Gerhart Hauptmann
Sonnen
Gerhart Hauptmann

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Der alternde Dichter stand in Erwartung der Sonne. Hinter einer niedrigen Wolkenbank ging sie auf.

Sie glich einem rosefarbenen Pilz – einer Feuerluft-Tulpe – einer Seerose – einer umgekehrten Rubinschale.

Die Rubinschale bricht. Unter ihrem ungeheuren Lichtausbruch entsteht die Welt.

Der alternde Dichter stellt die alte Frage: Wo befinde ich mich? In meiner eigenen Entrücktheit befinde ich mich. Und weiter gab er sich Antwort: Ich starre ins Licht.

Felsenküste trägt meinen Fuß, der Abgrund rauscht, die Gewässer der Tiefen und Fernen färben sich, der Mond verblaßt am bleichenden Himmel.

Wo befinde ich mich? fragt der Dichter wieder: ins Geheimnis mitten hineingestellt.

Was wäre faßbar und was nicht faßbar von allem, was ist und nicht ist!

Der alternde Dichter wechselt den Ort die Felshöhe entlang: Söller, Kanzeln, Lorbeer, Arbutuskirsche, Wein.

Hier kocht das Meer und tost gewaltig, ob es auch schlummernd liegt um alle Küsten.

Der Dichter sinnt: es schläft die See, sie schläft, und wühlten sie Taifune auf.

Es schläft der Mensch gleichwie die See, gleichwie Gestein und Luft. Es schläft und träumt der Tod im toten Raum. Und doch: die Kirchenglocke, die zur heiligen Messe mahnt: Gestein, zum Klang berufen.

Der Dichter steht, derweil sich alles rings in Licht verhüllt, und lauscht dem Erz.

Er schaudert.

Aus der Erde Tiefen spricht sein Wort, erfüllt von dem, was über ihr im Lichte steht, verschwebend in das unbekannte Reich.

*

Der alternde Dichter stand in Erwartung der Sonne.

Noch war es Nacht.

Schüchterne Vogellaute wie Diamanten auf Kissen von schwarzem Samt.

Ruhe.

Was ist's, wodurch die Ruhe sich vertieft?

Wißt ihr, was Ruhe ist?

Der Dichter gab die Antwort ohne Laut:

Sie ist das Element, darin die Seele wie der Fisch im Wasser lebt.

Nein, denkt er fort, zu grob.

Der Seele letzte Wahrheit ist die Ruhe.

Resedenduft erfüllt das Dunkel.

Die Gottheit naht.

Die Feuerschale steigt aus Wassertiefen,
das zweite Meer ausgießend in die Welt.

Der alte Dichter wußte nicht, ob er die Sonne einmal im Geist gesehen hatte und nun wirklich sah oder ob wieder ein Schöpfungstag vergangen, ein anderer begonnen war.

Alles, denkt er, ist, wie es gestern war: stumme Sonne, stummes Meer, stumme Blumen, stummer blühender Rosenhag. Schlaf ohne Traum, nur ich bin der Träumer.

*

Und wieder ist der alte Dichter wach vor Tag.

Er will nichts sein, nicht einmal der alternde Dichter, der er ist. Der Name Mensch sogar löst sich ihm auf. Er schwindet hin.

Es ist nichts gewesen, es wird nichts sein. Aber ich bin, denkt der Dichter.

Er war nur noch das Gefühl von Sein, weder von Werden noch von Vergehen.

Und doch: beides drängte sich wieder zu.

Geheimnisvolles Tal, seh' ich dich wieder,
dich, Schlucht, von tiefen Wasserquellen rauschend,
narzissenduftende Terrassen, die
ihr, Öl und Wein gebärend, euch hinanstuft.
Und drüben steile Wälder, Kiefern, die
der harte Fels, der unzugängliche,
festhält und nährt mit seines Kernes Saft.
Und dumpfige Gemäuer, ausgehöhlte Stätten
des Elends heben sich wie Burgen hoch
aus Gipfeln, frei und stolz das Tal beherrschend.
Wie oft schon ging ich deine steilen Steige
allein mit mir und meiner stummen Welt,
ins Leben meiner Seele eingesenkt
und immer wieder warm hervorgelockt
vom Duft der Gräser bald und Blumen, bald
vom Zwitschern eines Vogels, der die Perlen,
die zierlich blitzenden der kleinen Kehle,
achtlos in stummbelaubten Abgrund ausstreut.

Die Sonne erscheint als umgestülpte Seerose – als purpurne Qualle, die aus dem Meere steigt – als Lampion.

Schon schwebt das Gestirn losgelöst.

Der Gott.

Seltsam. Das Urschauspiel ist heute gleichsam ereignislos.

Der alternde Dichter hatte schlecht geträumt.

Jeder Traum, auch der süßeste, hat etwas Quälendes.

Wären Traum und Wachen nicht gleich, so bestehen sie doch in steter Verbundenheit, so hängt das Quälende auch am wachen Leben.

Der Dichter hatte geträumt, seine Lieblingsfrau sei krank.

Sonne und Bewußtsein haben übrigens ebenfalls innigen Zusammenhang. Schon daß die Sonne es übernimmt, aus dem Schlafe zu wecken, läßt den großen Schluß auf die Erweckung des Geistes zu.

Die große Erweckung überhaupt.

Sollte es irgendwo im All, so fragt sich der Dichter, nicht vielleicht noch Gestirne geben, die in einem ganz anderen Sinne erweckend sind?

Wie seelenvoll ist doch das feine Musizieren der steilwandigen, unzugänglichen Felsküste, an deren Fundamente das Meer sich schmiegt. Mit dem ersten Blitze der Sonne jedoch erhebt sich aus tausend aufgeregten Vogelkehlen der heftigste Begrüßungslärm, die alltägliche Huldigung.

*

Dem alternden Dichter schien wieder ein Tag vergangen zu sein.

Wiederum ist er wach vor Tag.

Er erinnerte sich seiner Lieblingsfrau und dachte: Sie wurde mir geboren.

Kaum verriet sich die Sonne heut im Aufgehen, außer durch einen überall verbreiteten Dämmer, darin auch die Wolkendecke des Himmels stand, und durch jähes, heftiges Musizieren der Vögel.

Der Dichter betrachtete schwarze Weinstöcke. Hatte die Erde Schlangen geboren? Sie schienen ihm über das Gras zu fliehen, sie sprangen aus der Erde in verknoteten Bogensprüngen, sie schlängelten sich an Bäumen und Steinmauern gierig hinauf.

Ein Mädchen kommt, ein halbes Kind, den Korb voll gewaschener Wäsche auf dem Scheitel. Sie nimmt ihn ab, weil sie müde ist oder weil sie den Dichter begrüßen will.

Wie schön du bist, fühlt ohne Worte der Dichter.

Und er dachte bei sich: Ist es nicht viel mehr Schmerz als Lust, dies Gefühl?

Einmal ist dieses Wesen. Nie wird es zum zweiten Male sein. Ein Stern hat immer eine andre Klarheit als der andre, sagt Luther – aber das Wesen schwindet hin, indem ich es ansehe. Ich möchte seine Schönheit, das unbekannte flüchtige Wunder seiner Schönheit festhalten, möchte das Wunder sehen und anbeten. So übermächtig ist diese Offenbarung, daß sie das Gefäß, den Dichter, darein sie sich ausschüttet, zu sprengen droht.

Der Dichter hatte die Fläche seiner rechten Hand auf den Scheitel des Kindes gelegt, dessen Haar wie schwarzes Gold leuchtet. Er hat in seiner Hand einen unaussprechlichen Zauber zurückbehalten.

*

Was war die Nacht? Trübes Wetter und gleichsam trockene Wolken ohne Regen, hoher Seegang ohne Wind. Warum aber klirrten die Fenster? Dumpfe Schüsse hallten aus den Klippen der Felswände, sehr viel Größe und Urwelthaftes in der Natur.

Welche Merkmale hinterließ der Traum? Ich wollte ihn abschütteln, wollte aufwachen. Der Traum glich einer Gruft, ich wollte ins Licht.

Die Unsichtbarkeit, die Unfaßbarkeit der Erscheinungen quälte mich. Sie machte mich unruhig, dabei war ein gewisses banges Ansaugen an diese Erscheinung, die man nur flüchtig und ganz ungreifbar weiß.

Deutlicher als im Leben ungreifbare Gegenwart. Liebste Gestalten des Lebens spielen hinein. Hier fühlt man die ewige Trennung auch von dem Nächsten und Liebsten deutlicher und auch bittrer.

Das Gefühl bricht wie eine Wunde auf. Hoffnungslosigkeit ruht unter allem.

Ist man selbst zum Schatten geworden? Man fliegt wohl einmal im Traum, einen Boden jedoch tritt man nicht. Kaum jemals geht man von einem Ort zum andern: ohne gegangen zu sein, ist man da und dort.

Das Ohr träumt seltener als das Auge, ebenso auch das Tastgefühl. An das Träumen von Geschmack und Geruch hatte der Dichter nur schwache Erinnerungen aufbewahrt. Nur selten tritt das Zusammentreffen der Sinne ein, wie es dem wachen Leben natürlich ist.

So bleiben Gesichtsereignisse meist stumm. Auch Mitteilungen gehen stumm von Seele zu Seele.

Heut war mein Auge, beschließt der Dichter die kleine Meditation, heut war mein Auge zuerst erwacht, und erst eine Zeitlang später vernahm ich die Geräusche der Welt. Übrigens, möchte ich mich getrauen, als Dichter auszusprechen, daß Traum durch und durch poetisch ist.

*

Als der Meditierende seine Füße oben auf der Steilküste irgendwohin fortbewegt hatte, hörte er den Ton einer Hacke, deren Eisen nach dem Schwung des Landmanns knirschend in die Scholle fuhr, jenen Ton, der Fleiß und Fruchtbarkeit zugleich bedeutet, den höchsten seelischen und den höchsten körperhaften Besitz.

Der Dichter hatte den Bauer begrüßt, der unter Feigen, Oliven, zwischen Mandelbäumen und Weinstöcken rodete. Da kam ihm die stumme Frage: Aus welchem letzten Grunde bearbeitest du in rastloser Mühsal Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr, Jahrzehnt nach Jahrzehnt die steinige, widerspenstige Erde?

Er wußte die Antwort, er gab sie nicht.

War es bereits wieder Abend geworden?

Von rückwärts herauf scholl das Marktgelärm der kleinen Stadt.

Poesie entfremdet, sprach der Dichter, und wortlos weiter: ich könnte einmal das in Reime bringen:

Machtvoll an des Felsen Fuß
braust die Unendlichkeit.
Weitschauernd wogt
wie düstres Urgestein die See:
umflüsterst du die Welt?

Und der Greis hörte wirklich ein Flüstern.

Es war sehr vielfältig. Aber wieder und wieder klang über allen ein Wort:

Eros.

Als Eros verfolgt wurde, erschien er als Christos: auch Christos ist Eros.

Weltschöpfer, Weltherrscher, Allgewaltiger in jedem Betracht: Christos Pantokrator.

Etwas durch Eros Erschautes ist schön. Das Schöne verrät das Vorhandensein des Eros.

Was schön erscheint, erscheint so nur dem liebenden Betrachter.

Wer Schönheit empfindet, wie immer, wo immer, der liebt.

Die süßesten Wonnen des Körpers, das heißt aller Sinne sowie der Seele, das heißt aller Geistigkeit, sind Eros. In dem einen beschlossen ist die Welt, in dem andern die Paradiese.

Es gibt einen Eros des Auges, des Ohres, des Geruches, des Geschmacks, des Gefühls sowie des Denkens und der reinen Seele.

Der Manifestationen des Eros sind Legion. Meist erscheint der Gott ähnlich dem Funken zwischen Stahl und Stein.

Ein realistischer Philosoph nennt alle Begreiflichkeiten Kundgebungen des Unerkennbaren, Subjekt und Objekt Zeichen einer unerkennbaren Realität, die Existenz des Subjekts von der des Objekts für immer geschieden. Mag sein. So schafft jedenfalls Eros die stärkste Verbindung, die überhaupt möglich ist. Liebesnächte von Mann und Weib sind eine solche, und jedesmal ist die Geburt des Eros die jene gewonnene Einheit verklärende Realität.

Nicht im Verstande treffen sich Subjekt und Objekt, sondern in einem Schmelzprozeß, den man freilich als einen durch ein mystisches Feuer bedingten auffassen muß.

Der alte Dichter bricht das Sinnen über Eros ab.

*

Dämmert etwa schon wieder überm Meere der Abglanz einer noch verborgenen neuen Sonne herauf?

Sonnen, Sonnen und wieder Sonnen.

Fünfundzwanzigtausendfünfhundertundfünfzig Sonnen sind bereits in mein Leben heraufgestiegen, und jede ist wiederum untergegangen. Wie wenigen habe ich die gebührende Andacht, die gebotene Verehrung entgegengebracht!

Der Anachoret hat dies gedacht und, um das Versäumte nachzuholen, einen Felsenvorsprung erreicht, den er bei sich die Kanzel nennt.

Mit tiefer Neigung des Hauptes wird das Gestirn von ihm begrüßt.

Dann atmet er tief nach den Gipfeln ewigen Schnees, die fern überm Meere zu schweben scheinen: der Col di Tenda, die Seealpen.

Um den Dichter rauscht alle erdenkliche Größe und morgendliche Schöpfungsmacht.

Ich bin gewürdigt, sie zu erleben: die tägliche Schöpfung.

Vom Gelärm der Vögel begrüßt, unter ihm an den unzugänglichen Steilwänden, ist das Schöpfergestirn groß, rund und feurig emporgeschwebt.

Ich kann ohne Größe nicht sein, denkt der Dichter, obgleich ich sie oft meiden muß und nicht immer ertragen kann. Dann haftet mein Blick an Zimmerwänden, an Dächern, Schiffen im kleinen Hafen, hurtigen Ameisenmenschen auf dem Markt. Er kehrt sich ab, er flüchtet, rettet sich.

*

In einer reinen Gegend soll man als ein Reiner in der Wirklichkeit feststehen: ich habe diesen Rat irgendwo gehört, denkt der Dichter.

In reiner Gegend der Reine: bin ich das?

Still! Durch den Hauch des Zweifels erblindet die Scheibe.

Der Morgen spielt sich süß in meine Seele
mit Vogelstimmen, zartem Quinkelieren.

Warum soll ich denken, fragen, zweifeln, da ich doch bin?

Heilige Anachoreten, gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften, so erblickt sie mein Urahn am Schluß seines Lebens und seines Weltgedichts.

Die Felstiefe mit Höhlen, Söllern und Spalten, das kochende Meer in der Kluft erhob mich dorthin und zu ihm, dem Urahn.

Wie unbegreiflich tief ist dieser Naturdienst und Gottesdienst: wie eingelebt, umgeführt, eingeahnt. Wie ergreifend das ganze Testament.

Liebe:

Durch Selbst-Liebe: Gottesliebe! durch Selbst-Suchen: Gottessuchen! durch Selbst-Umarmen: die Gottheit umarmen! Welche Wärme und Süße der Glorifikation! Welche Wehmut und Reinheit der Abschiedsstimmung! Und welche Jugend in Gott mit achtzig Jahren!

*

Was stellen die Menschen für ungeheure Ansprüche, fährt es, von ihm ungewollt, im Geiste des alten Dichters zu meditieren fort. Der gewöhnlichste Anspruch ist, man möchte sein zeitliches Heil und sein ewiges aufgeben, um den oder jenen Schulmeister in irgendeiner Viertelstunde seines uns gewidmeten, zustimmenden Anteils nicht zu enttäuschen.

Der Dichter drückte die Handflächen gegen die Schläfen. Als er die Augen schloß, war ihm, als hätten sie sich an die Mauer eines Domes geheftet, der außer ihm wie in ihm und von Toten sowie von Lebenden bevölkert ward. Die Füße vieler erschollen auf Steinfliesen, andere schwebten lautlos umher. Er kannte sie fast alle mit Namen.

Und es meldete sich in ihm: ein sich gern verbergender, göttlicher, götterreicher, großer Göttergestaltersinn.

Das war seit langem sein größter Augenblick.

*

Aber da war sie wieder, wie gestern, wie die Tage zuvor: Palmyra, die kleine Wäscherin.

»Durch dieses Angesicht allein hättest du mich zum Sprechen gebracht!« Einer von den alten indischen Weisen sagte das, als ihm einer seine kindhafte Tochter als den Preis vorstellte, den er für Eröffnung geheimen Wissens zahlen wollte, das der Weise schweigend besaß.

Durch dieses Angesicht allein hättest du mich zum Sprechen gebracht.

Palmyra Madonetta. Madonetta Palmyra.

Edelbewegt, gerade, schlank.

Lieblich in ihrer Schamhaftigkeit.

Palmyra, Palmyra. Den Namen allein zu sprechen bedeutet Glück.

Der Dichter dichtet:

Im Dämmer schreitend kommt sie auf mich zu
mit reinem Gang, der jeden Adels eingeborne Kraft verrät.

Glanz und Wärme verbreitend, tritt sie in des Dichters Sinnenbereich und durcheilt seine Welt, sie in Paradiese verwandelnd.

Durch dieses Antlitz allein hättest du mich zum Sprechen gebracht. Richtig: der alte Dichter erinnert sich.

Um Rackoa, den Bettler, dem Jankruti vergeblich sechshundert Kühe dafür geboten hat, endlich zur Mitteilung seines Brahman-Wissens zu bewegen, bietet er ihm und stellt vor ihn hin seine Tochter.

Und nun tut und denkt und spricht halblaut der Dichter, wie der Bettler getan. Er hebt Palmyras Antlitz ein wenig empor und flüstert dabei ebenjene Worte:

Durch dieses Antlitz allein hättest du mich zum Sprechen gebracht.

Nun ja, aber was weiter?

Worin besteht mein geheimes Wissen, fragt der Dichter-Bettler.

Religionen sind vielleicht die natürlichsten, wenn auch merkwürdigsten Äußerungen der Menschheitsseele: sie gehen aus von der Empfindung des Diesseitigen, der größten und natürlichsten Entdeckung, zu einem wie immer gearteten Jenseitigen.

*

Hat der einsame Mann, der wiederum eine Sonne erwartet mit allen ihren Schöpfergeschenken, unter dem Wissen von der Wirklichkeit ein Wissen von der eigentlichen Wirklichkeit der Wirklichkeit?

Es gibt einen Hunger der Organe. Durch die Zeugung von Vater und Mutter werden wir ins Leben gesetzt, aber nicht in ihm erhalten. Die Nahrungsaufnahme aller Sinnesorgane allein bewirkt fortlaufende Kreation. Der befriedigte Hunger des Auges ist das Leben im Licht. Die Nahrung des Auges heißt Licht, Farbe, Form. Der Hunger setzt Leeres, das Leben Blindheit voraus. Was ist aber das, was die Blindheit durchbrechen, was sehen will? Was will sich ernähren, und was von Finsternis befreien, und warum?

Das Gleiche ist es mit dem Geruch, dem Gehör, dem Getast, dem Atmungsvermögen mit seinem Lufthunger sowie dem Geschmack. Alle diese Sinne wollen etwas Blindes, Taubes, Anteilloses, Totes durchbrechen. Der Naturphilosoph setzt einen banalen Zweck, der Zweck aber, der vor und nach dieser Befreiung liegt, erschöpft sich durch keine Art Banalität. Freilich, die Sinne sind eng begrenzt. Zu große Helle macht blind, zu starke Wärme verbrennt, zu lautes Geräusch vernichtet das Gehör, zu scharfe Säfte den Geschmack, zu dünne Luft, zu dicke Luft erstickt.

*

Das Auge des Dichters erfüllt sich wiederum mit dem Aufgang der Sonne. Ich nehme von diesem göttlichen Vorgang auf, soviel dem in seinen Grenzen festbestimmten Organ faßbar ist. Der aber das weiß und zu sagen vermag, dessen Grenzen sind weiter. Mit Recht oder Unrecht glaubt er von sich, er sei unbegrenzt.

Irgendeine tiefe Empfindung begleitet den durch das Tor des Auges erkannten Niedergang des Vollmondes. Sie schwebt, nämlich diese Empfindung, im schweigenden Abglanz einer köstlichen Passivität.

Auch Sol redet nicht, aber Luna schweigt wirklich.

Sichtbare, kosmische, beinahe heitere Gottergebenheit?

Das Auge liest, es liest überall. Die Welt ist sein Buch der Bücher, die Bibel. Es liest sogar das Schweigen.

Das Gelesene wird durch Sprache wiederholt.

Wie verstehe ich, denkt der Dichter, diesen Satz irgendeiner Geheimlehre: die Sprache wurzelt im Unwahren, ihre Frucht ist das Wahre.

Soll dies bedeuten: sie ist nur Zeichen, sie ist nur Symbol, aber sie ist Geist, und Geist und Wahrheit ist ein und dasselbe?

Jede neue Sonne ist Bewußtseinsbereicherung. Im Bewußtsein allein ist der Mensch arm oder reich, jung oder alt, gesund oder krank, in ihm ist er glücklich oder unglücklich. Der Mensch wird nicht eigentlich geboren außer im Geist, er wächst nur im Geist, und was er von Wahrheit weiß oder nicht weiß, ist ganz und gar beschlossen im Geist.

Aber wenn irgend etwas universell ist, so ist es der Geist. Also ist er nicht nur etwa heiliger Geist. Er ist guter Geist und ist böser Geist. Und als solcher, nämlich als böser Geist, spukt er in allen Religionen.

Dem alternden Dichter tritt ein Marmorbildwerk, das seltsamste, das er je gesehen, in die Erinnerung. Über einer Tür in der kleinen Ortschaft Cavi ist es noch heut zu finden und stellt ein gekreuzigtes Mädchen dar. »Malignantes exterminabuntur« liest man darunter.

Aber das Mädchen hat einen Heiligenschein. Sollte er wohl so viel als den Hohn bedeuten, der den Heiland als König der Juden mit der Dornenkrone versah?

Malignantes exterminabuntur. War dies nicht vielleicht ein Opfer des bösen Geistes, mörderischer Unduldsamkeit und Ketzervernichtungsraserei?

Laut spricht der Dichter: Apage, Satanas! Vergifte mir nicht meine Herrgottsfrühe!

*

Was ist es für ein Geist, der böse Geist oder der gute Geist, der einem unerbittlich immer wieder das Hoffnungslose zeigt: in Gestalt von menschlichen Handlungen.

Was kann es Grauenvolleres geben, und was kann hoffnungsloser machen als eine hohe Idee, die sich unter dem Übereifer ihrer Anhänger in blutiger Raserei verzerrt und darin ertrinkt.

Eine spanische Adlige träumte einst, sie bringe einen Hund zur Welt, der eine lodernde Fackel im Maule trug und nach und nach einen Weltbrand entzündete.

Domingo, später der heilige Dominik, las eines Tages in Lagrasse bei Carcassonne öffentlich auf dem Markt die Messe. An allen vier Ecken der Plattform, auf der es geschah, verbrannten Andersgläubige, Männer, Frauen und Kinder, auf Scheiterhaufen.

Apage, Satanas! Vergifte mir nicht meine Herrgottsfrühe!

Muß man immer wieder in die Verließe, die Folterkammern des Grauens hinabsteigen, um das Gute mit umso größerer Inbrunst zu suchen?!

Und sie kamen zum Grabe am ersten Tage der Woche, sehr früh, da die Sonne aufging, nämlich die beiden Marien, am Tage der Sonne. Und das Grab Jesu Christi war leer.

Er war von den Toten auferstanden.

Als dergleichen Gedanken und Erinnerungsbilder im Geiste des alten Dichters bis hierher ungesucht und zwanglos lebendig geworden sind, wird es ihm ebenso klar, er zelebriere die tägliche Auferstehung am Rande der Felsküste, die tägliche Auferstehung des Heiligen Geistes aus dem Grabe der Nacht, der Bewußtlosigkeit, am unwiderstehlichen Ruf, am unwiderstehlichen Fiat des Schöpferlichtes, des unermüdlichen Gotteshelden, der die Urnacht immer wieder siegreich bekämpft.

Gott-Vater, Gott-Sohn: Gott-Sohn, Gott-Vater.

Die Auferstehung ist eine Katharsis, und der alte Dichter fühlt sich als Katharos. Und er weiß nichts anderes, als er sei Gottes Sohn. Daß er von Gott aus dem Nichts erschaffen sei, wird dabei ebensowenig vorausgesetzt als bei einem natürlichen Menschensohn von seinem natürlichen Vater.

Aber: wo kommst du her? fragt er weiter und legt seine Hand auf einen großen erratischen Block, der schweigend den Weg verstellt. Du warst mir das größte Rätsel schon als Kind und bist es mir bis heut geblieben: der Dichter meint die Materie, meint den Stoff, meint das, was ist wie sein eigener Körper. Er meint nicht das Nichts, das vorauszusetzen dem Geiste natürlich ist. Aus Nichts wird Nichts: das ist ihm natürlich. Das Wunderbare ist für den Geist des Dichters nicht das Nichts, das Etwas ist ihm das Wunderbare. Wenn er zum Etwas sagt: Wo kommst du her?, so würde er diese Frage nicht tun, wenn ihm das Nichts nicht das Selbstverständliche wäre. Er kann das Etwas nicht denken ohne das Nichts. Darum ist ihm trotz allem, was sein Urahn und mancher andre Seher und Weltweise darüber sagt, noch immer die Welt aus Nichts entstanden.

Freilich, dies Etwas und dies Nichts, wovon hier die Rede ist, liegt jenseit der Grenze der Sprache, jenseit der Vorstellungswelt und ebenso jenseit allem Begreifbaren.

Nur die Ahnung hat den möglichen Grad und Abglanz eines Wissens davon.

Auf dem Steinblock vor den Augen des Dichters begegnen sich eine Meise und ein kleiner blauer Schmetterling. Beide fliegen auf, und die Motte verschwindet im Schnabel der Meise.

*

Erkenne dich selbst! Dieser nie restlos zu befolgende Imperativ ist trotzdem die höchste menschliche Aufgabe.

Selbsterkenntnis schließt jede Art von Erkenntnis ein.

Der alte Dichter, der Katharos, erwartet wie jeden Morgen im Dunkel die Sonne.

Er denkt:

Des warmen Südwinds warme Seele bin ich,
goldbraune Nadeln tretend unter Kiefern.
Köstlichen Bades freut sich meine Stirne.

Ein schmaler Terrassenweg klebt an der Steilküste. Hier wandelte der Dichter gestern mit seiner Lieblingsfrau. Heut schläft und atmet sie oben unterm Dach gesund dem Tag entgegen. Und doch überkommt den einsamen Dichter die Wehmut des Gestrigen.

Dann wieder das Wunder:

Mit allen Diademen reich beladen,
schwingt sich der Morgen her in meine Seele.
Lautlos entsteigt er, klaren Adels voll,
mit Frische angetan, mit Licht gesegnet.

Die Hacke des Landmannes tönt irgendwo wiederum.

Mi fanno pagare cinquanta lire per la mia casa, sagt er zu dem Dichter mit Ergebenheit. Er zuckt die Achseln: nicht ich trage die Verantwortung, sondern andere, soll das heißen. Mi fanno pagare . . .

Zwei Liter Öl für mich und meine Familie, den dritten für meinen Herrn. Er wohnt mit den Seinen in einer Ruine, raucherfüllten Schutthöhle. Offen auf dem gestampften Lehm brennt das Reisigfeuer.

Der Bauer ist ein feinorganisierter, dunkelhaariger, spitzbärtiger Mann. Seine Schlankheit erinnert den Dichter an einen Kreter.

*

Arbeiten und Essen, sagt er achselzuckend wiederum. Er wiederholt nicht: mi fanno pagare, er verschweigt den Lebenssinn.

Den erkennt der Dichter, als eines seiner Kinder zu dem Bauer kommt. Ein Leuchten des Glücks überhuscht seine Mienen. Und doch sagt er dabei, mit nackten Füßen tief in der aufgerissenen Erde stehend: Man arbeitet immer vergebens gegen das Elend.

Über den Bauer hinweg verzückt sieht der Lichter die südliche Welt. Das Meer liegt unter ihm hingedehnt wie ein göttlicher Trank und selber wieder getränkt mit Licht.

Der Landmann weiß.

Er sagt: Ja ja, für die, die das Geld haben, ist es ein schönes Land.

Solange der Dichter seine Morgenandacht hält, ist er weder alt noch jung und ist namenlos. Er ist nicht einmal ein Mensch, nur Geist, aber ein leise nagender Wille meldet sich. Wer möchte dem Dauer verleihen, was der Dichter hier schöpft, mit der Luft trinkt, mit den Augen! was er aus dem Boden hebt mit den Händen seiner Seele und womit er sie nährt.

Poesie ist das geheiligte Nichtwissen, denkt er bei sich.

Poetischer Sinnentrug: gerade er lebt von innerster Wahrhaftigkeit.

*

In Erwartung der Sonne wiederum.

Den Tag zu heiligen.

Mit dieser Formel tritt der alte Dichter schon seit Wochen morgens in das Dunkel hinaus.

O heilige Sonne, was wären wir,
öffneten wir nicht unsre Augen in dir.
Ich bin ein Kelch, den du erfüllst
und ihn in Gold und Purpur hüllst.
Ich bin erfüllt mit göttlichem Weine,
empfange und ströme Reine zu Reine.

Als der Dichter diese Verse gesprochen hatte mitten im Sonnenaufgang, ergänzte eine flüsternde Stimme hinter ihm aus dem zurückgelassenen Dunkel:

Was da leuchtet im Dunkelsein,
verliert sein Licht im Tagesschein:
aber es stirbt nicht, es geht nur ein
in ein allgemeines Lichtsein.

Alle unsere geistigen und leiblichen Greiforgane greifen aus dem Nichts: daher kann auch der deutsche Philosoph leicht auf das Nichts zurückkommen, das Alles ist.

Das Schauspiel war wiederum vorüber. Die Schritte des Dichters gewannen Zielstrebigkeit. Er hatte wieder Namen, Alter und Beruf. Da kamen ihm Verse in den Sinn, die er gestern gleich nach dem Erwachen niedergeschrieben hatte. Wie kam es, daß er sie nicht mehr verstand?

Über dem Nichts in flackernder Schwebung
schwebte die Seele dumpfer Belebung.
Unsichtbare und farblose Flamme
machte sichtbar und färbte ein Name.
Gekleidet in Namen und Gestalt
erhielt sie grübelnden Daseinsgehalt.
Und zugleich geboren in seinem Geist,
ward Name und Werk, das Rembrandt heißt.
Erwachen, mystisches Neubeginnen,
wo Quellen sich einen von außen und innen.

Gestaltung eines neuen Gestalters. Helldunkel. Das waren nun die Übergänge, um aus dem Nichts des Schlafs als einem Übergang in Gestalt und Gestaltung Rembrandts einzumünden, statt in eigene Gestalt und Gestaltung der Welt.

*

Grecale. Segel gleiten die Küste entlang. Die Schiffe scharf schneidenden Kiels. Die See gleich einer gerauhten Silberplatte. Draußen wie ein schwimmendes Mauerstück eine schwimmende Burg, ein Ozeandampfer. Das schwimmende Haus einer schwimmenden Stadt. Die schwimmende Weltstadt auf den Ozeanen. Die schwimmende Zivilisation. Volk aller Völker bewohnt die Stadt, aller Stände und Berufe. Sie besitzt Viehherden und Raubtierzwinger, ungeheure Warenlager, Luxus und Elend in allen Schattierungen: das weiß der Dichter, und eben blitzt es ihm durch den Sinn.

*

Mit dem Dichter zugleich, als er sich heut vor Tag erhob, erhob sich ein Gram. Als die Sonne erschien, konnte sein Gram, sein Kummer der Schönheit des Morgens nicht standhalten. Ihn überkam eine Ahnung der Unschönheit und des Unglücks.

Er berührte einen Mandelblütenzweig. Man könnte ein Leben damit zubringen, denkt er, das Wunder eines Mandelblütenzweiges zu beschreiben. Wenn man es beschrieben hätte, wäre einem nichts mehr verborgen von Gott und Welt.

Lange war er eine kahle, unscheinbare Rute, der Zweig. Wo waren die Blüten, die ihn jetzt umgeben und die nur hinfällig sind, weil sie zu Früchten werden wollen?

Aber sie ist nicht und kann die Vollendung nicht sein, die Frucht.

Wahre Blüte verblüht nicht, denkt der Dichter.

*

Und da ist sie wieder, die kleine Wäscherin.

Sie grüßt, sie geht vorüber.

Sie hat alle meine Gedanken und Gefühle mit sich genommen, sagt der Dichter, oder wenigstens viele.

Ich bin nicht mehr ein Ganzes.

Wieviel unwiederbringliche Schönheit vergeht nutzlos.

Schönheit macht Kranke gesund, weiß man das nicht? Schönheit kann in Erscheinung treten als die volle Summe des Glücks, alles überhaupt mögliche Festliche einschließend. Was ist sie aber, die Schönheit? Unter anderm das, was die große Illusion der Liebe zu wecken die Kraft hat.

Durst nach Schönheit: wie Durst nach Quellwasser.

Um nicht zu verschmachten, muß man trinken und den Quell finden, sei es mit Lebensgefahr.

Lust und Qual ist das volle Leben: Qual des Durstes, Lust der Befriedigung.

*

O du Zerrissener, schreitest wieder du
am Klosterpfade hin im Ring der Zeiten?
O du Zerschlagener, leidest stolz und stumm.

Der alte Dichter denkt dies in einer Art Selbstgespräch.

Wieder erwartet er eine Sonne.

Schon ist ein kleiner Vogel wach. Das unendlich Süße und Zarte seiner Stimme angesichts der dunklen Meeresweite, der ungeheuren Verwerfungen der Felsküste während des langsam weichenden ungeheuren Phänomens der Nacht über dem ungeheuren Rauschen und dumpfen Donnern der Brandungen vor dem ungeheuren Ereignis der über die Weltgewässer emporschwebenden Sonne.

Welche Winzigkeit des entzückenden, aus dem winzigen Schnäbelchen und Kehlchen sich behauptenden Lauts! Grade er, dieser winzige immaterielle Laut, erhebt Wucht und Gewicht der Materie, des Gesteins, des Wassers, der Finsternis und des Lichts ins Ungeheure.

Lege dich hin und stirb! flüstert ein Dämon dem Dichter ins Ohr, als die Sonne rund und im glühenden Limbus wie eine Sonnenrose überm Meer hängt. Träger dieses Lebens, fährt er fort, und jeden wachen Tages sind Eitelkeit, Ehrgeiz, Spiegelsucht, Befriedigung der Lüste, der Rache, Thersiteisches und Herostratisches.

Mitunter willst du regieren, die Menschenwelt gesundmachen. Ich aber sage dir: Regierenmüssen ist eine einzige ungeheure Verlegenheit, und bald wirst du, solltest du einmal die Macht in der Hand halten, Verbrechen über Verbrechen begangen haben, die dann straflos und so leicht auszuführen sind wie das Drehen von Brotkügelchen.

Ziehe dich ab, ziehe dich ein, ziehe dich zurück, ziehe dich in deine Tiefen, auf daß du von allem irritierenden Schein loskommst und frei lebst mit Gott!

*

Ich möchte schlafen.
Rauschen dringt in meine Nacht,
in meinen Traum.
Es rauscht. Ist es die Ewigkeit?
Ist es der Tod? Ist es der Schlaf? Es rauscht.
Sirenen singen! Aus den Tiefen dringt es auf
gewaltig: Rossewiehern.

Wahre und letzte Größe, die der Mensch empfinden kann, ist dichterische Begnadung. Alles andere ist platt, gewöhnlich und im Grunde armselig.

Noch überflutet meiner Seele Flut
der Traum des Meeres.
Angstvoll schreck' ich auf:
zuviel des Rauschens.
Furchtbar quillt ringsum
der schreckliche Choral . . .

Was sich in solche Worte hineindrängt, in solche Wortklänge: es ist ein ganz anderes, es ist universelles Schicksal.

Hier ist es schön.
Dort drüben, wo sich blau und tief
die See verfärbt,
lauert das Grauen.

Schicksal, Tragik, die sich nie verändert zu großer Vorstellung, hohem Fühlen, ins Wortbewußtsein gehoben.

Es spricht aus dem Dichter:

Einst sing' ich euch das große Lied
von Sturm und Kraft.

Und weiter, nach einer Stille:

Sintflut, ist sie vorüber?
Nimmermehr.
Die Weltgewässer schäumen weiß wie Schnee,
und Flutgebirge legen zwischen sich
todbringende Täler.
Und über alle diese Meere trugen
Götter den Menschen.

Der Meditierende erschauerte. Ein gräßliches Lächeln erstarrte um seinen Mund: todbringend hüpft die See, dachte er. Todbringend hüpft! Ja, das ist gut.

*

Laßt mich an einem grünen Hange wohnen,
dem Meere abgekehrt, wo nur ein Murmeln
zuweilen in das Spiel der Vogelkehlen dringt.

Eine Möwe hing in der Luft. Es sprach in ihm:

Auf Schwingen ruh' ich gleich der Möwe aus:
Wir alle!

*

Warum ist man nicht mehr Musiker, denkt der Dichter, da man doch vor allem Musiker ist.

Hab' ich nicht gestern, von Sonnenuntergang bis tief in die Mondnacht, selbst mit den Augen nur Musik gehört?

Es gibt in der Musik Konkreta und Abstrakta wie in jeder Sprache: hierdurch erübrigt sich der Streit über Berechtigung von Programmusik.

Die Musik der Sonnenuntergänge, die Musik der Meeresunendlichkeiten, die mystische Musik der lebenzeugenden Meerestiefen, die konkrete Musik der Brandung, die machtvolle stumme der zerklüfteten, wilden Felsküste. Der Kirchhof auf der Spitze mit seiner Musik, die fortschreitende Dämmerung der hereinbrechenden Nacht. Das Aufgehen der Lyra des Himmels mit dem Gesang der Sterne. Luna, die Trägerin so zahlloser menschlicher Irrtümer, der Sehnsucht mit ihrer rätselvollen Urmusik aus der Tiefe der Zeiten. Die aktive Musik Sols und ihr stummes Mondecho. Die Mondmutter, die sanfte Milch der Seelenernährerin. – Dagegen die Musik der Straßen, die ausgestorbene Vorstadt mit ihrer Todesmusik. Ein großer Karren mit riesigen Rädern: die Musik dieser Räder im Ton und Rhythmus. Die Schlittenschellen der Gäule, ihre von unten her beleuchteten Körpermassen und ihre schwankenden Schatten. Das schwankende Licht der unterm Wagen baumelnden Laterne und seine Musik. Dazu zeitweilig der Tenor des Fuhrmanns, durch Nacht und Wein befreit.

Die Musik dieses Gefährts im ganzen bakchantische Reigen vorspiegelnd.

Nach solcher gelegentlichen Meditation denkt der Dichter:

Noch immer webt an meinem Traum das Leben.

Der große laute Zauber, der die Luft zerreißt mit Klängen.

Die Urlaute.

Das Aufatmen und volle Crescendo-Rauschen des Waldes, wogegen die Töne aller Instrumente scharf.

Der stille Bach, der, durch Steine gehemmt, laut wird.

*

Und wieder erwartet der alte Dichter den Sonnenaufgang.

Er atmet tief.

Er spricht zu sich: Singe das Lied der reinen Luft.

Und weiter:

Du solltest ein Mondnachttheater gründen.

Und weiter:

Wahre Märchen werden von Kindern erlebt und von Greisen erzählt.

Und weiter:

Wir haben nichts Besseres und nichts Schlimmeres als die Liebe.

Und: Wie losgelöste Fahnenwimpel flattern die Schmetterlinge.

Halt! so unterbricht er sich, der neue Sinn des Lebens ist in mir, wie mir scheint.

Was war? und wie? und wo? der Wald?
Was war? und wie? und wo? der Baum?
von dessen Holze Zeit und Raum
genommen ward und sich Welten geballt.
In wessen Hand hat die Axt gehallt
und die Säge mit beißenden Zähnen geschrien?
Wer dürfte sagen, ich kenne ihn,
den Zimmermann? War er jung oder alt?
Und wer hat ihm Wald, Baum, Axt und Säge geliehn
und ihn selber erweckt zu Kraft und Gestalt?

Dies hatte der alte Dichter geflüstert. Er denkt über seine Worte nach. Wahre Fragen kommen zu uns als Verheißung richtiger Antworten.

Wahre Fragen kommen zu uns wie Schicksale. Sie kommen wortlos, schwächen sich selbst durch Worte, können ohne Worte nicht Antwort geben. Und doch liegt der Antworten Bestes wieder im Wortlosen.

Musik?

Dante ist Schicksal. Michelangelo ist Schicksal. Lenau – Schicksal, Goethe – Schicksal, Hölderlin – Schicksal. Und auch ich bin Schicksal, denkt der alte Mann.

Wollt ihr Dichter sein? Nie werdet ihr Dichter sein. Dichten ist ein großes Erleiden.

Was ist es mit dem lautlosen Schicksalsgewebe der Planeten? Es ist das Dichten des Dichterschicksals in den Weltenraum. Es ist lebendiges Wissen vom Nichtwissen, das einzig wirkliche Wissen, das es gibt. Es hat den Königsmantel des Magiers umgelegt.

Sieben Augen starren auf die Weltbühne aus dem Magiermantel hervor und regieren die Marionetten.

*

Die Natur ist dem Menschen stumm, außer durch die Sprache des Menschen zum Menschen.

Zum Menschen redet allein der Mensch.

Zeugnis durch Worte kann die Natur dem Menschen nicht ablegen, außer so.

Ingleichen Gott?

Jedenfalls hat er sich auch im Gotteswort menschlicher Sprache und menschlicher Schrift bedient.

Die Natur kann zum Menschen nicht einmal sagen: ich bin. Auch Gott hat es niemals zum Menschen gesagt. Nur der Mitmensch kann zum Mitmenschen sagen: du bist, und ich bin. Ein besseres Zeugnis ist nicht zu gewinnen.

Es folgt daraus: der Beweis der Welt, der Beweis Gottes ist dem Menschen allein der Mensch.

So wäre denn Sprache das wahrhaft übernatürliche, das wahrhaft göttliche Element und das höchste Erkenntnisorgan.

Dann wäre nicht eins, sondern zwei für den Menschen der Grund aller Dinge. Und also alle Erkenntnis sozial. Und dies trifft zu, denn Sprache ist das höchste Sozialorgan.

Jedes Tier ist natürlich belehrt. Auch der Mensch als Tier ist natürlich belehrt. Aber als Mensch ist er übernatürlich und künstlich belehrt. Und zwar durch den Geist, durch den Heiligen Geist, mittels der Sprache, die sein Kind und zugleich seine Mutter ist.

*

Von inneren Stürmen spliß ein zartes Rohr.

Wie eine Melodie, die man nicht loswerden kann, gingen diese Worte dem alten Dichter durch den Kopf.

*

Allmächtig tritt der Morgen aus dem Dunkel.

Formlos in dunkler Röte verbreitet sich das Licht.

Zwei Gewölke werden vereinigt durch einen schmalen Faden. Zwischen sie tritt die Sonne und wird durch den Faden durchschnitten.

Zwei ungeheure getrennte Sonnen scheinen zu entstehen. Jede blutrot wie schwärzlicher Purpur.

Der alte Dichter spricht in sich hinein:

Hier hab' ich nach jeder reichen Nacht
das Licht erwacht,
das Große gedacht,
das Niedre veracht't,
Agni das heilige Bett gemacht.
O wahre Sonne, o letzte Pracht,
wie im Meere doppelt entfacht,
so bist du doppelt in mir erwacht.
Oh, wem die doppelte Sonne lacht,
der hat gewonnen die letzte Schlacht.

Der Dichter erhebt sich einsam vom Lager. Die Sonne rief, noch unter dem Horizont verborgen: Versäume mich nicht!

Die Sonne rief.

Indem er hinausging, fragte er sich, ob er auch wahrhaft einsam sei.

Der Raum war grau. Ihn umrauschte, seine Schläfen erfrischend und seine Brust erneuernd, strömende Ferne.

Einsam ist jeder, wahrhaft einsam nur der, dem die furchtbare Wahrheit Einsamkeit ins Bewußtsein tritt, und nur der, der die furchtbare Wahrheit nicht fürchtet, sondern voll Entsetzen liebt.

*

Der einsame Seher lächelte mitten im sonnenhungrigen, heiligen Schauder der Einsamkeit:

Geduld, die Sonne, die Sonne kommt.

Aber da machte ein Echo ihn leise erzittern:

Die Sonne kommt, und die Sonne geht.

Er meditiert: Mag sie kommen und gehen, gehen und kommen, sie enthebt dich nicht deiner Einsamkeit. Wer die Menschen meidet, ist bald weniger, bald mehr als ein Mensch. Die Geister der Gestirne, des Wassers, des Feuers, der Erde gehen, von nichts gehindert, bei ihm aus und ein. Kein Dämon der Höhen und Tiefen sieht sich verscheucht. Zeus und die Zwölf sind bei ihm zu Haus. Er muß feststehen und mutig bei solchem Besuch. Und wie geschieht's, daß er nicht vergeht? Wie geschieht's, daß ihm das Blut nicht in den Adern gerinnt, wenn die Chimaira seine Klause mit Löwengebrüll und Ziegengemecker im Kreise umgeht und drohend mit dem Schlangenschwanz die knisternden Lüfte schlägt?

Kaum, daß der Gedanke des Dichters ihm diese beklemmenden Bilder geschaffen hatte, fegte diesmal Helios selber mit seinem goldenen Wagen und seinem Gespann aus dem Meer wie ein Sturmwind des Lichts und verjagte mit eins Chimaira, Dämonen und Götter.

 


 


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