülle. Auffallend war Esther sein scharfes, unheimlich durchdringendes Auge. So sehr sonst sein Äußeres anzog, so sehr ward sie dadurch abgestoßen. Freilich blieb dieser Eindruck nicht, als er nun sich ihr näherte. Mit einem Anflug freimütiger Hoheit sich verneigend, sagte er:

»Es mag Sie nicht berühren, daß ich ohne Vorstellung und Einleitung rede. Ich bin Matthias von Rock, ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein von Fouqué zu sprechen?«

Und bevor sie zu antworten vermochte, machte er hierauf eine Bewegung, durch die er den Wunsch ausdrückte, daß sie ihm folgen möge, und führte sie in einen weitläufigen mit zwei mächtigen Eichenschränken besetzten Flur. Zwischen ihnen standen alte, geschnitzte Stühle mit hohen Lehnen, und über ihnen hingen alte Porträts in großen, ovalen Rahmen. Der Fußboden bestand aus schneeweißen und schwarzen Marmorfliesen und trug kein Stäubchen und kein Fleckchen.

Überhaupt trat Esther eine zarte Sauberkeit und ein Geschmack in der Anordnung entgegen, die sie entzückten. Sie herrschte auch in dem Gemach, das sie zur Linken betraten.

Während die Wände mit Bildern und Bücherregalen in Eichenholz besetzt waren, von denen blauseidene Vorhänge herabhingen, stand inmitten des Raumes vor einem großen, dunklen Schreibtisch ein ganz hell bezogener Divan, und ringsum waren einige kleine, eigenartige Möbel plaziert, sodaß gleichsam ein Stübchen für sich in dem Zimmer hergestellt war. Den ganzen Fußboden bedeckte ein chinesischer glatter Strohteppich in anmutig heller Farbe, und seidene, ebenfalls hellblaue Gardinen und Portieren hoben sich gegen dieses zarte Strohgelb überaus reizvoll ab.

In dem Raum duftete es nach Reseden und Nelken. Hohe, schneeweiße Vasen waren mit solchen angefüllt und zierten den mit Büchern, Papieren und allerlei seltenen Dingen bepackten Schreibtisch.

Nach einer kurzen Einleitung sagte Matthias von Rock:

»Darf ich Ihnen etwas anbieten, mein gnädiges Fräulein? Oder gefällt es Ihnen, mein Haus und meinen Garten sich einmal anzusehen?«

Und als Esther, verlegen zustimmend, das Haupt neigte, sagte er:

»Zürnen Sie nicht, wenn ich Sie bitte, Ihren Hut abzunehmen. Sie haben einen für einen Phrenologen so interessanten Kopf, daß ich um die Erlaubnis bitte, ihn untersuchen zu dürfen. Ah, Sie gestatten? Ich danke Ihnen.«

Nun umfaßte er mit seinen beiden weichen, eine eigentümliche Wirkung auf Esther ausübenden Händen ihr Haupt, betastete es und stieß heraus:

»Ein tiefes Herz, wo Sie einmal lieben, seltene Treue und Selbstlosigkeit.

Das ist Ihr innerstes Wesen!«

Hierauf mit einschmeichelnder Artigkeit und den etwas stechenden Blick in einen unendlich freundlichen verwandelnd, fuhr er fort:

»Gefällt's Ihnen hier in Munke? Sie finden sicher zwischen dem heiteren Süden mit seinen lebhaften Menschen und unserem Norden mit seinen einförmigen Fluren und seiner meist bedeckten Luft einen wenig ansprechenden Unterschied.«

Er sprach's in einem Ton, als kennten sie sich Jahre und lächelte sanft-überlegen. Dann aber trat plötzlich wieder das scharf Forschende in seine Mienen, das sie abstieß. Doch überwand sie den Eindruck und sagte, während sie über den Flur in den Garten traten:

»Ich gestehe, daß ich bis jetzt mich in der hiesigen Gegend trotz aller ihrer Schönheiten nicht so glücklich gefühlt habe, wie in meiner Heimat. Diese hat fast immer ein heiteres Gepräge, die nordische Landschaft aber macht mich leicht schwermütig; auch muß man sich an den schroffen Luftwechsel gewöhnen. Aber meine Verwandten begegnen mir mit so viel Güte, daß ich doch nichts entbehre; überdies zieht mich die treuherzige Art der hiesigen Landbevölkerung sehr an. Überhaupt gefällt mir der Bauer fast besser als der Gebildete. Der letztere – es will mir wenigstens so erscheinen – ist, ohne besonders spirituell zu sein, sehr von seinem Wert eingenommen, er ist hochmütig. Der einfache Mann aber besitzt Tugenden und ist dabei sehr bescheiden.«

»Sehr richtig!« bestätigte von Rock.

Und ergänzend fügte er hinzu:

»Ja, es sind nur wenige, die etwas wert sind. Ich möchte Ihnen sogar zurufen, erwarten Sie von allen nur Geringes! – Ich bin sehr erstaunt, daß Ihr Herr Onkel Sie in die Gesellschaft eingeführt hat. Ich fürchte, Sie werden nur Enttäuschungen erleben. – Ich kenne den Stand, zu dem ich gehöre.«

»Giebt's nicht doch Ausnahmen,« schaltete Esther, parteinehmend, ein. »Wir besuchten zum Beispiel die gräfliche Familie Kiel. Von ihnen sagt mir mein Onkel sehr viel Gutes.«

»Ja – ja –« entgegnete von Rock ein wenig ausweichend.

Und dann sich verbessernd:

»Sie würden das sein, was Ihr Herr Onkel von ihnen rühmt, wenn nicht –«

Doch nun brach er wieder ab und schloß:

»Gewiß, gewiß, liebenswürdige, vornehm denkende Menschen. Adelige, die adelig in ihren Gesinnungen und Handlungen sein wollen; insbesondere ist der alte Graf Kiel ein vollendeter Kavalier.«

»Und der Sohn?« schaltete Esther mit einer gewissen Beharrlichkeit ein.

Überrascht sah von Rock seine Begleiterin an. Als er aber ihrem ruhigen Blick begegnete, sagte er:

»Ein trefflicher Mensch, ja sogar ein Mensch mit einem goldenen Herzen, den alle Armen der Umgegend segnen, aber ich halte ihn für krank.«

»In der That? Er macht durchaus nicht den Eindruck. Ich fand ihn nur nicht sehr zuvorkommend; er scheint sehr verlegen.«

»Verlegen wohl nicht!« stieß von Rock, abermals ausweichend, hervor. Und dann: »Bitte, wie gefällt Ihnen die Hinterfront meines Hauses? Schauen Sie sich gütigst einmal um.«

Ein überaus reizvoller Anblick bot sich Esther. Fast die ganze Wand war bedeckt mit üppigem, dichtem Epheu, dazwischen tauchten rosig angehauchte Monatsrosen auf. Kräftige Schößlinge drängten sich unter den Blättern des ersteren hervor, ohne daß man ihren Ursprung, ihre Stämme zu entdecken vermochte.

»Sonst erdrückt der Epheu alles, was sich neben ihm erheben will!« sagte von Rock. »Er ist ein langsam vorgehender, aber sicher sein Terrain sich erobernder Herrscher. Der Schönheit der Rosen, wenigstens dieser halbwilden, aber vermag er, wie es scheint, nicht zu widerstehen. Wie vor der Schönheit der Frauen die trotzigsten Männer sich beugen, so er vor dieser Anmut. In dieser stillen, einförmigen Welt sind auch Sie, mein Fräulein, plötzlich aufgetaucht als ein überaus schönes, anmutiges Bild. Wie freue ich mich, daß sie das Schicksal in unseren Winkel verschlagen hat.«

Aber als Esther befangen und sogar ein wenig betroffen durch diese unvermittelte Artigkeit seinen Worten durch eine ernste Miene begegnete, glitt ein sanft überlegenes Lächeln über sein Angesicht, und er sagte, ihren Gedanken Antwort erteilend:

»Ah, fürchten Sie nichts, mein Fräulein. Ich weiß die Gesetze der Gastfreundschaft zu respektieren. Und im übrigen: Was ich sprach, war ehrlich, frei von jedem Nebengedanken und von unpassenden Wünschen. Selbstverständlich!«

Nun errötete Esther, sah empor und suchte ihn durch einen guten Blick zu versöhnen.

* * *

Die erste Einladung, die Fouqué's erhielten, erfolgte von Kiel's auf Moorheide.

Der Graf schrieb, daß er einige Freunde zum Mittagessen eingeladen habe, besonders aber rechne seine Frau und er auf das Erscheinen der Familie Fouqué. Er habe einen Sonntag gewählt, weil dieser, wie er annähme, dem Doktor am genehmsten sei. –

Diese artig gehaltene Einladung meinte auch Margerite, die im allgemeinen sich zurückhalten und Gesellschaften ausweichen wollte, nicht abschlagen zu dürfen, und so rüsteten sich denn Fouqué's an dem festgesetzten Tage gegen zwei Uhr mittags zur Abfahrt. Kurz vor dieser, als auch der Doktor bereits den Wagen bestiegen hatte, erschien noch ein Bauer, der sich die Hand gequetscht hatte. Fouqué untersuchte sorgsam das verletzte Glied, gab dem alten Manne genaue Maßregeln und hieß ihn, wenn die Schmerzen nicht nachließen, noch am Spätabend einmal wiederkommen.

Er war freundlich, aber kurzer Art, und brach, als der Bauer anhob, sich nach der Zeit und sonstigen Umständen zu erkundigen, mit den Worten ab:

»Na, wenn Sie den Verband auflegen, wie ich Ihnen sagte, werden Sie die Nacht noch nicht sterben. Kommen Sie also, wenn's nicht passen will, lieber Montag in der Frühe wieder zu mir!«

Esther mit ihrem weichen Herzen wollte diese etwas schroff gehaltene Abfertigung stören, aber als sie sah, wie der Bauer die Antwort hinnahm, war sie beruhigt.

Der Doktor jedoch sagte, als ob sie sich laut geäußert habe und während das Fuhrwerk dahinflog:

»Ja, der hatte Humor! Der lachte trotz seiner Schmerzen. Aber das ist selten. Sie nehmen alles hier sehr ernst. Andererseits aber spielen sie auch niemals die Weichmütigen und fügen sich in die Dinge, so wie der Himmel sie ihnen sendet.«

Nach diesen Worten richtete er noch einen freundlichen, für das lange Schweigen, das nun folgte, gleichsam ihre Nachsicht im voraus einholenden Blick auf seine Nichte, wandte den Kopf der Gegend zu und blieb auch stumm, bis sie Moorheide erreichten.

Zum Glück fand Esther bei Margerite mehr Aufmerksamkeit. Sie ging mit großer Liebenswürdigkeit auf alle Fragen ein, die sich auf Esther's Lippen drängten. –

Esther fand ihre Erwartungen bei dem Aufenthalt in Moorheide bei weitem übertroffen. Sie traf diesmal auch den zweiten Sohn, den Grafen Erwin, einen Lieutenant der Husaren anwesend. Er zeichnete sie schon vor Tisch in auffallender Weise aus, während der Älteste, Hunck, sich sehr zurückhielt.

Nachdem sich im ganzen dreißig, aus den vornehmsten Familien der Umgegend gewählte Gäste in den prachtvollen Empfangsräumen des Schlosses versammelt hatten, begab man sich auf ein von dem Kammerdiener erfolgtes Zeichen in den sogenannten Rittersaal, einen in Gold und Weiß gehaltenen, lediglich mit den Porträts der Kiel'schen Vorfahren geschmückten großen Raum und nahm an einer wahrhaft fürstlichen Tafel Platz. Anfänglich machte sich eine etwas vornehme Steifheit breit, aber mit dem Fortschreiten des Diners löste sie sich gänzlich, und am Ende herrschte eine fast ausgelassene Stimmung, die namentlich durch die Gräfin, die wunderbar schön aussah und sich in einer bezaubernden Laune befand, gefördert ward.

Endlich, nach dreistündigem Tafeln, erhob man sich, und Graf Hunck, Esther's Tischherr, der sich anfänglich stumm verhalten, dann aber sich wieder in sehr anregender und zuvorkommender Weise mit Esther unterhalten hatte, bot ihr den Arm zum Eintritt in den Wintergarten. Es war ein mit seltenen Bäumen und Gewächsen angefüllter, hallenartiger, mit einem hohen Glasgewölbe versehener Raum, in dem die Gäste sich verteilten und den Kaffee einnahmen.

Aber während nun hier die angeregte Gesellschaft, ihre vis-a-vis tauschend, lebhaft weiter schwatzte, näherte sich Hunck, der eine große Unruhe schon vorm Schluß der Tafel an den Tag gelegt hatte und zuletzt rastlos hin und her gewandert war, seinem Bruder Erwin.

Er forderte ihn auf, ihm zu folgen und ihm kurze Zeit Gehör zu schenken.

»Nun, mein liebster Hunck, was ist?« begann Erwin, schlang seinen Arm zärtlich um seines Bruders Schulter und schritt, den nächstliegenden Raum wählend, mit ihm in den Rittersaal zurück. Aber statt zu antworten, trat Hunck, nachdem er zunächst die Thüren verschlossen, mit hastigen Geberden auf den noch unabgeräumten Speisetisch mit seinen funkelnden Silberaufsätzen und sonstigem, jetzt in buntem Durcheinander dem Blicke sich bietenden Schmuck an reichem Tafelgeschirr, Blumen, Flaschen und Pokalen, zu, griff nach einem Glase, schenkte sich roten Wein ein und leerte es auf einen Zug. Und dann stürzte er auf seinen ahnungslosen Bruder zu und packte ihn an die Brust.

»Ich wollte dir nur sagen, daß ich dich wie eine Schierlingspflanze zertrete, wenn du mir bei dem Fräulein Fouqué in den Weg kommst. Hörst du?« schrie er heiser und mit den Geberden und Mienen eines Geistesgestörten.

Und als Erwin sich voll Entsetzen von ihm löste, ergriff er ein Tischmesser und drang mit den Worten: »Nun willst du verzichten oder nicht?« nochmals wie ein Rasender auf ihn ein.

In derselben Sekunde aber wußte auch Erwin, geschickt ausweichend, eines der auf dem Tische liegenden Stahlmesser zu erhaschen und zückte es gegen seinen Bruder. So standen sie, der eine, ergriffen vom Wahnsinn, der andere in Notwehr, einander gegenüber.

In diesem Augenblicke wurde an der Thür gerüttelt und laut geklopft. Nun wich Hunck, erschrocken hinhorchend, zurück. Aber noch mehr! Plötzlich löste sich der Irrsinn in seinem Gehirn. Das Messer von sich werfend, stürzte er an seinem Bruder nieder, umklammerte seine Kniee und flüsterte flehend:

»O, sei gut, sei gut, mein teurer Erwin. Ich liebe dieses Mädchen leidenschaftlich. Hilf mir, mein Bruder, und vergieb mir, was ich eben in sinnloser Erregung that.«

Und da beugte sich Erwin herab, hob Hunck empor und sagte, sichtlich einen ungeheuren Kampf bestehend, aber sanft und zärtlich:

»Ja, mein teurer Junge, wie du willst, soll es geschehen. Ich verspreche dir, deinen Wunsch zu erfüllen. Aber wie konntest du dich so aufregen? Was ist dir? Bist du krank? Noch nie sah ich dich so heftig. Ja, ja du bist sehr krank. Ich bedaure dich tief. Es ist das alte Leiden unserer Mutter. Gütiger Gott, hilf uns –«

Nachdem Hunck in Verfolg dieser Worte Erwin mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit umarmt hatte, sank er auf einen Stuhl nieder und bedeckte mit den Händen sein Antlitz.

In diesem Augenblick hörte man an der anderen Thür rütteln, und dann des Grafen kurz befehlende Stimme:

»Seid Ihr drinnen? Was soll's? Öffnet sogleich!«

Rasch sprach Erwin auf seinen Bruder ein, flüsterte ihm zu, sich zu beherrschen: sie würden erklären, daß Hunck ein Unwohlsein ergriffen, das er, Erwin, durch geeignete Mittel beseitigt habe, und eilte auf die Thür zu.

Wenige Minuten später befanden sich beide wieder unter den Gästen und mit Mienen, als sei nichts geschehen. Ja, Hunck war in der Folge ausschließlich um Esther und zeigte so deutlich sein Interesse für sie, daß in den Reihen der Anwesenden bald lächelnd darüber gezischelt ward.

Einmal bemerkte Hunck, daß Erwin's Augen starr auf sie gerichtet waren, und es flammte in ihm auf.

Auch Esther, die es sah, fuhr zusammen, und unruhige Gedanken bemächtigten sich ihrer. Aber andere Eindrücke beim Wein und Tanz, welcher letzterer bald folgte und bis weit über Mitternacht anhielt, nahmen ihre Sinne völlig gefangen. –

Endlich, gegen drei Uhr morgens, flog das Gefährt, stumm in sich gekehrte Insassen bergend, dem stillen Dorfe Munke zu.

* * *

Dieses erste Hinaustreten in die Gesellschaft gab Esther Fouqué's Gedanken eine andere Richtung. Zum erstenmal schoben sich die Erinnerungen an die Heimat mehr in den Hintergrund. Wenn bei den bisherigen Erwägungen ihr Verstand das Wort geführt, der ihr bei dem Heimweh, das sie erfaßt, gesagt hatte, es habe sich nun einmal ihr Schicksal anders gestaltet, als sie es gehofft und vorausgesetzt, sie handle nur weise, wenn sie mit dem, was unerwartet eingetroffen, sich nach bester Möglichkeit abfinde, so sprachen jetzt auch andere Stimmen. Sie hielt sich vor, wie viel Liebe ihr hier entgegengetragen wurde, welchen Lebenszufällen sie würde ausgesetzt worden sein, wenn ihre Verwandten sich ihrer nicht angenommen hätten. Es fehlte ihr nichts. Man ließ sie ganz gewähren. Nirgend übten der Doktor und Margerite einen Zwang auf sie aus; ihr war im Gegenteil jede Freiheit gewährt: wie sie sich ihren Tag einteilen, ob sie im Hause eine Thätigkeit aufnehmen, sich auf ihrem Zimmer beschäftigen, oder in die Natur hinausgehen wollte. Und ihres Onkels Schweigsamkeit störte sie nicht mehr. Sie fühlte, daß er sie lieb hatte, und wußte von Margerite, daß er geäußert hatte, er sei glücklich, daß sie im Hause sei um seinet- und Margerite's willen!

Welche Hoffnungen wohl ihr Onkel an die Zukunft knüpfe, darüber kamen Esther bisweilen Gedanken.

Arbeit, Pflichterfüllung bildeten den Inhalt seines Lebens. Aber jeder Mensch steckte sich noch ein geheimes Ziel! War er so unermüdlich thätig, um die Früchte seines Fleißes dermaleinst in Ruhe genießen zu können? Oder hatte er Geschmack am Gelderwerb?

Niemals schienen seine Gedanken ausschließlich bei seiner Familie zu sein. Als Esther sich gegen ihre Tante darüber einmal äußerte, erwiderte Margerite, sich auf eine allgemeine Betrachtung beschränkend:

»Was soll ein Mensch anderes wünschen, als gesund und genußfähig zu sein! Wenigen ist ein Leben geschenkt, das noch Abwechselungen und besondere Freuden bietet. Du hattest es bisher, und möge das Schicksal es dir erhalten!«

Solche auf weise Beschränkung gerichtete Philosophie wirkte auf Esther's Seele. Vieles, was sie vordem gedacht, erschien ihr jetzt in einem veränderten Licht.

Sie hatte auch früher Pflichten kennen und üben gelernt, aber während der letzten Jahre waren ihre Sinne und Gedanken doch meist auf fröhlichen Lebensgenuß gerichtet gewesen, und sie hatte stillschweigend angenommen, er gehöre zum Dasein.

Hier, bei ihren Verwandten, war's anders, wenigstens anders gewesen! Esther trat vor Augen, welches Opfer ihr Onkel ihr gebracht, indem er sie in die von ihm bisher gemiedene Gesellschaft eingeführt hatte. Endlich gedachte sie auch ihrer Begegnung mit Matthias von Rock. Für ihn empfand sie ein lebhaftes Interesse. Er war eigentümlich, aber sein Wesen hatte für sie etwas überaus Anziehendes. Rock war wie Doktor Fouqué ein Philosoph, aber sein Geist war lebendiger, und sein Allgemeinwissen schien umfassender.

Esther hatte Margerite von ihrem Zusammentreffen mit ihm erzählt, auch erwähnt, daß er ihren Kopf betastet habe, was er ihr gesagt, aber aus Bescheidenheit verschwiegen.

»Ja, er ist seltsam!« hatte sie erwidert, ohne sonst eine Meinung abzugeben. Und dann: »Bei ihm hättest du erst vollends ein Recht zu fragen, welches Lebensziel er verfolgt? – Ich glaube indessen nichts Besonderes! Er will ein gesundes, ruhiges Leben führen und sich durch seine Beschäftigung die Freuden verschaffen, die er als Freuden betrachtet.

»Übrigens muß ihn ein geheimes Leid quälen,« hatte sie geschlossen. »Man sagt, daß Rock, wenn er, wie oft, wochenlang unsichtbar bleibt, in schwerer Melancholie daniederliegt und nur in solcher Ruhe das Gleichgewicht seines Inneren zurückzugewinnen vermag.«

»Meint Onkel das auch?« schob Esther ein.

Margerite bejahte. –

Zuletzt gedachte Esther ihres Aufenthalts bei der Familie Kiel. Hunck war ganz aus seiner Zurückhaltung herausgetreten. Esther hatte in ihm einen ungewöhnlich liebenswürdigen Menschen gefunden, auch mehrfach Äußerungen gehört, aus denen hervorging, daß er bei allen in höchster Achtung stand.

Man bezeichnete ihn als einen selten vortrefflichen Menschen.

Aber auch Erwin zog sie außerordentlich an.

Daß Erwin sich schließlich ganz von ihr zurückgezogen, reizte sie, obschon sie – mit genügender Einsicht ausgerüstet – die Gründe zu durchschauen glaubte. Da jener sie ganz in Anspruch genommen, hatte Erwin's Stolz ihn abgehalten, sich ihr ferner zu nähern. Doch regte sich, als Esther an den Schluß ihrer Betrachtungen anlangend, sich fragte, ob sie den beiden jungen Kiel's ein mehr als oberflächliches Interesse eingeflößt habe, eine Stimme, die entschieden verneinte. Die Herren hatten sich mit ihr beschäftigt, weil sie nichts Besseres gehabt, weil diese neue Erscheinung vorübergehend ihr Auge angezogen. Wie sollten auch junge Lebemänner, wie die Grafen Kiel, besonderen Anteil an ihr nehmen? Erwin blieb zudem nur wenige Wochen und kehrte dann in die Garnison zurück.

Diese Auffassung, die teils ihrer wirklichen Überzeugung entsprach, teils Beschwichtigung für das war, was in ihr lebhaft geworden, wurde aber widerlegt, als zwei Tage später Hunck in einem mit zwei feurigen Vollblut-Pferden bespannten Wagen bei Fouqué's vorfuhr und einen längeren Besuch abstattete.

Eine derartige Visite war ein so ungewöhnliches Ereignis, daß Margerite sogar eine starke Befangenheit nicht zu verbergen wußte und auch eine gewisse Unbeholfenheit an den Tag legte.

Graf Hunck, ein aristokratisch aussehender, kraftvoll gewachsener Mann mit vollem, lichtem Bart, gab sich, zugleich vollendete Manieren an den Tag legend, dagegen höchst unbefangen und erklärte sein Erscheinen durch den Umstand, daß er Fräulein Fouqué versprochen habe, ihr ein Gedicht von Béranger herauszusuchen und mit dem Inhalt bekannt zu machen. Der Einfachheit halber komme er, um es selbst zu bringen.

Als Esther, nach einem kleinen Imbiß, mit ihm über den Hof in den Garten trat, äußerte er ein unbegrenztes Entzücken bei dem Anblick des Parks.

»Das ist ja märchenhaft,« hub er an und blieb in staunender Überraschung am Eingang stehen.

»Und einen so schönen Punkt giebt es in unserer Umgegend, ohne daß man davon weiß. Nie hat uns Ihr Herr Onkel davon erzählt. Aber das sieht ihm ganz ähnlich!«

Darauf durchwanderte Esther mit dem Grafen den Garten in seiner ganzen Länge, bis endlich das Gehölz ihre Schritte hemmte. Der kühle, heimliche Weg, bedeckt mit weichen Tannennadeln, spärlich durchleuchtet von den Lichtern der Sonne, aber dadurch nur noch reizvoller und geheimnisvoller, that sich vor ihnen auf.

Als Graf Hunck unwillkürlich inne hielt, sagte Esther, eine gewisse Scheu abstreifend:

»Macht es Ihnen Vergnügen, einmal auf die Höhe zu steigen, Herr Graf? Man genießt oben eine herrliche Aussicht! Oder wünschen Sie zurückzukehren?«

Während Graf Kiel antwortete, warf er einen Blick auf seine, gerade die Augen abwendende Begleiterin. Sie sah bezaubernd aus.

Ein gestreiftes Sommerkleid in sanften rosa Farben, besetzt mit weißen Stickereien an Hals und Ärmeln, umschloß die reizende Gestalt mit dem dunkeln Kopfe. Auf diesem aber trug sie einen, ebenfalls mit weißen Spitzen besetzten, breitgerandeten Strohhut, der ihr wundervoll stand und den jungfräulichen Zauber ihrer Erscheinung noch besonders erhöhte.

Er fand sie so schön, daß er Mühe hatte, an sich zu halten. Doch gab er in anderer Weise seinen Empfindungen Ausdruck.

»Auch mein Bruder läßt sich Ihnen sehr empfehlen,« hub er an, während sie den dunklen Tannenweg durchschritten. »Er wollte ursprünglich mich begleiten. Aber mir war's schon angenehmer so –«

»Sie meinen? Herr Gras?«

Unwillkürlich stieß Esther die Worte heraus.

»Nun, ich hätte nicht so viel von Ihnen gehabt, Fräulein von Fouqué! Ich sehnte mich aber sehr danach, wieder in Ihre Nähe und allein in Ihre Nähe zu gelangen.«

»Ah – ah –« machte Esther kurz, und über ihr feines Gesichts flog der Widerschein ihrer gestörten Empfindungen.

In Hunck's Angesicht trat ein befangener Ausdruck. Er faßte mit der Linken den vollen Knebelbart, drehte ihn hin und her und stieß dann heraus:

»Kann es Sie wirklich verletzen, daß ich mein Interesse für Sie in solcher Form an den Tag legte? Hätte ich zu kommen gewagt, wenn mich nicht das unbezähmbare Verlangen fortgerissen hätte, Sie wiederzusehen? Was mißfiel Ihnen an meinen Worten? Daß ich sie sprach, die Form oder der Ort –?«

Überrascht durch seinen Freimut, schoß Esther ein glühendes Rot in die Wangen, ihre Büste hob sich ungestüm, und ihre Augen senkten sich.

Dann aber das Haupt langsam emporrichtend, sagte sie weich – und nun eben hatten sie die Spitze der Anhöhe erreicht –:

»Ich dachte, Herr Graf, die Zeit unserer Bekanntschaft sei zu kurz für solche Worte. War ich im Unrecht, so vergeben Sie mir! Ich wollte Sie nicht kränken.«

In Hunck's Gesicht blitzte es auf. Ihre Rede bewies, welch ein feinfühlendes Geschöpf sie war; er fand in ihr, was er suchte. Als er jedoch eben anheben wollte, diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen, die Empfindungen, die ihn beherrschten, stärker zu bekräftigen, machte sich in dem Gebüsch zur Rechten ein Geräusch vernehmbar, und Doktor Fouqué, schwer atmend und leicht gerötet, trat von unten aus dem Gebüsch hervor.

Ein nicht sehr zuvorkommender Ausdruck erschien in seinem Gesicht, als er plötzlich die beiden jungen Leute vor sich sah; Hunck's ehrerbietigen Gruß erwiderte er zwar höflich, aber sein starkes Befremden durchaus nicht verbergend. Eine peinliche Pause trat ein, die Esther durch ein rasch aufklärendes Wort herabzumindern versuchte.

Nun sprach der Doktor in artigerer Weise, und einer Bewegung, die er zum Hinabschreiten machte, folgend, trat Hunck an seine rechte Seite; zur Linken schritt Esther mit stillem Blick, zuhörend, was die beiden Männer redeten.

Der Doktor fragte kurz nach den Mitgliedern der Kiel'schen Familie, wann Hunck vom Hause sich entfernt habe, ob er geritten sei, oder im Fuhrwerk gekommen.

Dann sagte er nichts mehr, weckte vielmehr durch sein stummes Einherschreiten abermals peinliche Eindrücke, und überließ es Esther, nunmehr den Gast wieder zu unterhalten.

Absichtlich äußerte Hunck im Laufe des Gesprächs, daß er hoffe, die Damen am Schlusse der Woche in Moorheide zu sehen. Man habe vor, ein Fest im Freien zu arrangieren, später sollte musiziert und auch wieder ein wenig getanzt werden.

»Sie lieben Musik? Fräulein von Fouqué? Natürlich! Die Frage erscheint fast überflüssig,« schloß Hunck abbrechend, da Esther, statt zu antworten, einen verstohlenen Blick auf ihren, jetzt eine noch fast abweisendere Miene hervorkehrenden Onkel richtete.

Dabei zugleich aber bemerkend, wie sehr Hunck durch das karge Wesen des Doktors berührt ward, nahm sie in rascher Rücksicht das Wort und sagte, zwar einer Antwort auf die Einladung auch jetzt noch ausweichend, ihn aber durch eine Bewegung über den Grund ihres vorläufigen Schweigens verständigend:

»Ja, Herr Graf, ich bin eine große Verehrerin von Musik und spiele selbst. Schon seit meiner frühesten Jugend empfing ich Unterricht. Ich erlernte sogar zwei Instrumente, Klavier und Violine –.«

»Wie? Du spielst?« fiel nun der Doktor überrascht ein. »Und wir haben dich noch nicht einmal gehört! Freilich, wie haben dich nicht einmal gefragt!« berichtigte er sich und sah seine Nichte mit einem warmen Blick an. Und seine Rede schließend:

»So? So? Klavier und Violine!? Da wollen wir doch gleich eins anschaffen. Und eine Violine? Du hast sicher eine mitgebracht, Esther?«

Esther nickte. »Ich danke, es ist zu viel der Güte, mein lieber Onkel,« fügte sie bescheiden hinzu und weckte durch ihr liebenswürdiges Wesen in Hunck abermals unruhig sehnsüchtige Gefühle. Er entdeckte immer neue gute Eigenschaften an ihr.

Jüngst bei dem Fest hatten alle Anwesenden, die musikalisch waren, etwas zum besten gegeben. Sicherlich hätte sie also mit ihrem Talent glänzen können, wie keine andere, aber sie gehörte zu denen, die ihre Vorzüge nicht auf den Markt tragen.

Sodann ergriff Hunck die Gelegenheit, das Gespräch wieder auf seine Einladung zu lenken und sagte, sich direkt an den Doktor wendend:

»Ich erlaubte mir vorher die Frage, ob wir das Vergnügen haben dürften, Sie alle am Sonnabend bei uns zu sehen. Da ich eben höre, daß das gnädige Fräulein selbst spielt, sogar Violine, so bitte ich, auf Ihr Kommen um so sicherer rechnen zu dürfen, verehrter Herr Doktor. Jedenfalls –«

»Sehr – sehr freundlich, Herr Graf!« fiel der Doktor ihm in die Rede. »Wenn Sie gestatten, werden wir Ihnen darüber noch Nachricht zukommen lassen. Abgesehen davon, daß ich jedenfalls meine Schwester sprechen muß – Sie wissen, wir sind sehr einhäusige Menschen – liegt bereits ein Hinderungsgrund vor, den ich schwer zu beseitigen vermag.«

Und emporsehend und dem ungläubigen Ausdruck in dem Gesicht des Grafen begegnend, erhärtete er die Wahrscheinlichkeit seiner Erklärungen, indem er mit größerer Zuvorkommenheit im Tone als bisher hinzufügte:

»Ich habe, und zwar zum erstenmal gerade zum Sonnabend, Herrn Matthias von Rock eingeladen. Aus diesem Grunde schon muß ich um Ihre Nachsicht bitten, Herr Graf.«

Hunck schien jetzt den Worten des Doktors Glauben zu schenken, er machte wenigstens eine mit einem »Selbstverständlich« eingeleitete höfliche Gegenäußerung. Auch schritt er, da sie nun eben an das Hofstaket gelangt waren, voran, öffnete die Thür, trat, sich bescheiden verneigend, zurück und bot dem alten Herrn den Vortritt. –

Durch alle diese Vorgänge ward Esther in sehr entgegengesetzte Stimmungen versetzt, aber sie nahm unbedingt für Hunck Partei.

Sie mußte einräumen, daß der Doktor Hunck nur mit knapper Höflichkeit behandelt, daß dagegen Hunck nicht einen Augenblick den Mann von Erziehung verleugnet hatte.

Indessen fand Esther zu ihrer Betrübnis keine Gelegenheit, sich mit Hunck noch einmal auszusprechen, oder ihm sonst noch einmal an den Tag zu legen, wie sehr sie auf seiner Seite stand. Margerite bat den Gast bei seinem Wiedereintritt in's Haus zwar in der artigsten Weise noch ferner dazubleiben, aber der Doktor, der sich unter kurzer Verständigung in sein Zimmer begeben, erschien nicht so rasch wieder, und so trieb Hunck ein starkes Gefühl von Unbehagen fort.

Als er bereits Abschied genommen hatte und schon in der Thür stand, kehrte der Doktor mit beschäftigter Miene zurück, erklärte, daß Patienten in seinem Vorzimmer säßen und entschuldigte die Verzögerung. Er war jetzt äußerst liebenswürdig, aber – und dies war Hunck mehr als auffallend – er kam nicht wieder auf die Einladung zurück. War's Absicht oder Vergeßlichkeit? Diese Frage und alles damit im Zusammenhange stehende nahm Hunck's Gedanken während der ganzen Rückfahrt ausschließlich gefangen. Bisweilen glaubte er sich zu dem Schlusse berechtigt, daß überhaupt keine Absicht vorliege; der Doktor war eben ein Mann, der vieles in den Kopf zu nehmen hatte. Dann aber kamen ihm doch wieder Bedenken und zwar schwere. Er gelangte zu der Überzeugung, daß der Doktor nicht nur seine Absichten auf Esther durchschaue, sondern ihnen ein ausgesprochener Gegner sei.

Und diese Gegnerschaft – Hunck ließ das Haupt tief herabsinken, und ein mutloser und schwermütiger Ausdruck stahl sich in seine Züge – war berechtigt! Der Mann ließ die Erinnerungen zurückgehen in die Zeit, die hinter ihm lag:

Schon als Knabe hatten ihn plötzlich Wutanfälle ergriffen und höchst sonderbare Vorstellungen seine Seele beunruhigt.

Auch später auf der Universität und während der Militärzeit war er nicht frei von solchen Störungen gewesen, ihrer aber, der Flüchtigkeit seiner Krankheit entsprechend, rasch und auch eher Herr geworden, weil er unter der ihn peinigenden Furcht gestanden hatte, daß die Menschen deren tieferen Charakter erkennen würden.

Nur einen einzigen Menschen gab es neben seinem Bruder Erwin, von dem er sicher wußte, daß er ihn durchschaute. Der besaß ein so scharfes Auge, daß er den Menschen in die geheimsten Winkel der Seele zu dringen vermochte, und dieser eine war Fouqué.

Er hatte bei keiner Konsultation, wie solche im Laufe der Jahre wiederholt bei Unpäßlichkeiten erfolgt waren, unterlassen, besondere Nebenfragen zu stellen, nicht solche, denen eine tiefere Bedeutung für den oberflächlichen Beobachter beigelegt werden konnten, die aber für Hunck durchaus verständlich waren.

Es trat hinzu, daß das frühere excentrische Wesen der Gräfin allgemein bekannt war, daß man von dem Ende ihres Vaters wußte. Von ihnen einen Schluß auf die Kinder zu ziehen, lag für den Arzt nur zu nahe.

Und nun hatte das Schicksal es gerade gewendet, daß Hunck von einer leidenschaftlichen Liebe für die Nichte des Mannes erfaßt worden war, der um sein trauriges Geheimnis wußte! –

Bisher hatte Hunck noch immer Zeiten gehabt, in denen er der Hoffnung Raum gegeben, der Doktor setze nur eine geistige Störung bei ihm voraus, er sei nicht davon überzeugt.

Jetzt schien er sich in dieser Hinsicht keinen Zweifeln mehr hinzugeben, und gegenüber solcher Erkenntnis entwickelte sich bei Hunck der Entschluß, eine Klarstellung mit dem Doktor sobald als möglich herbeizuführen. Er wollte Esther unter allen Umständen zu ehelichen suchen. Seit er sie liebte, verdeutlichte er sich zwar nicht weniger, daß ihn eine erbliche Krankheit beherrsche, nicht aber, daß sie einen bedenklichen Charakter besaß. Er glaubte jetzt, was er hoffte. Freilich war noch eins zu berücksichtigen. Es war sogar die Hauptsache. Er machte Pläne ohne im geringsten sicher zu sein, ob das schöne Mädchen ihn liebte – –?

* * *

Das Schloß in Moorheide war so eingerichtet, daß sich sämtliche Gesellschaftsräume unten nach der Parkseite befanden, während die nach vorn belegenen Gemächer zur Rechten dem täglichen Gebrauch der Gräfin, die zur Linken dem Grafen dienten.

Das Schloß oben enthielt Schlaf- und Fremdengemächer, und in dieser befanden sich auch die von den Kindern bewohnten Zimmer.

Unten im Parke, im Thale, aber stand noch ein Schlößchen und zwar das ursprüngliche Herrenhaus, ein von Epheu und wilden Rosen umschlungener, entzückender Besitz, dessen Hinterfenster nach den großen Wiesen gingen, von denen man eine wundervolle Aussicht in das gesenkte, weit ausgebreitete, von Wald umschlossene Areal genoß.

Das zweistöckige Haus glich vermöge seines Baues, seiner Umgebung und der mächtigen Hirschgeweihe, die an den Außenwänden befestigt waren und unter dem grünen Epheu sich hervorstreckten, mehr einem Jagdschlößchen, als einem bewohnten Herrensitz. Einen besonderen Eindruck empfing man von dem idyllischen Bau, wenn man einen am Parke sich hinschlängelnden Fahrweg beschritt.

Vor dem tief zurückgebauten, mit einem reizenden Vorplatz versehenen Landpalais hoben sich weiße Bänke und Tische gegen das Grün des Laubes anmutvoll ab. Überhaupt fanden sich diese Farbengegensätze überall, da auch die Fenster und die etwas niedrige Thür eine hellweiße Farbe trugen.

Man empfand den lebhaften Wunsch, sich hier niederzulassen. Es war ein Bild aus vergangener Zeit. Man suchte nach alten Leuten und behaglich zufriedenen Gesichtern: ihn mit der langen Pfeife, sie mit der Handarbeit, zu ihren Füßen den Haushund.

Ein Anblick des Friedens, der Ruhe, der Sorglosigkeit inmitten einer reichen, stillen und vornehmen Welt!

Das Gebäude war im Innern noch vollständig eingerichtet. Man benutzte es als ein Logirhaus für die über Nacht bleibenden Gäste.

»Es kann vielleicht einmal einem von euch Kindern als Wohnsitz dienen,« hatte der Graf seinerzeit gesagt, »oder wir räumen in unseren alten Tagen das Feld und ziehen dort wieder ein.«

So war denn das Ganze belassen, wie's ursprünglich gewesen war.

Alle Thüren waren auch im Innern weiß gemalt mit matten, goldenen Verzierungen, und alle Wände trugen helle, geblümte, zarte Tapeten in Schönheitsmustern, wie sie die Neuzeit nicht mehr hervorbringt.

Da Hunck sich vorgenommen hatte, seinen Wohnsitz hier aufzuschlagen, wenn er einmal heiraten sollte, so nahm er, immer nur gegenwärtig von dem einen Gedanken in Anspruch genommen, am folgenden Vormittag den Weg dorthin. Er hatte seit seiner diesmaligen Rückkehr das Haus noch nicht wieder besucht.

Bei seinem Drange, sich ganz seiner Beschäftigung mit Esther hinzugeben, zog's ihn überdies heute besonders zu diesem schönen, einsamen, das Gemüt besänftigendem Fleck.

Dort wohnten der Friede und die Ruhe; höchstens fuhr einmal ein Wägelchen mit einem der Pächter vorüber, oder drüben im großen Gemüsegarten hantierten die Gartenarbeiter.

Ein Schlüssel, mit dem man das, das »alte Haus« benannte Gebäude, öffnen konnte, hing stets in einem einst für ein Drosselpaar aufgehängten, jetzt verlassenen, schmalen Kästchen. Hier unter dem Epheu fast vergraben, konnte es von fremden Augen nicht entdeckt werden. Von dort nahm ihn auch heute Hunck an sich, öffnete unter schwerfälligem Druck und trat in den großen, hellen, mit vielen eingerahmten, schwarzen Bildern bedeckten Flur. In der Mitte erhob sich ein alter, schmaler Rokokospiegel von der Decke bis auf die Erde, und ihm zu seiten stahlen sich Amoretten mit großen, goldenen Lichtern in den Händen aus den Wänden hervor. – Den Fußboden bedeckte ein Teppich in einem matten Hellgrau, nur der Rand zeigte eingewirkte, sanfte Bouquets. Von der Decke hing ein Lustre mit zahllosen Krystallen herab, und nun eben glitzerte die Sonne mit silbernem und opalfarbigem Licht in ihren geschliffenen Flächen. Es roch dumpf, aber unendlich sympathisch nach getrockneten Rosen. Ein stilles Wonnegefühl ergriff Hunck beim Umschauen. Es ließ ihn rasten, um den Eindruck auf sich wirken zu lassen.

Dann aber streckte er plötzlich mit leidenschaftlicher Gebärde die Arme aus und flüsterte:

»O welch ein Gedanke, hier mit dir zu leben, Esther, hier, in gesunder Fülle, der Bevorzugung mich zu freuen, die das Schicksal mir gewährte.«

Er öffnete rechts und links. Überall stille, lichtvolle Schönheit. Zarte Teppiche, altmodische, wertvolle Möbel, überall an den Fenstern leichte, feine, schlank herabfallende Gardinen in jenen blaß-smaragdenen Farben, die im Anfang des Jahrhunderts die Menschen bevorzugten.

Überall Wohn- und Schlafgemächer nebeneinander. Einmal schlug Hunck einen Fenstervorhang zurück und sah in den Park. Millionen kleine, silberne Sonnen glitzerten auf grünen Halmen, in den Bäumen hing der Thau, die letzte kühle Erfrischung ausstrahlend. In dem Parkbach murmelte ein durchsichtiges, krystallklares Wasser, und ein berückend frischer Athem stieg heraus aus Wiesen und Gehölz. – Nun sah Hunck seinen Bruder über eine der weiß angestrichenen, mit hohen Handgeländern versehenen Brücken schreiten. – Er kam sichtlich von einem Spaziergang heim und sah aus wie das Bild der Gesundheit.

Zum erstenmal krallte sich – gegen Hunck's Willen – etwas um sein Herz. Neid stieg auf, dem schnelle Reue folgte. Aber ein tiefes Unbehagen blieb, ein so starkes, daß er rasch das Fenster schloß, sich zurückzog und mit Gewalt seine Gedanken wieder dem Anblick des stillen Hauses zuwendete.

Oben waren hauptsächlich Gesellschaftsräume, aber auch hier befanden sich einige Fremdengemächer.

Geradezu trat man in ein Balkonzimmer, das durch seine Lage und seine Einrichtung von jeher auf Hunck einen besonderen Eindruck gemacht hatte. Zur Rechten am Fenster stand ein Schreibtisch. Viele Ölgemälde in alten, weiß-goldenen Rahmen. Eine sanft gefärbte Tapete, in der Vögel nach Blumen und Früchten sich naschend herabbeugten, und den Fußboden bedeckte ein fast weißer Teppich mit kleinen Rosenbouquets. Das Auge suchte unwillkürlich nach demjenigen, der früher an diesem Tisch gesessen und auch einst den Blick in den Park geworfen hatte. Hunck konnte dem Verlangen nicht widerstehen, sich an dem geschnitzten, vergoldeten Möbel niederzulassen.

Eben rührte sich hinter der Tapetenwand eine Maus oder sonst ein in dem alten Hause heimisch gewordenes kleines Tier mit schnell unruhigem, und dann plötzlich wieder abbrechendem Geräusch. Als ob es horche, als ob es Furcht empfinde! Hunck berührte mit leichtem Schlag die Wand und sah sich auf der Tischplatte um, fand eine seidene Schreibmappe in verblaßten Farben, darin Papier und Löschblätter mit den Spuren des Gebrauches vieler Decennien. Zu seiner Befremdung enthielt das Tintenfaß flüssige Tinte, es mußte sogar erst ganz kürzlich benutzt sein; eine Gänsefeder war mit der Spitze gegen den Rand gelehnt, wie eben aus der Hand gelegt. Und sieh, beim zufälligen Rücken der Mappe kam ein frisch beschriebenes Blatt Papier zum Vorschein. Vielfach geändert und durchstrichen fand sich der Anfang eines Gedichtes; es lautete:

»Nun wappne dich, mein armes Herz!
Ein großes Lieben ist im Keime zu ersticken
Er will allein an seine Brust sie drücken –,
Allein ihr in die süßen Mädchenaugen blicken.«

Hunck legte das Schriftstück, nachdem er es gelesen, wieder an denselben Platz. Dann lehnte er sich zurück und suchte seine aufgeregten Sinne zu beruhigen. Was er hier eben, von der Hand seines Bruders geschrieben, zufällig gefunden, war der Anfang und die Fortsetzung eines inhaltreichen Dramas, in dem er selbst eine Rolle spielte. Erwin war also auch gleich bei erster Begegnung von einer leidenschaftlichen Liebe zu dem Mädchen ergriffen worden! Sie berückte die Köpfe der Männer; sie war ein Dämon, gekommen, um die Herzen zu verwirren.

Plötzlich kam dem Manne der Gedanke, alles, was seine Sinne beschäftigte, mit jäher Rücksichtslosigkeit von sich zu werfen. Eine Art Vorgrauen erfaßte ihn, das er sich nicht zu erklären vermochte. War's Furcht vor Erwin? Divination? Aber das Gefühl der Furcht war ihm überhaupt unbekannt.

Alle denkbaren Vorstellungen bemächtigten sich seiner. War's nicht möglich, daß Esther Erwin liebte, daß sogar das Einverständnis zwischen ihnen herrschte: zwar aufeinander zu verzichten, aber auch Hunck von dem Glück einer Vereinigung mit ihr auszuschließen?

Wilde Eifersucht packte des Mannes Seele, und sie und die Selbsterkenntnis seines Zustandes schuf eine solche Verzweiflung, daß er in dem Stuhl zusammenbrach und mit den Händen das Angesicht bedeckte. Er saß lange unbeweglich. Er sah nicht, daß draußen die Sonne mit wundervollen Lichtern in das Laubgewirr der Bäume drang, daß kleine silberne Wellen über glatte Hindernissteine im Schloßbach plätscherten, Citronenfalter mitten unter dem tausendfältigen Gesumme von Bienen und anderen frohbelebten Geschöpfen über die grünen Parkwiesen schaukelten.

Aber er hörte auch nicht, daß das Mäuschen sich wieder regte und knabberte, und daß jetzt – die Stille unheilig unterbrechend – unten im Hause Schritte vernehmbar wurden und langsam jemand die Treppe emporstieg.

Er saß da in völliger Verlorenheit, gleichsam mit tauben Sinnen für die Außenwelt und weinte und schluchzte über sich selbst. Glücklich sein wollen und nicht können! Ein furchtbares Wort! Grenzenlose Hoffnungslosigkeit und Öde erfüllte seine Seele.

Wenn auch Esther ihn wirklich liebte, es war ja doch nichts! Nie würde Doktor Fouqué einer Heirat zwischen ihm und ihr zustimmen. Es ahnte ihm, er wußte es. Und wenn dem so war – was dann? – Arbeiten, um zu vergessen! – Aber auch das lag als Fluch über ihm. Er brauchte ja nicht zu arbeiten. Er hätte die Sorge, das Schreckensgespenst der Menschheit, herbeiholen mögen, um für sich einen Zwang zu schaffen.

Aber in diesem Augenblick entstand draußen ein stärkeres Geräusch auf der Treppe, und bevor noch Hunck, aufgeschreckt, sich fassen konnte, ward die Thür geöffnet, und Erwin stand vor ihm.

»Ach du!?« stieß Hunck mehr befremdet, als erfreut heraus. Dann aber rasch emporspringend, sanft und gutherzig:

»Verzeih, bester Erwin! Ich erschrack ein wenig, weil ich ganz in meinen Gedanken verloren war. Was führt dich in's alte Haus? Ist's schon Zeit zum Frühstücken? Vermutetest du mich hier, und wolltest du mich holen?«

Erwin verneinte, rückte einen Stuhl herbei und während er sich Hunck gegenüber niederließ, sagte er in einem ruhig ernsten, aber zugleich äußerst herzlichem Tone:

»Nein, ich suchte dich nicht, lieber Hunck, nur zufällig trat ich herein. Was aber trieb dich hierher? – Ah, ja, du armer Kerl, du thust mir sehr leid, ich kann's mir denken! In gewissen Gemütsverfassungen hat man die Sehnsucht, sich der Einsamkeit zu ergeben, sich abzusondern. Etwas ähnliches ließ auch mich das Haus betreten. Ich bin schrecklich melancholisch ohne rechten Grund und rechte Ursache. Es ist wohl körperlich – man hat's bisweilen –.«

Er strich sich nach diesen Worten über die Stirn, als ob er die gegen seinen Willen erschienenen Falten nur so verwischen könnte und blickte mit einem schwermütigen Ausdruck vor sich hin.

Hunck aber griff stumm nach seines Bruders Rechten, drückte sie fest und suchte mit sanftem Ausdruck seines Bruders Auge.

Nachdem er zunächst in solcher stummen Weise seinen von Erwin wohl verstandenen Empfindungen Ausdruck verliehen hatte, sagte er weich:

»Es sieht dir ähnlich, daß du noch Worte des Mitleides und Trostes für andere hast, du selten guter Mensch, während du selbst des Zuspruchs und der Erleichterung nur zu sehr bedarfst. Aber weil du leidest, und wir uns heute morgen zufällig zusammengefunden haben, erlaube, daß ich dir nunmehr mein ganzes Inneres ausschütte. Als ich jüngst dir die Bitte vortrug, auf Esther Fouqué zu verzichten, gelangte ich gar nicht zu einem rechten Nachdenken, ob ich auch nicht weit mehr von dir verlange, als nur den Verzicht. Neben tadelswertester Eigenliebe nahm das Gefühl unwürdiger Eifersucht von mir Besitz. – Ich sage alles ehrlich, wie es ist, in voller Entäußerung meiner selbst. Esther mein eigen zu nennen, erfüllte mich allein, und auch bis heute, ich bekenne es, dachte ich nichts anderes. Ich liebe das Mädchen leidenschaftlich und verlebe in der Ungewißheit entsetzliche Stunden. Doch davon noch später mehr.

Vorerst drängt es mich mit ganzer Seele, dir auszudrücken, wie grenzenlos es mich schmerzt, daß ich deine Wege durchkreuzt habe.

In der letzten Stunde, die ich hier zubrachte, ward mir bestätigt, wie sehr auch du sie liebst, weiß ich, daß nicht nur ein flüchtiges Interesse dich zu ihr zog. Nun versetzte ich mich, der eigenen Qualen gedenkend, in deinen Gemütszustand und fragte mich, welches Recht ich hatte, dir ein solches Versprechen abzunehmen. Ich möchte wieder gut machen, ich schäme mich meiner Eigenliebe.«

Hunck hielt inne, da Erwin eine Bewegung machte, durch die er seinen Bruder unterbrechen wollte.

»Nein, nein, leugne nicht in deiner Großmut,« fuhr er fort. »Ich habe ja Beweise! Zufällig blätterte ich in dieser Mappe, fand Verse von deiner Hand.

Du leidest, du leidest sehr, und das schmerzt mich grenzenlos!« fügte er hinzu, als Erwin leise aufathmete, und wie, um die Pein zu dämpfen, unwillkürlich die Augen senkte.

»Aber auch noch etwas anderes, Erwin! Du sah'st mich neulich in unnatürlicher Erregung! Du fandest die rechten Worte: Die Krankheit unserer Mutter ist in mir. Du beklagtest mich. Und so erfüllt denn noch ein anderer schwerer Kummer meine Seele. Darf ich überhaupt ein weibliches Geschöpf an mich binden? Dir nehme ich, was eigentlich dir gehört. Außerdem begehe ich vielleicht noch ein zweites, fast an Verbrechen grenzendes Unrecht. Und endlich – liebt mich die, um die ich im Stillen werbe? Vielleicht liebt sie dich, Erwin? Sieh, wenn ich das dann wieder denke, packt mich eine rasende Eifersucht, und es kommen die Vorboten der furchtbaren Krankheit über mich. Dann ergreift mich ein Gefühl des Hasses und Neides gegen dich, den Besten und Edelsten, den ich sonst so zärtlich liebe, ein Gefühl, daß ich dich töten könnte. Das ist's also. Das beschwert alles mein Gemüt mit solcher Wucht, daß ich mir, gegenüber meinen schwachen Fähigkeiten, es zu ändern, schon oft den Tod gewünscht habe. – Begreifst du, und kannst du mir verzeihen?« stieß Hunck in tiefster Bedrückung heraus und suchte das im Glanze innigsten Mitgefühls schimmernde Auge seines Bruders. Aber es ward ihm noch mehr, als er erwartet hatte. Sich kraftvoll bezwingend, nur des anderen gedenkend, redete Erwin in jeder Weise auf seinen Bruder ein, suchte seine Bedenken zu entkräften, ja, gab sich – aus Liebe – den Anschein, als sei seine Neigung zu Esther nichts anderes, als ein flüchtiges, rasch wieder verschwindendes Aufzucken gewesen.

Die Verse hätte er allerdings geschrieben, aber mehr, um sich von der Last der allgemeinen Empfindungen zu befreien, als um dem Schmerze des Verzichtes auf sie Ausdruck zu verleihen.

»Glaube und hoffe nach allen Richtungen, bester Hunck!« rief er eindringlich. »Weil dich einmal wieder eine Erregung ergriff, hast du keinen Anlaß, Wiederholungen zu fürchten, oder gar ernste Besorgnisse an die Zukunft zu knüpfen. Und da ich diese Art von Zuständen kenne, weil ich weiß, daß gerade bestimmte Gemütsaufwallungen Anlaß zu Störungen geben, sei es dir gesagt: Ich werde in der Zukunft alles und jegliches zu vermeiden suchen, was dich beunruhigen, was dich eifersüchtig machen könnte. Nur dein Glück soll mir vor Augen stehen. Sei also immer voll Zuversicht und wisse, daß es niemanden giebt, der dir mehr und inniger alles Gute wünscht, als ich.«

Hunck machte eine stürmische Bewegung des Dankes, Erwin aber nahm noch einmal das Wort:

»Noch eins! Ich glaube sicher, daß dich das junge Mädchen wieder liebt. Freilich, darüber dir vor allem Gewißheit zu verschaffen, möchte ich dir dringend anraten. Handle, damit du dich aus einem Zustande befreist, der fast noch schwerer zu ertragen ist, als eine Ablehnung.

»Nicht wahr?« schloß er, »so soll es also sein, mein guter Bruder. Zwischen uns bestehen keine Zweifel mehr. Du bist vielmehr überzeugt, daß ich alles thun werde, was dein gegenwärtiges und zukünftiges Glück fördern kann. –«

Nach diesen Worten erhob er sich, begleitet von einem Händedruck und einem unendlich liebevollen Blick. Dann schritt er rasch, als ob er den Äußerungen des Dankes entgehen wolle, aus dem Gemach und lenkte, draußen angelangt, seine Schritte nach kurzen Zögern gegenüber in den Gemüsegarten.

Ein gemischter, durch den heißflutenden Sonnenschein geweckter scharfer Duft von Majoran und Nelken schlug ihm aus den Beeten entgegen.

Sehnsucht erweckende Erinnerungen aus der Jugendzeit wurden in dem Wandernden wach, und im Weiterschreiten griff seine Hand begierig nach den Blättern von Estragon, die er zum Munde führte, wie einst als Knabe.

Damals und jetzt! – Die Vergleiche zogen durch sein unruhiges Inneres. Wie seinen Bruder erfaßte auch ihn ein tiefes, schwermütiges Grübeln.

Nur einmal wollte er Esther sehen. Einmal! Dann wollte er Moorheide verlassen. Niemand sollte davon erfahren!

Er beschloß, am Nachmittag satteln zu lassen und nach Munke zu reiten. Seine Abreise konnte er als Grund für seinen Besuch dort vorschützen. Vielleicht hatte er das Glück, den Doktor nicht zu treffen; er war ihm unbehaglich. Ohne einen bestimmten Anhalt dafür zu haben, wußte Erwin, daß der Doktor Aufmerksamkeiten, die man seiner Nichte erwies – und um eine solche handelte es sich doch allein bei dem Besuch – abhold sei.

Ohne Kunde davon, daß Hunck am Vormittag draußen gewesen war, machte sich Erwin demnach gegen vier Uhr nachmittags auf den Weg und war bei scharfem Ritte bereits gegen fünf Uhr vor dem Hause von Matthias von Rock, der mit seinen mißtrauischen Augen zufällig gerade vor die Thür trat. Ein Ausweichen war nicht möglich. Ein kurzes Plaudern war sogar gegeben, da Erwin ihn bei jeder Anwesenheit in Moorheide zu besuchen pflegte. Heute aber war er ihm sehr unbequem. Rock würde fragen, wohin er wolle, und er wünschte nicht zu antworten.

»Ah, schönen Tag, lieber Herr Graf! Ich hörte bereits, daß Sie auf Moorheide seien! Wie geht's? – Wollen Sie mir Ihren freundlichen Besuch schenken?«

So sprach er artig auf Erwin ein, strich gemütlich den Bart und ließ zugleich den Blick auf dem unruhigen Hengste ruhen.

Statt unbefangen zu antworten, wich Erwin, fürchtend, durch diesen Zufall aufgehalten zu werden, in steifer Weise aus, was sichtlich auf Rock so ungünstig wirkte, daß er ihn schon während der Rede mit einem schroffen:

»Bitte, bitte, Sie sind mir ja keine Rechenschaft schuldig,« unterbrach.

Und ohne etwas hinzuzufügen, griff er nachlässig mit der Hand an die graue Jagdmütze, drehte sich herum und trat in's Haus zurück. Diese plötzlich abbrechende Art gehörte allerdings zu Rock's Eigentümlichkeiten, aber heute war's unverkennbar, daß sich eine verletzende Absicht damit verband.

Infolgedessen biß Erwin Kiel die Zähne zusammen. Ihn ärgerte Rock's herablassendes Wesen über die Maßen und am liebsten hätte er ihm einige herausfordernde Worte zugerufen.

Doch war's zu spät. Noch hörte er drinnen den Hund laut anschlagen und nach einem befehlenden, dem Tiere geltenden »Still! Ruhig!« ein sorgloses Mundpfeifen.

Auch das erregte Erwin, weil er einmal in einer reizbaren Stimmung sich befand. Endlich versetzte er dem noch immer ungebärdigen Hengst einen solchen Schlag zwischen die Ohren, daß er in einem rasenden Galopp dem Dorfe zusauste.

Als Erwin es erreichte, befand er sich jedoch schon wieder in einer ruhigeren Stimmung. Er war etwas empfindlich, gelegentlich rauh, überhaupt etwas knapper Art, aber ein durchaus gerechter Mensch und das, was man einen Charakter nennt.

Nachdem Erwin seinen Rappen im Wirtshaus untergebracht hatte, begab er sich zu Fuß in das Fouqué'sche Haus. Der Diener, der auf sein Klingeln herbeieilte, erklärte, daß der Doktor mit einem Gutswagen abgeholt wäre, auch daß Fräulein Margerite nicht anwesend sei, da sie einen Besuch im Dorfe mache, daß aber Fräulein Esther, wie er glaube, von ihrem Spaziergang zurückgekehrt sei. Er wolle nachsehen und den Herrn Grafen melden. Unter diesen Worten öffnete er die Thür zum Empfangszimmer, bat den Grafen ehrerbietigst, hier warten zu wollen und eilte von dannen.

Es verging eine längere Zeit, bevor er zurückkehrte. Er meldete, daß sich das Fräulein im Park befinde, aber sich beeile, den Herrn Grafen im Hause zu begrüßen.

Einer Artigkeitsregung folgend, erhob sich Erwin sofort, sandte den Diener mit dem Bescheide wieder zurück, daß er komme, um dem Fräulein im Garten entgegen zu gehen, und folgte ihm, den Weg durch den Flurkorridor nehmend, auf den Hof. Aber als er ihn eben beschritt, sah er Esther bereits neben den Parkboskets auftauchen.

Sie hielt, von dem Diener erreicht, inne und begrüßte den Grafen mit liebenswürdiger Verneigung bereits aus der Ferne.

»Ich wandle, wenn Sie es gestatten, mit Ihnen eine Weile hier auf und ab, mein gnädiges Fräulein!« hub Erwin beim Nähertreten an. »Und wie schön ist es hier, schöner in der That als in Moorheide. Um aber gleich zur Sache zu sprechen: Ich komme, um mich von Ihnen und den Ihrigen zu verabschieden. Besondere Umstände veranlassen mich, bereits morgen wieder abzureisen.«

»Wie? Sie wollen schon sobald wieder fort?« fiel Esther angeregt ein. »Jedenfalls ein plötzlicher Entschluß, da Ihr Herr Bruder uns davon nichts mitgeteilt hat –«

»Mein Bruder, gnädiges Fräulein? Wie so? Sprachen Sie denn meinen Bruder?«

Esther nickte unbefangen.

»Er hatte die Güte, uns heute Vormittag einen längeren Besuch zu machen –«

»Ah –« machte Erwin und ein Schatten flog über sein Gesicht.

Da Esther seine Erregung bemerkte und dadurch peinlich berührt ward, lenkte sich rasch das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Aber Erwin antwortete zerstreut, brach plötzlich unvermittelt ab und stieß, seine von einem eigentümlichen Glanz belebten Augen mit festem Ausdruck auf sie richtend, heraus:

»Ich bitte, Fräulein von Fouqué, daß Sie mir gestatten, ein offenes Wort mit Ihnen zu reden. Wir kennen uns zwar nur sehr kurze Zeit, aber ich hoffe doch, daß Sie wegen der besonderen Verhältnisse eine Bevorzugung mir gnädigst einräumen, die allerdings sonst nur erprobte Freundschaft das Recht hat, zu beanspruchen.«

Und bevor Esther, in der eine Ahnung aufstieg, daß es sich um Dinge handelte, denen sie unter allen Umständen ihr Ohr zu verschließen wünschte, etwas erwidern konnte, fuhr er stürmisch und in rasch fließender Rede fort:

»Es hat sich das Eigentümliche ereignet, daß sowohl meinen Bruder Hunck wie mich für Sie beim ersten Anblick eine tiefe Neigung ergriffen hat, mein Fräulein. Als Sie jüngst bei uns waren, regte sich unser Interesse in gleicher Stärke, und der Wunsch, Ihre Gegenliebe zu erwerben, beherrscht heute unsere Gedanken mit derselben Leidenschaft. Aber diese Thatsache besteht, ohne daß wir beide wissen, ob wir uns irgendwie Hoffnung auf Erwiderung machen dürfen.« –

Erwin hielt inne; gleichsam nachträglich erschrocken, daß er das alles wirklich eben gesagt habe.

Dann aber wieder mit werbenden Blicken auf die zitternd und gesenkten Auges neben ihm herschreitende Esther herabschauend, fuhr er fort:

»Aus denselben Gründen, die mich veranlassen, Ihnen dieses offene Geständnis zu machen, wage ich die ungewöhnliche Bitte gegen Sie auszusprechen, mir zu sagen, ob Sie sich entschließen könnten, einem von uns die Hand zu reichen. Vielleicht vermögen Sie überhaupt eine Antwort darauf nicht zu erteilen. Nun wohl, dann ist unser Gespräch beendet, und ich habe nur den Wunsch, daß Sie mir die Kühnheit meiner Frage vergeben. Ich beschwöre Sie aber, mein teures Fräulein, wenn Sie mir Antwort erteilen, mir die Wahrheit zu sagen. Ich muß sie hören, weil vielleicht nur so ein schweres Unrecht abgewendet, dem Glück, das alle wünschen, aber die Wege geebnet werden können. Lieben Sie meinen Bruder, Fräulein Esther? – O, zürnen Sie nicht« – fügte der Mann, seine ungeheure Bewegung nicht verbergend, hinzu, als er sah, daß ein Beben durch des Mädchens Körper flog, daß sie mit sich rang, was sie ihm entgegnen sollte.

Aber eben dieses Zaudern zu seinen Gunsten deutend, wagte er ihre Hand zu fassen und noch einmal auf sie einzudringen.

»Sie antworten nicht? Bin ich vielleicht der Glückliche, Fräulein Esther? Geben Sie, ich bitte, einem ehrlich Fragenden eine ehrliche Antwort. Er wird Ihnen das Opfer, das Sie Ihrem Zartsinn bringen, nie vergessen.«

Noch eine Sekunde kämpfte Esther von Fouqué. Die Stimme der Klugheit rief ihr zu, zu sagen:

»Ich schätze Sie beide, aber nicht in einem Umfange, um mich einem von Ihnen zu eigen zu geben.«

Aber einerseits war sie zu rechtlich, etwas zu sagen, was sich nicht strenge mit der Wahrheit deckte, und andererseits ergriff ihre Seele der furchtbare Schmerz eines möglichen Verzichtes. Sie liebte Hunck bereits leidenschaftlich, und ihm anzugehören, erfüllte alle ihre Gedanken.

So erhob sie denn die Augen unter den zitternden Wimpern und sagte fest, aber zugleich mit einem hinreißend liebenswürdigen Ausdruck des Grafen Verzeihung einholend:

»Da Sie mich in so feierlicher Weise auffordern zu reden: Nun ja, ich – liebe Ihren Herrn Bruder, Herr Graf!« –

Da sie in der namenlosen Befangenheit ihres Innern die Augen eben so rasch wieder senkte, wie sie sie erhoben hatte, so sah sie nicht, welchen Eindruck ihre Worte auf Erwin Kiel machten. Aber sie hörte neben sich einen Ton, dessen Schmerzensklang ihr jahrelang nicht aus der Erinnerung wich. Es war der ganze aufgedämmte Qualausbruch einer durch Zweifel gemarterten und durch Enttäuschung berührten Menschenseele.

Und dann hastete es aus seinem Munde:

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein! Und Sie mögen es wissen: Was Sie eben sagten, war das Gute, es war – so furchtbar es mich trifft – des Rechtes und des Glückes Inhalt. So hoffe ich wenigstens! Das Rechte war's, da ich bereits zu Gunsten meines Bruders verzichtete. Selbst wenn Sie mich durch Ihre Liebe bevorzugt hätten, würde ich meines Glückes nicht haben teilhaftig werden können, da mich mein Schwur band. Aber zu groß wäre das Opfer für mein Herz gewesen, es Ihnen nicht zu sagen, und ohne Gewißheit über Ihre Gefühle von dannen zu gehen. Wer liebt, will besitzen. Wenn ihm der Besitz nicht werden kann, so ist wenigstens Gegenliebe ein Trost! Den Versuch zu machen, diesen Trost mir zu verschaffen, wenn ich ihn empfangen konnte, war wohl menschlich verzeihlich. Von Ihnen zu gehen, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben, dazu fehlte mir die Kraft. Und nun leben Sie wohl, teure Esther! Mögen Sie mit Hunck glücklich werden, so glücklich, wie Sie mich durch Ihren Besitz gemacht hätten. Und noch eins. Wenn's möglich: Lassen Sie Ihre Verwandten, keinesfalls aber meinen Bruder wissen, daß dieses Gespräch zwischen uns stattgefunden hat. Darf ich darauf rechnen?«

Und als sie sanft bejahte, neigte er sich auf die Hand des tiefbewegten Mädchens herab, küßte sie bewegt und eilte dann mit raschen Schritten den Weg durch das Haus zurück.

Esther aber sank nieder auf eine in der Nähe stehende Bank, und erst die Annäherung ihrer Tante, die durch den Park den Weg vom Dorf zurückgenommen, versetzte sie in die Welt der Wirklichkeit zurück. –

* * *

Am Morgen des folgenden Tages beim Frühstück war Doktor von Fouqué anfänglich sehr wortkarg. Dann aber glitt er, sich erhebend, mit der Hand sanft über Esther's Scheitel und sagte:

»Es geht dir doch gut, mein teures Kind? Mich dünkt, du siehst etwas blaß aus. – Mache dir nur fleißig Bewegung und verschaffe dir frohe Gedanken. – Und da fällt mir ein,« schloß er, sich zugleich an seine Schwester wendend, deren feinblasse, aristokratische Züge durch eine weiße, das ganze Gesicht umrahmende Spitzenhaube noch besonders gehoben wurden. »Wir müssen ja noch allerlei wegen des Sonnabend besprechen. Ich sagte dir, Margerite, daß ich Matthias von Rock eingeladen habe. Diese Invitation wieder rückgängig zu machen, ist unmöglich. Ich meine nun so: Esther geht Sonnabend, wenn sie es sehr wünscht, allein nach Moorheide, und wir empfangen unseren Gast. So wird jedem gedient. Ist's so recht?«

In diesem Augenblick erschien der alte Pracht, der Diener, und übergab dem Doktor einen Brief. Der Bote warte auf Antwort.

»Ah, von Herrn Matthias von Rock? Gleich!« entschied er gegen Pracht, der sich zunächst wieder entfernte und entfaltete das Schreiben.

»Hm – hm!« machte der Doktor und griff in sein graumeliertes Haar. »Das trifft sich ja gewissermaßen gut. Herr von Rock fragt, ob er den Tag verschieben und Sonntag kommen dürfe. Er erhält unerwartet Besuch. Ich meine, da könntet ihr also beide nach Moorheide fahren. Doch davon noch später. Jedenfalls wollen wir Herrn von Rock's Vorschlag annehmen. Willst du den Boten dahin verständigen, Esther? Wir würden uns sehr freuen und so weiter.«

Nachdem Esther sich entfernt hatte, sagte Fouqué mit veränderter Miene:

»Offen gesagt, ich hätte es lieber gesehen, diese Einladung wäre nicht erfolgt. Die Besuche der jungen Grafen deuten auf Absichten hin, die ich in keiner Weise gefördert sehen möchte. Aber dies eine Mal mag's denn sein! Ich möchte dem Kinde die Freude nicht stören. Indessen, achte ein wenig auf sie, Margerite. Insofern ist es mir sehr angenehm, daß Herr von Rock abgesagt hat, und du also mitgehen kannst!«

Als Esther zurückkehrte, zeigte sich in den Mienen des Doktors der alte Ausdruck freundlicher Gelassenheit, und er begann in fast ungewohnt langer Rede und in einem besonders herzlichen Tone:

»Also, meine liebe Esther. Ihr nehmt Teil an dem Kiel'schen Feste, und Sonntag verzehren wir mit Herrn von Rock eine Suppe. So denke ich, ist es gut! Und jetzt muß ich auf die Praxis. Übrigens, mein liebes Kind, ein Instrument habe ich bereits bestellt, es kann hinten im Gartensaale stehen. Heute Abend, hoffe ich, spielst du uns zunächst erst einmal etwas auf der Violine vor!«

Und ohne seiner Nichte Dankesworte abzuwarten, neigte er freundlich das Haupt und entfernte sich.

Als er gegangen, sagte Esther, ahnend, daß der Doktor sich während ihrer Abwesenheit über Kiel's geäußert habe, und in der Hoffnung, ihren zweifelnden Gedanken Klarheit zu verschaffen:

»Ist es Onkel auch genehm, daß ich Sonnabend an dem Feste teilnehme? Gestern schien er mir nicht davon erbaut. Tante Margerite – bitte gesteh' mir's offen!«

»Doch, doch!« bestätigte Margerite ausweichend.

Aber als sie sah, daß ihre Antwort Esther nicht zufriedenstellte, änderte sie ihren Entschluß und ergänzte:

»Mein Bruder möchte nur keine engeren Beziehungen zu den Kiel's; der jungen Herren eifrige Besuche entsprechen nicht ganz seinen Wünschen! Sonst, gegen das Fest, ich wiederhole es, hat er durchaus nichts einzuwenden.«

Das junge Mädchen hörte, und ihr war, als ob sich ihr Inneres zusammenschnüren solle. Unwillkürlich griff ihre Hand nach dem Herzen; es zuckte und schmerzte, und plötzlich stieg ein solches Gefühl von Hoffnungslosigkeit in ihr auf, daß sie Margerite am liebsten schluchzend um den Hals gefallen wäre.

* * *

Am kommenden Tage in der Frühe langte ein reitender Bote von Moorheide mit einem Briefe an den Doktor an. In diesem bat Hunck in den artigsten Worten um einen Bescheid wegen des Sonnabend. Der Doktor konnte erwidern, daß er bereits am vorigen Nachmittag durch die Post für die Damen dankend zugesagt habe.

Als eben diese Antwort dem auf dem Flur der Antwort Harrenden geworden, schritt Esther die Treppe von oben herab. In demselben Augenblicke trat der Bote geheimnisvoll an sie heran und sagte:

»Bitte, gnädiges Fräulein! Dies sollte ich Ihnen vom Grafen Erwin geben!«

Einen Augenblick zögerte Esther, auch schaute sie sich ängstlich um, dann flog sie, den Boten entlassend, mit dem Schreiben die Treppe hinauf.

Sie vermochte sich nicht zu erklären, was Graf Kiel ihr noch zu sagen habe; mit um so größerer Hast löste sie das Kouvert.

»Daß ich, mein teures Fräulein, erst am Anfang nächster Woche reisen kann, daß Sie mich also auch Sonnabend bei dem Feste noch sehen werden, habe ich mir durch diese Zeilen gestatten wollen, zu sagen.

Sie könnten mich falsch beurteilen, wenn ich es Ihnen nicht zugleich mit den Gründen vorher mitteilte. Die Verzögerung der Abreise liegt in einer Verletzung, die ich mir zugezogen. Nur diese Ursache liegt vor. Alles ist sonst geblieben und bleibt, wie ich es Ihnen gestern sagte. Ich zeichne mich als Ihr gehorsamer Erwin von Kiel.«

Diese Zeilen riefen eine Fülle von unruhigen Gedanken in Esther hervor. Zu der Trostlosigkeit, die ihr Inneres ergriffen hatte, gesellte sich ein Gefühl von plötzlicher Angst. Wenn sie hätte die Einladung rückgängig machen können, würde sie es gegenwärtig gethan haben. Plötzlich stieg alles in den schwärzesten Farben vor ihr auf, und jetzt, jetzt kam's wie eine Divination über sie, daß die Verletzung, von der Graf Erwin schrieb, vielleicht aus einem Streit herrühre, den er mit seinem Bruder gehabt hatte. Ohne jeden Anhalt packte sie dieser Gedanke und ließ sie nicht, und die schreckhaftesten Vorstellungen über die fernere Gestaltung der Dinge stürmten auf sie ein. Auch erinnerte sie sich, was Matthias von Rock Geheimnisvolles über Kiel's geäußert hätte.

Sie sah sich mit einmal – ohne ihre Schuld – inmitten eines unentwirrbaren Konfliktes, und auch die finsteren Mienen ihres Onkels erschienen vor ihrem geistigen Angesichte. »Weshalb hast du mir das gethan? Weshalb kamst du und störtest unseren stillen Frieden?« hörte sie ihn in vorwurfsvoller Trauer sagen.

Erst nach geraumer Zeit, als die Stärke ihrer Liebe über diese ängstlichen Vorstellungen die Oberhand gewonnen, sah sie die Dinge in einem milderen Lichte an und überdachte, ob es nicht klug, ehrlich und der Dankbarkeit, die sie ihrem Onkel schuldete, entspräche, ihm rückhaltlos ihr Inneres aufzudecken. Aber sowohl das Wort, das sie Erwin gegeben, als auch ihr jungfräuliches Empfinden ließen sie diesen Gedanken wieder aufgeben. Sie meinte auch kein Recht zu haben, ein Geheimnis zu enthüllen, das nicht ihr alleiniges Eigentum war; sie dürfe erst sprechen, wenn Hunck sie dazu ermächtigt hatte.

Einmal kam's über sie, sich Matthias von Rock anzuvertrauen; es trieb sie sogar ein unerträglich sehnsüchtiges Gefühl zu ihm, aber dann stiegen seine mißtrauisch forschenden Augen vor ihr auf, und der ohnehin nur in ihrem ratlosen Innern emporgestiegene Gedanke verflüchtigte sich ebenso rasch wieder.

* * *

Im Kiel'schen Saale drehte sich unter den Augen der älteren Damen in einem lustigen Durcheinander die Jugend, und in den Nebenzimmern saßen rauchend oder plaudernd die älteren Herren.

Nur ein junges Paar, Hunck und Esther, hatte sich in dem an den Ballsaal stoßenden, in der Einrichtung einem behaglich eleganten Konversationszimmer gleichenden Balkon zurückgezogen, und suchte hier nach eben vollendetem Austanzen Erholung.

Von der Decke hingen zwei mattgefärbte Ampeln herab, die den Raum in ein geheimnisvolles Halbdunkel tauchten und den Gegenständen einen reizvoll gedämpften Schimmer verliehen. Namentlich die an den Fenstern sich erhebenden Blattpflanzen und in verschiedenen Farben leuchtenden Blumen erhielten durch das rote Licht etwas Magisches, das das Auge entzückte.

»Wie herrlich alles bei Ihnen ist!« hub Esther an und ließ den Blick auf den Vorhängen, Bildern, reizenden Kleinigkeiten und den aus dem Blättergrün hervorleuchtenden Marmorgruppen ruhen.

»Ein Gemach ist wundervoller als das andere, und keines entbehrt der vollen Gemütlichkeit.

Wie diese Sitze alle entzückend arrangiert sind. Ist's Ihre Frau Mama, die einen so vollendeten Geschmack besitzt?«

So sprach Esther, vom Wein und Tanz in eine lebhafte Stimmung versetzt, aber auch berauscht durch die hingebende Liebenswürdigkeit des Grafen.

Bei der ersten Wiederbegegnung hatte er eine starke Befangenheit an den Tag gelegt, aber da sie mit der Selbstbeherrschung, die ihr zu Gebote stand, äußerlich keinerlei Verlegenheit gezeigt, hatte er die Scheu sehr schnell abgestreift und war, ohne die Rücksicht auf die übrigen Gäste aus den Augen zu lassen, fortwährend eifrig um sie bemüht gewesen, zugleich durch den strahlenden Glanz seiner Augen an den Tag legend, wie er die Stunden des Zusammenseins mit ihr genoß.

Unerwarteterweise wurde auch Esther nicht durch Erwins Gegenwart in ihrer Stimmung beeinträchtigt. Er begrüßte sie allerdings mit einem Blick aus seinen schwermütigen Augen, der genügend verriet, wie sich sein Herz bei ihrem Anblick zusammenkrampfte. Aber da er überhaupt nicht an allem teilnahm und zeitweilig sich ganz aus der Gesellschaft entfernte, verloren sich auch die Gedanken an ihn.

»Sie haben,« gab Hunck auf Esthers Rede zurück, »viel Schönheitssinn, Fräulein von Fouqué. Es zeigt sich schon an der abweichenden Art, in der Sie sich kleiden. Überhaupt, was ist an Ihnen nicht zu bewundern?! Erlauben Sie, daß ich Ihnen das einmal sage. Sie sind völlig anders, als die Damen in unserem hiesigen Kreise.

Eine Französin erscheint mir vermöge ihrer temperamentvollen Eigenschaften und im Vergleich zu einer Deutschen wie ein fröhlich emporschießender, vom Sonnenlicht durchfluteter und sein Wasser rauschend herabregnender Springbrunnen; jene aber verdienen nur den Vergleich mit einer kühl dahinfließenden Quelle zwischen einförmigen Ufern.«

»Soviel Schönes sagen Sie meinen Schwestern im Süden, Herr Graf. Ich nehme es als den Ausdruck Ihrer Überzeugung und danke Ihnen herzlich für Ihre gute Meinung. Die Vorzüge aber, mit denen Sie mich schmücken, bestehen nur in der liebenswürdigen Lebhaftigkeit Ihrer Phantasie. Vielleicht bin ich nicht bösartig, ich glaube sogar, daß ich einen sanftmütigen Charakter besitze, aber das ist auch alles. Um übrigens nochmals auf Ihren Besitz und Ihr Eigentum zu kommen, welche Bewandnis hat es mit dem großen Hause unten an den Parkwiesen? Ich höre, es ist unbewohnt und doch sehe ich überall Vorhänge und Gardinen.«

Hunck gab Antwort.

»Ich glaube allerdings, daß das Innere Ihnen gefallen würde, nicht nur, um es anzusehen, sondern um darin zu wohnen. Nach meinem Begriff giebt es überhaupt keinen poesievolleren Wohnsitz, und ich begreife meine Eltern kaum, daß sie sich seinerzeit zu einem Neubau entschlossen. Mein höchster Wunsch wäre es, in den Räumen des alten Hauses mich dermaleinst niederzulassen, dort mir es bequem machend, meine Passionen zu pflegen und des Daseins Glück zu genießen.«

»Und welche Dinge – da Sie von Passionen sprechen – ziehen Sie vornehmlich an, Herr Graf?«

»Ich liebe Jagd und Pferde, auch die Landwirtschaft interessiert mich. Überdies beschäftige ich mich gern mit Musik und guten Büchern. Insbesondere aber ist es der Umgang mit der Natur, der mich anzieht –.«

»So stimmen wir also ganz überein,« fiel Esther lebhaft ein. »Und nur eines fehlt, um, meiner Ansicht nach, sich glücklich zu fühlen: ein reger Verkehr mit wertvollen Menschen! Überhaupt bleibt doch das Höchste für den Menschen der Mensch.«

»Ja –« bestätigte Hunck, Esther mit einem stillen Blicke ansehend – »für den, dem es gelingt, solche zu finden, die ihn verstehen. Ihnen könnte ich zum Beispiel alles sagen. Sie gehören zu denjenigen, denen man sich gedrungen fühlt, Vertrauen zu schenken. Jeder kommt Ihnen, von einem Muß getrieben, entgegen. Deshalb haben Sie auch Freude an dem Umgang mit anderen. Bei mir ist es anders. Ich vermag mich nicht so leicht anzuschließen, freilich, wo ich einmal liebe, da geschieht's mit ganzer Stärke.«

Nun sah er sie wieder an, und seine Artigkeit bescheiden abwehrend, senkte sie in holder Verwirrung die Augen.

Überhaupt zitterte in diesen beiden leidenschaftlich zu einander drängenden Menschen das Verlangen, sich zu sagen, was in ihrem Innern sich verbarg. Alles, was sie sprachen, war nur eine künstliche Umhüllung. Ihn drängte das Geständnis der Liebe, und sie die Sehnsucht, es zu hören. Und dennoch schob sich zwischen ihre Leidenschaft eine fremde Gewalt: die Hoffnungslosigkeit.

Während sie noch so verharrten, brach plötzlich die Musik nebenan ab. Sie hörten, wie die Paare sich auflösten, und daß einige der Gäste ihre Schritte dem Balkonzimmer zulenkten.

Und da faßte Hunck einen raschen Entschluß. Mit gedämpfter Stimme sprechend, sagte er:

»Gefällt es Ihnen, einige Augenblicke mit mir vor den Balkon in den Garten hinabzutreten? Es ist draußen sehr schön. Schon wollte ich Sie darum bitten. Zum Beginn des neuen Tanzes kehren wir zurück. Darf ich Sie geleiten?«

Und ehe noch Esther recht zur Besinnung gelangen konnte, hatte er ihr seinen Arm geboten und mit ihr den Raum verlassen.

Sie betraten einen breiten, terrassenartigen Vorgarten mit reizend geschmückten Beeten und zierlich geharkten Wegen. Von ihm führte eine Sandsteintreppe mit langen, breiten Stufen in den sogenannten kleinen Park, hinter dem das alte Herrenhaus mit seinen Wiesen und Gehölzen lag.

Mächtige Marmorpostamente mit altfränkischen, gewaltigen Urnen, aus denen blühende Gewächse in üppiger Fülle sich herausdrängten, flankierten die vom sanften Mondlicht umflossenen Terrassen. Aber sie weckten durch ihre geisterhaft helle Beleuchtung um so mehr die Sehnsucht in beiden, sich hinter die Boskets zurückzuziehen, die mit ihrem verschwiegenem Dunkel unten in der Tiefe neben dem grünen Parkrasen auftauchten.

Fast unheilig tönten die Schritte beider durch die stille Nacht; unwillkürlich traten sie leiser auf, und unwillkürlich – als ob Gefahr hinter ihnen drohe – drückte Hunck das zarte Geschöpf, das sich sanft an ihn schmiegte, fester an sich. –

Und nachdem sie nun unten einen versteckten Gang gewonnen, an deren Eingang schneeweiße Sommermotten mit geheimnisvoll kreisenden Bewegungen sie gleichsam zum Nähertreten einluden, hielt es Hunck nicht länger. Ohne Einleitung, nur dem mächtigen Impuls seines Innern folgend, sich zu ihr herabbeugend und ihr dunkles Gesicht mit seinen Händen weich umfassend, flüsterte er: »O, sagen Sie mir, daß auch Sie mich lieben, Esther. – Seit unserer ersten Begegnung gehe ich umher wie ein Taumelnder, weil ich das Geständnis aus meinem Innern nicht lösen konnte, weil ich nicht wußte, ob ich ein solches Wort zu Ihnen sprechen durfte. Mit der ganzen Leidenschaft, der eine menschliche Seele fähig ist, liebe ich Sie, und hier sei's erklärt, ich will versuchen, Sie so namenlos glücklich zu machen, wie ich es durch Ihren Besitz sein werde. Aber freilich, bevor Sie mir die sehnsüchtig erwartete Antwort erteilen, muß ich ein schweres Geständnis voraussenden. Ich bin bisweilen sehr krank, ich weiß dann nicht, was ich thue, begehe Dinge, die einen herrischen, ja gefährlichen Charakter haben können. Mit einem Wort, ich leide an Unberechenbarkeiten, für die es kein anderes Heilmittel giebt, als Stählung des eigenen Willens und der Widerstandskraft, sowie Hilfe durch sanfte Duldung meiner Umgebung. Also ein Geheimnis breite ich vor Ihnen aus, das ein Geheimnis zwischen uns bleiben muß immerdar. Daß ich, obschon mir Unglücklichem dieses Erbteil meiner Mutter ward, dennoch wage, die Hand nach Ihnen auszustrecken, erscheint mir als ein schweres Vergehen. Aber die Kraft meiner Liebe und die Hoffnung, daß mich das Schicksal vor Ernstem bewahrt, ist stärker, auch trägt mich eine feste Zuversicht, daß es auf dem ganzen Erdenrund kein Weib giebt, das, wenn es mir den Schwur der Liebe leistet, in solcher Anhänglichkeit und Aufopferung zu mir halten wird, wie –«

»Wie, ich, wie ich, ja, so ist's!« stieß Esther, die nichts anderes hörte, als das ersehnte Wort, daß sie geliebt werde, und der alle Qual leicht zu ertragen erschien, wenn sie dieses Mannes Weib wurde, mit stürmischer Hingebung heraus. »Und den Schwur leiste ich Ihnen hier unter den Gebüschen des Gartens, angesichts Gottes freier Natur. Erinnern Sie mich an diesen Tag, wenn ich je schwanken sollte, und nun – nun – Du – du – küsse mich, denn ich liebe dich grenzenlos! – –«

Über den Gebüschen tanzten noch immer leise schwirrend die Sommermotten. Nachtviolen sandten ihre süßbetäubenden Düfte durch die Nacht, und um den unnennbaren Glücksrausch der beiden eng Umschlungenen durch nichts zu stören, ließ der Mond ein sanftes Wölklein über seinen silbernen Scheitel gleiten und verfinsterte für Sekunden ringsum die stillschlafende Natur.

Dann aber plötzlich hastiges Rascheln hinter den Zweigen, und das versteckte Fliehen eines Menschen, das die in Wonne Schwelgenden jäh aufstörte, so aufstörte, daß ihnen der Herzschlag stockte.

»Was war's, Geliebter? Hat uns jemand belauscht? Ich ängstige mich unbeschreiblich!« hauchte Esther.

Und Hunck mit tiefem Ernst das Haupt bewegend und nur mit ganzer Kraft seine Fassung zurückgewinnend, flüsterte:

»Es war vielleicht der andere, der dich liebt, meine teure Esther – Erwin. Und da es so ist, sage mir noch einmal, daß du mir, mir allein gehören wirst!«

»Ja, ja, mein Einziger, ich schwöre –« stieß das junge Geschöpf heraus und umschlang den Mann ihrer Wahl von neuem in stürmischer Glut.

* * *

Als Esther von Fouqué unter den Eindrücken dieser Vorgänge am kommenden Vormittag erwachte, haftete zunächst ein mit heißer Sehnsucht vermischtes Gefühl schrankenloser Glückseligkeit in ihrem Innern. Dann aber gesellten sich zu den Empfindungen die Gedanken, und es überfiel sie eine schwermütige Zaghaftigkeit. Zwar, sie und Hunck waren sich einig, und nichts konnte sie fürder mehr trennen. Aber das, was nun kommen und sich ihrem Glück entgegenstellen werde, türmte sich drohend vor ihr auf.

Huncks Mitteilungen hatten sie belehrt, weshalb ihr Onkel sich gegen eine nähere Beziehung zu ihr auflehnte. Ihm, dem intimen Kenner der Kielschen Verhältnisse, war natürlich nicht verborgen, welches traurige Erbteil Hunck von seiner Mutter geworden war, und er folgte nur seiner Pflicht, wenn er sich abwehrend verhielt.

Also hatte sie nicht einmal das Recht, ihm einen Vorwurf zu machen; es war vielmehr ein Akt der Liebe und gewissenhaften Sorge für ihr künftiges Glück.

Wenn sich einmal die Hoffnung mit stärkerer Macht wieder in ihre Vorstellungen drängte, war sie geneigt, die Richtigkeit ihrer Vermutungen zu bezweifeln. Ihren Onkel konnten auch andere Gründe bestimmen, sich zurückhaltend zu geben. Er wollte unter keinen Umständen als Förderer von Heiratsplänen erscheinen.

Aber dann erinnerte sie sich, was Margerite ihr auf ihre Frage vor kurzem gesagt hatte, und ihre gehobenen Vorstellungen verflüchtigten sich wieder. Zuletzt kam sie zu dem Schluß, ohne zu handeln, die Dinge gehen zu lassen, schon um Hunck in keiner Weise vorzugreifen.

Es war keine Gelegenheit gewesen, über weitere Schritte bereits mit ihm zu sprechen. Er hatte nur gesagt, daß sie am Montag von ihm hören werde. Sie würde einen Brief hinter einem Feldstein kurz vor dem Eingang des Dorfes, abseits vom Rock'schen Hause, um Mittag unter dem Sande finden.

In ihm werde er ihr seine nächsten Pläne und den Tag des Wiedersehens mitteilen. So brachte sie allmählich ihr beschwertes Gemüt zur Ruhe und trat am Mittag sowohl ihrem Onkel, der sie bei dem zweiten Frühstück nicht gesehen, und dem Gast, Herrn Matthias von Rock, mit gewohnter Unbefangenheit gegenüber.

Nach Tisch zogen sich der Doktor und Margerite zurück, um ein wenig zu ruhen. Herr von Rock, der eine vortreffliche Laune entwickelt, viel erzählt und sogar wiederholt dem ernsten Doktor ein Lächeln abgelockt hatte, schlug vor, in den Garten zu gehen und einen schattigen Ort zum Plaudern aufzusuchen.

Matthias von Rock hatte eine Art, Esther zu begegnen, die sie außerordentlich ansprach. Im leichteren Gespräch warb er in drollig-neckischer Weise um ihre Gunst, wurden aber ernste Dinge behandelt, die sie betrafen, so legte er, sein gesetztes Wesen allein zum Ausdruck bringend, eine fast väterliche Fürsorge für sie an den Tag. Aber es geschah in keiner bevormundenden, gemischte Empfindungen zwischen Behagen und Unbehagen hervorrufenden Art, sondern unter der Beobachtung jener Ehrerbietung im Wortausdruck und Ton, wie sie ein reifer Mann einer von ihm als gleichberechtigt angesehenen Frau gegenüber zu bekunden pflegt. Dies erhöhte das bereits bei ihr vorhandene Gefühl eines unbedingten Vertrauens, und sie ward deshalb auch nicht befremdlich berührt, als Matthias nach allerlei allgemeinem Gespräche plötzlich sagte:

»Was ich Sie noch fragen wollte, Fräulein von Fouqué: hat nicht jüngst Graf Erwin von Kiel Ihnen einen Besuch gemacht? Sie werden denken, ich sei ein etwas neugieriger Herr. – Es ist aber weniger Neugierde als Interesse für Sie, das mich fragen läßt.«

»Ja, er war bei uns, um Adieu zu sagen. Er muß aus irgend einem Grunde seinen Aufenthalt auf Moorheide verkürzen und war so artig, das Fehlen seiner Anwesenheit bei dem Fest am Sonnabend bereits vorher mündlich zu entschuldigen.«

»So – so – also nur das war's?«

Matthias von Rock sprach's und sah Esther halb ungläubig, halb überzeugt an. Aber doch mehr ungläubig, denn ein leises, mit Ironie vermischtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Und da nun die ehrliche Esther errötete – eine stille Glut ergoß sich über ihr dunkles, von dem schwarzen Haar umrahmtes Gesicht – erhob Matthias von Rock schelmisch drohend den Finger und sagte liebenswürdig:

»Er hat sich wohl in die wunderbar schönen Augen der egyptischen Königstochter verliebt. Nun zu verdenken ist's ihm nicht, und in der That, er ist auch ein Mann, der es Werth ist, daß man ihn liebt. Natürlich auch er hat seine Fehler, wo sind sie nicht! Es ist ja sogar die Rose nicht frei von Stacheln. – Aber Graf Erwin von Kiel ist ein Kavalier vom Kopf bis zur Sohle, ein Ehrenmann und ein Charakter. – Auch Hunck würde –«

»Würde?« wiederholte Esther zitternd, obschon sie alle Kraft verwendete, ihre Erregung zu verbergen.

Rock sah mit einem raschen, forschenden Blick seine Begleiterin an. Er fand, was er vermutete, aber aus diesem Grunde, sagte er ausweichend:

»Sie meinten, Fräulein von Fouqué?«

»Nein Sie sprachen, Herr von Rock, Sie lobten den Grafen Erwin. Dann sagten Sie –«

»Ah, so – ja –« lenkte Rock ein, da seine Begleiterin zu verlangen schien, daß er reden solle. »Sie wollen mein Urteil über den anderen Bruder, über Graf Hunck? Ich glaube, wir sprachen schon einmal von ihm –«

»Nein, Herr von Rock – Sie wollten bei unserer ersten Begegnung ein Urteil fällen, hielten aber damit zurück. Es interessierte mich ein solches aus ihrem Munde schon damals –«

Esther hatte wieder einen leichten Ton angenommen, und diesmal schien sie Rock auch dadurch getäuscht zu haben.

»Nun ja,« begann er in einem sorglosen Ton: »ich glaube – ich sage, ich glaube – denn im Menschen kann man sich noch in der letzten Sterbeminute irren, und wenn man ihn fünfzig Jahre gekannt hat – daß es im Grunde einen nobleren und zugleich idealer angelegten Menschen wie Graf Hunck kaum giebt, auch rühmen – ich erwähnte das früher schon einmal – alle seine beispiellose Herzensgüte und seinen Wohlthätigkeitssinn. Aber ich halte ihn – unumwunden gesprochen – bisweilen für nicht zurechnungsfähig und dann wehe denen, die mit ihm zu thun haben. Ihnen gegenüber bekannt, Fräulein Esther, haben die beiden Herren mir nicht gerade viel Liebenswürdiges angethan – Ich glaube, sie mögen oder verstehen meine Art nicht. – Ich habe also durchaus keine Veranlassung, in meinem Urteil besonders nachsichtig zu sein. Sie wissen, man neigt nicht gerade dazu, wenn einem jemand weniger artig begegnet, man hat dann mehr Sehschärfe für die Fehler, als für die Tugenden. – Aber gerechterweise muß ich sagen, daß beide Kiel's höchst respektable Menschen sind, bei denen die Vorzüge weit überragen. Und ich füge bei Hunck hinzu: Es thut mir sehr leid um den prächtigen Menschen, aber ich bin der Überzeugung, daß er in einer Nervenanstalt endet.«

Bisher hatte Esther mit Gefühlen seligster Überraschung zugehört, weil sie ganz anderes und weit weniger Gutes zu vernehmen erwartet. Nun aber bestätigte er ihr eigenes Urteil, sogar eines, von dem sie sich selbst gesagt hatte, es könne, durch ihre Liebe beeinflußt, ein zu vorteilhaftes sein.

Bei den letzten Worten aber war's ihr, als sollten ihr die Kniee zusammenbrechen. Mit bleicher Farbe zog's über ihr Angesicht, und – Rock vernahm's und blickte sie mit höchstem Erschrecken an – ein angstvolles, tiefes Atemholen begleitete diese ungeheure Erregung.

»Ah – ah – mein armes Kind!« rief Rock voll Wärme und in tiefem Mitleid.

Zugleich nahm er das zitternde Geschöpf – in diesem Augenblick nur seinem Gefühl folgend – in die Arme und drückte die Bedrückte tröstend an sich.

Und ohne Einleitung, da er doch nun alles wußte, stieß er heraus:

»Ich habe Ihnen unangenehme Empfindungen bereitet, ich bin außer mir darüber, mein teures Fräulein. Und hören Sie: was ich sagte, ist die extreme Schlußfolgerung aus Unregelmäßigkeiten, die sich, wie ich zufällig weiß, bei Graf Hunck bemerkbar gemacht haben. Denkbar ist eben alles, aber nirgend ist Gewißheit, ja, jegliches kann sich sogar zum besten wenden. Natürlich, es wäre schon besser, Sie liebten ihn nicht, liebe Freundin. Aber können Sie nicht von ihm lassen, oder wollen Sie beide nicht voneinander lassen – mir ahnt, daß sich in Stille etwas Ernstes zwischen Ihnen bereits vollzogen hat – dann bauen Sie neben des Höchsten Beistand auf Ihre Kraft! In der letzteren liegt schon viel. Ich traue Ihnen das Größte zu. Und nun erheben Sie das Haupt und seien Sie besten Mutes. – Der Himmel steht allen Guten bei; er wird auch Sie nicht verlassen.«

Als sei einer Todesverurteilung eine Begnadigung gefolgt, so drangen diese Worte in die Seele des jungen Mädchens.

Sie ergriff Matthias Hände, beugte sich trotz seines Widerstrebens darauf herab und küßte sie.

Und dann sagte sie, neben ihm auf der Höhe unter dem Schatten der Tannen Platz nehmend, weich und demütig:

»Vor allem eins in dieser ernsten Stunde, Herr von Rock. Bleiben Sie, ich flehe Sie an, mein Freund. Ich fühle, ich werde Ihrer bedürfen! Ich habe Ihnen freilich nichts dafür zu geben, als mein dankbares Herz, aber es gehört Ihnen ganz und schon bei der ersten Begegnung war ich Ihnen zugethan wie einem Bruder. Es kommt, da ich fest entschlossen bin, Graf Hunck meine Hand zu reichen und nicht nur mit ihm alles zu teilen, sondern fortan ihm ein guter Engel zu werden in den schweren Stunden seines Lebens, vorerst nur darauf an, die Einwilligung meines Onkels zu unserer Verbindung zu erreichen. Gewiß, Hunck wird selbst sprechen und ein guter Anwalt seiner eigenen Sache sein, aber wenn trotzdem Bedenken sich bei ihm regen, dann, ich bitte Sie, treten Sie mit Ihrem Gewicht und Ihrem Einfluß ein, dann seien Sie das, warum ich Sie eben bat! Wollen Sie, darf ich auf Sie rechnen?

Sie sah ihn mit ihren schönen, flehenden Augen an und drängte sich, um Antwort bittend, in seine Seele. Und sie ward ihr auch ohne lebendigen Laut aus seinem Munde. Ein Ausdruck erschien in seinem Auge, der verhieß, wonach sie verlangte.

Dann aber sprach er auch und sagte mit fester Stimme:

»Ja gewiß, mein teures Fräulein, ich will thun, was Sie von mir verlangen. Rechnen Sie durchaus auf mich! Hoffen wir aber, daß Sie meiner Hilfe niemals benötigt sein werden. Strecken Sie, da die Dinge nun einmal so liegen, vertrauenvoll die Hand nach Ihrem Glück aus! Ich wiederhole: in Ihrer Zuversicht und in Ihrem festen Willen liegen die Wurzeln zum Gelingen.«

* * *

Es war zwischen dem fliehenden Tage und dem einbrechenden Abend. Oben in ihrem Gemach saß Esther von Fouqué und betete, Margerite hockte in sich gesunken in ihrem Sessel im Wohnzimmer, und in dem nach dem Park herausbelegenen stillen Studierzimmer – fast schon im Dämmern – saßen einander gegenüber der alte Doktor von Fouqué und Graf Hunck von Kiel.

Eben hatte der Letztere gesprochen. Während seiner längeren Rede hatte Fouqué nicht einmal das Haupt erhoben, nicht einmal eine Miene verzogen; er hatte mit dem Ausdruck dagesessen, der ihm eigen war, wenn ein Kranker ihm sein Herz ausschüttete.

Nun aber erhob er langsam den fein geschnittenen Kopf und die von fast schwarzen Rändern umgebenen, dunkel grauen Augen und sagte, ohne vorläufig ein Nein oder Ja zu äußern:

»Ich möchte Ihnen etwas mitteilen, Herr Graf, etwas aus meinem Leben. Es ist nur für Sie, ich habe bisher niemals darüber gesprochen, aber sein ernster Inhalt ist die Ursache, daß ich ein so wortkarger Mensch geworden bin, daß ich fast das Lachen verlernt habe! – Ich war, bevor ich in diesem deutschen Dorf mich niederließ, in einem Städtchen des Elsaß als Arzt beschäftigt. Dort besaß ich eine Praxis, die meine Zeit und meine Gedanken ausfüllte und in freien Stunden bot sich eine Geselligkeit, die angenehmer nicht gedacht werden konnte. Ich war durchaus zufrieden und glücklich. Als ich eines Tages zu einer Mittagsgesellschaft zu einem Grafen von Ominelle eingeladen war, fand ich neben Gästen meiner Bekanntschaft auch einige Fremde aus Paris, und unter ihnen zwei sehr distinguiert aussehende Damen. Es war eine Madame de Bernay mit ihrer Tochter, die in der Nähe von Paris in Compiègne auf einem eigenen Besitz wohnten und dort behaglich ihre nicht unerhebliche Rente verzehrten. Beide waren sehr schön. Sie erinnerten indessen eher an blonde Polinnen als an Französinnen. Es war auch gemischtes Blut in ihren Adern, aber ihre Erscheinung wirkte um so anziehender. Eine Sehnenentzündung am rechten Fuß hatte bei der Tochter vor Jahren eine Operation erforderlich gemacht; zufolge dessen machte sich ein gewisses Zögern beim Gehen bemerkbar. Aber auch dadurch ward sie in meinen Augen besonders anziehend. Schön, anmutig, unterrichtet und klug, erschien sie mir als das Ideal eines weiblichen Wesens und sie wurde auch – um kurz zu berichten – nach kaum einem Jahre, während welcher Zeit ich zweimal in Compiègne zum Besuch mich einfand, meine Frau. Am Tage vor der Hochzeit erfuhr ich erst durch einen Zufall, daß ihr Vater in einer Anstalt gestorben sei. Die Nachricht wirkte erschütternd auf mich, so furchtbar, daß ich fassungslos war, aber ich trat doch mit Rose von Bernay an den Altar und verlebte ein Jahr so schrankenlos ungetrübten Glücks mit ihr, daß ich oft über meine thörichten Befürchtungen lächeln mußte. Um so mehr war's der Fall, als der Vater des verstorbenen Herrn de Bernay ein durchaus normal veranlagter Mann gewesen war. Am ersten Februar des folgenden Jahres war in unserer kleinen, aber lebhaften Stadt ein Fest in der Ressource angesagt, an dem auch ich mit meiner Frau teilnahm. Alles verlief auf's beste, bis meine Frau bei einer Française plötzlich zusammenknickte und so unwohl ward, daß sie von mir nach Hause geführt werden mußte. Und dann in der Nacht schrie sie auf, eilte infolge einer plötzlich ausgebrochenen Tobsucht an's Fenster und wollte sich hinausstürzen – vier Monate später war sie, ohne ihre klaren Sinne je zurückerlangt zu haben, gestorben.«

Der Doktor hielt inne und holte tief Atem. Die Erinnerung an das Geschehene bewegte den Mann so gewaltig, daß er unwillkürlich zusammensank. Für Augenblicke schienen seine Züge um Jahre gealtert. Dann aber, sich aufraffend und mit einem Ausdruck tiefsten Ernstes des Grafen Hand fassend, sagte er:

»Es thut mir weh, mein verehrter Herr Graf, daß ich Ihnen durch meine Erzählung unangenehme Empfindungen bereiten mußte. Wenn ich Sie auf die Gefahren aufmerksam machte, die mit einer solchen nervösen Veranlagung verbunden sind, so geschah's um der Verantwortung willen, die Sie bei Eingehen einer Ehe für eine andere Person auf sich laden. Diese Verantwortung bleibt unter allen Umständen. Und nicht wahr? Wenn man liebt, will man doch den Gegenstand seiner Liebe nicht der Möglichkeit aussetzen, unglücklich zu werden! Sehen Sie, das ist es. Ich muß Sie deshalb dringend bitten, sich Ihr Vorhaben noch einmal, als Mann von Ehre und Gewissen, reiflich zu überlegen. Hindern kann ich Sie nicht, ich will keine Romanscenen aufführen, ich vertraue Ihrer eigenen Einsicht. Wenn Sie mich aber fragen, so sage ich nein, und dieselbe Erklärung muß ich meiner Nichte geben. – Sind Sie kurzweg entschlossen, so müssen Sie die Folgen tragen. Nicht thörichte Bedenken, nicht Abneigung gegen Sie, sondern Liebe zu Esther, aufrichtiges Interesse für Sie diktieren meine Worte und die dringliche Bitte: seien Sie ein Mann, verzichten Sie und bewahren Sie sich und die, die Sie lieben, vor der Möglichkeit großen Schmerzes.«

* * *

Nach diesen Vorfällen waren drei Jahre verflossen. Hunck von Kiel, der damals Esther von Fouqué trotz des heftigen Widerstandes des Doktors, ja, trotz damals zwischen ihr und den Ihrigen eingetretenen schweren Kämpfen und Entfremdungen geheiratet hatte, lebte mit seiner Frau als glücklichster Ehemann in dem alten Hause auf Moorheide, und hatte auch die Freude, daß seine und Esther's Beziehungen zu den Verwandten nach beiden Seiten sich glücklich entwickelt hatten.

Die im Schloß verfolgten den Grundsatz, sich niemals in die Angelegenheiten ihrer Kinder zu mischen, und Doktor von Fouqué's und Margerite's ganze Veranlagung schloß schon aus, daß sie irgendwie ungebeten in anderer Verhältnisse eingriffen.

Wenn es ein junges Ehepaar verstanden hatte, sich das Dasein freundlich zu gestalten und davon auch andere Vorteile ziehen zu lassen, so waren es Hunck und Esther! Kein Tag verging, an dem sie bei ihrer Veranlagung, an dem Kleinsten Behagen zu empfinden, nicht eine Fülle von Lebensfreude aufsogen, an dem sie zudem nicht auch Wohlthaten ausstreuten und allezeit den Geist Befruchtendes vornahmen. Im Sommer lebten sie, wenn Hunck nicht seiner Thätigkeit nachzugehen hatte, fast ausschließlich in der sie umgebenden herrlichen Natur, beschäftigten sich im Garten, legten Interesse für Bäume, Blumen und Tiere an den Tag, machten Ausflüge, schwatzten, musizierten und lasen oder belustigten sich mit Spielen im Freien.

Selten fehlte in der Woche Besuch aus der Nachbarschaft. Dann musizierte Esther, oder es wurde etwas Gemeinsames vorgenommen, häufig auch einmal eine Aufführung insceniert, für die die junge Frau ein ganz besonderes Talent bekundete.

Überhaupt war sie das belebende Element in dem Kreise! Von ihr gingen im Winter die Anregungen zu gemeinsamer Geselligkeit, zum Komödienspielen, zu Leseabenden oder musikalischen Vereinigungen aus, und Esther wußte auch zu den Bällen die jungen Herren herbeizuschaffen.

Hunck schlug seiner Frau niemals etwas ab; schon weil sie niemals etwas Unverständiges forderte, aber auch aus einem zum steten Geben bedachtem Drang.

Er ließ sie auch an allem teilnehmen, sofern sie dadurch nichts Auffälliges that, selbst an Dingen, mit denen sich sonst nur Männer beschäftigen, hatte er ihr Interesse zu wecken gewußt.

Im Hause befand sich ein Billard, und im Parke hatte Hunck eine Kegelbahn bauen lassen. Daran fand Esther großes Vergnügen.

Aber Hunck hatte seine Frau auch Kutschieren und Reiten gelehrt, und dieser Sport war für Esther der Inbegriff alles Herrlichen. Immer war auch Hunck in guter Laune, wenn seine Frau dabei war; dann durchströmte ihn ein Gefühl vollster Behaglichkeit. Hatte sie sich einmal entfernt, empfand er eine Leere. Es ergriff ihn leicht Unruhe und Unsicherheit: Äußerungen jener Nervosität, die sein Erbteil geworden.

Täglich guckte der alte Graf im Kavalierhause vor; ihm fehlte etwas, wenn er nicht mit Esther geplaudert hatte. Beide Herren gingen häufig morgens zusammen über's Feld, oder machten Spazierritte auf die zu dem Hauptgute gehörenden Vorwerke. Dann schlüpfte Esther zu ihrer Schwiegermama, durch deren lebhaften Geist sie immer Anregung fand, und die sie mit immer gleicher Liebenswürdigkeit empfing.

Aber Esther ward auch nicht müde, der Mutter ihres Mannes Aufmerksamkeiten zu erweisen. Bald überreichte sie ihr Rosen, oder reizvoll gefärbte Herbstblätter, ein andermal hatte sie eine kleine Arbeit in der Hand, oder brachte ihr ein Buch, das sie zu lesen gewünscht hatte.

Auch ersetzte sie, da die Gräfin eine leidenschaftliche Schachspielerin war, bisweilen den alten Grafen, und war nicht selten so rücksichtsvoll, die Partie zu verlieren, da »Nicht gut verlieren können« eine kleine Schwäche ihrer Schwiegermutter war.

Eva hatte sich damals fast zu derselben Zeit mit einem adeligen, höheren Beamten verlobt und lebte mit ihrem Manne, der im auswärtigen Amte beschäftigt war, in Berlin.

Sie, wie Erwin, der ebenfalls in der Reichshauptstadt in Garnison stand, wurden gegenwärtig – es war im Juni, und der Geburtstag der Gräfin fiel in diesen Monat – zum mehrwöchentlichen Besuch erwartet.

Sowohl Hunck wie Esther sahen Erwin's Kommen mit keineswegs freien Gedanken entgegen. Während der drei Jahre ihrer Verheiratung war er niemals wieder nach Moorheide gekommen.

Wenn sich die Lust und das Verlangen in ihm geregt, hatte er jedesmal vorher an Esther geschrieben und sie um eine offene Erklärung gebeten, ob sie es für angezeigt halte. Alles und jegliches zu vermeiden, was seinen Bruder erregen könnte, war ihm Gesetz, aber er hatte aus diesen Gründen auch Esther ersucht, von ihrer Korrespondenz Hunck durchaus nichts mitzuteilen. Nun aber hatten der alte Graf und die Gräfin auf Erwin's Kommen bestanden, und Esther, die eine Selbstsucht, wie sie sie bisher für Hunck geübt, nicht mehr anwenden zu dürfen glaubte, hatte selbst Erwin zugeredet.

Aber in Wirklichkeit sah sie Erwin's Ankunft mit Bangen entgegen. Ein angstvolles Gefühl, das er nicht zu bemeistern vermochte, beherrschte auch Hunck. Als er sich schließlich darüber äußerte, geriet Esther in eine große Unruhe, bezwang sich aber und warf die Worte hin:

»Sobald du fühlst, daß Erwin's Anwesenheit dir Gemütserregungen schafft, nehmen wir einen Vorwand und treten eine Reise an. Ich weiß, Erwin wird, wenn er die Gründe erfährt, es in keiner Weise dir verübeln, und die Eltern werden nicht minder Einsicht haben.«

Die Möglichkeit, sich gegebenen Falles einer Gefahr zu entziehen, die er durch seine Vorstellungen schon halb im Anzuge glaubte, veränderte im Nu des Mannes krankhaft erregten Zustand. Alle Angst war plötzlich abgeschüttelt, und seine Gedanken richteten sich mit fast stürmischen Gefühlen zu seiner Frau.

Den ganzen Abend plauderte er von seinem Glück, überhäufte Esther mit Zärtlichkeiten und genoß die Gegenerwiderungen ihrer Liebe wie ein Bräutigam.

Er sprach mit neckisch drängenden Fragen auf sie ein, ob sie ihn noch immer so liebe wie bisher, und ob sie wirklich – einst Erwin zugethan gewesen?

Nun erhob sich Esther, beugte sich zu ihrem Mann hinab und während sie ihn zärtlich umarmte, flüsterte sie, ohne mit einem Nein oder Ja zu antworten:

»Welch' ein lieber Thor du bist, Hunck! Unverbesserlich in deiner Eifersucht! – Ja, ja, so ist's! Leugne nicht! Ich habe es wohl bemerkt, daß du neulich in der Gesellschaft bei Tolk's unzufrieden mit mir warst, daß ich mit dem jungen Grafen Holmström lachte. Wie kann man, wenn man Graf Hunck von Kiel heißt, auf irgend jemanden in Liebessachen, ja, überhaupt in irgend welchen Dingen eifersüchtig sein?«

In solcher Weise zu sprechen, war Esther's Art, wenn einmal irgend etwas ihren Mann beunruhigte. Sie besaß eine bezwingende Art, die Menschen zu behandeln, überhaupt jene Liebenswürdigkeit, die einer glücklichen Mischung voll Herz und Verstand entspringt.

Mit leuchtenden Augen und in glückseliger Befriedigung zog Hunck Esther an sich, zugleich von ihrer Schönheit in diesem Augenblicke mehr als je benommen.

Sie trug ein durchsichtiges, schwarzseidenes Spitzenkleid, in dessen Mieder rosaseidene Bahnen eingelegt waren. Der Hals lag frei; das Kleid vertiefte sich, und auch die Ärmel waren so kurz geschnitten, daß ihre reizend gerundeten Arme zur Hälfte sichtbar waren. Ihre Büste drängte sich in sanfter Fülle unter dem Gewande hervor, und um so junonischer erschien sie, da zugleich ihr Wuchs vollendet war.

Zu alledem aber das eigentümlich weichgefärbte dunkle Gesicht, das tiefschwarze Haar, der Silberglanz ihrer Augen.

Und da sprach der Mann, der in sein Weib verliebt war, wie in den ersten Tagen ihrer Vereinigung, noch einmal auf sie ein und flüsterte:

»Du bist mir vorher ausgewichen, als ich die Frage wegen Erwin an dich richtete, Esther! Nun ja, es sei dir gestanden, daß ich nur einen Menschen auf der Welt fürchte, ihn! Aber höre auch –« plötzlich nahmen Hunck's Mienen einen unheimlichen Ausdruck an – »Ich vernichte meinen Bruder, wenn er sich das Geringste gegen dich erlauben sollte, und du es ihm gewähren würdest.«

Aber es geschah nach diesen Worten nicht, was Hunck erwartet hatte. Esther beteuerte nicht und hatte keine tröstenden Liebkosungen. Sie bewegte vielmehr traurig den Kopf, wandte sich ab, schritt langsam an's Fenster und schaute, hier plötzlich gefesselt, hinaus in die eben zu einem gleichsam heiligen Schlaf sich rüstende Natur. –

Schwarz und schweigend standen die Bäume des Gehölzes, über allem glänzte mit silberhellem Licht das Gestirn und umfing die im tiefen Frieden ruhenden Parkwiesen. Aber es warf auch seine Welten durchleuchtenden Strahlen auf ein einziges, riesenhaftes Wolkengebilde, und schuf an den Rändern der zackigen Vorsprünge ein Licht, als ob weißes, elektrisches Feuer ihr Inneres durchglühe. Hunck aber sah, während er sich seiner Frau näherte, von alledem nichts. Er hatte nur den einen Gedanken, sie wegen seiner Worte zu versöhnen.

»Habe ich dich verletzt, daß ich noch einmal auf denselben Punkt zurückkam, meine Esther?« hub er an. »O, so verzeihe mir! Aber nicht wahr, gegen wen soll ich mein Fühlen und Denken äußern, wenn nicht gegen dich? Und ich darf es, weil du ja unterscheidest zwischen Erregungen ernsterer Art und augenblicklichen krankhaften Stimmungen. Du bist mein bester Freund, mein alles auf der Welt. Ich würde dich in die tiefsten Winkel meiner Seele schauen lassen, – wer zaudert nicht, das einem andern zu gewähren? – weil ich weiß, daß du alles begreifst, welchen Namen es auch immer haben mag. Sieh, es ist ja eine große Thorheit, daß ich Erwin's Besuch so fürchte. Aber gerade, weil es krankhafte Vorstellung ist, suche ich durch Aussprechen Trost – bei dir, bei dir, meinem Engel auf Erden –.«

Und da wandte sie sich mit stürmischer Hast zu ihrem Manne, umhalste ihn und flüsterte:

»Habe Dank, mein teurer Hunck! Und wisse, ich liebe dich grenzenlos, aber wisse auch, nur, daß du an meiner Liebe zweifeln konntest, machte mich traurig!«

* * *

Es war am kommenden Abend nach diesem Tage. Die ganze Natur in Moorheide war erfüllt von einem warmen Erdgeruche, in den sich die süßen Düfte von Blumen mischten, die auch während der Nacht ihre Kelche öffnen. Nichts regte sich als ein das Laub der Bäume und Gebüsche in eine zitternde Bewegung setzender, plötzlich erscheinender, und eben so rasch wieder fliehender Nachthauch. Und ein Sekunden langes Beben ging dann raschelnd durch die Blätter, gleichsam als seien sie jäh aus ihrem Schlafe aufgerüttelt und hätten im demütigen Erschrecken auf eine schroffe Frage des stürmisch vorübereilenden Herrschers Antwort erteilt. –

Im Schloß hatten die Mitglieder der beiden Familien bis spät am Abend sich plaudernd vergnügt. Nichts hatte das Zusammensein gestört. Mit völligster Unbefangenheit und größter Zärtlichkeit war Erwin seinem Bruder und seiner Schwägerin begegnet. Überhaupt war Erwin, der in seiner dunklen Erscheinung seiner Mutter ähnelte, während Hunck mit dem blonden Knebelbart den Bildern aus des alten Grafen Jugendzeit glich, von hinreißendster Liebenswürdigkeit gewesen.

Da er es vor einigen Monaten zum Rittmeister gebracht hatte, sprach er die Absicht aus, ganz beim Militär zu bleiben, besonders wenn er es erreichen könne, auch ferner in der Reichshauptstadt zu dienen. Er redete sogar vom Heiraten und allmählichem »Zur Ruhe kommen«. Das alles klang Hunck's Ohren wohlgefällig. –

Unter solchen angenehmen Eindrücken wanderten Hunck und Esther, den gewohnten Weg über den sich an das Schloß lehnenden Pächterhof nehmend, und von dort den Pfad am großen Gemüsegarten einschlagend, bald nach elf Uhr nach Hause.

Esther sprach in größter Anerkennung von Erwin und Eva, und Hunck, lebhaft beistimmend, äußerte, daß er, wenn Esther einverstanden sei, beiden zu Ehren schon in der allernächsten Zeit eine größere Gesellschaft geben möchte. Überhaupt war er vollkommen mit allem ausgesöhnt, ohne jegliches Mißtrauen und ohne Unruhe.

Im Hause angekommen, erklärte er in seiner aufgelegten Stimmung auch noch in seinem Zimmer, das unten, links, hinter dem Speisegemach nach dem Garten lag – während sich rechts nach hinten die Schlafgemächer und vorn die täglichen Wohnzimmer befanden – eine Cigarre rauchen zu wollen, und bat Esther, ihm Gesellschaft zu leisten.

Auch während dieser Stunde plauderte Hunck in gemütlichster Weise und gab seiner Freude Ausdruck, daß alles sich so ganz anders gestaltet, als er vermutet habe. Und dann endlich gingen sie zur Ruhe und schliefen mit einem letzten Scherzwort auf den Lippen ein.

Aber in der Nacht gegen zwei Uhr hörte Esther neben sich ein Geräusch, sah, daß ihr Mann, der sich erhoben hatte, Licht entzündete, es hinter einen Lampenschirm stellte und sodann an das nach dem Parke gehende Fenster schlich.

Hier blieb er, durch den Spalt der Gardinen spähend, unbeweglich stehen, wie jemand, der um seiner ihn bewegenden Gedanken willen, alles um sich her vergißt. Ihrem ersten erschrockenen Impuls folgend, wollte sie ihn anrufen: was sei, was ihn beängstige?

Aber nun wich er zurück, stöhnte tief auf und begab sich in das nebenan liegende Ankleidezimmer. Und dann sah sie, daß er die Hände rang und wie ein Verzweifelter auf und abwanderte. Und abermals, ehe sie in ihrer namenlosen Beklemmung zu einer Frage anheben konnte trat er an den bisherigen Späherort zurück und sah mit irrsinnig gierigen Blicken hinaus in den Park.

Nun löste sich Esther aus dem Banne der Unschlüssigkeit, hob sich höher in den Kissen und rief ihren Mann an:

»Hunck, mein lieber Hunck, was ist? Was hast du? Wurdest du durch Geräusch gestört? Sprich, ich ängstige mich –«

Aber – seltsam! Er wendete sich nicht einmal um, er that, als ob er garnichts vernommen habe.

Eine entsetzliche Angst fuhr dem armen Weibe durch die Glieder.

Im Nu war sie, notdürftig bekleidet, aus dem Bette und an ihres Mannes Seite.

»Hunck, lieber Hunck!« hauchte sie nochmals, weinend. »Hörst du mich nicht? Hörst du deine Esther nicht?«

Aber er verharrte wie bisher, und als sie halb besinnungslos vor Aufregung, sich vor ihm aufstellte und ihn sie anzusehen, zwang, lächelte er blöde vor sich hin.

Die Frau wich zurück, tastete nach einem Sessel und sank wie zerschmettert nieder.

So, das war's also, was als kommendes Schrecknis man ihr prophezeit, wovor sie mit krampfhaft sich zusammenziehendem Herzen sich gebangt hatte, wenn einmal ihre Gedanken, beängstigt durch das allzu reichliche Glück, das ihr in ihrer Ehe geworden, auf den alten drohenden Wahrheitsspruch gerieten, daß nirgend das Unglück näher sei, als wo das Glück alle seine Zelte aufgeschlagen. Nun waren sie gekommen die Zeiten furchtbarer Trübsal, nun hieß es dulden und warten, bis es dem Schicksal gefiel, ihm seinen klaren Sinn zurückzugeben.

Und anders war's, als sie gedacht hatte, daß sich seine Krankheit äußern werde. Sie hatte angenommen, ein Zustand starker Erregung werde einmal über ihn kommen, der jedoch wieder Ruhe und Besänftigung im Gefolge habe. Was sie aber jetzt sah, schien dauernde Geistesumnachtung.

Welch ein furchtbares Wort, wenn man jemanden liebte!

Die Frau sprang empor und fiel dem zu Füßen, in dem ihres ganzen Daseins Zweck und Inhalt sich vereinigte. Kinder waren ihnen nicht geschenkt. Sie entbehrten sie auch nicht, weil ihnen in ihrer zärtlichen Liebe nichts mangelte. Aber wieder sah er sie blöde an, und dann stieß er sie rauh von sich und eilte von neuem ans Fenster.

Nun überlegte Esther! Sollte sie fort mit ihm, bis er gesundete? Sollte sie seine Krankheit verbergen vor allen Menschen?

Ah, wie Scham und Angst sie erfaßten über die Reden der Masse. Man habe ihr doch vorher gesagt, daß eine gefährliche Krankheit in ihm stecke, aber sie habe nicht hören wollen in ihrer Verblendung. Sie habe den vornehmen, reichen Mann heiraten wollen!

Esther warf den Kopf zurück! Nein, sie sollten kein Recht haben, sie und ihn zu bewerfen, sie auch nur zu bemitleiden. Sie konnte schweigen und dulden. Ein Plan gestaltete sich in ihrem Geist. Gleich, jetzt in der Nacht wollte sie packen, anspannen lassen und mit Hunck das Gut verlassen. Sie wußte, es gab zahlreiche Anstalten, in denen solche Kranke Heilung fanden. Sie würde eine solche finden und es einrichten, fortwährend in seiner unmittelbaren Nähe zu bleiben.

Sie würde ihren Schwiegereltern lediglich zurücklassen, daß sie auf Hunck's Wunsch in der Frühe abgereist seien. Weiteres würde folgen.

Namentlich ihrem Onkel wollte sie sich nicht entdecken. In den wiederholten Unterredungen, die er damals zwischen sich und ihr herbeiführte, hatte er auf's eindringlichste ihr vorgestellt, welcher Ungewißheit sie entgegengehe, und zuletzt die strikte Forderung an sie gestellt, einer Verbindung mit Hunck zu entsagen. Was er jenem offenbart, hatte er auch ihr nicht verschwiegen und war für alle ihre Gegenreden taub gewesen. Und doch hatte sie anders entschieden, hatte es sogar zu einem Bruch kommen lassen, der nur durch Margerite's unausgesetzte Bemühungen nicht den äußersten Charakter angenommen hatte. Als sie nach vielen, in schweren Kämpfen verlebten Tagen und wachen Nächten dennoch erklärt hatte, sie könne von Hunck nicht lassen, hatte der sonst so ruhige Mann die Hand erhoben und ihr die Wahl zwischen ihm und Hunck gestellt. Sie müsse, falls sie auf ihrem Entschluß beharre, gewärtig sein, daß jegliches Band fürder zwischen ihnen sich löse.

Unbeschreibliches hatte sich in Esther's Seele gestaltet. Aber ihre Liebe, und Hunck's unverrückbare Charakterfestigkeit hatten dennoch den Sieg davon getragen; und was ihren Onkel in ruhigeren Augenblicken der Überlegung nicht selbst milder gestimmt, ihn nicht doch mit Rührung und mit Respekt vor Esther erfüllt, das hatte Margerite in ihm durch zärtliche Bitten und stete erneuerte Vorstellungen geweckt.

Er erklärte zuletzt: nichts fördern, und auch auf der Hochzeit nicht erscheinen, aber auch nichts ferner hindern zu wollen, und Esther hatte die Brocken genommen, die er ihr geboten hatte.

Und Margerite! Sie hatte noch jüngst bei Worten, die Esther über ihr Glück geäußert, mit einem: »Gäbe Gott, daß es so bleiben möge, meine teure Esther«, geantwortet. Das hatte fast geklungen, als ob immer noch Zweifel berechtigt seien. Esther hätte sich in ihrer Sicherheit dagegen auflehnen mögen. Wo war ein Grund für solchen Pessimismus? Und nun – acht Tage später – saß Hunck als ein Irrsinniger da!

Um aber Pläne auszuführen, wie sie sich in Esther's Innern gestalteten, war's in erster Linie nötig, Geld zu beschaffen.

Sie konnte doch ohne solches nicht reisen –! Nun war sie aber gar nicht mit ihres Mannes finanziellen Angelegenheiten vertraut. Sie wußte nur, daß sich in seinem Schreibtisch seine Kasse befand. Doch hatte sie keine Schlüssel. Sie mußte sich also in deren Besitz setzen, jedoch – ihr Instinkt riet dazu – ohne daß er es bemerkte. Sie trat daher auf Hunck zu und suchte ihn zu bewegen, sich wieder in's Bett zu begeben.

Noch stand er, mit luchsartigen Augen hinausschauend, auf demselben Fleck. Sicher galt's Erwin, den er in seinem Irrsinn dort vermutete.

Aber ihre Bemühungen waren vergeblich. Er beobachtete dieselbe stumpfe Art des Schweigens, er sah sie gleichgiltig an und wehrte ihr, als sie seine Hand fassen wollte. –

Und dann, als sie in tiefstem Weh und völliger Ratlosigkeit sich von ihm abwandte, hörte sie hinter sich einen wüsten Ton, und als sie sich entsetzt umdrehte, stürzte Hunck, besinnungslose Wut in den Zügen, auf sie los. Und nun – es ging um's Leben! – begann ein atemloser, rasender Wettlaus. Zuerst floh Esther in's Ankleidezimmer, von dort ging's auf den Flur, die mondbeschienene Treppe hinauf durch das Empfangszimmer, dessen Thür sie hinter sich zuschlug. Aber er war ihr im Nu wieder auf den Fersen, verfolgte sie durch die Gesellschaftsräume, warf in wildem Lauf einen Stuhl um, stieß fürchterliche Laute aus, als sie abermals, um Vorsprung zu gewinnen, die Thür hinter sich zuzuschlagen vermochte, und setzte die Verfolgung durch den Korridor und über den eben verlassenen Flur fort. Nun flog die todesgeängstigte Frau wieder die Treppe hinab und berührte rasch und hoffnungslos, aber nach dem Strohhalm greifend, den Drücker der Hausthür. In der That war sie – ein Wunder – heute unverschlossen! Blitzschnell stürzte sie hinaus auf den Vorplatz, von dort in den Garten, hinter das Haus, dann auf den Hof, stieß im Anbau eine Thür aus und flüchtete sich – von einer plötzlichen Idee erfaßt – die Treppe hinauf auf den Hausboden. Hier befand sich neben der sogenannten Uhrkammer ein Raum zur Aufbewahrung von Obst. Ihn erreichte sie mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte, riegelte von innen ab und sank wie zerschmettert an Körper und Seele gegen die Wand. Nun horchte sie mit zitterndem Herzen, ob er ihr gefolgt sei!

Bei dem wilden Emporklimmen waren seine Schritte hinter ihr verhallt. Ja, da war er, ächzend, schnaubend oben, suchte hin und her, flog an die Thür der Aufbewahrungskammer und schlug, als er sie geschlossen fand, mit eisernen Fäusten dagegen.

Nun ging's sicher an's Leben! »Was soll ich thun, barmherziger Gott!« ächzte das gemarterte Geschöpf. Rufen, um Hilfe schreien, daß man ihn unschädlich mache! Dann gab sie ihn preis, ihn und sich. – Aber freilich, wie alles gekommen, blieb doch nur dieser Ausweg!

So bog sie sich denn zum Fenster heraus und schrie, nochmals mit ganzer Willenskraft sich aufraffend: »Franz, Franz, Hilfe! Rettung!« und immer von neuem und immer lauter und flehender, bis endlich die Stimme versagte.

Und dann hörte sie wieder die furchtbaren Schläge des Tobsüchtigen gegen die Thür, und sein markerschütterndes Brüllen und Fluchen jagte dem armen Weibe die Angst bis zum Zerspringen an's Herz.

In diesem Augenblicke wurde eine Stimme auf dem Hofe laut. Es war Franz; er rief, was die Frau Gräfin wünsche – und die Frau lehnte sich hinaus und ächzte, alles in sich herabdrückend: »Mein Mann ist krank geworden. Er ist oben hinter mir. Eile hinauf und hilf mir!«

Doch nachdem das eben geschehen, gab – o Entsetzen! die Thür nach. Für solche Gewalt tobsüchtiger Wut waren keine Schlösser gemacht. Und dann drang ein Angstschrei durch das geöffnete Fenster hinaus in den Garten und Park, der selbst die Natur hätte erweichen müssen. Ein Todesschrei! Der Irrsinnige warf sich über sie, packte sie an der Kehle – und dann ein anderer herzzerreißender Ton – ein leiser, wie letztes Röcheln und Stöhnen –

* * *

Es war sehr spät, fast gegen Mittag des folgenden Tages. An dem Bett Esther's, die nach schweren Ohnmachtsanfällen und völliger Besinnungslosigkeit nun endlich in einen bereits Stunden anhaltenden Schlaf gesunken war, saß mit todesbleichem, verstörtem Antlitz Graf Hunck von Kiel, beobachtete der Kranken Bewegungen, horchte auch einmal nach ihrem Herzen, verhielt sich aber sonst still abwartend, was der wache Zustand seiner Frau ihm bringen werde!

Was hinter ihm lag, wußte er, wenn auch nicht in allen Einzelheiten genau. Er war nach jahrelanger Pause wieder einem seiner entsetzlichen Zufälle erlegen, hatte, blind im Irrsinn, sich über seine Frau geworfen, und war erst wieder zu klarer Besinnung und völliger Nüchternheit gelangt, als sich Franz, der Diener, ihm, durch Esther herbeigerufen, genähert hatte. Dann war er zwar noch einmal an ihr niedergesunken, nun aber nicht mehr in Geistesverwirrung, sondern im verzweiflungsvollen Weh über das, was er ihr angethan.

Seit der Nacht nach dem Ereignis war er nicht von ihr gewichen, hatte alle Mittel zu ihrer Beruhigung selbst angewendet und auch des verschwiegenen Franz' Drängen, Doktor de Fouqué herbeizuholen, widerstanden. Es war trotz der Angst, die seine Seele um sie erfaßt hatte, ein Gefühl der Hoffnung in ihm, daß er ihr Retter sein werde. – Und das Ersehnte geschah wirklich. Als sie endlich die Augen wieder aufschlug, und zwar zunächst noch in der Erinnerung an das Geschehene sich angstvoll umblickte, dann aber Hunck mit dem alten Blick inniger Liebe, ja, jetzt mit strahlenden Augen der Glückseligkeit über ihr Erwachen, an ihrem Bette sitzen sah, seine Stimme hörte und die Worte vernahm: »Meine Esther, meine Esther! Ich bin wieder der Alte! Alles ist überwunden!« auch seine Lippen auf ihren Händen und dann seine zärtlichen Küsse auf ihren Wangen fühlte, erfaßte sie ein solcher Wonnetaumel über das Unerwartete, daß sie zunächst unter Thränen die Augen emporschlug und ein stummes Gebet zum Himmel sandte: »Mit inbrünstigem Dank, o Herr, lieg' ich, deine Magd, vor dir auf den Knieen, daß du mich errettet hast aus so großer Not und Bedrängnis. Sei auch ferner mein gnädiger, gütiger, barmherziger Gott und wende von meines geliebten Mannes Haupt alles Unheil.«

Hierauf wandte sie sich zu Hunck, der dasaß in dem überquellenden Drang seiner Empfindungen, streckte die Arme aus und zog ihn mit einem einzigen, all ihr Glück umfassenden Laut an die befreite Brust.

* * *

Schon am kommenden Tage vermochte Esther wieder aufzustehen, und auch Hunck ward, vermöge seiner kräftigen Natur, nicht von der geringsten Rückwirkung berührt. So sehr hatte sich die alte Sicherheit seiner bemächtigt, so völlig abgestreift waren die Eindrücke, daß er mit wahrem Feuereifer an die Vorbereitungen des Festes ging, das er Erwin und Eva zu geben beschlossen hatte. Und dadurch wußte denn auch Esther, die bis dahin noch in fortdauernder Furcht vor Wiederholung seines krankhaften Zustandes geschwebt, das Gleichgewicht ihrer Seele so völlig zurück zu gewinnen, daß auch sie sich, wenigstens äußerlich, ganz der alten, fröhlichen Lebenslust wieder hingab.

So wurde denn auch täglich irgend etwas Anregendes mit denen vom Schloß vorgenommen. Niemals vereinigten sich die Herren allein, und nur am Ende der Woche, als sich zufolge einer Abrede in der Zeit zwischen dem zweiten Frühstück und Mittag Hunck und Esther zu einem gemeinsamen Ausflug anschicken wollten, erschien Erwin und meldete, daß der alte Graf es gern sehen werde, wenn die Arrangements heute verändert würden und sich die Herren wegen einer Pferdeauktion in der Stadt Horst allein auf den Weg machten.

Und wie gewünscht, so geschah's, und da Eva und die Gräfin ohnehin sich heute nicht besonders für eine Partie aufgelegt fühlten, ließ Esther nach kurzem Besinnen und Entschluß, kaum eine halbe Stunde nach Entfernung der Männer, ihre Stute Lizzie satteln und nahm den Weg nach Munke.

In ihrer glückseligen Freude empfand sie den Drang, ihr Herz auszuschütten. Wenigstens wollte sie ihre Sehnsucht befriedigen, ihre beiden Verwandten zu sehen, und so trabte sie denn mit wehendem Schleier, Franz' Begleitung ablehnend, gegen zwei Uhr von Moorheide ab.

Als Esther im flotten Ritt fast Munke erreicht hatte – nur zwanzig Minuten trennten sie auf der Anhöhe, auf der sie eine kurze Zeit das schnaubende Tier stoppte, bis zum Dorf – tauchte plötzlich zu ihrer großen Überraschung aus einem links, zwischen hohen Knicken sich verlierendem Wege – Matthias von Rock mit seiner mächtigen Gestalt, hoch zu Roß, auf.

»Ah, meine hochverehrte, teure Gräfin!« rief er in sichtlich freudigster Überraschung, zog den Zügel an und streckte ihr seine vom Handschuh rasch befreite Rechte entgegen. »Woher kommen Sie und wohin führt Sie Ihr Weg so unerwartet? Darf ich Sie begleiten?«

Esther war Herrn von Rock sehr lange nicht begegnet. Da er nie zu andern ging, Hunck aber, wenngleich ihn schätzend, doch immer bei Vorschlägen, mit ihm zusammen zu sein, einen Hinderungsgrund gefunden, so waren jetzt sogar Monate vergangen, ohne daß sie sich gesehen hatten. Er sollte auch, wie man sagte, wieder einmal seiner schwermütigen Stimmung unterlegen sein, wenigstens war er den Menschen lange unsichtbar gewesen.

Esther wendete nun die Sache geschickt, warf ihm neckisch vor, daß er seine alten Freunde absichtlich vernachlässige, und erkundigte sich erst am Schluß, den leichten Ton verlassend, mit herzlicher Teilname nach seinem Befinden.

Matthias Augen verfinsterten sich, dann entgegnete er, ihr letzte Frage nur sehr kurz berührend, mit einem eigentümlichen Ausdruck:

»Sie wissen wohl nicht, daß meine Schwester bei mir zu Besuch ist?«

»Sie haben eine Schwester, Herr von Rock?«

Die junge Frau sprach's in höchstem Erstaunen.

Bisher hatte alle Welt angenommen, Matthias von Rock stehe ganz allein auf der Welt; von Verwandten hatte Esther nie etwas gehört. Aber bei diesem Manne kamen immer unerwartete Dinge zum Vorschein.

Er nickte auf ihre Frage kurz. Dann sagte er:

»Wenn's Ihnen gefällig ist, verehrte Frau Gräfin, mache ich Sie mit ihr bekannt. Sie wäre auch schon gekommen, wenn ich sie nicht gebeten hätte, vorläufig von Besuchen abzusehen –«

»Wie? Sie wollten uns der Freude berauben, ein Mitglied Ihrer Familie kennen zu lernen? Das ist um so unrechter, als Sie sich selbst schon so beharrlich Ihrer Einsiedelei hingeben. Darf ich fragen, ob Sie noch sonst Geschwister haben? Und ist Ihre Schwester verheiratet oder unverehelicht?«

»Nein, sie und ich sind die letzten Rock's! Sie war mit einem sehr pedantischen Sonderling, dem portugiesischen Grafen Maravedo verheiratet. Er starb vor einigen Jahren in Baden-Baden, wo sie zuletzt lebten. Jetzt –«

»Jetzt?«

»Jetzt sucht meine Schwester ein Domizil! Sie weiß nicht, wo sie sich niederlassen soll. Jedenfalls erklärt sie Munke für einen Aufenthalt, den sie selbst unter der Zusicherung einer Rente von jährlich 200&nbsp;000 Franks und Garantie einer fünfundachtzigjährigen Lebensverlängerung nicht wählen würde. Sie findet es hier ungewöhnlich reizlos und langweilig. Das begründet sich aber nicht aus dem Umstande, daß sie keine Interessen für Natur und Menschen besitzt – sie hat im Gegenteil zu eifrigen Sinn für alles und jegliches, und es giebt kaum einen lebhafteren Menschen auf Gottes Erdboden – sondern weil sie nicht herauskommt und mein Umgang ihr natürlich erschrecklich langweilig ist. Heute ist sie einmal zur Stadt, um Pferde zu besichtigen, die aus dem Stall des Baron von Gleichen verkauft werden. – Sie will jetzt reiten. – Mein Brauner ist ihr zu wild. – Bitte, ist es Ihnen gefällig, Frau Gräfin, daß wir diesen Umweg machen? – Ich darf mich dann noch etwas länger Ihrer Gesellschaft erfreuen!«

Esther stimmte bereitwillig zu und lenkte, wie Rock, ihren Gaul in einen einsamen, mit Gras dicht bestandenen und von hohen Knicken eingefriedigten, in langen Windungen nach dem Dorfe sich hinziehenden Weg. Es war hier ungemein heimlich, und die volle Poesie der nordischen Landschaft drang auf sie ein.

Nach einigen Bemerkungen darüber knüpfte Esther wieder an das unterbrochene Gespräch an und sagte:

»Bitte, erzählen Sie mir noch etwas von Ihrer Frau Schwester. Nach Ihren Andeutungen bin ich sehr gespannt, sie kennen zu lernen. Gewiß ist sie sehr schön?«

»Ja, ich glaube, daß man sie schön, ungewöhnlich schön sogar, nennen kann. Wenigstens hat sie etwas Fascinierendes in ihrer Erscheinung. Sie ist majestätisch schlank, biegsam und von einer außerordentlichen, natürlichen Grazie. Sie hat zufolge ihrer dunklen Farben etwas Zigeunerhaftes! – Ich denke mir, daß einst die schönen maurischen Frauen so ausgesehen haben!«

»So! So! Das klingt ja ungemein interessant. Und – wenn die Frage erlaubt ist – Ihre Frau Schwester will trotz ihrer Lebenslust und Schönheit nicht wieder heiraten?«

»Doch, doch! Gewiß!« stieß Rock eifrig heraus. Und dann in einem launigen Ton: »Aber bisher fand vor den Augen der Gräfin Maravedo noch niemand Gnade! Sie läßt die Männer an sich vorbeipassieren. Sie findet, daß sie Zeit hat. Sie ist auch noch in einem Alter, wo man heiraten kann, sie hat die dreißig bisher nicht erreicht.«

Nach Beendigung dieses noch eine Weile denselben Gegenstand behandelnden Gespräches und einigen Bemerkungen über ein der Ferne auftauchendes Gehöft, sagte Matthias von Rock plötzlich:

»Ich habe mich noch gar nicht recht nach Ihnen erkundigt, meine gnädigste Gräfin. Vor allem, wie geht's Ihrem verehrten Herrn Gemahl? Ist er mit seiner Gesundheit zufrieden? Ich frage umsomehr, weil ich mich trotz unserer spärlichen Berührung täglich mit Ihnen in meinen Gedanken beschäftigt habe. Alles, was Sie betrifft, behält für mich ein Interesse, als ob es mir selbst geschähe, und noch mehr!« – Die folgenden Worte sprach Matthias von Rock im Gegensatz zu den vorherigen sehr ernst betonten, schmeichelnd, jedoch in einem so liebenswürdig leichten Ton, daß sie einer Mißdeutung nicht unterliegen konnten: »Ich bedaure nur schmerzlich, daß ich nicht als Hunck von Kiel geboren und somit Ansprüche an Ihre Gunst hatte, wie sie ihm, dem glücklich Bevorzugten zu Teil geworden.«

Einen Moment stutzte Esther und das Rot der Verlegenheit schoß in ihre Wangen. Dann aber sagte sie, auch einen durch leise Ironie verstärkten, unbefangenen Ton annehmend:

»Ja, ja! Das sind die Reden der galanten Herren, wenn sie wissen, daß sie sicher vor'm Schuß sind! Was hätten Sie wohl mit Fräulein von Fouqué anfangen wollen, Herr von Rock, Herr Matthias von Rock, wie die Leute Sie allezeit nennen –«

Esther blickte nach diesen Worten Herrn von Rock verstohlen an, sie ward dazu gedrängt, da gerade sein Gaul – scheu geworden – ihm zu schaffen machte und so sein Auge sich nicht zu ihr wenden konnte.

Aber statt des leichten Ausdruckes, den sie erwartet hatte, sah sie, daß ein düstrer Ernst seine Züge beschattete, und nun hob er auch den Blick, sah sie tief und durchdringend an und sagte:

»Es war leider kein Scherz, Frau Gräfin, und ich denke, es kann mich in Ihren Augen nicht herabsetzen und es kann auch keinen Schaden anrichten, wenn ich das, was eben bei der Betonung meiner Freundschaft für Sie fast gegen meinen Willen über meine Lippen glitt, jetzt zufolge Ihrer Zweifel, ehrlich nochmals bekenne! Freilich weiß ich, daß meine Empfindungen einseitige waren. Ich fühlte gleich bei unserer ersten Begegnung, daß in Ihrer Seele etwas gegen mich sich auflehnte. Ich bin auch dessen gewohnt! Mein Blick soll etwas Abstoßendes haben, man schließt daraus ungünstig auf meinen Charakter. Aber lassen Sie mich von einem Thema abbrechen, daß ohne jegliche Nebengedanken von mir berührt und, seinem Inhalt nach, lange bedeutungslos geworden, – doch Ihre unbefangenen Empfindungen für mich beeinträchtigen könnte. Nur Freundschaft, wahre Freundschaft soll uns verbinden, und Ihnen davon stets Beweise an den Tag zu legen, wird mein eifrigstes Bestreben sein.«

Und nachdem er durch einen Blick sich versichert hatte, daß Esther alle seine Worte in dem von ihm gewünschten Sinne aufgefaßt, fuhr er fort:

»Und nun wieder zur Hauptsache. Ich erlaubte mir, nach Ihrem Herrn Gemahl zu fragen. – Bitte, erzählen Sie mir etwas von Ihrem Leben –«

Und seltsam! Was die junge Frau ihren nächsten Verwandten, ihrem Onkel und dem Arzt zu enthüllen sich nicht überwinden konnte – unterwegs hatte sie beschlossen, das Geheimnis nur Erwin vielleicht anzuvertrauen – eröffnete sie nun, plötzlich so mächtig gedrängt, als sei's ein Unrecht, seine Freundschaft nicht durch Vertrauen zu belohnen, Matthias von Rock. Sie erzählte, was geschehen, mit allen Einzelheiten und konnte es nicht erwarten, seine Meinung zu hören.

»Nicht wahr? Glauben Sie nicht auch, daß nun alles gut ist, Herr von Rock? Und wissen Sie, was ich meine: wenn Erwin erst einmal heiratet, ist überhaupt jede Gefahr für die Zukunft beseitigt!«

Matthias von Rock schien nicht ganz überzeugt, aber er nickte doch Esther's Worten sanft zu und sagte: »Gewiß, ich möchte es auch meinen! Nehmen wir es wenigstens als sicher an, liebe Frau Gräfin! Jedenfalls ist die rasche Rückkehr zu völliger Besinnung ein sehr gutes Zeichen. Im übrigen teile ich Ihre Ansicht, daß es das beste wäre, wenn Ihr Herr Gemahl seinem Bruder nicht mehr begegnete, und wenn jener sogar eine Ehe einginge!«

Und für sich murmelnd:

»Ja, ja, ja! Immer ist etwas. Keiner entgeht dem lauernden Verhängnis. Wo man denkt, alles sei glatt und eben, giebt's gerade Wolkenbrüche! Jeder muß sich eben einrichten mit seinem Schicksal.«

Eine längere Weile verharrte nach diesen Worten Matthias von Rock in stummer Verschlossenheit. Nur mechanisch bewegte sich seine Hand an dem Zügel des Gauls, und erst als dieser stolperte, ward er aus seinem Grübeln emporgerissen, erhob unter einem entschuldigenden Wort gegen Esther das Auge und sah sie mit einem eigentümlich tiefen Ausdruck an.

Er sprach auch fast gar nicht mehr, äußerte nichts über seine Schwester und deren Besuchsabsichten und sagte nur am Schluß bei der Trennung:

»Adieu! Adieu! Und vergessen Sie also nicht, meine teure Gräfin, daß hier ein wahrer Freund wohnt, und daß er – täglich Ihrer gedenkend – nichts sehnlicher wünscht, als diese freundschaftlichen Gefühle durch Thaten an den Tag zu legen! – Leben Sie wohl. – Und noch eins! Sie riefen meine Verschwiegenheit an, Sie brauchten es nicht. Es sei Ihnen offen bekannt! Ich wußte, was geschehen. Zufällig war ich in der Nacht in Ihrer Nähe – – Ja, ich wäre Ihnen, wenn nicht ein anderer gekommen, ein Retter und Helfer geworden – –«

Nach dieser plötzlichen und Esther's Inneres begreiflicherweise in die höchste Erregung versetzenden Eröffnung verschwand er, noch einmal sanft mit der Hand grüßend, in dem nach dem Gehöft führenden Seitenweg seines Anwesens.

* * *

Während Esther in's Dorf hinabritt, rief sie sich noch einmal alles, was zwischen ihr und Matthias von Rock gesprochen war, in's Gedächtnis zurück. Namentlich beschäftigte sie der Zweifel bekundende Satz: »Nehmen wir es wenigstens als sicher an, Frau Gräfin.« Aber auch die Schlußworte gaben ihr zu tiefem Nachdenken Anlaß.

Da er ihr gestanden hatte, daß er täglich an sie denke, daß er sie sogar liebe, überkam sie ein gemischtes Gefühl von Befriedigung und Unruhe. Fast unheimlich war's, daß er gerade in der Nacht neulich, wo das Furchtbare geschehen war, an Moorheide vorübergekommen war. Sie ward am Ende, ohne daß sie davon wußte, von ihm beobachtet. Nicht Zufall war's, daß Matthias zu so ungewöhnlicher Stunde dort gewesen. Und doch mußte es ja Zufall sein! Und auch die Schwester, die Frau mit der ungewöhnlichen Schönheit, drängte sich in ihre Vorstellungen, und plötzlich stieg in Esther die angstvolle Befürchtung auf, daß deren Erscheinen ihr neue Sorge bringen könne. So gingen ihre Gedanken hin und her!

Aber auch das war ja thöricht, und sie wußte es sich wieder auszureden. Was konnte denn geschehen? Endlich erreichte sie nun auch das Haus ihres Onkels, der eben auf seinem flinken Landwagen von einem Besuch heimgekommen war und im Begriff stand, das Innere zu betreten. Rasch half erst der Kutscher Esther vom Pferde, und dann schritt sie, ihren inzwischen allein herabgestiegenen Onkel sanft umarmend, in den Flur. Und Margerite erschien sogleich draußen, bewillkommte sie zärtlich und redete dringlich auf sie ein, das gerade bereitstehende Mittagessen mit ihnen einzunehmen.

»Ich werde ein bischen probieren, aber nur probieren! Ich darf meinem Gatten nicht als gesättigter Tischgast gegenübersitzen! Dann schmeckt's ihm nicht!« erklärte Esther launig; warf, bevor die Glocke ertönte, noch einen Blick auf den wie immer in einem berückenden Zauber dahingestreckten Park und eilte sich dann, ihren Platz einzunehmen.

Margerite hatte viel zu erzählen und war besonders aufgeräumt, dagegen verhielt sich der Doktor noch stiller als sonst, legte sogar beim zweiten Gang plötzlich die Gabel nieder und erklärte, daß er sich unwohl fühle und zurückziehen müsse. Den sorgenden Bemerkungen der Frauen begegnete er indessen mit leichten Worten, äußerte, daß Ruhe und Schlaf ihn wieder ganz herstellen würden und bat nur, daß ihm Esther seine geringe Aufmerksamkeit und sein Entfernen nachsehen möge. Die junge Frau erhob sich gerührt, küßte den feinen, alten Herrn mit dem gewohnten schwermütigen Ernst in den Zügen zärtlich auf die Wangen und nahm zugleich von ihm Abschied. Noch wurde kurz des demnächst stattfindenden Festes Erwähnung gethan, und Fouqué erwiderte auf Esther's Einladung mit einem: »Nun, wir werden ja sehen, mein teures Kind! Jedenfalls freut es mich, daraus zu entnehmen, daß es Hunck gut geht!«

Fouqué sah nicht mehr, wie Esther bei seinen Worten erbleichte. Leise das Haupt bewegend, nahm er den Weg hinüber in sein stilles Zimmer.

* * *

Zwei Tage später, gleich nach dem zweiten Frühstück, als Hunck und Esther sich eben zu einem Ausflug in den Park anschicken wollten, kam vom Schloß der Diener herübergelaufen und meldete, daß Herr Matthias von Rock und die Gräfin von Maravedo zum Besuch eingetroffen seien. Die Herrschaften wollten auch später sich nach dem alten Hause begeben. Die Frau Gräfin aber lasse fragen, ob der Herr Graf und die Frau Gräfin vielleicht Vergnügen daran fänden, hinüber zu kommen.

Ja, das wollten sie; sie würden dem Diener auf dem Fuße folgen! –

Beide waren äußerst begierig, nun endlich die schöne Frau kennen zu lernen, und sie wurden auch in ihren Erwartungen nicht betrogen. Man saß, als Hunck und Esther sich näherten, auf dem Gartenaltan: der alte Graf, die Gräfin, Eva und Herr von Rock bildeten eine Gruppe, Erwin hatte sich eben erhoben, um Rock's Schwester eine besonders schöne und seltene Blume zu zeigen.

Esther trat nach kurzer, herzlicher Begrüßung der anderen, mit lebhafter Zuvorkommenheit auf Anna Maravedo zu. Sie äußerte, daß sie schon von Herrn von Rock von der Gräfin gehört habe, sprach ihre Freude über die baldige Begegnung aus und gab der Hoffnung Ausdruck, daß sie sich während ihres Aufenthaltes recht häufig sehen würden, ja, daß es der Gräfin bereits am nächsten Tage gefallen möge, ein kleines Souper bei ihnen einzunehmen.

Esther hatte sich vorgenommen, ihres Freundes Schwester möglichst zu ehren. Es geschah auch mit Hunck's Zustimmung, dem sie von dem Zusammentreffen mit Rock erzählt hatte.

Aber auch die Gräfin legte bereits bei dieser erster Berührung eine große Herzlichkeit an den Tag, war von einer bezaubernden Artigkeit und gab gleich eine Probe ihrer scharfen Beobachtung, indem sie, als sich die Gelegenheit bot, in sehr humoristischer Weise von einem kleinen Abenteuer erzählte, das sie gestern in der Stadt gehabt.

Dabei kopierte sie einen Kellner und einen Fremden, ersteren als Beschützer und letzteren, einen Dandy, als aufdringlichen Kurmacher in überzeugender Weise, und namentlich Erwin wurde nicht müde, ihr wegen ihres Vortrages Komplimente zu sagen.

Die Gräfin gab sich, wenn solches geschah, in einer ganz eignen Art. Erst senkte sie das Haupt und spitzte, verlegen lächelnd, den Mund, und dann sah sie den Sprecher mit einem gefangennehmenden Blick an und umspann ihn mit ihrer Liebenswürdigkeit. Aber in ihre zweifellos leise Gefallsucht, die sie sowohl den Männern wie den Frauen gegenüber zur Anwendung brachte, mischte sich etwas unendlich Gutmütiges. Sie war auch, wenn schon beim Sprechen bisweilen ein amüsanter Sarkasmus zum Vorschein kam, in der That von einer großen Herzensgüte. Den Beweis legte sie an den Tag, als einer der Haushunde, zufällig unsanft berührt, laute Schmerzenlaute von sich gab und jämmerlich klagte. Sie nahm das kleine Geschöpf, einen seidenhaarigen Pudel, auf ihren Schoß, herzte und tröstete ihn und erging sich mit großer Lebhaftigkeit über einen Hund, den sie selbst bisher besessen hatte. Alles erregte überhaupt ihre Aufmerksamkeit und indem sie schnell, aber mit durchdringenden Augen die Menschen und Gegenstände musterte, bildete sich sofort ein feststehendes und zutreffendes Urteil in ihr. – Dabei sah sie – Matthias hatte nicht übertrieben – wie eine maurische Königin aus.

Um so eigenartiger wirkte ihre Erscheinung, als sie kleine ebenholzschwarze Löckchen an die Stirnseiten gescheitelt hatte, während das übrige Haar pompadourartig sehr hoch auf dem Haupte frisiert war.

Die Gräfin Anna von Maravedo gehörte zu den Frauen, die man ansehen und mit denen man sich beschäftigen muß; sie drückte durch ihre imposante, vornehme Erscheinung alles neben sich herab. Matthias von Rock war bei diesem Besuch dagegen sehr ernst, und seine unruhigen Augen gingen zu seiner Schwester. Er schien zu fürchten, daß sie in ihrer Lebhaftigkeit etwas Ungeschicktes thue, und schüttelte, wenn sie so übereifrig erzählte und offenbar ihrer Phantasie etwas die Zügel schießen ließ, mehrmals den Kopf, als ob er sagen wolle: Was sie da nun alles wieder zusammendichtet! –

Dagegen war er völlig in ihrem Bann, als sie auf Erwin's Wunsch, mit dem sie über eine Bizet'sche Melodie in's Gespräch geraten, sich im Salon an's Klavier setzte.

Sie spielte mit wahrer Meisterschaft, und Matthias äußerte selbst, nach einem Lob von Esther, mit starker Betonung:

»Ja, in der That, sie ist wunderbar talentvoll. Sie konnte schon als Kind eigentlich alles.«

Endlich rüsteten sich beide zum Abschied. Die Gräfin erklärte, am nächsten Tage sich einfinden zu wollen, und sprach auch noch die Bitte aus, vor der Abfahrt einen Blick in das alte Haus und den berühmten Park werfen zu dürfen.

Und so geschah es; man nahm den Weg dahin. Doch auch Erwin schloß sich an und blieb an der Gräfin Seite. –

* * *

Am folgenden Morgen war's Esther's erster Gedanke, mit Erwin zu sprechen und auch einen Boten nach Munke zu schicken, der Nachricht über das Befinden des Doktors einhole. Als sie es äußerte, erklärte Hunck, daß er Lust verspüre, am Spätvormittag einen Ritt dorthin zu machen; er fühle das Bedürfnis, dem Onkel seiner Frau durch persönliche Erkundigung eine Rücksicht zu erweisen.

Diesem Vorhaben stimmte Esther freudig bei, und als Hunck sich nach dem zweiten Frühstück in Bewegung setzte, begleitete sie ihn auf der Park-Landstraße bis zum Ausgang des Gutes. Während sie noch ein paar Worte wechselten und die junge Frau ihrem imposant im Sattel sitzenden Manne mit einer Art von stolzer Bewunderung die Hand entgegenstreckte, ward drüben auf dem Schloßweg Pferdegetrappel vernehmbar, und in demselben Augenblick schoß Erwin – offenbar gegen seinen Wunsch bemerkt – auf seiner arabischen weißen Stute vorüber. Jedenfalls that er, als ob er das Ehepaar nicht sehe. Unwillkürlich kam Esther der Gedanke, daß ihr Schwager auch auf dem Wege nach Munke sei. Sicher wollte er in die Nähe von Anna von Maravedo gelangen.

Daß er sich ganz außerordentlich für sie interessierte, war der jungen Frau am vorigen Abend, als sie gemeinsam im Schloß beisammensitzend des Besuches gedacht hatten, nicht entgangen. Ja, ein gewisses nervöses Nachfragen Erwins, ob die Gräfin ihr Kommen für den nächsten Tag sicher zugesagt habe, hatte Esther sogar auf den Gedanken gebracht, ihm vorzuschlagen, die Gräfin bereits zu Tisch einzuladen, und ihn zu bitten, ob er nicht ebenfalls schon dann ihr Gast sein wolle. Esther war aber davon zurückgekommen, weil sie alles zu vermeiden suchte, was möglicherweise Hunck erregen konnte. Sie wollte abwarten, wie sie diese Neigung, deren Zustandekommen ihr sehr am Herzen lag, am besten zu fördern vermöchte. In allen Fällen wünschte sie vorher ihres Mannes Ansicht zu hören, und erst wenn sie ihn gleichen Sinnes wußte, fand sie die Sicherheit, daß ihre Maßnahmen auch von ihm nicht falsch gedeutet, etwa gar so ausgelegt würden, daß sie nur einen Vorwand suche, mit Erwin in engere Berührung zu gelangen.

Zu ihrer angenehmen Überraschung sagte Hunck:

»Du, das war doch Erwin! Ich wette, er reitet auch nach Munke, um der schönen Gräfin zu begegnen. Weißt du, das wäre etwas! Sie ist eine reizende Frau. Erwin scheint sich sehr für sie zu interessieren. Was meinst du, wenn wir die Sache unterstützen?«

Esther nickte. »Du sprichst aus, was ich selbst gedacht und gewünscht habe. Aber ich wollte nicht damit beginnen. Ich wollte dich erst reden lassen. – Es könnte dir nicht passen –«

Hunck warf einen rasch fragenden Blick auf seine Frau. Dann aber sie verstehend, stieß er gerührt heraus:

»Du Seele, du! Immer denkst du nur an mich, suchst jegliches von mir abzuwenden. Meine Esther! Wie ich dich liebe!«

Nach diesen von einem starken Gefühl getragenen Worten bückte er sich tief aus dem Sattel herab, umfaßte ihre reizende Gestalt, hob sie mit seinen mächtigen Armen sanft zu sich empor und berührte zärtlich ihre Wangen. Dann aber setzte er seinem Hengst die Sporen in die Weichen und flog davon. – Glückselig ging die junge Frau in's Haus zurück.

In diesem Augenblick vermeinte sie, niemand habe ein ähnlich herrliches Los wie sie, und nichts könne den Frieden ihrer Seele jemals wieder stören. Um so erschrockener faßte sie sich an's Herz, als sie beim Eintritt in's Haus einen Bauern vorfand, der ihr einen Brief von – Matthias von Rock überreichte.

Ihr ahnte nichts Gutes. Hastig fertigte sie den Boten ab, beschritt das Wohngemach und entfaltete fieberhaft aufgeregt, den Umschlag.

Und dann las sie:

»Meine liebe, teure Gräfin!

Was ich sicher nicht gehofft, ist eingetroffen. Meine Schwester interessiert sich sehr lebhaft für Graf Erwin, und – ich glaubte gestern schon mehr zu sehen, als ich mochte – er sicher auch für sie!

Ich bitte Sie nun von Herzen: fördern Sie diese Neigung nicht! Ich werde auf meine Schwester einwirken. Erheben auch Sie – aus irgend welchen Gründen – bei Ihrem Schwager Ihre abratende Stimme. Den wirklichen Grund zu meiner Bitte kennen Sie. Es kann alles gut gehen, aber auch das Gegenteil eintreten. O, schelten Sie mich nicht unzart, zürnen Sie nicht! Am besten wäre es, Sie schützten etwas vor und sagten meiner Schwester noch heute ab. Noch ist sicher der kleine Funke zu löschen, später wird's eine Flamme, gegen die wir keine Macht haben.

So sehr beschäftigt mich die Thatsache, die ich wohl für denkbar hielt, aber mir auszureden suchte, daß ich meine Schwester veranlassen werde, bereits in diesen Tagen wieder abzureisen.«

Esther sank, den Brief in den Schoß gleiten lassend, nieder und ließ das Haupt tief herabfallen. Da war wieder das alte Gespenst des Schreckens! Und wieder griff dieser Mann ein und erhob seine warnende Stimme! – Fast lehnte sie sich gegen ihn auf, fand sein Eingreifen unzart und war geneigt, sich seiner Bevormundung zu entziehen. Sie sah auch keinen Grund. Nie hatte sich bei Erwin die geringste Störung gezeigt. Und dann sagte sie sich doch wieder, daß sie unrecht thue, daß es seine Schwester sei, die er liebte, und daß er nach besten Kräften für sie handeln müsse.

Aber was sollte nun geschehen? Die Einladung an die Gräfin rückgängig zu machen, war unmöglich, schon deshalb, weil Esther eben gerade die gegenteiligen Maßnahmen mit ihrem Manne verabredet hatte, sie auch Hunck weder von dem tieferen Inhalt ihrer Gespräche mit Matthias von Rock, noch von diesem Briefe Mitteilung machen konnte. Ihm durfte nicht einmal der Gedanke kommen, daß man sich in dieser Richtung mit ihm beschäftigte.

Und sonst einzugreifen, war auch schwerlich eine Möglichkeit gegeben, teils Erwin schon zweifellos heute selbst einen Schritt zur Annäherung an die Gräfin gethan hatte.

So beschloß denn Esther gezwungenermaßen nur insofern Herrn von Rocks Bitten Folge zu geben, als sie nichts solche Pläne Förderndes ferner unternahm. Sie setzte sich auch gleich an den Schreibtisch und teilte Herrn von Rock alles das eben Durchdachte mit und gab in den Schlußzeilen anheim, die Abreise seiner Schwester nach Möglichkeit zu beschleunigen.

Erst als dieser Brief von ihr durch einen jungen Burschen abgesandt war, kam ihre frühere Ruhe einigermaßen wieder über sie, und diese ward durch die Überlegung gestärkt, daß sie ja das beste gewollt und, indem sie so gehandelt, ihre Pflicht erfüllt habe!

Dennoch bedurfte sie an diesem Tage noch einer fortgesetzten Selbstbeherrschung.

Hunck kam mit der Nachricht zurück, daß Doktor Fouqué's Zustand sich nicht gebessert, sondern verschlimmert habe. Er hütete, was bei ihm nie vorkam, das Bett, und hatte Hunck durch Margerite bitten lassen, von einem Besuch in seinem Krankenzimmer abzusehen. Unter solchen Eindrücken und Empfindungen die Gräfin zu empfangen und ihr einen vergnügten Abend zu bereiten, war somit eine sehr unwillkommene und große Selbstverleugnung erfordernde Aufgabe. Aber auch Hunck sich nicht eröffnen zu können, quälte Esther, sodaß sie bei dem endlichen Eintreffen der Gräfin ihre ganze Willenskraft zusammennehmen mußte, um dem Gast ein sorglos fröhliches Gesicht zu zeigen.

Was aber sie an diesem Abend nicht vermochte, das ersetzte die Gräfin durch ihre sprudelnde Lebhaftigkeit. Sie war von unerschöpflicher Laune und wußte die Anwesenden sowohl durch ihre amüsanten Geschichten, wie durch ihre Vorträge auf dem Piano in höchstem Grade zu fesseln. Zuletzt pfiff sie in wahrhafter bezaubernder Weise einige Volksmelodien und legte auch im Kopieren von Tierstimmen eine große Meisterschaft an den Tag.

Der alte Graf Kiel war ganz entzückt von ihren Talenten, sagte ihr wiederholt Komplimente und machte ihr zuletzt den Vorschlag, auf einige Zeit zum Besuch nach Moorheide zu kommen. Auch die Gräfin unterstützte diese Einladung in lebhaftester Weise, und sie ward wiederum von Graf Erwin abgelöst.

»Was haben Sie zu verlieren, gnädigste Gräfin? Sie sind doch nur gekommen, um sich hier einige möglichst angenehme Tage zu verschaffen,« hub er an, als sich die Anwesenden nach Schluß des Soupers zu einem Gang durch den Park aufmachten, und er an ihrer Seite dahinschritt.

»Natürlich, wir haben nicht viel mehr zu bieten, als unseren guten Willen, aber jedenfalls ist's bei uns nicht so einförmig wie in dem düstren Hause Ihres Herrn Bruders –«

»Aber ihm wehe zu thun, fürchte ich, Herr Graf!« erwiderte Anna. »Wenn ich noch schwanke, den verführerischen Vorschlag Ihres Herrn Papa anzunehmen, so leitet mich lediglich die Rücksicht auf Matthias.

Sie wissen, er ist ein unberechenbarer Sonderling! Sicher, ich weiß, daß er mir kein Hindernis in den Weg legen wird, aber ebenso sicher ist's, daß er es lieber nicht sieht. Er wollte ja anfänglich, daß ich nicht einen einzigen Besuch machen sollte. Nur der Aufforderung der Gräfin Esther hat er sich nicht entziehen können. Sonst säße ich noch abgesperrt in seinem dicht verschlossenen Hause und müßte mich mit den Erinnerungen an andere ebenso bevorzugte und anziehende Menschen zu trösten suchen –«

Sie sprach's, sah Erwin an und lächelte schelmisch.

»Ah! Wie das wieder liebenswürdig ausgedrückt war,« rief Erwin. »Ein solches Urteil muß uns wahrlich stolz machen. Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre gute Meinung, hochverehrte Frau Gräfin! Und zufolge einer solchen hoffe ich auch, daß Sie Ihr Zaudern, unser Gast zu sein, noch überwinden werden! Es wäre zu reizend, wenn Sie es ausführten, meine allergnädigste Frau!«

Anna Maravedo erhob das Auge und warf einen eigentümlich durchdringenden Blick auf den Sprecher. Dann sagte sie, anmutig das Haupt bewegend:

»Wenn ich Sie so sprechen höre, Herr Graf, wahrlich, ich könnte eitel werden. Aber ich werde nicht in die Falle hineinschlüpfen. Ich weiß, wie es ist! Jetzt, wo Sie nur Bäume, Wiesen und den blauen Himmel sehen und die Waldquellen rauschen hören, ist Ihnen eine weibliche Erscheinung etwas neues und besonderes, und dieser Umstand weckt Ihren Enthusiasmus. Wenn Sie aber in Ihr herrliches Berlin zurückkehren, wenn all die zahlreichen, schönen und geistvollen Frauen wieder vor Ihnen auftauchen, werden Sie darüber lächeln, Anna Maravedo überhaupt Beachtung geschenkt zu haben. Und ich meine das wirklich aufrichtig, Herr Graf, nicht, um Sie zu Komplimenten herauszufordern. Ich habe zu viel erlebt und erfahren, um noch an etwas zu glauben. Es kommt hinzu, daß ich eine solche Beachtung durchaus nicht verdiene. Erstens gehöre ich nicht mehr zu den jungen, sodann ist mein Charakter etwas flüchtig, und auch mein Geschmack wechselt leicht. – Ich bin im Grunde nur ein netter Mensch auf Zeit! Nachher sieht man hinter meine Koulissen und erkennt, daß alles anders ist. Sie sollten nur meinen Bruder über mich hören. Sie würden in ihrer guten Meinung schrecklich beeinträchtigt werden!«

»O, nein! Sie irren, Frau Gräfin. Er sagte mir jüngst, er wisse nicht, ob Sie mehr Temperament, Verstand, Herz oder Talent besäßen. Von allen hätten Sie aber mehr als hundert Frauen zusammen.«

»Hm – Hm! Wirklich? Sie haben aber sicher sein »aber« weggelassen. Er ist nämlich einer von denen, die man als zu der »Familie Aber« gehörend, bezeichnen könnte. Überall hängt er das kleine Wörtchen an. – Freilich hat er auch viel Schweres erlebt.«

»Man sagt so. Er sprach nie darüber. Darf man fragen, was ihn so ernst und einsiedlerisch gemacht hat?«

»Ja, aber verschließen Sie es in sich. Er mag nicht, daß man darüber redet. Er war verlobt und seine Braut betrog ihn schamlos. Er hat dann etwas sehr Unbesonnenes in seiner Leidenschaft gethan. Zum Glück kostete es jener nicht das Leben, aber bei ihm blieben die furchtbaren Eindrücke, und da floh er, im übrigen auf eine sehr arbeitsreiche Vergangenheit zurückblickend, in die Einsamkeit hierher.«

»Ich danke Ihnen für dies Vertrauen, Frau Gräfin. Jetzt sehe ich Ihren Herrn Bruder mit anderen Augen an. Er hat mir stets großen Respekt eingeflößt, aber sein Sonderlingswesen stieß mich doch ein wenig ab.«

»Ja, ich kann's mir denken, aber er ist doch ein herrlicher Mensch –«

»Wie alle Rock's –!«

»Nun, sind Sie schon wieder bei den Artigkeiten, Herr Graf –«

»Kann man es unterlassen, Ihnen schöne Dinge zu sagen, Frau Gräfin? Haben Sie es überhaupt je erlebt, daß jemand in Ihrer Nähe seinen Kopf im Gleichgewicht behielt? Aber eben deshalb macht ein ehrliches Wort auch keinen Eindruck auf Sie. Sie denken, es ist der Taumel, in den Sie nun einmal alle Menschen versetzen. Bei mir ist's aber anders. Ich bin schon über den Rausch fort, ich habe erkannt, daß die Begeisterung für Sie sich als etwas Permanentes in mir eingewurzelt hat.«

Nach diesen Worten ergriff Erwin Kiel die Hand der schönen Frau, die von einem hellen, schwerseidenen Shawl umflossen, mit ihrer hohen dunklen Gestalt neben ihm herschritt und drückte einen leidenschaftlichen Kuß darauf.

Und Anna Maravedo zog sie nicht zurück, sie zeigte sogar, was auch in ihr vorging. Denn bevor sie nun eben in ein Bosket einbogen, in das die anderen vorangeschritten waren, hielt sie still, sah ihm tief in die Augen und sagte weich, aber mit großem Ernst:

»Wer entzöge sich dem Zauber, von einem andern bevorzugt zu werden, besonders wenn dieser ein Mann Ihresgleichen ist, Herr Graf? Aber –« und nun zog's wehmütig über ihr dunkles Angesicht – »immer endet mit schnellerem Erlöschen, was so wild aufflammt. Ich bin nicht arglos mehr, wie einst als junges Mädchen. – Es drängt sich im Gegenteil stets gleich die Furcht in mein Herz, daß der helle glänzende Vorhof nur einen um so düsteren Hintergrund berge – Treue! Welch ein Wort! Können Sie Treue üben, Herr Graf?«

»Ja, ich kann's. Es ist unsere, der Kiel's Art!« stieß der Mann, von ihrem schwermütig leidenschaftlichen Blick berührt, mit tiefer Empfindung heraus. »Stellen Sie mich auf die Probe – Sie werden sich nicht täuschen –«

Nun lächelte sie, ja sie lachte, daß es hell durch den stillen Abend klang.

»Nein, nein, nein! Proben dauern Jahre! Die stelle ich nicht an. Dazu fehlt mir Zeit und Lust. Ich gehöre zu den naschenden, raschen Vögeln! Hindernisse zu durchgraben, das ist nicht meine Art. Es muß sonnig, frisch und lustig um mich sein, und schnelles Handeln mit Ja oder Nein ist mein Gebot und Evangelium.

Doch da rufen die anderen! Schon kommt Frau Esther wieder aus den Boskets heraus! Ich bitte, kehren wir um, gehen wir ihnen entgegen und schließen uns ihnen an!« –

Nach diesen fest und in einem veränderten Ton gesprochenen Worten schritt sie voran und ließ den etwas enttäuschten Grafen ihr folgen. – –

* * *

Der folgende Tag brachte für Esther insofern eine stärkere Anspannung, als am nächsten die Fête stattfinden sollte, die sie geben wollten. Ihr Sinn stand aber gar nicht darnach, einmal, weil sich keine Gelegenheit gefunden hatte, Erwin ungestört zu sprechen und ihm an's Herz zu legen, daß er möglichste Rücksicht auf Hunck nehmen möge, anderenfalls, weil's in Munke noch nicht gut aussah. Schon am Frühmorgen hatte sie wieder einen Boten hinausgesandt und nach ihres Onkels Befinden fragen lassen, auch erklärt, daß sie das Fest absagen wollten, wenn Fouqué's nicht dabei sein könnten.

Aber der Doktor hatte sich auf's entschiedenste dagegen erklärt, vom Bett aus sogar ein paar Worte an Esther geschrieben. Er hoffe in ein bis zwei Tagen das Fieber überwunden zu haben und, wieder völlig gekräftigt, aufstehen zu können. Sie möge sich keinen Besorgnissen hingeben.

So hatte sich denn die junge Frau einigermaßen beruhigt, es sich aber nicht nehmen lassen, am Spätnachmittag noch einmal nach Munke zu schicken, ihrem Onkel Blumen zu übersenden und ein paar zärtliche Worte zu schreiben.

Eine Stunde vor dem Abendessen und bevor noch neue Nachrichten über des Doktors Befinden eingetroffen waren, begab sich Hunck nach dem Schloß herüber, um die Seinigen zu fragen, ob es ihnen genehm sein, daß er in Esther's Begleitung nach dem Thee zum Plaudern hinüberkomme.

Und gerade zu derselben Zeit hatte sich Erwin zu denen im alten Hause aufgemacht, aber während Hunck den Weg über den Parkhof nahm, schlug Erwin den sich um den Park herumziehenden Landweg ein.

Als er sich dem Hause seiner Geschwister näherte, stand eben Esther vor der Thür und beobachtete das Abladen von Gegenständen, die der Kutscher für das morgige Fest aus Horst herbeigeholt hatte. Franz und ein kleiner Groom mit Namen Peter waren eifrig um das Gefährt herum, und da der Weg in's Haus dadurch zeitweilig versperrt ward, blieben Esther und Erwin, einem unwillkürlichen Impuls folgend, im Freien, traten in den hinter dem Hause liegenden Garten und von da in den Park.

Nachdem fast den ganzen Tag von dem stillen, bedeckten Himmel ein feiner Regen herabgerieselt war, hatte nun gegen Abend der Mond die Höhe geklärt, und die feuchte Erde löste in zarte, warme Dünste auf, was ihr Schoß in sich hatte aufsaugen müssen. Wunderbare Nebel wallten über dem großen grünen Rasen, aber sie stiegen auch empor zu den den Park umgrenzenden Waldabschnitten, den vereinzelt auftauchenden, hoch- und breitstämmigen Bäumen und den dichten Gebüschpartien, also, daß ihre Leiber zur Hälfte in einem warmen Dunstbade zu stehen schienen.

Aber während diese Nebel auf den Wiesen in einem weißen, wolkenähnlichen oder in einem sanften Azur erglänzten, nahmen sie in den Lichtungen des Gehölzes eine zartgraue, mit Smaragdgrün durchwirkte Färbung an, und der schweigsam aufstrebende, dunkle Wald erhielt durch ihre Umarmung etwas geisterhaft Geheimnisvolles.

Aber nicht Beängstigendes hauchte diese warme, dunstige Luft aus; vielmehr sog die Brust einen milden, durch den Duft von Gräsern und Blumen gewürzten Atem ein, und so erhöhte die Natur, auch dadurch den Sinnen schmeichelnd, den unendlichen Zauber ihrer abendfriedlichen Schönheit.

Und teils von diesem Zauber unbewußt angezogen, teils durch den Inhalt des Gespräches fortgerissen, achteten Esther und Erwin nicht darauf, daß sie sich immer weiter von dem Hause entfernten. Was Erwin noch vor dem Abendessen hergetrieben, das löste er von seinen Lippen. Er bekannte Esther, bevor sie von ihren eigenen, sie tief bewegenden Angelegenheiten zu sprechen Gelegenheit fand, daß er Anna Maravedo leidenschaftlich liebe, und daß er gekommen sei, sie zu bitten, die Gräfin über ihre Gesinnungen für ihn auszuforschen.

Er erklärte, daß er entschlossen sei um ihre Hand anzuhalten, wenn Esther ihn dazu ermutigen könne.

Esther geriet durch diesen Antrag in einen so gewaltigen Widerstreit, daß sie zunächst gar keine Worte fand. Wenn sie an ihrer persönlichen Neigung festhielt und ihren Vorstellungen folgte, daß sich durch eine Vereinigung der beiden die glücklichste Wendung aller Dinge vollziehen werde, konnte sie ihm nur mit einem freudig bereitwilligen Ja antworten. Nach den Zeilen von Herrn von Rock aber hatte sie ja den Entschluß gefaßt, in keiner Weise einzugreifen. Wie denn die Dinge sich gestalteten, – sie wußte sich frei von jeder Schuld. Bei dieser ihrer Entschließung war ihr freilich gar nicht der Gedanke gekommen, daß Erwin sie in ein solches Vertrauen ziehen werde. Nun aber drängte sie ihr unvergleichliches Herz, dem Bittenden zu helfen.

Könnte sie ihm seinen Wunsch abschlagen, ohne sich in ein sonderbares Licht zu stellen. Welchen Grund sollte sie für ihre Weigerung anführen? Den wahren vermochte sie ihm nicht mitzuteilen. –

Während sie noch angstvoll sann, was sie thun sollte, kam ihr der Gedanke, sich durch offenen Ausspruch dem Auftrage zu entziehen.

Indem sie Erwin mit einem bezaubernden Freimut die Hand entgegenstreckte, sagte sie:

»Nicht wahr, mein lieber Erwin, du glaubst, daß ich dir von Herzen gut bin und dir jegliches Opfer mit Freuden bringen würde? Aber ich bitte dich, sieh von deinen Wünschen ab, daß ich in dieser Sache eingreife. Du hast natürlich ein Recht nach den Gründen meiner Weigerung zu fragen. Ich bitte es nicht zu thun, mir vielmehr, ohne Erklärung, zu glauben, daß mich gewichtige Gründe leiten. Dabei verhehle ich dir nicht – und ich denke, du wirst durch diese Erklärung schon völlig befriedigt sein – daß es mein höchster persönlicher Wunsch ist, daß du die Gräfin heiratest, daß also nicht Abneigung gegen diese Verbindung mich leitet. Willst du, daß jemand für dich sondiert, ziehst du es nicht vor, selbst zu reden, so bitte, betraue jemand anders mit der Mission, die Gräfin auszuforschen. Ich bin überzeugt, daß Hunck mit Freuden deinen Wunsch erfüllen wird. Ja, Erwin, du erzeigst mir sogar einen Dienst, wenn du, im Fall du dich fremder Hilfe bedienen willst, ihn zum Vertrauten machst.«

Erwin hatte seiner Schwägerin mit sichtlich starker Befremdung zugehört und als sie nun schwieg, forschte er noch immer in ihren Zügen. Was sie ihm gesagt hatte, beschäftigte ihn trotz ihrer Erklärung ganz außerordentlich, und man sah's seiner Miene an, daß er nicht die Absicht hatte, sich ohne weitere Nachfrage zu beruhigen. In der That stieß er heraus:

»Daß dich, liebe Esther, stets nur vornehme Motive leiten, weiß ich. Also dieser Punkt ist erledigt. Ich nehme meine Bitte zurück. Aber du erzeigst mir einen wahrhaft geschwisterlichen Dienst, wenn du mir wenigstens eine Frage wahrheitsgetreu beantwortest. Hängt deine Weigerung mit Wünschen zusammen, die von Matthias von Rock ausgehen? Ist er vielleicht gegen die Partie und hat dir Versprechungen abgenommen?«

Esther war bei diesen Worten, als ob sie vor Unruhe in die Erde sinken solle. Aber dann faßte sie sich, eingedenk der Verantwortung, die sie auf sich lud, wenn sie Erwin in Zweifeln bestärkte, rasch und sagte:

»Wenn du der Gräfin Jawort erhalten hast« – sie betonte das Wort – »wird Matthias von Rock dich wie einen Bruder an sein Herz ziehen. Das ist nicht nur meine Überzeugung, das ist Sicherheit. So nun habe ich deinen Wunsch erfüllt und ich hoffe, mein lieber Erwin, die Antwort befriedigt dich vollkommen. Gestatte nur, daß ich dir auch noch eine schwerwiegende Mitteilung mache und dir eine Bitte vorlege. Hunck hat neulich Nacht infolge von Eifersucht, die ihn nun doch gegen dich ergriffen hat, einen entsetzlichen Anfall gehabt. Er war vollkommen irrsinnig, verfolgte mich durch das Haus in's Nebengebäude und hätte mich in seiner sinneberaubten Erregung erwürgt, wenn Franz nicht hinzugetreten wäre. Ich habe lange geschwankt, ob ich dir diesen bisher verschwiegenen Vorfall mitteilen solle. Ich zauderte, weil ich weiß, wie sehr es auch dich, der du Hunck so zärtlich liebst, beunruhigen würde. Du kannst ja jetzt Moorheide nicht verlassen, obgleich dadurch die einzige völlige Sicherheit gegeben wäre, daß er keiner neuen Wahnvorstellung erliegt. Wenn ich trotzdem spreche, so ist's, weil die Unruhe, zeitweilig beschwichtigt, mich doch wieder in solcher Stärke gepackt hat, daß ich mir nicht zu helfen weiß. Auch erscheint es mir als Pflicht, dich nicht in der bisherigen Ahnungslosigkeit zu belassen. Nur indem ich dich verständigte, kann ich Unheil sowohl von ihm als auch von dir abwenden. Er weiß in seinen Anfällen ja nicht, was er thut. Also, mein teurer Erwin, ich habe dich bitten wollen, gütigst alles zu vermeiden, was irgend ihn aufregen könnte. Willst du dich dieser Bitte erinnern und mir nicht zürnen, daß ich dir das alles gesagt habe?«

Aber schon während sie die letzten Worte gesprochen hatte, und nun Erwin in lebhafter Teilnahme auf sie einredete, ergriff Esther eine andere furchtbare Angst. Ihr fiel ein, daß sie schon sehr lange fort waren, daß Hunck nach ihr fragen werde, und daß möglicherweise seine Eifersucht wieder Nahrung finden könne. Und da stieß sie denn – von einer schier unerträglichen Unruhe erfaßt – heraus:

»Höre, Erwin! Wenn du mich ein wenig lieb hast, dann beschwöre ich dich, nimm jetzt sofort den Weg allein an's Haus zurück, suche Hunck auf und sprich mit ihm, was du für richtig hältst. Sage nicht, daß du mich gesehen hast, sage vielmehr, ich sei, wie du gehört, wegen einer Besorgung noch einmal in's Dorf gegangen. Willst du, Lieber? Habe Dank! Mache rasch und sage Hunck, du hättest uns beide gesucht, um wegen heute Abend zu sprechen.«

Hierauf ihrem Schwager noch einen letzten, warmen Blick zuwerfend, verschwand sie eiligen Schrittes hinter den Knicken des Weges.

* * *

Als Esther nach reichlich einer halben Stunde auf dem Landwege neben dem Gemüsegarten das Haus wieder erreichte, trat gerade Franz aus der Thür, um einen von Hunck's Jagdhunden in den Stall zu bringen. Sie fragte ihn sogleich, ob der Graf drinnen sei und dann, ob Nachrichten von Munke eingetroffen wären.

»Herr Graf ist mit Herrn Grafen Erwin nach dem Schloß zu gegangen, er sagte, er werde bald zurückkehren. – Von Fräulein von Fouqué ist drinnen ein Brief. Ich habe ihn bereits auf der Frau Gräfin Platz in's Eßzimmer gelegt.«

Esther atmete auf. So hatte sich denn nichts Unerfreuliches ereignet. Hunck hatte sich mit seinem Bruder, arglos plaudernd, fortbegeben, und hoffentlich brachte auch Margerite's Brief Gutes.

Rasch betrat sie, die vorderen Wohngemächer zur Linken beschreitend, das Speisezimmer, ergriff ihrer Tante Schreiben und stellte sich, um besser sehen zu können, an das auf den Garten schauende Fenster.

Aber während sie noch las, war's ihr plötzlich – und ein Angstschauer, dessen sie nicht Herr werden konnte, durchrieselte ihr Gebein – als ob jemand von draußen sie beobachtete, und als sie nun, gewissermaßen gezwungen, das Auge erhob, um sich über diese Vorstellung zu vergewissern, sah sie zu ihrem Entsetzen ihren Mann mit demselben irrsinnigen Blick jener Nacht sie beobachten.

Der Brief entfiel ihr, die Glieder schlotterten, und von einer Lähmung jedes Willens – zugleich aber von einer erhöhten entsetzlichen Angst erfaßt – griff sie, die Augen schließend, nach der Fensterbank. Und dann öffnete sie sie doch wieder, um nach ihm zu schauen, sich zu überzeugen, ob es denn wirklich Wahrheit sei, und wenn, ihn hereinzurufen, um sich ihm zu Füßen zu werfen und ihn anzuflehen, sich zu beruhigen.

Doch war er nicht mehr dort, wohl aber hörte sie jetzt nebenan schnelle, hastige Schritte – und im nächsten Augenblick ward die Thür aufgerissen. Dann warf er sich – ein furchtbares Bild der Zerrüttung – über sie, umkrallte mit der Rechten ihr Handgelenk und griff mit der Linken nach dem von ihr wieder emporgerafften Brief. Und dann schob er das Schreiben den gierigen Augen näher und las.

Aber schon nachdem er die ersten Zeilen durchflogen, ließ er sie wieder fallen, wankte zurück, fiel in einen Stuhl und bedeckte, – von dem Anfall ebenso rasch erlöst, wie er ihn ergriffen hatte – in tiefster Beschämung sein Angesicht.

Leises, stöhnendes Wimmern drang aus seinem Munde. Auch erhob er sich, schob sich zu seinem Weibe, das neben dem Fenster in einen der hohen Lehnstühle gesunken war und benetzte niederkniend mit seinen Thränen ihre Hände.

»O, Esther, meine Esther – wache auf – und vergieb. – Sieh, weinend liege ich vor dir.«

Aber ihre Augen blieben geschlossen; der lähmende Schreck, der ihr an's Herz emporgestiegen war, ließen sie kaum hören, was er sagte.

Nun wiederholte er seine Worte immer von neuem, sprang zuletzt – von schrecklicher Furcht gepackt – empor, benetzte ihre Stirn mit kölnischem Wasser, ließ den Duft auf sie einwirken und löste einen jauchzenden Wonneschrei aus seiner Brust, als sie endlich, tief Atem holend, die Augen aufschlug.

Und als sie ihn nun wieder, wie jüngst, vor sich sah, gesund, flehend, ihr Auge zärtlich suchend, erfüllte auch sie, wie damals, nur das Gefühl befreiter Glückseligkeit, und mit einem stöhnenden Laut der Wonne streckte sie die Arme lang und weit aus und schloß ihn an ihr Herz.

Und in der Nacht, als sie von Träumen aufgeschreckt, leise Licht machte und, um sich sehend, ihn sanft und ruhig schlafend fand, faltete sie, wie ehedem, die Hände und sandte einen stummen Blick ohne Worte zum Himmel hinauf, einen so demütig, flehenden, rührenden und dankbaren Blick, daß er wohl einen Dämon hätte rühren müssen, wenn von seinem Willen und Gebot ihr ferneres Schicksal abgehangen haben würde.

Ihr Geist umfaßte alles Geschehene; sie vergegenwärtigte sich die Ursache und das Ende des krankhaften Ausbruches und indem sie sich alles vor Augen stellte, verwandelte sich auch die letzte Zaghaftigkeit, mit der sie den kommenden Tagen entgegensah, in eine feste Hoffnungsfreudigkeit. Ihr Herz, das allein sprach, weil es sich sehnsuchtsvoll anklammerte an das Glück, das ihr die Liebe dieses Mannes verschaffte, flüsterte ihr zu, daß mit diesem Male das Ende seiner Krankheit gekommen, daß nun eine Wiederkehr sie nicht bedrohe.

Was wäre der Mensch, wie könnte er leben, wenn er nicht die Fähigkeit besäße, den abgerissenen Faden seiner Hoffnungen immer wieder anzuknüpfen!?

* * *

Die Nachrichten, die Esther aus Munke von ihrem Onkel empfangen hatte, lauteten nicht eben besser, aber auch nicht schlechter.

Das Fieber habe ein geringes nachgelassen, berichtete Margerite, und auf Dr. de Fouqué's besonderen Wunsch hatte sie hinzugefügt, er bäte nochmals dringend, wegen seiner Unpäßlichkeit nichts in den getroffenen Bestimmungen zu ändern.

So gewann denn Esther auch nach dieser Richtung Mut, und als endlich der Abend kam und vor das glänzend erleuchtete alte Haus ein prachtvolles Gefährt nach dem anderen vorfuhr und die nach Moorheide entbotenen Gäste entlud, gab sie sich fast ganz ihren Frohgefühlen hin.

Es war in der Umgegend bekannt, daß man nirgend besser speiste, als beim Grafen Hunck, aber nicht minder, daß man sich in dem alten Hause immer vortrefflich amüsierte.

Esther wußte dafür zu sorgen, daß nie Pausen in der Unterhaltung eintraten. Sobald sie sah, daß irgend wie die Konversation stocken wollte, gar einer der Herren oder Damen die Bilder an den Wänden betrachtete, trat sie sogleich hinzu und wußte sie entweder selbst durch ein Gespräch zu fesseln oder den eben noch Vereinsamten zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines kleineren oder größeren Kreises zu machen. Auch besaßen sie beide den richtigen Blick für die Neigungen jedes einzelnen ihrer Gäste.

Wer sich mochte, der saß stets und auch an dem heutigen Tage beisammen. Fremd sich gegen einander verhaltende Personen wurden bei Tisch streng von einander geschieden. Dazu gehörte ein vollkommenes Studium, aber sie ließen es sich niemals verdrießen, so lange zu überlegen, bis sie das Rechte getroffen hatten.

Eines jener Feste war's, an denen der einzelne völlig vergaß, was draußen war. Alle gaben sich einer ungeteilten Lust hin, die Champagnerpfropfen flogen, der prickelnde Wein floß über, und die Kehlen sogen das verführerische Naß begierig ein.

Als nach mehrstündiger Sitzung die Tafel aufgehoben ward und man nach Kaffee und Cigarren zum Tanz schritt, war die Stimmung noch so belebt, daß auch die älteren Herren und Damen an Polonaise und Walzer teilnahmen.

Der Tanz fand in einem der oben im Flügel liegenden goldverzierten Säle statt. Die Musikanten, die Hunck aus Horst hatte kommen lassen, saßen in einem eigens dort errichteten Kapellenraum auf hoher Estrade und exekutierten eine wahrhaft fortreißende Musik.

Ganz besonders fiel unter den Gästen die Gräfin Maravedo auf. Sie trug ein prachtstrotzendes weißseidenes Kleid mit reicher, langer Schleppe, in das sanfte, gelbe Bouquets eingewirkt waren. Eine einzige gelbe Sonnenblume in scharfem Kolorit saß in ihrem schwarzen Haar und ein diamantbesetzter Gürtel umschloß ihren schlanken Leib. So schön war sie, daß selbst Hunck, der immer sonst nur Augen für Esther hatte, sie stets von neuem betrachten mußte und es auch nicht unterlassen konnte, sie in ein längeres Gespräch zu ziehen.

Dessen freute sich Esther überaus. Je freier, fröhlicher und ungezwungener er sich gab, desto sicherer fühlte sie sich. Aber als sie wenig später sich im Vorgemach an den Büffettisch begab, um dafür zu sorgen, daß kühlende Getränke herumgereicht wurden, sah sie zu ihrem großen Befremden Erwin an einer Bowle stehen und ein Glas nach dem andern, und zwar mit einem Ausdrucke herabstürzen, als wolle er irgend eine starke Erregung herabdämpfen.

Sie trat sogleich voll Teilnahme auf ihn zu, und während von drinnen die Klänge eines stürmischen Galopps zu ihnen herüberdrangen, nebenan das lustig klingende Gläsergeklirr von den Tischen der lebhaft schwatzenden und rauchenden älteren Herren ihr Ohr traf, auch rundum alles in Licht, Herrlichkeit und Freude schwamm, stand er blaß, erregt sich über die feuchte Stirn wischend, sichtlich nach Fassung ringend, und nun gar sich an die Wand stützend, wie ein Todkranker da.

»Mein Gott, was ist, lieber Erwin? Was hast du? Du ängstigst mich namenlos!« rief Esther, streichelte ihrem Schwager die Hand und suchte ihn in jeder Weise zu besänftigen.

Er aber sah sie traurig und mit einem ähnlichen Blicke an, der Hunck bei seinen schwermütigen Anfällen eigen war und sagte:

»Es sitzt etwas in mir, etwas Furchtbares, eine Krankheit. Kälte durchrieselt mein Gebein, und es ist schon besser, ich verlasse euch und begebe mich in's Bett.« Und dann schmerzlich das Auge emporrichtend: »Ah, warum thatest du mir das, gütiger Gott, mitten in meinem Glücke! – Höre, Esther, Anna liebt mich! Seit einer halben Stunde weiß ich es – Ah – ah« unterbrach er sich und griff nach dem Herzen. »Welches Weh, welche Angst – Ich gehe – ich muß hinaus – entschuldigt mich, laßt euch nicht stören!«

Dann plötzlich – ihr noch einmal kurz zunickend – eilte er hinaus, und sie sah, als sie ihm todeserschrocken nachblickte, wie er taumelnd die Treppe hinabwankte.

Esther hielt sich, als er ihrem Blicke entschwunden, an dem Geländer fest. Auch ihre Glieder wollten ihr versagen.

Dieser neue Eindruck zermalmte sie schier; es überfiel sie namenlose Unruhe und Sorge. Was sie in seinem Auge gesehen, erfüllte sie mit Grausen. Auch in ihm saß, wie es schien, die fürchterliche Krankheit, die vernichtend in Hunck's Dasein eingriff.

Aber nun durfte sie sich keinen Grübeleien hingeben. Sie hatte Pflichten, sie mußte sich unter die Gäste mischen, sie mußte zurück. In diese Erwägung schlich sich dann wieder die angstvolle Überlegung, was aus Erwin geworden!? Esther hatte ihn so ziehen lassen, statt ihn nach dem Schlosse zu leiten, sich zu vergewissern, daß ihm alles wurde, dessen er bedurfte.

Noch zaudernd, beschloß sie, ihrer Schwiegermutter Mitteilung zu machen und sie zu veranlassen, sich wegen ihres Sohnes nach dem Schlosse zu begeben.

Es geschah auch, aber da weder sie noch Erwin zurückkehrten, und sich infolgedessen der alte Graf Kiel ebenfalls aus der Gesellschaft empfahl, trat eine unliebsame Störung unter den Gästen ein. Alle die Älteren mahnten, daß es Zeit sei und brachen auf, und da die Jungen meist von deren Entschlüssen abhängig waren, schmolzen durch ihre Entfernung die Tanzenden so zusammen, daß der Ball sehr bald und weit früher ein Ende nahm, als beabsichtigt war.

Auch Anna Maravedo hatte plötzlich ohne Abschied die Gesellschaft verlassen. Esther erfuhr später, daß sie zuerst an's Schloß gefahren, um sich nach Erwin's Befinden zu erkundigen, dann aber – einen Gruß und eine Entschuldigung für Kiel's durch den Diener zurücklassend – allein in der Nacht nach Munke zurückgekehrt sei.

Da verabredet war, daß Anna auf Moorheide zunächst acht Tage zum Besuch und bereits diese Nacht im Schlosse bleiben solle, fiel ihre Wiederabreise sehr auf. Aber schon am nächsten Vormittag lief ein, durch einen reitenden Boten überbrachter Brief ein, in dem sie nach Erwin's Befinden Erkundigungen einzog und erklärte, daß lediglich Rücksicht sie geleitet, wenn sie, ohne Abschied zu nehmen, sich zunächst wieder nach Munke zurückbegeben habe.

Der alte Graf Kiel teilte ihr in seiner Antwort mit, daß sich zu ihrer aller Beruhigung Erwin's Unpäßlichkeit bereits wieder vollständig gehoben habe. Man hoffe deshalb die Gräfin noch an demselben Tage erwarten zu dürfen, und umsomehr, da sie ja freundlichst zugesagt habe, an einer Aufführung mitzuwirken, die für die im Anfang der kommenden Woche stattfindende Geburtstagsfeier der Gräfin vorbereitet werde.

So schien denn alles wieder im besten Gleise zu sein, und Esther's Befürchtungen unbegründet. Erwin erschien bereits am Vormittag im alten Hause, um sich bei Esther zu bedanken, und sie und seinen Bruder zu beruhigen.

Er äußerte, daß der Arzt erklärt habe, daß sein Zustand lediglich auf eine Magenverstimmung zurückzuführen gewesen sei, und war nicht nur bester Laune, sondern zog auch Hunck in brüderlicher Vertraulichkeit beiseite.

Die Nachrichten vom Doktor de Fouqué lauteten ebenfalls an diesem Tage besser. Er hatte am Vormittag das Bett auf einige Stunden verlassen und hoffte, daß er solches am nächsten Tage länger wiederholen könne. Er bezeichnete selbst seine Krankheit als eine ungewöhnlich starke Grippe.

Die kommenden Tage vergingen allen Kiel's in ungebundenster Gemütsheiterkeit. Anna Maravedo traf am Spätnachmittag auf dem von ihr in Horst erstandenen Reitpferd ein. Matthias von Rock aber kutschierte selbst eine kleine Landkalesche, in der sich Anna's Gepäck befand.

Er hielt sich jedoch nicht lange auf, zog nur Esther, ohne Aufsehen zu erregen, eine kurze Weile beiseite und raunte ihr zu:

»Sie sehen meine zufriedenen und sorglosen Mienen, teure Freundin, und werden sich nach meinen an Sie gerichteten Zeilen darüber wundern. Zur Erklärung sage ich Ihnen, daß meine Schwester, trotz der rückhaltlosen Mitteilungen, und aller meiner wiederholten dringenden Abmahnungen, entschlossen ist, Graf Erwin zu heiraten. Es ist nichts, absolut nichts zu machen, und ich hatte nur die Wahl, mich feindlich von ihr zurückzuziehen, oder nachzugeben und dem Himmel die Zukunft zu überlassen. Ich habe mich aus Liebe zu meiner Schwester zu dem letzteren entschlossen! Ob aus mißverstandener, muß die Zeit lehren! Übrigens dabei eines: Was war's gestern mit Ihrem Herrn Schwager? Handelte es sich wirklich nur um eine starke Indisposition? Ich gestehe Ihnen, daß ich in nicht geringer Unruhe mich gerade deshalb wieder befunden habe.«

Esther, die allem bisherigen freudigsten Herzens zugehört hatte, wollte bei der letzten Frage das Herzblut stocken. Ein heftiger Kampf erhob sich in ihr, was sie Matthias erwidern solle. Eine Lüge zu sprechen, war ihr unmöglich. Indem sie eine möglichst sorglose Miene annahm, sagte sie:

»Sie verstehen, lieber Herr von Rock, daß ich nach dem, was geschehen, leicht etwas schwarz sehe. Ich that es auch in diesem Falle! Aber der Arzt, der heute Morgen da war, hat ausdrücklich erklärt, daß es sich nur um ein bedeutungsloses Unwohlsein gehandelt habe. Sie sahen doch auch Erwin und vermochten sich selbst von seinem vollkommenen Wohlsein zu überzeugen. Und seien Sie nicht so schwarzseherisch, verehrter Freund, verschüchtern Sie nicht dadurch noch mehr Ihre des Zuspruchs so sehr bedürftige Freundin.«

Sie sprach's in ihrer bezaubernd-liebenswürdigen Weise, und er sah sie mit einem zärtlichen Blicke an, drückte auch stumm einen Kuß auf ihre Hand, zu der er sich herabneigte.

* * *

Wieder ein Fest auf Moorheide, diesmal ein noch weit glänzenderes. Es saß eine auffallende Elastizität in dieser Familie Kiel. Alles Ungelegene ward rasch wieder abgeschüttelt, und namentlich besaß die Gräfin eine aus ihrer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit hervorgehende, starke Initiative. Es konnte ihr nie zu viel werden.

Und alles hatte sich nach Wunsch vollzogen, es sollte nicht nur ihr Namenstag gefeiert, sondern auch die Verlobung zwischen Erwin und Anna deklariert werden!

Die Verlobten gingen glücksstrahlend einher, und ihre gehobene Stimmung riß auch die übrigen mit fort und schuf bis zum Tage des Festes ein heiteres Leben.

Die Proben zu den Aufführungen, an denen mehrere junge Herren und Damen aus der Nachbarschaft teilgenommen, waren in höchst anziehender Weise verlaufen, und abends hatte in der Regel noch ein kleines Tänzchen alle vereinigt.

Auch Hunck war in der fröhlichsten Laune. Die Verlobung seines Bruders hatte offenbar die durch seine krankhaft eifersüchtigen Vorstellungen hervorgerufenen Reize zu Erregungen gänzlich beseitigt. Nur eins trübte Esther's Freude an allem, der Umstand, daß der Doktor Fouqué sich noch immer nicht erholen und deshalb auch mit Margerite nicht an dem Feste teilnehmen konnte.

Auch diese Fête ward durch ein Mittagessen eingeleitet, das ganz den Kiel'schen Überlieferungen entsprach. Das Schloß wimmelte von rotlivrierten Dienern. Im Keller dampften unter der Obhut eines französischen Kochs die Töpfe, alle Räume, durch grüne Gewächse und duftende Blumen aus den Treibhäusern geschmückt, strahlten in Schönheit; und auch der in Licht und Glanz schimmernde Rittersaal bot sich in wahrhaft blendender Pracht dem Auge dar.

Nach dem Diner, bei dem ein übermütiger Toast den anderen abgelöst, und auserlesene Weine die fröhliche Stimmung auf den Höhepunkt gebracht, fanden durch prunkvolle Kostüme und vollendete Darstellung gleich ausgezeichnete Vorführungen statt.

Bei einem der lebenden Bilder, in dem Anna Maravedo als Königin von Saba stand, brachen die Anwesenden in einen solchen Beifallssturm aus, daß der seidene Vorhang immer wieder zurückgezogen werden mußte, und ebenso fortreißend wirkte ein anderes, in dem Esther und Eva als französische Bäuerinnen erschienen und mit mehreren Damen und Kavalieren Menuett tanzten.

Da alle unteren und oberen Räume für das Fest in Anspruch genommen waren, hatten Kiel's zwei sonst nicht benutzte Gemächer im Turmausbau als Herrengarderobe einrichten lassen.

In diese begaben sich zum Schluß in lustiger Stimmung und in vollster Harmonie die beiden Brüder, die in dem letzten Bilde als Herrscher Frankreichs, und zwar als Ludwig XIV. und Napoleon I. auftreten sollten, um sich nachträglich von dem Friseur noch die Perücken aufsetzen zu lassen.

Wegen eines Schadens an Hunck's Königsrock schloß sich Esther den Brüdern auf ihre Bitten an, und während letztere, als sie oben angelangt waren, sich bückend die Nadel rührte, nahm Erwin vor dem Spiegel Platz und ließ sich sein Haupt schmücken.

Mitten in dieser Beschäftigung jedoch erhob er sich plötzlich und stieß die Thür nach dem den Turm umgürtenden Balkon auf. Auch trat er hinaus, ging auf und ab, faßte sich an die Stirn und atmete, wie um die Brust von einem auf ihm lastenden Druck zu befreien, wiederholt tief auf.

»Bester Erwin, das zieht aber schrecklich!« rief in diesem Augenblick Hunck und trat tiefer in das Gemach zurück. Esther folgte ihm, immer noch um ihn beschäftigt.

Nun kam ein Graf Thosbye, der die Bilder unten leitete, die Treppe hinauf und rief in's Zimmer, daß er die Herrschaften sich zu beeilen bäte. Wort und Antwort erfolgte, dann eilte er wieder hinab.

Sogleich trat auch Erwin wieder in's Zimmer zurück, aber als der Friseur sich ihm zu neuer Bedienung nähern wollte, stieß er ihn plötzlich – Esther und Hunck bemerkten den Vorgang zunächst nicht – mit wutentstellten Geberden zurück, schrie in wahnsinnigem Toben auf, zertrümmerte, als ob von dort feindliche Gewalten auf ihn eindringen wollten, den Spiegel mit einem Stuhl und stürzte zuletzt, völlig irrsinnig, auf Esther und Hunck zu. Und dann ein Kampf auf Leben und Tod!

Die beiden Brüder schoben sich, obschon sich Esther mit verzweifeltem Aufschrei zwischen sie zu drängen suchte, an die offene Thür, setzten, der eine in dem Versuch, den Bruder niederzuwerfen und ihn zu erwürgen, der andere, Hunck, jenen unschädlich zu machen, das entsetzliche Ringen auf dem Balkon fort und stürzten endlich mit schwer dröhnendem Falle auf dem Fußboden der Gallerie nieder. Und dann wenig später ein wahrhaft gräßlicher Aufschrei!

Der entsetzte, wie erstarrte Friseur – aber auch die wieder sich emporraffende Esther – sahen, daß Erwin völlig tobsüchtig, mit Schaum vor dem Munde, seinen Bruder packte, aufhob und mit riesenhaften Kräften über die Brüstung des Turmes warf. Und nachdem das geschehen, griff er sich, offenbar nach der That wieder zur Besinnung gelangt, an die Brust, kreischte auf, schwang sich mit den Mienen eines Todesverzweifelten selbst auf die Brüstung und war – eine Sekunde später in der Tiefe verschwunden.

Und dann noch ein Schrei, so furchtbar, daß er durch's ganze Schloß drang. Er entglitt der Kehle der armen, zu Boden stürzenden Frau – –

* * *

Über dem kleinen Fouquéschen Park in Munke trillerten die Lerchen, in den Gebüschen schwamm das Sonnenlicht, und aus der Erde drängte sich in wundervoller Mannigfaltigkeit die Schöpfung der Jahreszeit.

Die Natur lag da in lebensvoller Schönheit, drinnen im Hause aber war eben der Tod eingezogen, kaum geboren – war ein junges Wesen, dem Esther das Dasein gegeben – wieder dahingegangen.

Nach langer Monate furchtbarer Erinnerungsqual ward Gräfin Esther von Kiel auch noch dieses Andenken an ihren Gatten, der samt seinem Bruder bereits seit acht Monaten in der Schloßkapelle von Moorheide ruhte, genommen.

Und doch hatte die vielgeprüfte Frau diesem sonst so frohen Ereignis mit geteiltem Frohgefühl entgegengesehen.

Woran sich für andere das ganze Hoffnungsglück knüpft, daran hatte sich bei ihr schon vor der Geburt die Sorge gehängt. Einem Kinde das Leben zu geben, um es früher oder später einer sicheren Vernichtung entgegenzuführen, verbot jene tiefe Liebe, die eher und freudig den Schmerz auf »sich« nimmt, als den anderen davon betroffen zu sehen.

Gräfin Esther Kiel aber hatte nach den furchtbaren Erfahrungen das Hoffen verlernt! Hoffnung hatte die Furcht nicht töten, und somit dem Vertrauen auf Glück die Wege nicht ebnen können!

Als ihr Margerite verkündete, daß das Kind, ein Knabe, dahingegangen sei, weinte sie bitterlich, aber ihre Hände falteten sich doch zugleich zu Dankesworten nach oben.

»Da du es von mir genommen, so wolltest du es selbst und mich vor einer schweren Zukunft bewahren, gnädiger Gott. So nehme ich demütig dankbar das hin, was du über mich verhängt hast!«

Kiel's hatten damals nach dem entsetzlichen Ereignis Moorheide verlassen und sich auf Reisen begeben. Esther aber hatte, obschon ihre Schwiegereltern alles aufboten, sie zum Mitgehen zu veranlassen, dringend gebeten, davon abzustehen. Zwar hielt es sie auch nicht länger als erforderlich an diesem Orte einstigen höchsten Glücks und späteren höchsten Schmerzes. Sie begab sich, nachdem zu ihrem namenlosen Kummer kaum acht Tage nach Hunck's Tode Doktor de Fouqué auch noch einem Herzgelenkrheumatismus erlegen war, zu Margerite nach Munke. Nur hier in dieser stillen Welt, in der Nähe ihrer Tante und in der Nähe ihres Freundes Matthias von Rock erklärte sie, das Gleichgewicht ihres Innern einigermaßen wiedergewinnen zu können.

Aber auch noch andere Umstände trennten sie dauernd von ihren Schwiegereltern, da auch sie in der Folge die furchtbaren Eindrücke so wenig zu überwinden vermochten, daß sie den Entschluß faßten, Moorheide zu verpachten und sich vorläufig ganz in Dresden niederzulassen.

Es mußten Schmerz, Öde und Einsamkeit umsomehr in Moorheide auf sie eindringen, als sie es für unmöglich hielten, jemals dort wieder einen Kreis fröhlicher Menschen um sich zu versammeln.

Als der Treueste der Treuen hatte sich Matthias von Rock bewährt. Er war seiner Schwester, die Munke verlassen, und sich, todeserschüttert, zu einer Freundin nach dem südlichen Frankreich begeben hatte, ein sanfter Tröster gewesen, Esther aber mehr als ein Bruder geworden.

Kein Tag verging, an dem er nicht seine Sorge und Teilnahme für sie aufs neue bewies. Er sandte Boten, oder erschien selbst und suchte bei dem Zusammensein alles hervor, was sie aufrichten und zerstreuen konnte. Sein Unterhaltungsgeist war unerschöpflich, obschon die kleine Welt um ihn her der wechselnden Anregungen entbehrte, seine Erfindungsgabe, sie durch Blumen, Bücher oder sonstige Aufmerksamkeiten zu erfreuen, nicht minder.

Wenn Esther mit ihrem Gatten auch zugleich ihren besten Freund verloren, so hatte sie einen solchen ohne Gleichen wiedergefunden. Wenn es einen Ersatz für ihr zerstörtes Glück geben konnte, so hatte er ihn ihr geboten.

Auch nach diesem neuen, schweren Ereignis flossen Esther durch Rock's Bemühungen die Tage rasch dahin. Stets fand er sich abends bei den beiden Frauen als Gast ein. Aber auch sonst war er um Esther, las oder spielte ihr vor, oder begleitete sie und Margerite auf täglichen Spaziergängen zu Fuß, zu Pferde oder zu Wagen.

Der Sommer floh, der Herbst, zumeist voll Milde und Farbenpracht, verlor sich zuletzt auch auf abgefegten Wegen und kahlen Fluren, und abermals brach, nach einem trockenen, heiteren Winter, das Frühjahr, die Eisschollen stürmisch in den Flüssen vor sich herabtreibend, und auf Höhen und in Thälern ein smaragdnes Grün hervorzaubernd, in's Land.

An einem dieser, aber schon dem Sommer stark sich nahenden Frühjahrstage, waren Esther und Matthias in Begleitung von Margerite zu einem hinter Horst belegenen kleinen Kurort gefahren. Etwas von alter Lebenslust begann sich allmählich in Esther wieder zu regen, und auch Margerite durchdrang in ihrem Hoffen auf neues Glück für jene ein Gefühl von Verjüngung und Daseinsfreude. Ganz besonders aber war Matthias von Rock guten Sinnes. Von seiner Schwester war ein Brief eingelaufen, in dem sie ihre Verlobung mit einem angesehenen Manne meldete, aber auch aus anderen Gründen schien sich Matthias' Stimmung dauernd gehoben zu haben.

Die fortwährende Beschäftigung mit Esther hatte ihm zum Grübeln keine Zeit gelassen. Das Einsiedlerleben ward zurückgedrängt, da er täglich sich ihr zu nähern das Bedürfnis empfand. Sie nahm ihn mit all seinem Denken und Fühlen gefangen, und es verflüchtigte sich nicht nur ganz die Erinnerung an das Herbe, das ihn selbst betroffen, sondern es bemächtigte sich seiner wieder Interesse für Dinge, die er für immer als abgethan angesehen hatte.

Zufolge dessen traten den Erscheinungen des Lebens wieder zugewandte Neigungen kräftiger zu Tage, Neigungen, die er früher, obschon er sie aus Rücksicht auf Esther an den Tag legte, eigentlich nie empfunden hatte. Das Mystische seiner Anschauungs-, Ausdrucks- und Handlungsweise, das philosophische Sonderlingswesen dem er sich hingegeben hatte, war verschwunden, und eine Frische und Lebendigkeit trat zum Vorschein, die fortreißend wirkten.

Der Kurort besaß ein nach dem Fluß belegenes Kuretablissement, in dem sie alle zunächst nach ihrer Ankunft zu Mittag speisten. Später suchte Margerite, etwas ermüdet, ein Plätzchen in einem still gelegenen Zimmer des Hotels auf, Esther und Matthias aber begaben sich, einen schattigen Weg wählend, zu der sogenannten Waldmühle, den Resten eines alten Räderwerks, die von Tannengrün umgeben in einer Schlucht lag, und um welche unermüdlich silberne Wasser aufschäumten und vorüberrauschten.

Auf der kleinen Höhe, von der man hinabschaute, und die ebenfalls von Gebüschen umschlossen war, befand sich ein kleiner Tempel, auch waren zum Ausruhen bestimmte Bänke angebracht. Während sie hier rasteten und sich der schönen Welt freuten, sagte Matthias plötzlich, ohne Übergang:

»Erinnern Sie sich noch, liebe Freundin, daß Sie mir bei erster Begegnung Ihren Kopf zu berühren gestatteten, und daß ich Ihnen Ihr Naturell prophezeite?«

»Ja, gewiß, wie kommen Sie darauf?« gab Esther arglos wieder.

»Nun, ich muß Ihnen damals sehr seltsam erschienen sein. Ich war auch zu jener Zeit ein ganz anderer. In allem sah und suchte ich etwas besonderes. Mein Geist neigte zum Spintisieren; ich ergab mich dem Grübeln, Vorhersehen und Prophezeien. Das füllte meine Seele aus, nachdem ich so Bitteres erfahren hatte.

Und nun ein Geständnis. Sie gleichen – Sie können sich denken, welcher staunende Schrecken mich damals erfaßte – jenem Mädchen, daß mich betrogen hatte.

So sehr ähnelten Sie ihr, daß ich glaubte, sie sei wieder vor mir erstanden! Das ist das eine, und nun das andere. Wissen Sie, wer mich eigentlich erst wieder zu einem vernünftigen, nicht nur äußerlich im ruhigen Gleichgewicht lebenden Menschen gemacht hat?

Sie sind es, teure Gräfin. Und da ich mich seit acht Tagen als völlig genesen betrachte, so wollte ich Ihnen einmal ausdrücken, wie viel Dank ich Ihnen schulde.

Sie lehrten mich wieder an Tugend und echte Weiblichkeit glauben. Sie wurden zugleich mein guter Engel, indem Sie mich durch Ihre Sanftmut und Menschenliebe mit den Menschen wieder aussöhnten.

Ich trage mich denn auch mit der Absicht, in die Welt zurückzukehren, meine Aufmerksamkeit aufzugeben und Munke zu verlassen. – Aber auch noch andere Gründe leiten mich zu diesem Entschluß, Gründe, die – sich auf Sie beziehen, teure Freundin –«

Matthias von Rock hielt inne, ließ den ohnehin beim Sprechen gesenkten Kopf ganz sinken und bohrte in starker Erregung seinen Stock in den Sand.

In diesem Augenblick hörte er neben sich einen eigentümlichen Laut, wie wenn jemand schreckhaft zusammenfährt, und er sah, daß die, zu der er gesprochen, sich stark verfärbte.

Sie saß in tiefer, ängstlicher Verwirrung da, und ihre Hände griffen hilflos in die Falten ihrer Kleider. Und da beugte sich der Mann mit dem hohen Körper plötzlich wie magnetisch angezogen zu ihr herab, berührte ihre zitternde Hand und sagte:

»Konnte ich glauben, daß ich das Wort, das schon seit Jahren sich stürmisch nach Ausdruck rang, je würde sprechen dürfen, daß ich hoffen konnte, Sie würden mich wieder lieben, Frau Esther? Darf ich Ihr Erbleichen zu meinen Gunsten deuten? Ich sage Ihnen, ich kann ferner nicht mehr so leben! Einerseits dem Dasein zurückgegeben, die Brust voll Lebenslust und Hoffnungen, besitze ich doch andererseits nicht die Kräfte mehr, wunschlos neben Ihnen herzugehen! Nein oder ja!

Mit meinem Fortgange schaffe ich mir selbst die Entscheidung!

O, Esther, wie ich Sie liebe –!

Gewiß, ich weiß, ein Herz wie das Ihre, legt sich selten, fast nie wieder an die Brust eines Mannes, eine Natur, wie die Ihrige, glaubt, sie vergehe sich gegen den, der im Grabe ruht, wenn sie einem anderen sich zuneigt.

Und doch wird dem Toten nichts entzogen, denn ein echtes Herz kann nie vergessen, und eine edle Seele würde, wenn sie die Kraft besäße, ihre Stimme aus der Todesruhe erheben und dem Zurückbleibenden zurufen:

»Je glücklicher du mit dem Recht des Lebenden bist, desto sanfter wird mein Schlaf sein!«

Auch er, den Sie verloren haben, liebte Sie so, Esther! Und nun noch einmal! Darf ich hoffen, bald, vielleicht über's Jahr? Wie Sie wollen, so soll's recht sein –«

Aber was er erwartete, geschah nicht! Obgleich sie einen Kampf ohne gleichen kämpfte, da Dankbarkeit und geschwisterliche Liebe ihre Stimmen erhoben und ihr zuraunten, sie dürfe seinen Antrag nicht ablehnen, so war doch stärker die Liebe zu dem, den sie verloren, und neben dem in ihren Augen keiner bestehen konnte. In ihrem Herzen war nur für einen Raum, und in der Erinnerung an die für sie unvergleichlichen Zeiten des Glückes, fand sie die Kraft, den Verlust zu verschmerzen, auf ein neues zu verzichten.

Schon der bloße Gedanke, sich von Rock trennen zu sollen, schnitt ihr in die Seele, aber angehören konnte sie ihm nicht.

Sie teilte Rock's Ansicht, daß ihr Hunck verzeihen werde, ja, sie glaubte ihm, daß er sich einer neuen Vereinigung freuen werde. Aber ihr ganzes Ich sträubte sich dagegen. Sie vermochte nur einmal zu lieben. Und so bewegte sie denn in tiefem Schmerz das Haupt und sagte:

Ich kann nicht, mein teurer Freund, obschon es niemanden auf Erden giebt, den ich gleich Ihnen achte, ehre und liebe. Aber ich vermag nicht Ihr Weib zu werden. Ich werde niemals wieder einem Manne angehören. Und ich weiß, Sie werden, so schmerzlich, nach Ihrer Erklärung, Sie dies berühren mag, mir deshalb nicht zürnen. Sie können mir ja nicht zürnen, da sie Sie mich lieb haben. Furchtbar wird mir die Trennung von Ihnen. Ich weiß heute nicht, was ich beginnen soll ohne Sie! Mir graut vor der Öde und Einsamkeit, und schon jetzt ergreift mich ein banges Sehnen. Lassen Sie mich nicht für alle Zeiten allein, wenn Sie wirklich Ihre Absicht ausführen müssen. Kommen Sie wieder zu mir. Nicht wahr? Sie vergeben mir. Ich bin auch jetzt noch Ihrer Freundschaft wert –?«

Er nickte sanft, obschon alle Farben aus seinem Gesicht gewichen waren. Auch erhob er sich bald, und sie hat ihn nie wiedergesehen!

Sie verlor – es war das Schicksal von Moorheide – den Gatten und den Freund für alle Zeiten.

Noch heute lebt die Gräfin Esther von Kiel, eine stille, tief ernste Frau, in einer Großstadt des Nordens. Sie zehrt an den Erinnerungen, an Zeiten, die dahin für immer – – –


 << zurück