Friedrich Hebbel
Pauls merkwürdigste Nacht
Friedrich Hebbel

Friedrich Hebbel

Pauls merkwürdigste Nacht

1847 (1837)

Die Uhr schlug eben neun. Paul saß hinter dem Ofen an einem kleinen runden Tische und las eine Räubergeschichte, in deren Besitz er kürzlich auf einer Auktion gekommen war, weil er sie auf eine Nachtmütze mit in den Kauf hatte nehmen müssen. Wenn er eine Seite des Buches beendigt hatte, befühlte er jedesmal den Ofen und zog die Hand dann kopfschüttelnd zurück; als guter Hauswirt wollte er vor dem gänzlichen Erkalten des Ofens nicht zu Bette gehen, und dieser hielt noch immer einige Wärme fest. Zu seinen Füßen, träge in einen Knäuel zusammengerollt und laut schnarchend, lag sein Hund, ein wohlgenährter, weißgefleckter Pudel, der sein Fett weniger der Freigebigkeit seines Herrn, als seiner diebischen Gewandtheit in Metzgerbuden verdankte. Wenn Paul im Buche an ein Kapitel kam, das ihn wenig interessierte, oder wenn er in die spärlich unterhaltene Lampe, die alle Augenblicke zu erlöschen drohte, ein paar Tropfen Öl gießen mußte, so bückte er sich wohl zu dem Hund nieder, ließ denselben, vielleicht weil er ihn um seinen frühen Schlaf beneidete, allerlei Künste machen, Schildwache stehen, oder den unfreiwilligen Toten spielen, brach ihm zuweilen aber auch ein Stück Brot ab und belohnte ihn damit für seine Folgsamkeit.

Die Uhr schlug halb zehn. Paul stand auf, um sich zu entkleiden, da klopfte es ans Fenster. »Komm herein,« rief Paul, in dem Klopfenden einen Straßenbuben vermutend, der ihn necken wolle, »dann kannst du hinaussehen!« Draußen ward gelacht und noch einmal geklopft. Ärgerlich blies Paul die Lampe aus und schlug sein Bett zurück. »Mach' auf, ich bin's!« rief jetzt eine bekannte Stimme. »Du noch, Bruder Franz?« entgegnete Paul, »was willst du denn so spät?« Verdrießlich suchte er sein Feuerzeug, zündete die Lampe wieder an und öffnete die Türe. »Du mußt noch zur Stadt,« sagte der Bruder eintretend und legte einen großen Brief auf den Tisch, »wir haben im Amt alle Hände voll zu tun, ich werde die ganze Nacht am Pult zubringen müssen!« »Das ist nicht dein Ernst!« versetzte Paul und schaute seinen Bruder mit einem naiven Lächeln an. Er besorgte bei Tage für das Amt, wo sein Bruder Schreiber war, recht gern einen Brief, denn er erhielt einen guten Botenlohn, aber in der Nacht war das noch niemals vorgekommen, und er hatte keine Lust, statt zu Bett zu gehen, im Finstern einen Weg von zwei Meilen zu machen. »Wie sollte es nicht mein Ernst sein!« entgegnete der Bruder; »mach' hurtig, die Sache hat Eile und kein Augenblick ist zu verlieren!« »Spute dich, Paul!« rief die Mutter, die einer Erkältung halber schon seit einer Stunde im Bette lag; »das kommt uns trefflich zustatten, denn morgen ist Markttag!« »Such' dir einen andern Boten,« sagte Paul nach einer Pause halb leise, »ich gehe nicht!« Der Bruder, der sich gefreut hatte, Paul den kleinen Verdienst zuwenden zu können, wurde gereizt. »Du sollst!« rief er mit Heftigkeit; »wer das Geld bei Tage verdienen will, der muß auch nachts bei der Hand sein!« »Tu', was du willst!« erwiderte Paul mit großer Ruhe; »es sollte mich wundern, wenn du mich so weit brächtest.« Er trat an den Tisch und blätterte in dem Räuberroman; mitunter warf er einen scheuen Blick auf den Bruder. Dieser schwieg eine Weile still, dann sagte er: »Ich werde den Bettelvogt zu dir schicken!« und wollte fortgehen. Der Bettelvogt war ein Mann, den Paul fürchtete, weil er den Umfang seiner Macht nicht kannte; er vertrat seinem Bruder daher den Weg und sprach: »Franz, sei nicht unvernünftig, du würdest es ebensowenig tun, wie ich!«

Jetzt regte sich die Mutter wieder in ihrem Bett. »Junge!« rief sie zornig, »wem gleichst du nur! Deinen Vater verdroß keine Mühe, und auch ich, so alt ich bin, rühre mich, wie ich kann. Du aber kommst vor Faulheit um!« »Faulheit?« versetzte Paul ärgerlich und stellte seine Pfeife, die er bisher noch nicht hatte ausgehen lassen, vor das Fenster, »als ob's Faulheit wäre!« »Was ist es denn?« fragte der Bruder. »Das weißt du recht gut!« erwiderte Paul und stützte, sich niedersetzend, den Kopf aus den Tisch. »Erst neulich stand eine Mordgeschichte im Wochenblatt!« Der Bruder mußte unwillkürlich lächeln, dann sagte er: »Paul, sei kein Narr! sieh auf deine kahle Jacke und tröste dich! Dich wird niemand umbringen: denn daß du nichts in der Tasche hast, das sieht dir jeder an.« »Haben sie,« entgegnete Paul mit einem Blicke herausfordernder Angst, »nicht einmal einen ums Hemd kalt gemacht?« Dabei zog er seine Jacke aus, um mit Tat und Wort zugleich gegen das ihm zugemutete Heldenstück zu protestieren. Der Mutter, die dies bemerkte, floß die Galle über; sie richtete sich, ohne etwas zu sagen, im Bett auf und warf Paul ihren Pantoffel an den Kopf. Der Bruder, der jetzt erst sah, daß Paul im stillen Anstalt gemacht hatte, zu Bett zu gehen, faßte ihn bei der Brust, schüttelte ihn weidlich und rief: »Erkläre dich, ob du willst oder nicht!« »Ich will!« sagte Paul in weinerlichem Tone; »laß mich nur los!« Dann kehrte er sich um und rief der Mutter zu: »Gott wird richten! Du bist an meinem Unglück schuld! Der Mond ist nicht einmal ordentlich durch!« Tränen stürzten aus seinen Augen, doch sagte er jetzt kein Wort weiter, sondern zog schweigend und schnell die schon abgelegte Jacke wieder an, setzte die Mütze auf, steckte Tabakspfeife und Brief in die Tasche, griff zum Stecken und ging, dem Hunde pfeifend, aus der Tür. Eine kurze Weile machte er nur sehr langsame Schritte, weil er zurückgerufen zu werden hoffte. Dann setzte er sich mit einem Fluch in seinen gewöhnlichen Trab. Bevor er die Landstraße erreichte, kam er an einem vom Dorf abgesondert liegenden Hause vorbei, welches als eine Diebsherberge berüchtigt war und von einem alten Weibe samt ihren drei Söhnen bewohnt wurde. »Wenn die alle drei,« dachte Paul, »sind, wo sie sein sollen, so will ich mich beruhigen!« und schlich sich mit leisen, leisen Schritten unter die erleuchteten Fenster, die nur schlecht mit einigen zerrissenen Schürzen verhängt waren und den Blick ins Innere gestatteten. Die Diebsmutter saß am Ofen und spann, zwei ihrer Söhne spielten Karten mit einem berüchtigten Herumstreifer, einem Musikanten, der dritte war nicht sichtbar, aber im Hintergrunde des Zimmers lag auf einer Streu ein Kerl, von dessen Gesicht man nichts erkennen konnte, als den starken schwarzen Backenbart, der sich verwegen von dem einen Ohr bis zum andern hinzog. »Der lange Hanns ist nicht zu Hause,« dachte Paul, und kalte Schauer liefen ihm über den Rücken; »der wird der erste sein, der mir unterwegs begegnet!« Er lauschte wieder hinein. »Wie grimmig der rothaarichte Marquard aussieht!« sagte er und wußte nicht, daß er seinen Gedanken Worte gab. – »Und der einäugige Jürgen, wie er die Zähne zeigt, wenn er lacht! Doch, was sind sie alle beide gegen den Hanns!« Ein Geräusch entstand, vorsichtig zog Paul sich zurück und setzte seinen Weg fort.

Er kam an einer Mühle vorbei, der Müllerhund, seine Kette schüttelnd, bellte ihn an. »Belle nur zu!« rief Paul kühn und schwang seinen Stock. »Wie man doch zuweilen ein Tor ist!« fuhr er nach einer Pause fort; »sonst fürchte ich mich, wie ein Kind, vor Hunden, jetzt möchten mir ihrer zwanzig in den Weg kommen, ich nähme es lieber mit ihnen auf, als mit einem einzigen Menschen!« Nun befand er sich auf der Landstraße. Wie eine ungeheure Riesenschlange dehnte sie sich mit den unheimlichsten Krümmungen und Windungen vor ihm aus; es war still, so totenhaft still, wie es nur in einer Winternacht voll Schnee und Frost sein kann; der Mond spielte Versteckens mit den Wolken und schien zuweilen hell, zuweilen gar nicht; die ringsum liegenden Dörfer waren in Nebel und Finsternis begraben; nur hie und da brannte in einem Hause noch ein trübes Licht, als trauriger Gesellschafter eines Kranken, der den Schlaf ruft und oft den Tod kommen sieht; eine dumpfe Kirchenuhr schlug in der Ferne und Paul zählte ängstlich ihre feierlichen eilf Schläge.

Paul war kein Atheist, aber er schlief manchen Abend ohne sein Nachtgebet ein. Jetzt faltete er andächtig die Hände und betete ein Vaterunser. Eine Krähe flog mit häßlichem Geschrei dicht vor ihm auf. Er fluchte auf seinen unnatürlichen Bruder. Ein Kirchhof lag hart am Wege, auf dessen beschneite Leichensteine der Mond zwei Sekunden lang ein grelles Licht warf. Paul schwur, daß er des Morgens nie wieder vor seiner Mutter aufstehen und ihr den Kaffee kochen wolle. Ein Reiter sprengte stumm an ihm vorüber. »Wie glücklich,« rief Paul, der noch nie geritten war, »ist ein Mensch, der ein Pferd hat!« Schon floß ihm der Schweiß von der Stirne herab, denn seit ihm der Kirchhof im Rücken lag, war er wütend gelaufen. Jetzt wagte er zum ersten Male, sich umzusehen, er entdeckte nichts Bedrohliches und zündete deshalb, mit Ruhe Feuer schlagend, die Pfeife an.

»Hätt' ich doch,« dachte er, als er die ersten Züge tat, die ihn bis ins Innerste hinein belebten, »irgendeinen meiner Bekannten, der auch noch in die Stadt müßte, zur Seite! Wie angenehm ließe sich mit dem die Zeit verplaudern! Aber freilich, nachts zwischen eilf und zwölf wandern nur Räuber und Mörder, und Toren, die beraubt und gemordet sein wollen. Wer ein Christ ist, der schläft zu dieser Stunde!«

Er sah sich wieder um, denn er hatte seinen Hund, der bisher nicht von ihm gewichen war, auf einmal verloren. Er rief, so laut er konnte: »Spitz! Spitz!« Da war es ihm, als ob er selbst laut beim Namen gerufen würde. Mit fieberischer Gespanntheit horchte er auf und fand, daß er sich nicht getäuscht habe, denn »Paul! Paul!« erscholl es hell und deutlich hinter ihm, und in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Schritten bemerkte er eine auf ihn zueilende hohe Mannsgestalt, die, wie zum Wink, ihren Knittel schwang. »Wer wird's sein?« dachte Paul, »als der lange Hanns aus der Diebsherberge! Jedem im Dorf ist's bekannt, daß ich fürs Amt zuweilen Geld in die Stadt trage; nun denkt er, es sei auch heute der Fall und rennt hinter mir drein! Ja, ja, Ort und Zeit sind gelegen! Wenn er mich nicht bloß morden, wenn er mich gemächlich schlachten wollte, hier wäre der Platz dazu. Aber, man hat Beine!« Paul zog instinktmäßig sein Messer aus der Tasche und stürzte, wie rasend, fort. Sein Hund, der eine Weile in die Kreuz und Quer gerannt und wahrscheinlich einem Hasen auf der Spur gewesen war, folgte ihm und hatte das Mißgeschick, ihm vor übergroßer Eile zwischen die Beine zu geraten. Paul stolperte über ihn und wäre fast gefallen. »Verfluchter Köter!« rief er aus, »morgen ersäuf' ich dich!« Dabei stieß er mit dem Fuß nach dem treuen Tiere, welches eben, um seine Ungeschicklichkeit wieder gut zu machen, schmeichelnd an ihm hinaufsprang. Einer seiner Handschuhe entfiel ihm, er nahm sich nicht die Zeit, ihn aufzuheben, doch der gut abgerichtete Pudel tat's für ihn mit dem Maul. Der Brief flog ihm aus der Jackentasche, er fluchte, während er sich aber notgedrungen niederbückte und ihn wieder aufnahm, blickte er zugleich scheu und ängstlich rückwärts, und bemerkte zu seinem Troste, daß dem Verfolger bereits ein sehr bedeutender Vorsprung abgewonnen sei. »Im Laufen,« dachte er, »nimmt's so leicht keiner mit mir auf; das wußte der Unhold, darum versuchte er's, mich durch Rufen zum Stehenbleiben zu verleiten. Ha! ha! als ob ich einfältiger wäre, wie ein Hase, der wahrhaftig nicht umkehrt, wenn der Jäger ihm pfeift! Ich weiß gar nicht, warum ich die Pfeife nicht wieder anzünde, schon sehe ich die Türme der Stadt!«

Der Lange, der es bemerken mochte, daß Paul nicht mehr so eilte, wie vorher, rief abermals: »Heda! So warte doch!« »Nimmt er nicht,« dachte Paul, »ordentlich eine fremde Stimme an? Das ist die seinige nicht, die ist durch den Branntwein längst verdorben. Aber ruf du, wie ein Engel ruft, mich fängt man nicht durch solche Künste!« Immer rüstig vorwärts schreitend gelangte er bald an das unverschlossene Tor der Stadt. Hier sah er sich wieder um, der Lange war ihm ziemlich nah, und er konnte im Mondschein deutlich bemerken, daß Spitz, dessen ungewöhnliches Hin- und Wiederlaufen ihm längst verdächtig gewesen war, jenen liebkoste, an ihm hinaussprang und ihm die Hand leckte. »Bei Gott!« rief Paul grimmig aus und ging in die Stadt hinein, »morgen ersäuf' ich den Köter im ersten Wasser, ich glaube, ich schwur's schon einmal!« Hell brannten die Laternen auf den Straßen, drei bis vier Nachtwächter wanderten umher. »Hier ist man mehr, als sicher!« dachte Paul und stellte sich hinter einen Laternenpfahl. »Wagt der Gesell sich in die Stadt,« dies gelobte er sich feierlich und blickte unverwandt nach dem Tore zurück, »so mach' ich die Wächter auf ihn aufmerksam, das bin ich jedem Schlafenden, den er bestehlen könnte, schuldig!« In diesem Augenblicke kam der Lange ins Tor. Paul eilte auf den ersten Nachtwächter zu und sagte in ängstlicher Hast: »Paßt auf den Menschen, der eben die Straße heraufkommt, er ist ein Räuber und Dieb, und hat mich über anderthalb Stunden verfolgt!« Der Nachtwächter zog, ohne zu antworten, eine Pfeife hervor und pfiff, alsbald sammelten sich um ihn seine Kameraden und umzingelten, nachdem er sie in höchster Kürze instruiert hatte, den angeblichen Räuber, ihn mit den sonderbarsten Fragen bestürmend. Auch Paul trat herzu, wie aber ward ihm, als er in der Person, vor der er, wie vor dem Teufel, geflohen war, statt des langen Hanns seinen guten Freund Jakob, einen Schmiedegesellen, erkannte. »Das ist er nicht!« rief er den Nachtwächtern zu; »ich habe mich geirrt, laßt diesen los!« Schimpfend und brummend ließen die Wächter von ihrer Beute ab; Paul aber trat vor Jakob hin und fragte ihn mit großem Ernst: »Warst du es wirklich, der hinter mir herkam, mir winkte und mich beim Namen rief?« Jakob, der nicht wußte, was er aus dem wunderlichen Vorfall machen sollte, versetzte übellaunig: »Wer wäre es sonst gewesen? Ich soll für meinen Meister, der plötzlich erkrankt ist, zum Arzt und erkannte dich, als du deinen Hund locktest, an der Stimme!« »Jesus!« entgegnete Paul ruhig und hielt seinem Freunde den Tabaksbeutel hin, damit er sich eine Pfeife stopfe, »hätte ich das gewußt, so hätten wir zusammengehen können!«