Friedrich Hebbel
Ein Abend in Straßburg
Friedrich Hebbel

Friedrich Hebbel

Ein Abend in Straßburg

Aus einer Reisebeschreibung.

(1837)

»Du bist blaß, was fehlt dir?« fragte der Freund. Hastig trank ich den roten Wein, schob das Glas zurück, und eilte stumm hinaus, das glühende Herz in Nacht und Sturm zu kühlen. Brütend lag die Nacht über der großen Stadt, schauerlich hohl blies der Sturm hoch in den Lüften über die Häuser hinweg, kümmerlich und trist, wie Lampen, die schlecht unterhalten werden, flimmerte hie und da ein ängstlich-einsamer Stern. Es gibt Stunden von entsetzlicher Tiefe, Stunden, vor denen wir zurückschaudern, und denen wir doch nicht entfliehen können. Da ziehen die unheimlichen Gewitter der Natur an uns vorüber, jene abscheulichen Kräfte, die in öder Finsternis auf Kirchhöfen in vermodertem Fleisch und Bein längst verglühtes Leben in ekelhafter Wiederholung travestieren, jene Kräfte, die in die heisere Kehle des Raben manch grausiges Geheimnis, was sie den Elementen und den Sternen ablauschten, niederlegen, damit er es dumm und schwatzhaft hineinrufe in die lautlose Mitternacht. Da zittern wir, es könne sich urplötzlich ein schauderhaftes Organ für die Wahrnehmung all des wüsten, schadenfrohen Spuks, durch seine furchtbare Nähe aus dem Traumschlummer hervorgerufen, in den Tiefen Leibes oder der Seele erschließen; wir lachen, wir beten und fluchen, und uns wird alles vergeben, denn wir wissen nicht, was wir tun. Solch eine Stunde war's, die mich unstät und flüchtig durch die Straßen dahinjagte. Jeder ungewöhnliche Laut, den ich mir nicht zu erklären wußte, erschreckte mich; ich sah nicht die Häuser, nur ihre unförmlichen Schatten, die sie riesenhaft-wunderlich die erleuchteten Gassen entlang warfen; ich fuhr zurück vor dem blendendhellen Strahl, der scharf aus mancher Laterne in mein Auge fiel. »Jetzt – dachte ich – wirst du gleich Mitwisser irgendeines schwarzen Mordes werden, den verruchte Hände fünfzig Meilen von hier begehen; ein Toter wird dich zudringlich bei der Hand fassen und dir Geschichten erzählen, die dir den Atem versetzen, während er, häßlich lachend, dich fragt, ob das nicht spaßhaft sei; aus dem Gesicht des Freundes wirst du lesen, wie viele Jahre oder Tage er noch zu leben hat.« Kinder sprangen, aus dem Konditorladen kommend, lustig an mir vorüber, Herren und Damen, ins Theater gehend, schwatzten trivial und spießbürgerlich von einer beliebten Schauspielerin, Wagen rasselten, ein Posthorn erscholl. Aber mir, in gespenstischen Kreisen befangen, schien das alles nur aus weiter, weiter Ferne herüberzuklingen, mehr und mehr verwirrten sich in mir Empfindungen und Gedanken, und zuletzt war es mir, als wäre ich selbst längst gestorben, und hätte mich nur vor der Zeit, frech und lüstern, in das schöne, reiche Leben zurückgedrängt. Ich glaubte, mich eines kalten, finstern Grabes, worin ich schon auf langweiligen Hobelspänen gelegen, recht gut zu erinnern; ich hörte Glockengeläut und Chorgesang, dumpf und mannigfach gebrochen, wie ich's damals gehört, als man mich im schwankenden Sarg herniedersenkte in den Erdenschoß; ich fühlte unverschämtes Gewürm nagen an meinem Fleisch. »Hoho – rief ich aus – 's wird bald einer kommen, der dir auf die Schulter klopft und dir ins Ohr donnert: ›Bursch, der jüngste Tag ist noch nicht angebrochen, und dich hat keiner gerufen!‹« Mir schlotterten die Knie, ich wollte zusammensinken, aber ich raffte mich auf und stürzte atemlos fort.

Mädchen, was wußtest du von dem Schmerz des unbekannten, bleichen Mannes, daß du ihm freundlich einen guten Abend botest, mit deiner warmen seine kalte Hand faßtest, und mit den großen, flammenden Augen, voll von Glut und Gefühl, beschwichtigend zu ihm hinaufblicktest? Diese Augen schienen mir die Wunderquellen alles Lebens, mit Entzücken taucht' ich mich hinein in die süßen, ewigen Quellen, grollend wichen die Nachtgespenster zurück, und durch alle Adern schoß mir wieder die Empfindung der selbständigen Existenz, glühend und wirbelnd, als ob jeder Blutstropfen sich bestrebte, die fröhliche Botschaft zuerst bis an die letzten Grenzen des ermatteten Körpers zu tragen. Und doch war es mir, als sei alles andere kein bloßer Traum gewesen, sondern als hättest du mich aus unendlichem Erbarmen heraufbeschworen aus dem Bauch eines Kirchhofs, weil dein Ohr, als du über mein Grab hinwandeltest, meine bangen Traumseufzer vernahm; göttlicher, inhaltschwerer war das Leben, das sich mir jetzt, ein Katarakt von flüssigem Feuer, durch Leib und Seele ergoß, es bedurfte nicht ängstlicher Pflege, wie ein armseliges Lämpchen in gläsern-zerbrechlicher Laterne, es versagte nichts und gebot nichts, ich konnte – das fühlt' ich – nicht wieder sterben!

Und als ich wieder in dein Auge schaute, da dämmerte mir aus seiner rätselhaften Tiefe etwas noch Süßeres entgegen, und in trunkener Vermessenheit begann ich zu ahnen, warum du mich, unter allen Gestorbenen nur mich, zurückgefodert vom Tode. Aber du drücktest einen heißen Kuß auf meine Lippen, und flüstertest mir zu: »ich küsse dich noch einmal!« und schrittest verschwindend in den dunklen Schatten hinein, den der Münster warf.

»Küsse mich noch einmal!«