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21. Juni.

Eine Art allgemeinen Rechenschaftsberichtes drängt sich auf und ein. Ein wunderliches Erleiden plagt mich und andere durch mich, neuerdings. Mit Verdrießlichkeit und Schwäche falle ich vielfach zur Last. Mir fehlt Behagen, selbst zu Haus, in erlangter Umfriedung, in gelinder Luft und warmer Sonne. Plötzlich mitunter ist mir, als enthalte der Becher des Daseins für mich nur noch Hefe.

Ich sehe mich nicht gern im Spiegel und trete doch oft vor ihn hin. Auch die Spiegelung des Innern zeigt mir nur Mängel. Ich erwäge allerlei, den Übeln zu steuern. Dabei suche ich Teilnahme, echte Teilnahme: wo ich aber Teilnahme finde, verletzt sie mich.

Ich ersehne Freunde, und wenn sie sich nähern, machen sie mich noch verdrießlicher, als ich ohne sie war. Ich wünsche das und wünsche das und wünsche es nicht. Ich betrete einen Weg, und tausend andere locken. Es zieht mich nach einem Ort, und wenn ich auf ihn zugehe, erregt er mir Widerwillen: habe ich ihn erreicht, so beschleicht mich Gram.

Wo sind meine Schmerzen? Wo sind meine Freuden?

Oft während der letzten Monate war es mir, als würde mir die Seele unerbittlich aus dem Körper gesponnen, in Fäden wie von einem Wocken. Dann wieder war es, als würde ich von unsichtbaren Rossen an Seilen auseinandergerissen. Mitunter fiel mich dabei lautes Entsetzen an.

Mit alledem wurde ich meiner Umgebung peinlich. Mich selbst beschlich ein Bewußtsein eigener Erbärmlichkeit. Getrieben, gestoßen, gejagt, gezogen, schien mein eigener Wille erstorben. Mein ganzes Wesen war die Schwäche selbst.

Fremdheiten stellten sich ein zum Nächstgeliebten. Alle früher offenen Türen schienen geschlossen. Leere trat an Stelle der Fülle. Von diesem inneren Zustand merkten wohl jene, die bei mir aus- und eingingen, nichts.

Noch jetzt ist die Morbidität meines Inneren nicht behoben. Vielleicht führe ich sie mit Recht auf die Monate aufgeregtesten Daseins, die hinter mir liegen, zurück – auf eine Überladung mit schicksalsmäßigen Aufgaben, die mich durchglüht haben. Viele Menschen und Dinge veränderten sich in Grimassen im Verhältnis zu meinem Kampf.

Als etwas Abgegriffenes blieb mein Dasein zurück. Es fehlten die Unterscheidungen, Ansprüche und Urteile, die zur Entfaltung von Leben und Kunst nötig sind. Und jetzt will jene Kontraktion sich nicht einstellen, die einer rohen Überdehnung und Weitung des inneren Wesensorganes zu alter Kraft verhelfen könnte. Seine Elastizität scheint zerstört.

Würde eine lange, sorgsame Kur hier noch helfen können?

Sie würde bestehen aus systematischer Übung und Arbeit im gesicherten Kreis. Damit wäre vielleicht noch zu erzwingen: Standhaftigkeit, Unantastbarkeit, Gelassenheit, Heiterkeit, Bildlust, Ordnung, ausdauernde Tüchtigkeit, geduldige Zähigkeit, leidenschaftliche Lebensfreude, kurz, eine neue, weisere Jugend mit einer eigenen, bewußt leitenden Hand und einem klaren und weitblickenden Auge in neue Welten.

*

13. September <1922.>

Sie spielte eine Kinderrolle in dem bekannten Stück, das Traum und Wachen auf eine seltsame Weise verbindet. Direktor Fritsch, der in diesem Winter das Theater unserer kleinen Universitätsstadt übernommen hat, scheint recht tüchtig zu sein. Aber was geht das Theater mich an? Ich habe etwas, vom Anblick dieser kleinen Person ausgehend, ins Blut bekommen. Sie ist allerhöchstens siebzehn Jahr, und ihr natürliches goldblondes Haar umwogte sie während des Spiels wie ein Mantel.

Ja nun, was ist's, was hab' ich im Blut ?

Ich flüstere fortwährend »Siri«: das ist ihr Vorname. Ich nehme an, daß man ihn dem Kinde zum Bühnengebrauch gegeben hat. Beim Bilden des Namens mit Gaumen und Zunge empfinde ich eine Lieblichkeit, die mit etwas Materiellem nicht zu vergleichen ist. Und dann flüstert es immer wieder in mir von blondem Gras auf Kinderköpfen – was doch wohl seltsam und töricht ist.

Es ist gewiß, ich habe nie den Begriff der Maria immaculata, Reinheit und Unschuld, wie hier gefühlt. Sie hat irgendwie das Gesicht einer Heiligen. Ich bestaune es. Ich kann mich nicht satt sehen. Ich meine, es bringt mir, neben der tiefen Rührung, Läuterung.

Man möchte die Hände falten und anbeten.

*

22. September.

Heut während des Kollegs, indes ich meinen Studenten von Platon sprach, überkam mich plötzlich eine nicht etwa seelische, sondern die Zunge und den ganzen Körper durchdringende Bitterkeit. Alles in mir war bis zur Übelkeit gallenbitter. Selbst die Luft, die ich in mich sog. Ein Student, er hatte mir etwas angemerkt, brachte mir ein Glas frischen Wassers auf das Katheder.

Weshalb war mir auf einmal alles so sinnlos, ja widerlich? Kaum getraue ich mich, es niederzuschreiben: inbegriffen mein Heim und Haus?

*

24. September.

Ich traf einen Kollegen, der etwas von mir hält, wie er sagt. Er verlangt von mir eine Tat. Ich müsse endlich durch Vollendung meines Buches der Welt Mores lehren und einen wahren Begriff von mir geben. Etwas Ähnliches habe ich im stillen, seit ich Dozent bin, von mir gefordert, wenn auch nicht in der gleichen Überstiegenheit. In meinem Leben ging eigentlich alles nach der Schnur. Der Schuldirektor, mein Vater, fand durchaus nichts zu klagen an mir. Die Schulkarriere ergriff ich zwar nicht, was ihm am liebsten gewesen wäre, aber ein schönes und liebes Mädchen aus einer Danziger Kaufmannsfamilie enthob mich der materiellen Sorgen, und ich kann nun ungestört einer ordentlichen Professur zuwarten.

Heute, Sonntag morgen, spazierten wir, meine Frau, die Kinder und ich, durchs »Paradies«, an den Ufern der Saale entlang. Bei günstigem Wetter war dies immer eine Stunde stillen Glückes und freundlicher Harmonie. Man trifft Bekannte und fühlt sich erwärmt als Mitglied der großen Gelehrtenfamilie im nahen Umkreis der Universität. Man fühlt überall, man ist gern gesehen, und das gesellige Haus, das Annemarie, meine Frau, zu führen versteht, ist ein geschätzter Faktor im Gesellschaftsleben des Ortes geworden. Die ersten wissenschaftlichen Leuchten aller vier Fakultäten gehen bei uns aus und ein.

Was ist denn nun mit mir vorgegangen?

Es will mir scheinen – ich sage es zu meinem gelinden Entsetzen –, ich gehöre nicht mehr hierhin. Aber wohin gehöre ich dann?

Es ist mir, als entstünde eine andere, eine ganz neue Welt um mich her. In der alten bin ich nur noch ein Nachtwandler. Was aber erzeugt oder wenigstens: was beherrscht diese neue Welt? Ein nie gesehenes, nie gefühltes Licht, sozusagen ein fremder Stern.

*

7. Oktober

Es ist mir in den letzten beiden Wochen leidlich ergangen. Als mir einmal die Eintragung vom 24. September vor die Augen kam, konnte ich sie kaum noch begreifen. Heute ist es ein ander Ding.

Ein musikalischer Abend liegt hinter mir. Das Quartett aus Berlin hat in seiner weltberühmten Weise Haydn, Mozart und Beethoven vorgetragen.

In einer Loge saß Siri, die kleine Schauspielerin.

Ich habe außer ihr nichts gehört und nichts gesehen.

Es bleibt nichts übrig, ich muß mich mit der Macht, die durch sie in mein Leben getreten ist, irgendwie abfinden – sie ohne weiteres abzuleugnen führt zu nichts. Nein, ich werde ihr voll und ganz ins Auge sehen. Denn das ist wohl gewiß: ich muß ihrer Herr werden. Zum Verräter an meiner Frau, meinen Kindern, mir selber und meinem Berufe werden kann ich nicht.

Aber ich sah die Liebe, die Liebe selber, wie nie zuvor, es ist nicht zu ändern. Der Kampf gegen sie wird kein leichter sein.

*

Nacht zum 8. Oktober.

Meine Krankheit hat plötzlich eine überraschende Wendung genommen. Es ist augenblicklich zwei Stunden nach Mitternacht; ich schreibe, um meine Bilderflucht zu verlangsamen. Da ist die Erscheinung in einer Loge – das törichte Bildchen, das mich am eisernen Taue hält. Wie kann jemand eine so furchtbare Macht ausüben, der es nicht einmal weiß?

Ich will los. Immer aber werden die Gedanken aus jeder Flucht zurück in die gleichen qualvollen Bahnen gerissen. Und dabei ist ein Gift wirksam, das mir jemand ins Ohr geträufelt hat. Diese kleine Heilige nämlich sei, so flüsterte Satanas, grundverderbt. Ich kann es nicht glauben, ich mag es nicht glauben, ich will es nicht glauben – und dennoch schwärt mir das Gift im Blut.

Ich frage mich: Was geht sie dich an, du hast mit ihr noch nicht zwei Worte gewechselt – bist allerdings durch ihren Gang, ihre Bewegungen, ihre Stimme, ihr Haar, ihr süßes und trauriges Antlitz von der Bühne her eingefangen. Weshalb aber empfindest du für ihr junges Schicksal, das dich nichts angeht, die ganze Last der Verantwortung? Nicht Tochter, nicht Schwester, nicht deine Ehefrau vermögen eine ähnliche, ewige Verwandtschaftsbeziehung in dir auszulösen. Was ist dies anders, wenn es nicht Wahnsinn ist? Ich muß mich von diesem Wahnsinn loswinden. Die Art und Weisen, in denen ich es jetzt schon versucht habe, sind erfolglos und teilweise mehr als lächerlich. Ich löschte das Licht. Ich stand auf und bewegte mich – um irgendwie aktiv zu werden und mich womöglich dabei von tintenschwarzer Nacht nicht mehr zu unterscheiden und zu verflüchtigen. Auch war mir, ich müsse schwimmen oder ertrinken.

Man hat mir einen brennenden Stempel ins Herz geprägt. Ich zweifle nicht, ich sterbe daran.

Ich öffne die Augen: ihr Bild ist da – ich schließe die Lider: es leuchtet greller. Ich drücke die Stirn in die Kissen: da taucht es nahe zu mir aus dem Abgrund auf.

»Es brennt mein Kopf, und die Liebe brennt.«

*

21. Oktober.

Wir hatten allerhand Geselligkeit. Es ist gut so, es ist doch – und ich suche sie – Ablenkung. Nicht, daß ich meinen gehabten Anfall der kleinen bunten Fliege wegen noch irgendwie ernst nähme. In den Eintragungen vom 8. Oktober scheint allerhand wildes Zeug zu stehen. Es ist aber nicht meine Art, das Gestrige aufzufrischen. Ich lese kaum je in diesem meinem Diarium. Das Leben geht seinen ruhigen Gang. Meine Frau, wie immer, ist gegen mich voller Güte, ja Zärtlichkeit. Nein, ich möchte sie niemals auch nur betrüben. Die Professoren, ja selbst deren Frauen lieben sie. Im Kreis der jüngeren Leute, die sie sichtlich bewundern und verehren, bin ich beneidet. Sie hat eine Eigenschaft, die ihr viele Herzen gewinnt: sie kann zuhören.

Es ist richtig, man sieht in den Gesellschaften so ungefähr immer die gleichen Menschen. Aber die ersten besten sind es freilich nicht, sondern viel eher die ersten sowie die besten. Da ist Professor H., vom Großherzog mit dem Titel Exzellenz ausgezeichnet, sein Name klingt in allen Erdteilen, er ist eine Leuchte der Naturwissenschaft: ein schöner, ein wundervoller Mann, der, wo er auch immer erscheint, dominiert. Da ist der Professor für Kirchengeschichte, zwischen sechzig und siebzig alt, mit nichts verheiratet als mit seiner gewaltigen Bibliothek: der beste Unterhalter und sprühend von Schalkhaftigkeit. Er hat Bücher über Katharina von Siena, die Wiedertäufer und anderes verfaßt, die ebenso gründlich als gut geschrieben sind. Da ist Professor E., der Philosoph, zwischen vierzig und fünfzig stehend, hat er erst ganz kürzlich geheiratet, eine junge, ihn wahrhaft vergötternde Frau. Unsereiner, fast der jüngste Dozent, kann wohl nicht anders als manchmal an eine Versammlung wirklicher Götter denken.

Mein Vater war dieser Tage hier. Er konnte sich gar nicht genugtun in der Anerkennung meiner Lage und der stolzen Freude über meine Situation. Ich sei, wie er meint, wie durch ein Wunder in die denkbar günstigsten Umstände einer Karriere hineingekommen: »Ein Jahr oder zwei, und du hast deine ordentliche Professur.«

Wußte er eigentlich, was er sprach und daß die Wirklichkeit meine Erwartung bald übergipfeln würde? Gestern nämlich war ich zu Graf K. hinüber in die Hauptstadt geladen, wo ich im kleinen Kreise, mit dem Großherzog selbst als Gast, zu Tische saß. Graf K. hat es sich in den Kopf gesetzt, mich, so jung ich auch bin oder gerade weil ich es bin, zum Museumsdirektor zu machen. Ich würde dazu in der Tat vielleicht besser wie mancher andere ausreichen.

Mein Vater gab mir wieder einmal seinen alten Rat: ich dürfe nicht rechts und nicht links sehen, ich müsse mich ganz und gar auf mein Fach konzentrieren. Meine vielfältigen Interessen, auch außerhalb meiner engeren Wissenschaft, billigt er nicht. Auch nicht, was ich hie und da immer noch nicht lassen kann, das Versemachen.

Wo willst du denn hin ohne mich, Seele?
Wohin rufst du, wenn nicht nach mir, kleine Kehle?
Du sollst dich nicht verirren,
nicht dir dein Köpfchen am Glas zerschwirren.

*

1. November.

Als ich heut morgen gegen 11 Uhr, wie gewöhnlich, durch das Treppenhaus der Universität meinem Hörsaale zustrebte, stand die kleine Schauspielerin Siri, neben ihr ein Student, vor dem Schwarzen Brett. Ich wurde von dem Studenten gegrüßt, sie wandte sich um und blickte mich an.

Ich mache gewiß nichts weiter daraus, es steht aber fest, daß dieser gänzlich unerwartete Umstand mich nicht psychisch, sondern physisch auf eine Weise traf, die an Lähmung grenzte. Nur mit Aufbietung aller Willenskraft konnte ich über die Marmortreppen hinauf mein Katheder erreichen. Weiß Gott, welch geistigen Wirrwarr ich dann meinen Hörern geboten habe. Wie tückisch, hinterhältig und dabei unaufhaltsam sich ein gewisser Dämon doch durchzusetzen vermag, wenn sein Eigensinn sich ein Ziel genommen. Unsichtbar wie auch wortlos bezieht er sein Haus. Trotzdem er alsdann den erwählten Körper unkündbar und gnadenlos bewohnt, ist er darin nicht aufzufinden. Bis dann der Hauswirt merkt, wieder und wieder, daß er ihm hörig ist.

Doch will ich nicht große Worte machen. Ich kann mich nicht als besiegt erklären. Wieder ergreife ich meine Maßnahmen. Sie sollen weiter darin bestehen, alles zu registrieren, wie und worin der Dämon fortschreitend seine grausame Kupplerarbeit treibt – um diese schließlich damit zu entkräften.

Nun also, ich habe gehört, sie sei verlobt. Es unterhält sie ein reicher Mann, der in Budapest oder Wien zu Hause ist. Er und ich: da ist einer von beiden zuviel auf der Welt. Obgleich ich bisher den Usus der Duelle lebhaft bekämpft und verurteilt habe, wird es mir jählings klar, daß er durchaus und durchum notwendig ist. Wenn die Fama auf Wahrheit beruht und irgendein Mensch, hoch oder niedrig, wer immer, sich herausnimmt, sich anmaßt, dieses allerlieblichste, allerheiligste Kunstwerk Gottes für seine gemeine Lust zu beanspruchen, zu unterhalten, sich aufzusparen: den, ohne mit der Wimper zu zucken, schieße ich nieder wie einen räudigen Hund.

Ich werde mich hüten, meinem väterlichen Freunde, unserem Psychiater B., diesen mir von meinem Quäler in den Blutkreislauf gejagten Entschluß zu eröffnen.

Ferner: ich sehe dieses kindliche Schönheitswunder, ob ich nun will oder nicht, im Bilde eines verflogenen Schmetterlings. Reiner Wahnsinn ist dies am Ende nicht. Dafür gibt es immerhin Anhalte. Es ist dieser flatternden Blüte anzusehen, daß sie ziellos und schutzlos ist. Denn Schönheit an sich kann nicht als Schutz gelten, sie lockt vielmehr alles Raubzeug an.

Siri steht vor dem Schwarzen Brett. Sie ist in die Universität gekommen. Ich muß ihr begegnen und sie mir: sollte dies nicht Bestimmung sein? Ich bin wirklich so weit, nichts mehr in dieser Sache obenhin zu nehmen. Sie gewinnt bei mir, wie man in unseren Kreisen sagen würde, eine transzendente Wichtigkeit. Aus dem Gang meiner folgenklaren Planungen und Erfahrungen fällt sie ganz und gar heraus. Sie ist nicht etwas, womit ich in meinem bisherigen Leben als mit einer Möglichkeit irgendwie gerechnet habe. Für die Art dieses seelischen Einbruchs findet sich in der Sprache kein Wort. Wer ist dieses Wesen, das, bevor ich mit ihm noch ein Wort gewechselt habe, eine so absolute Macht über mich hat? Wieso erhebt sie diesen unwiderstehlichen Anspruch auf mich? Stammt er aus einem früheren Leben? Wissen wir aus Zeiten vor unserer Geburt voneinander und der Bestimmung, die unabwendbar über uns ist? Geistig normal ist solche Betrachtung gewißlich nicht. Befiel mich dann vielleicht eine Krankheit, deren Ursprung allein in mir zu suchen ist? Mag sein, aber trotzdem: ich bin von dieser Erscheinung abhängig, bin ohne sie allen Dingen des Lebens gegenüber weniger als willenlos und mit ihr ebensowohl willenlos – außer mit ihrem und durch ihren Willen.

Kann es anders sein, als daß sie, ebensogut wie ich, von dem Auftauchen eines uns beide betreffenden, außerirdischen Schicksalsspruches wissen muß? Ist sie nicht gemeinsam mit mir in die gleiche, dem Alltag völlig unsichtbare, unfühlbare Sphäre getreten?

Ich registriere, daß die Welt, der Erfolg, das Geld, der Ruhm, die Kunst, die Wissenschaft, inbegriffen Freundschaft und Ehe sowie die ganze Kathederwelt der Ideale, zu einem bürgerlichen Mittagstisch des Geistes und der Seele für mich geworden sind. Nicht einmal reinlich gekocht – und auf fleckigen Servietten serviert.

Du lieber Himmel, wo soll das hinaus? Dies Buch muß ich doppelt und dreifach verschließen, wenn ich auch nur einen Funken Reputation in meinen Kreisen behalten soll.

Muß ich mir nicht aber wenigstens einen Teil ihrer kritisch-ruhigen Denkungsart zurückbehalten und anwenden?

Ist das, was mich jetzt erhöht, berauscht, erneuert, betäubt und dabei jedenfalls quält, nicht ganz und gar nur meine Einbildung? Oder wo läge die Kraft, mich so zu verändern? In dem kleinen Mädchen, das mit dem Studenten am Schwarzen Brette stand? Es ist nicht möglich, dahinterzukommen. Das schöne, dichte und leuchtende Gold des Haupthaares ist es nicht. Man begegnet ihm oft in den Straßen der Stadt. Ein Gesicht läßt sich nicht beschreiben: es ist und bleibt ein Mysterium. Nun ja, für mich hat das Antlitz dieses Kindes, mehr kann ich nicht sagen, einen betörenden Reiz. Der Mund, das Kinn hat etwas von jener nordischen Art, die meine eigene Familie auszeichnet; ebenso die zarte Haut, dazu allerdings ein meergrünes Auge, wie ich es nirgend gesehen habe. Zum ersten Male wirkt vielleicht die Macht des Artnahen auf mich, da ich mich bisher – meine Frau hat blauschwarzes Haar und dunkle Augen – zu anderen Typen mehr hingezogen gefühlt habe. Wenn nun aber dies alles doch schließlich nicht einzigartig ist, auch wenn ich den grazilen, gleichsam zerbrechlichen Körper hinzunehme: wovon, frag' ich wieder, stammt die Macht – die Macht der Verwandlung, die es ausüben kann?

Man ist versucht, sie in diese und keine anderen Proportionen zu legen, die der ganzen Erscheinung eigen sind. Es wäre zu grob, mit Kopflängen und dergleichen zu operieren. Es kämen dafür vielleicht die Bewegungen in Betracht, die Haltung des Kopfes, der Gang, das Kapriziöse der Schrittchen, der Geist, die Psyche. Das verräterische Temperament, das alles lebendig durchdringt, wird ganz gewiß seinen Zauber ausüben. Wir sprechen in diesem Sinne vom Körper und seiner Musik. Das Sublimste auf diesem Gebiet überträgt sich uns möglicherweise ins Unbewußte, um von da dominierend ins Bewußtsein hervorzutreten. Das alles aber erklärt noch nichts. Unsere Vorfahren sprachen von Hexerei, und so ist denn wohl manche Siri verbrannt worden.

Etwas anderes geht mir durch den Sinn. Niemals eigentlich litt ich weiblichen Wesen gegenüber an Schüchternheit. Nicht nur meinen Studentinnen gegenüber betrage ich mich frei und kameradschaftlich. Es ist mir, wie angedeutet, auch früher dem anderen Geschlecht gegenüber nie schwer geworden. Nun aber ertappe ich mich auf einem Zustand, der all dem völlig widerspricht. Was wohl lege ich in diese Siri hinein, wenn ich nicht getraue, mich ihr irgendwie anzunähern? Es ist eine Furcht, eine Angst, eine Feigheit, eine Unsicherheit, kurz, eine Erbärmlichkeit, deren ich mich wahrhaftig schämen muß. Als ob sie mich vernichten könnte, tödlich beleidigen und vernichten mit einem Wort oder Blick: oder mit beidem zum Tode verurteilen. Außerdem ist mir noch zumut, als müsse die ganze Welt, insonderheit aber die ganze Stadt und die ganze Universität auf mich hinstarren, wenn ich mit ihr ein Gespräch suchte, und zugleich alles in mir entblößt sehen, was ich dem besten Freund zu verbergen suche, weil es mir das Allerheiligste und ein Verständnis nicht möglich ist.

Nun, ich bin heut zu Mittag mit Weib und Kindern recht wortkarg gewesen und habe das bißchen Essen recht eigentlich hinabgewürgt.

*

7. November.

Der Intendant von Meiningen ist herübergekommen und hat in unserem kleinen Theater als Gast den Shylock gespielt. Siri war Jessica. Natürlich war dieser Theaterabend ein Ereignis für unsere Stadt: das Haus bis zum letzten Platz gefüllt, auch das hohe Dozentenkollegium unserer Alma mater vollzählig versammelt. Nach der Vorstellung feierte man im Schillersaal den großen Theatermann. An der Spitze des Komitees, das sich dafür gebildet hatte, stand unser Rector magnificus. Meine Frau und ich waren eingeladen.

Shylock wurde mit Beifall überschüttet, als er, natürlich befrackt, erschien, aber beinah noch mehr die kleine Jessica, die der Direktor Fritsch persönlich in den Saal führte. Sie war, wie alle fühlten, der aufgehende Stern.

Seltsamerweise war ich den ganzen Abend sowohl im Theater als beim Diner nachher so ziemlich normal. Meine Verfassung wurde gleichsam bestimmt durch die Gegenwart des gesamten Lehrkörpers. Auch hatte das dramatische Werk des großen Briten den Raum meines Geistes mit Beschlag belegt. Persönliches konnte nicht recht zu Wort kommen. Das kultivierte Spiel und die vollendete Meisterschaft des »Kaufmanns« standen wie eine köstliche Prägung und doch bewegt in meiner Seele. Und mein kleines Idol war ihrerseits weniger Siri als Jessica. Der Rector magnificus, der sie zu Tisch führte, erregte überdies in mir keine Eifersucht. Ihm gegenüber an der Tafel saß seine unscheinbare Frau, deren Tischherr der große Mime war.

Es wäre nun eigentlich nichts mehr zu sagen, da ich eine Kritik nicht schreibe noch meine Eindrücke im Theater umständlich niederlegen will.

Hatte meine Frau von meiner Faszination vielleicht irgendeine leise Ahnung gespürt, so ward sie ihr heut gewiß genommen. Sie sprach und bewegte sich während und nach der Tafel mit vollendeter Harmlosigkeit und Heiterkeit. In der gleichen Verfassung drückte sie auch Siri ihren Dank und ihre bewundernde Freude aus. Alles drängte sich natürlich um die Kleine her und ließ sich vorstellen. Das war nichts für mich, ich hielt mich zurück. Da war sie es, Annemarie, die mit ihr zu mir kam und uns bekannt machte.

Siri erklärte sogleich, daß sie mich bereits im Treppenhaus der Universität gesehen und übrigens viel von mir gehört habe. »Jawohl, er ist Hahn im Korbe«, sagte im Vorbeigehen scherzend der Rector magnificus, »Studenten sowie Dozenten sind ihm verfallen. Von den Frauen rede ich nicht, man ist ja diskret natürlicherweise. Aber nehmen Sie sich in acht! Manche schwören, er sei ein Herzensknicker.«

Alles lachte, auch meine Frau. Obgleich sie mit halbem Ernst hinzusetzte: »Machen Sie uns keinen schlechten Ruf, Magnifizenz.«

Ich konnte dies alles, wie es gemeint war, hinnehmen. Obgleich eine dunkle Besorgnis, der überstandenen Anfälle wegen, nicht ganz zu tilgen war. Wie sehe ich nun jetzt, im stillen gesammelt, wiederum meine Lage an?

Das Klappern der Konversation, auch der ihren, die Lichter, der Wein, die breit zerfließende, laute Festivität lenken vom Innenleben ab. Die Wirkung von alledem ähnelt wohl der von Morphium, ist aber doch vielleicht heilsamer, weil sie natürlich ist. Oder sollte Gift gegen Gift noch heilsamer wirken? Eines ist sicher, ich bin oder scheine mir seit diesem Abend wieder ganz und gar in dem schönen und lohnenden Sein meiner Berufskreise fundiert und neige dazu, letzten Endes theatralische Exaltationen als der Wissenschaft fremde und schädliche auszuschließen. Zumal mir der Archäologe, zwar mit der Bitte um Diskretion, aber doch mit Bestimmtheit, eröffnet hat, daß ich demnächst einen Ruf als Ordinarius nach München erhalten würde – als Nachfolger eines Mannes, der eine Weltleuchte gewesen ist. »Damit«, sagte er, »würden Sie dann in die Reihe derer treten, die wie Nietzsche, Leibniz und andere einen geradezu märchenhaften Weg gemacht haben.«

Eigentlich ist es ernüchternd, wenn ich mir wiederhole, was sie gesprochen hat. Sie sagte: »Das mag ich nicht! Das mag ich!« Sie hat einen Konflikt mit der Mutter, aber die Mutter wieder zurechtgeknutscht – und so fort und so fort.

*

10. November.

Als ich heut abend aus dem Kolleg nach Hause kam, hielt mir meine Frau geradezu freudestrahlend ein Zeitungsblatt entgegen, das mein Vater zugleich mit einem Briefe gesandt hatte. Es enthielt die Nachricht, daß ich jenen Ruf nach München erhalten hätte, den mir der Archäologe vorausgesagt hatte. Er könne an ein so märchenhaftes Glück gar nicht glauben, schrieb der gute Papa.

Die Nachricht war natürlich verfrüht, aber doch dazu angetan, die Sache selbst nun so gut wie sicher vorauszusetzen. Wir umarmten einander, meine Frau und ich, und drehten einander einige Male lachend im Zimmer herum.

Kollege Schirner, von der medizinischen Fakultät, kam zum Abendbrot, und wir feierten alle drei, meine Frau, er und ich, die Zeitungsnotiz. Es wurde dabei eine und dann die zweite Flasche Champagner getrunken. Annemarie war bei sprühender Laune und allerliebst in ihrer drolligen Zärtlichkeit. Es schien, und sie sprach es selber aus, daß sie sich neu in mich verliebt habe.

Schirner, der mir gegenüber ganz neidlos ist, überbot sie an Lustigkeit. Dabei wurde München nicht gerade zum Vorteil unserer kleinen Universitätsstadt herausgestrichen. Sowohl ihr illustrer Künstlerkreis, mit Lenbach und F.&nbsp;A. Kaulbach an der Spitze, wurde genannt als auch der große Hygieniker Pettenkofer von der Universität, der nichts hielt von der Bakteriologie und ohne Schaden ganze Kulturen von Cholerabazillen hinunterschluckte. Die Künstlerfeste wurden durchgesprochen, die Abende in der Allotria, des Hofbräuhauses wurde gedacht, überhaupt der herrlichen Biergärten und Bierkeller, der Weißwürste und der Kalbshaxen, des verstorbenen Märchenkönigs Ludwig von Bayern und des jetzigen allbeliebten Prinzregenten. »Ich schwöre dir«, sagte Schirner zu mir, »daß dir in höchstens drei Jahren der Maximilians-Orden am Halse baumelt und du geadelt bist.«

Und welche Umgebung München hat ... so ging es fort: von Panegyrikus zu Panegyrikus. Bis dann auch diese heiter-ausgelassene Stunde mit ihrer frohen Zukunftsmusik ihr Ende gefunden hatte.

*

11. November.

Welche Wunderlichkeit, welcher Zufall oder welche Fügung! Ich habe da einen philosophischen Schuster, in dessen Werkstatt ich zuweilen bin, erstens meiner Schuhe wegen und zweitens des Gespräches wegen, in das der Meister seine Kunden von der Universität gern verwickelt. Es geht dabei über Philosophie, insonderheit über Schopenhauer.

Bei meinem Besuche heut war er wieder besonders selbstdenkerisch aufgelegt. Er ließ mich nicht fort. Oder vielleicht auch konnte ich selbst mich nicht losreißen. Als ich schließlich nun doch nach der Uhr blickte, sagte er: »Bleiben Sie doch noch ein bißchen, ich erwarte nämlich eine kleine kapriziöse Person, eine Schauspielerin, deren Schühchen ich hier in der Hand habe.«

Der Meister zwinkerte mich bei diesen Worten auf eine seltsam bezeichnende Weise an.

Ich war verdutzt: mich durchzuckte etwas, woran ich doch wochenlang wohl nicht gedacht und womit ich nicht mehr gerechnet hatte. Sogleich war mir klar, daß die Erwartete Siri sein müßte – da trat sie auch schon in das Lädchen ein.

Ich werde nun den Versuch machen, alles Erlebte kühl und sachlich festzuhalten. Ich bedarf der Kühle, ich bedarf der Sachlichkeit. Denn es ist nach dieser Begegnung für mich eine neue Lage geschaffen, die, wenn sie nicht übergreifen und Unheil anrichten soll, fest umgrenzt werden muß. Draußen gingen Studenten unseres exklusivsten Korps vorbei. Es war ersichtlich, daß sie der jungen Künstlerin huldigten und, als sie ihr begegnet, sie in corpore herbegleitet hatten. Eine Viertelstunde später, setze ich gleich hinzu, machte die Abteilung einer Burschenschaft sozusagen Fensterpromenade.

»Wie nett«, sagte Siri, »hier trifft man sich.«

Mit einigen konventionellen Redensarten drückte ich darüber nun ebenfalls meine Freude aus. Es klang vielleicht etwas frostig, und ich nahm meinen Hut, weil ich dazubleiben nicht sogleich einen Vorwand ausmitteln konnte. Vielleicht riet mir auch irgend etwas die Flucht.

»Aber, Herr Doktor, was hab' ich denn an mir, daß ich Sie forttreibe? Eben freue ich mich, Sie zu sehen, und will dem glücklichen Zufall ein Loblied singen – und da sieht man Sie schon nach dem Hut greifen.«

»Nein, nein, um Gottes willen«, das war so ungefähr meine Antwort. »Ich hatte mich nur schon ein bißchen versäumt.«

»Nun, so versäumen Sie sich noch ein bißchen. Nicht wahr, der Meister macht Schühchen, die ganz entzückend sind. Nein, Fabrikschuhe mag ich nicht. Meister, wie steht es mit meinen Tanzschuhen? Bei der Premiere am Sonnabend habe ich nämlich eine Art Mänadentanz auszuführen. Ich tanze nicht gut. Ich bin keine Tänzerin. – Warum sieht man Sie eigentlich nicht im Theater?« wandte sie sich zuletzt an mich. »Nun, wir Gelehrten sind eine trockene Zunft«, sagte ich. »Wir müssen furchtbar viel Zeit mit Kärrnerarbeiten totschlagen. Mit Zerstreuungen sollen wir aus verschiedenen Gründen mehr als mäßig sein.«

»Mein Professor an der Theaterschule in Wien sagte immer«, gab sie zurück, »ein gutes Stück sei mehr eine Sammlung als eine Zerstreuung.«

Sie hatte übrigens ihren Fuß auf einen Schemel gestellt, wodurch ihr rechtes Knie frei wurde. Der Meister nahm ihr den Schuh vom Fuß und paßte ihr einen der Tanzschuhe an.

Das war für mich der Augenblick, in dem sich die ganze, scheinbar von mir überwundene und vergessene Magie ihres Wesens wieder einstellte. Als die Tanzschuhe beide, vom Meister verschnürt, an den Füßen festsaßen, führte die Kleine, wie zur Probe, mehrere Tanzbewegungen aus, wobei die Goldwoge ihres offenen Haars sich zweimal, dreimal in die Höhe und lose flutend um ihre kindlichen Schultern warf, während ihre Knie mit einem mich verwirrenden Reiz und der Anmut eines edlen Schulpferdes sich sprunghaft gegen das Kinn hoben; Siri blieb dabei völlig ernst, und das junge, süße, fast überirdisch reine Gesicht einer Heiligen stand zu dem, was sie tat, in einem befremdenden Gegensatz.

Der Premiere am Sonnabend werde ich beiwohnen.

Aber warum spiele ich denn Verstecken mit mir? Ich stelle mich, als ob ich da eine kleine Schauspielerin, Soundso und Soundso, getroffen hätte und nicht mein Schicksal selber in ernster Gestalt.

Ich habe Siri nach ihrer Wohnung und zu ihrer Mutter gebracht. Diese, die Mutter, bestand darauf, ich müsse mit ihnen Kaffee trinken. Mir war nicht ganz wohl, als ich da mit der Kleinen und ihrer Mutter am Tische saß. War ich denn nicht damit weiter, als mir lieb ist, an ein gefährliches Abenteuer herangeraten?

»Die Liebe ist Mitleid, Mitleid ist Liebe«, sagt Schopenhauer. Dabei ist das Leiden beinah mit dem Leben ein und dasselbe: mitleiden, also lieben, nichts weiter als Teilnahme, die sich nach unbekannten Gesetzen geltend macht.

Das ist es: nach unbekannten Gesetzen!

Würde meine Liebe abermals und in unabweislicher Form aufgebrochen sein, wenn Siri noch in ihrer engelhaften Reine vor mir stünde?

Heute ist sie mir immer noch zwar engelhaft, aber sie hat das Luziferische, also das Stigma des Engels, der von Gott und somit von der Reinheit abgefallen ist.

Ich werde versuchen, das Bild zu umreißen, das sich mir im Gespräch mit ihr auf dem furchtbaren Wege von der Schusterwerkstatt in ihre Wohnung ergeben hat. Vorher jedoch will ich einen Traum festhalten.

Als ich vorhin in einem aufgewühlten Zustand nach Hause kam und, ich gestehe es, mit unvermittelten Tränenausbrüchen zu kämpfen hatte – möchten sie das Übel hinwegschwemmen –, gab ich einer bleiernen Schlafsucht nach; ich schlief und träumte dies vor dem Aufwachen.

Ich umschlich einen Bauernhof. Der Morgen graute. Knechte bemerkten mich. Sie verfolgten mich. Ich erhob mich vom Boden und flog. Allein, ich kam nicht hoch genug, und sie warfen nach mir ihre Messer. Eines davon fuhr mir durch den Arm. Ich zog es heraus und warf es hinunter. Mein Flug wurde mühsamer. Unten rannten immer noch, Messer werfend, Verfolger. Mehr und mehr zog mich die Schwere hinab. Sie zielten nach meinen nackten Sohlen. Mehrere Messer staken bereits darin ...

Nun ja, ich erwachte in Schweiß gebadet.

Ihre Bekenntnisse fingen damit an, daß sie sagte, sie könne nicht folgsam, nicht genügsam sein, sich keinen Zwang auferlegen, nicht durch dick und dünn gehen für den, den sie liebt – und treu könne sie auch nicht sein.

Was sie zu dergleichen Konfessionen wohl veranlaßte?

Was ist eigentlich so ein Wesen im siebzehnten oder achtzehnten Jahr? Ganz gewiß etwas Einmaliges. Einmalig, wie es die Blüte ist. Gut, es kann eine Frucht daraus werden. Trotzdem ist die Blüte fertig und vollkommen. Niemals wieder in ihrem Leben wird der betörende Reiz ebendieser und keiner anderen Blüte sich wiederholen. Er schwindet schnell und ist dann für immer dahin. Dann wäre also Siri auf dem Gipfel ihres Lebens und ihrer Schönheitsentfaltung angelangt. Indem ich dies niederschreibe, kommt eine Art Verständnis dessen, was sie mir eröffnete, über mich. Das, was ich für Verderbtheit nahm, was mir die Reinheit der unberührten Blüte zerstörte, ist vielleicht das jeder Blüte Immanente, wodurch sie sich gesetzmäßig selbst zerstört.

Vielleicht fühlte Siri, daß sie mir nicht gleichgiltig ist. Und da sie meiner Empfindung vielleicht nicht unberührt oder ungerührt gegenübersteht, hat sie von vornherein die Pflicht gefühlt, keine falsche Voraussetzung in mir aufkommen zu lassen. Sie folgte dabei etwa einem Zwange zur Ehrlichkeit. Du bist mir sympathisch, aber selbst auf die Gefahr hin, dich zu verlieren, Liebe erschleichen, auf Grund falscher Voraussetzungen, mag ich nicht.

So stand ich denn bei ihren Eröffnungen wie überhaupt bei ihrer Begleitung unter einer Art Überrumplung. Mir war, als ob sie sich selbst alle Blütenblätter ausrisse. Ein unberührtes Mädchen sei sie wahrhaftig nicht: sie sprach von dem jungen Offizier – ihr Vater war Kommandeur in einer kleinen österreichischen Garnison –, der sie schon mit elf Jahren verführt habe. Diesem an die griechische Helena erinnernden Fall folgten andere. Einem gewissen Wiener Schauspieler oder Sänger hatte sie sich aufgedrängt. Kam er nach dem Theater in seine Wohnung zurück, fand er sie wieder und wieder vor. Mehrmals warf er sie auf die Straße. Schließlich hatte sie, was sie wollte, durchgesetzt.

Kann man sich denken, was ich bei diesen Eröffnungen fühlte? Titania hat sich in einen Esel verliebt – und ich war dabei, die Krone der makellosen Gottesjungfrau einer kleinen verderbten Dirne aufs Haupt zu setzen.

Bin ich meinen Irrtum nun losgeworden? Den Irrtum ja, oder auch nur halb und halb, aber nicht das tyrannische Gift im Blut. Kann man denn verderbt und zugleich ein Bild der Reinheit sein? Und dieser Fall ist bei Siri gegeben. Er wird durch eines der von ihr betonten Motive ihres Verhaltens unterstützt. Sie lebe nicht lange, behauptet sie, sie müsse, wenn sie der Tod dahinraffe, alles kennen und genossen haben, was das Leben zu bieten hat.

Wie sieht es nach alledem in mir aus? Es brodelt und geilt sozusagen eine chaotische Wirrnis in mir. Könnte ich mich mit jemandem aussprechen, Stunde und Stunde in ihn hineinreden von dem, was mich heut wieder überfallen hat, würde ich vielleicht etwas Schlaf finden und morgen früh ausgeruht und ernüchtert sein.

*

12. November.

Heut früh brachte mir Annemarie nun wirklich meine Berufung nach München ans Bett. Die Aufgabe, die ich in diesem Augenblick zu lösen hatte, war schwer. Das Interesse nämlich an meiner Berufung konnte ich in mir nur mit größter Mühe sozusagen aufpeitschen. Ich habe es natürlich nach Kräften getan, um meine Frau von meinem Zustand nichts merken zu lassen und sie nicht von Grund aus zu befremden.

Es ist mir gelungen, wie ich annehme.

Immerhin muß ich mit einer Spaltung leben, die seit gestern mein Inneres in zwei Hälften teilt.

Die eine Hälfte gehört der Familie, der Universität, der Wissenschaft wie überhaupt meinen wohlbegründeten, vielbeneideten bürgerlichen Verhältnissen. Die andere –? Ja, wem gehört sie denn? Siri, könnte man einfach antworten. Räumlich aber: einem endlosen, inneren Gären und Stürmen. Meine Lage wird dadurch erschwert, daß ich dieses Gären und Stürmen vor jedermann und besonders vor Annemarie geheimhalten muß.

Unter dem Vorwand, den Ruf nach München zu überdenken, habe ich einen langen Morgenspaziergang gemacht. Annemarie stutzte ein wenig, denn sie wußte es ja nicht anders, als daß man hier eben einfach mit beiden Händen zugreifen würde und müsse. Aber sie legte sich schnell zurecht: da nun der Fall tatsächlich vorliege, könne ein nochmaliges, allseitiges Überdenken keineswegs schädlich sein. Übrigens hatte ich oft erklärt, ich müsse aufs gründlichste überlegen, ob ich einer so großen Stellung jetzt schon gewachsen sei.

So stieg ich denn zum Fuchsturm hinauf und verlor mich von dort in den Wäldern. Nicht nur der Körper, sondern vor allem die Seele verjüngen sich im alleinigen Wandeln. Diese Gewohnheit ist mir von jeher notwendig. Ich glaube zu wissen, weshalb sie so heilsam ist.

Was fällt nicht alles dabei von dir ab? Du bist nicht erreichbar durch irgend etwas, was mit deinen beruflichen Pflichten zusammenhängt. So kannst du ihn ganz und gar ablegen, diesen Beruf, wie ein Geschirr oder wie ein Kleid. Bist du verheiratet, hast Kinder und Haus, während der Wanderung bist du es nicht, brauchst weder an Weib und Kinder denken noch an irgend etwas außer dir selbst, soweit es nicht deiner Willkür entspricht. Es ist gleichgültig, ob du Eltern oder Geschwister hast. So sind auch dein Alter und dein Name gleichgültig. Du magst annehmen, daß du keines und keinen Namen hast. Aus einem Gewölk von immateriellen Spieglungen aus den Erfahrungen deines Lebens kannst du nach Belieben auswählen und hast freies Walten darin. Du kannst dich selbst nach Belieben verwandeln.

Genug, ich will nicht weiter abschweifen.

Ich habe nun diesmal meine Freiheit nicht zum Überdenken der München-Frage angewandt, sondern natürlich Siri gewidmet. Ich nahm sie aus der Wolke heraus und ließ sie im Geiste mit mir wandern. So wiederholte sie Worte, die sie gestern gesagt hatte und an die ich mich jetzt erinnerte. Sie waren naiv und töricht, aber irgendwie rührten sie mich. Sie brauche Verwöhnung und Liebe und sei nun glücklich, da, ob sie wolle oder nicht, alle jungen Leute und nicht bloß die jungen in sie verliebt seien. Viele litten an ihrer Liebe: »Sie sehen mich an und leiden daran. Aber das ist mir besonders wohltuend, denn so fühle ich erst, was ich kann und bin.« Ich solle doch, sagte sie mir beim Abschied, morgen früh einer Bühnenprobe beiwohnen – es ist halb zehn Uhr: um zehn Uhr könnte ich im Theater sein.

Nein, es wird mir leichter ums Herz. Es kommt mir vor, als ob meine Phantasie souverän würde und die reale Welt nach Belieben aufheben könnte. Mehr und mehr wird Siri zum bloßen Geschöpf meiner Phantasie, und daß sie sich ganz und gar in sie verflüchtigt, daran muß ich mit Zähigkeit arbeiten.

So weit gediehen war nun glücklich der morgendliche Gesundungsprozeß, als ich plötzlich, mir selbst unerwartet, kehrtmachte und mit schnellen Schritten den Rückweg nach der Stadt einzuschlagen vermeinte. Ich mußte um jeden Preis rechtzeitig beim Beginn der Probe sein. Aber nun geschah etwas, das ich bisher noch nicht erlebt habe. Man kann es als Wink des Himmels ansehen. Vielleicht aber ist es auch nur lächerlich. Ich lief und lief, und zwar klar und zielstrebig durch den Wald, meines Erachtens dem Punkte zu, wo er sich lichtet und man das liebe, berühmte kleine Städtchen unter sich liegen sieht. Doch den Punkt erreichte ich nicht. Vielmehr wurde der Wald immer dichter und dichter, es verlor sich der Weg, und ich eilte zurück. Ich merkte, daß ich mich verirrt hatte.

Als ich nun wieder eine halbe Stunde gegangen war, löste auch dieser Weg sich auf, und ich fand mich weg- und steglos in einer mir unbekannten Waldgegend, so daß ich verdutzt und wirklich mit einigem Herzklopfen stehenblieb.

Ich kostete nun tatsächlich anderthalb Stunden und länger alle Planungen, Täuschungen, ja Beängstigungen eines Verirrten aus und fand mich schließlich auf einer entfernten Bahnstation, von der ein Lokalzug mich nach der Stadt zurückbrachte.

Annemarie war etwas beunruhigt, denn sie hatte auf mich mit dem Essen bis gegen die Vesperstunde gewartet.

*

21. November.

»O ihr Gazellen, süße Zwillinge«, diese Apostrophe werde ich in diesen Tagen und Wochen nicht los. »O ihr Gazellen, süße Zwillinge!« Ich bin sehr viel bei Proben morgens im Theater und auch des Abends, wenn Siri beschäftigt ist. Meiner Frau, meinen Kollegen und allen gegenüber, die meine plötzlich ausgebrochene Theaterfreude befremdet, rede ich mich mit einer psychologischen Arbeit aus, die ich zu schreiben gedächte. Ich wolle untersuchen, ob der Schauspieler sich in seine Gestalten hineinlüge oder der letzten Wahrheit seiner eigenen Natur Ausdruck gäbe. Meine kapriziöse Art ist bekannt, und so scheint man sich dabei zu beruhigen.

»O ihr Gazellen, süße Zwillinge!«

Ich behalte mich trotzdem vollkommen in der Hand.

Ich will nicht behaupten, daß dies eine leichte Sache sei. Wenn eine Fliege in das Netz einer Kreuzspinne geraten ist und nun mit allen erdenklichen Mitteln bestrebt ist, sich frei zu machen, verwickelt sie sich nur immer tiefer hinein. Ich hoffe, ich bin keine solche Fliege. Wenigstens nicht eine solche, die zuletzt den Widerstand aufgeben und sich von der Spinne das Blut aus den Adern trinken lassen muß. Gewiß ist mein Fall bereits überaus kompliziert und gefährlicher, als ein Außenstehender ahnen kann. Denn trotzdem ich nun fast täglich höre und sehe, was ich nicht hören und sehen will, wodurch alles umgestoßen wird, was ich in aller Unschuld bei Siri voraussetzte, warte ich noch immer vergeblich auf Gesundung, auf Ernüchterung.

Meine erste Liebe war eine unglückliche. Meine zweite zu Annemarie schloß in ihrer Wahrheit und Harmonie das Tempe der Jugend auf. Alles daran war so zart, so warm, so überköstlich, so neu, so erstmalig, so durchaus unerwartet und wunderhaft, dabei im einzelnen und im ganzen gebettet in so glückhafte Umstände, daß man sich ohne tiberhebung als einen Liebling der Götter erklären durfte.

O du keusche, du reine, an Körper und Seele so holde als edle Annemarie! – und ich bin dabei, dich für eine Art Galgenstrick aufzuopfern.

Nein, noch ist es durchaus nicht soweit. Aber schon das, was ist, genügt, mich dir gegenüber mit Schuld zu bedecken. Könnte ich leugnen, daß ich zum dritten Male einer Liebe verfallen bin und daß der Gegenstand dieser Liebe, indem er sich mehr und mehr enthüllt, mich auf eine schreckliche Weise quält, ja martert? Zu jenen Naturen gehöre ich nicht, die, ohne sich tiefer berühren zu lassen, alle vier Wochen in eine neue Liebschaft verwickelt sind – die also mehr mit dem Körper des Tiers als der Seele des Menschen lieben. Körper und Seele sind bei mir jedesmal gleich stark infiziert, so wirken sie in- und miteinander, weshalb man vielleicht von einer monistischen Liebe reden kann.

Dieser neue Einbruch der Liebesleidenschaft jedoch in mein Leben gleicht nicht den früheren. Er hat mich durchaus gegen meinen Willen gepackt. Er hat mich geknebelt, mich vergewaltigt. Er hat mich mit einem Gift infiziert, unter dessen Wirkung ich fast verbrenne und vor Durst fast umkomme. Ich weiß, daß der Quell, zu dem es mich immer wieder treibt, ebenfalls vergiftet ist und meine Krankheit, meinen Durst nur noch steigern würde: ja, er enthält ein tödliches Gift, das mich wahnsinnig machen und mich im Wahnsinn zum Selbstmord treiben würde. So stürbe ich denn, von Schmach bedeckt, als Verräter an meinem ernsten Lebensweg und noch mehr an dem Glück der Meinen.

Es ist nichts Geringes, was hier geschrieben steht; und doch merkt die Welt, der ich ein heiteres Gesicht zeige, ja selbst Annemarie, davon noch nichts.

»O ihr Gazellen, süße Zwillinge« – und darüber dies betörend reine Kindergesicht.

Es ist Sadismus gegen mich selbst, wenn ich Siri auf der Bühne proben sehe und im dunklen Parkett sitze. Ich werde gepeinigt von wütender Eifersucht. Ich hasse jeden, der sie berührt. Ich verfluche den Spielleiter, der sie zu duzen wagt. – Und nun spielt sie sogar die Julia. Sie plaudert mit mir, wenn sie frei ist und ins Parkett herunterkommt. Was erzählt da nicht alles ihr Kindermund. Nein, sie habe nicht gut getan. In aller Unschuld erzählt sie wiederum von der Garnison, des öfteren auch von den vielen Kadetten. Ein saugendes Täubchen könnte sie sein. Ihre Eltern hätten sich sehr gegrämt. Sie fühlte sich auch zu Hause beengt, konnte sich, trotz großer Geselligkeit, nicht ausleben. Aber glücklich sei sie auch beim Theater nicht.

Wir trafen uns heut, und wir wanderten lange miteinander. Sie war verändert. Ich suchte das Kindliche: es kommt nur zwischen den handelnden Menschen im Theater zum Ausdruck. Dort ist es, wo sie im holdesten Liebreiz strahlt. Aber wie ist sie sonst? Arm, bedauernswert, Mitleid erweckend. Sie sagt es selbst, und man glaubt es ihr nicht, bis man schließlich erkennt, daß es wirklich so ist. Sie erzählt, sie habe im Bett gelegen und habe unter sich Ballmusik gehört, da sei sie auf die Straße gerannt und erst vier Uhr morgens zurückgekommen. Bis dahin habe sie alles getan, was eben bei käuflichen Straßendirnen üblich ist.

*

24. November.

Heut morgen war Generalprobe zu »Romeo und Julia«. Viele Menschen waren zugegen, da und dort junge Männer, darunter auch Dozenten, deren Augen sich, wie mir schien, besonders an Siri festsaugten. Sie sprach mit einigen, kokettierte mit einigen, als sie in den Zwischenakten herunterkam – bis ihr der Spielleiter, aus Gründen der Illusionsstörung, das Erscheinen im Parkett verbot.

Ich gestehe mir ein, daß ich eine solche Vorstellung von »Romeo und Julia« weder bisher erlebt habe noch wieder erleben werde. Ich war selbst, in aller seiner rasenden Leidenschaft, Romeo. Bei der heimlichen Vermählung: Romeo; in der Brautnacht: Romeo; auf der Flucht und in der Trennung: Romeo; in der Gruft, wo man Julia bestattet hat: Romeo.

Und was mir bei diesen Szenen in der Gruft über Shakespeares furchtbares Wissen um die Liebe und ihre Konsequenzen darin aufging, darf ich kaum hinschreiben. Ein vom Dämon der Liebe Besessener ist in diesem Akt Romeo. Man versteht diese Szene nur, wenn man liest und hört, was ungeschrieben und unausgesprochen dahintersteht. Der nun allerdings verheerend gewordene Brand meiner Leidenschaft macht, daß mir der letzte Sinn der Gruftszenen klar in die Seele dringt. Der Durst muß gelöscht werden, so oder so, wenn nicht ewiger Fluch auf dem Liebenden haften soll: an der Toten und im Tode.

Diese Leidenschaft der Liebe ist keine Tändelei. Die Spielerei an ihren Grenzgebieten mit frischen und getrockneten Blumen und dergleichen verrät nichts über sie. Gewiß, sie hat wie der Tiger Sammetpfoten, aber sie hat auch Krallen und Pranken wie er, Klauen, die das Opfer zerreißen.

Gott ist die Liebe, sagt man so obenhin. Es mag wahr sein, wenn man an Liebe in allen ihren Phasen denkt und besonders an jene, in der sie mit gnadenloser Grausamkeit ein und dasselbe ist. Ist doch die Welt, soweit sie von unserer Art ergriffen wird, an sich ein Erleiden. Wir erleiden von Geburt an das Leben und erleiden dann unabwendbar den Tod. Die Brücke aber zu beidem, auf die wir immer wieder gelockt werden, ist das, was man obenhin Liebe nennt. Es verbindet das Männliche und das Weibliche in einem Rausch überirdischer Lust, darin es die Zeugung verbirgt und die Menschheit verewigt.

Gut, gut: so denken befreit, und besonders Verallgemeinerung. Eine fortgesetzte Befreiung dieser Art schafft die großen Werke der Denker und Dichter. Alle sind sie große Erotiker – auf der Brücke zwischen Leben und Tod, wo sie zumindest geistig zeugen, wenn nicht körperlich. Aber das erstere steht mit dem anderen. Ihre Geistesschöpfungen sind für sie auch insofern Erlösungen, als sie dem Tiger die Reißzähne ausbrechen und die schlimmsten Krallen wegnehmen.

Nun, dies ist freilich keine Musik, keine Mozartsche Symphonie, kein Minnesang und kein Lautengedudel. Eher gleicht es vielleicht einer Abrechnung: es ist der Wutschrei eines Geknebelten. Aber nun sei's genug damit.

Also: »Freunde, nicht diese Töne, lasset uns andere anstimmen«.

So viele Schönheit und Wahrheit, wie Siri als Julia entwickelte, könnte vor Staunen blind machen. Niemals wurde Unschuld reiner und süßer dargestellt. Die Empfindung war allgemein. Muß man nicht sein, was man so in letzter Vollkommenheit darstellen kann? Hat nicht ein Liebling der Götter, so deutlich sichtbar von ihnen über alles Gemeine gestellt, das Recht, anders als mit der Elle platter Moral gemessen zu werden? Oder lag es einem nicht nahe, vor dieser enthobenen Schönheit mit gefalteten Händen etwas wie einen Altardienst zu verrichten, weil man Auge und Ohr, Körper und Seele überhaupt durch eine Offenbarung begnadet, ja überschüttet fühlt? Freilich auch von einer Einmaligkeit, deren Wiederkehr sich vielleicht nie mehr so herrlich ereignet.

Ich wußte kaum noch, wo ich war und wer ich war am Schluß der Vorstellung. Und wenn mir meine bürgerliche Lage wie ein dünner Nebel durchs Bewußtsein fuhr, gelang es mir nicht, sie zu realisieren. Was sollte das heißen: Dozent? Professor in München? Ehemann, Vater von Kindern? Es hatte keinen Sinn mehr für mich. Vielmehr endete mein Verhältnis zum Leben in den eben erlebten Gruftszenen. Mach es kurz, sprach etwas in mir. Was willst du das Dasein wie der Geizhals seine Pfennige sparen und für sechs Groschen im Jahr ein halbes Jahrhundert weiterfristen? Pack zu, rase aus in Liebe und Tod! Stirb, wenn dir die Liebe ihr Höchstes und somit das Leben dein Höchstes gegeben hat. Es ist ja schließlich ein und dasselbe, ob man im Sarge liegt oder ein Leben im Alltäglichen fristet, wenn man aus den Bereichen und Verzauberungen übermenschlicher Wonnen verstoßen ist.

*

21. Dezember.

Der sogenannte kürzeste Tag im Jahr. Am vierten Tage, den heutigen mitgerechnet, ist Weihnachtsabend. Morgen hat die Helligkeit bereits, wenn auch unmerklich, zugenommen.

Ich sitze an meinem Arbeitspult, das Zimmer von innen abgeschlossen.

Annemarie, begleitet von einer Freundin, macht Einkäufe. Gut zwei Stunden hab' ich für mich bis zum Abendbrot.

Ich will sie zu einer ruhigen Selbstbesinnung ausnützen.

Seit ungefähr einem Monat also hier wieder die erste Eintragung. Wie habe ich diesen Monat verbracht? Habe ich die Kraft, dies klar zu erkennen? Jedenfalls hat der Lichtkreis des kommenden Christbaums seine Magie voraus- und einigermaßen spürbar um mich geworfen. Weihnachten ist wohl das Fest, das alleinige Fest, dessen mystischen Kräften sich kein Deutscher entziehen kann. In seiner Aura wirkt das Ganze des überstandenen Lebens, man sieht hinein wie ins Innere eines tiefen Brunnens, aus dessen schwarzem Spiegel man von Lichtkreis zu Lichtkreis aufgestiegen ist. Man ist kaum Gegenwart, fast nur Vergangenheit. Dieser Zustand kommt mir zugute.

Wir werden nun also vor Beginn des Sommersemesters in München sein. Alles verlief soweit programmäßig. Weniger durch mein als durch Annemaries Verdienst und das Verdienst meines Freundes Schirner. Ohne ihn würde vielleicht überhaupt Annemaries und mein Verhältnis sich weit krisenhafter entwickelt haben. Es ist ihm gelungen, sowohl sie als mich in Augenblicken der gefährlichsten Steigerung der nun einmal wirksamen Gegensätze vor Schritten zu bewahren, die nicht mehr gutzumachen sind.

Denn wie sich alles entwickelt hat und wie lange auch Annemarie sozusagen wegblickte und Nachsicht übte, die Gefahr, in der unsere Ehe schwebte und damit ich selbst, konnte ihr nicht verborgen bleiben.

Schirner war dann der erste, dem sie ihren heimlichen Kummer eröffnete. Wie es geschah, hat Schirner mir mitgeteilt.

Sie sagte, ich sei ihr gewissermaßen fremd geworden – sozusagen ein fremder Mensch. Sie wollte auf äußere Zeichen weniger Wert legen, denn im großen ganzen betrage ich mich ihr und den Kindern gegenüber wie sonst. Aber irgendwie sei ich ihr doch nur so etwas wie die Kopie von mir selbst – es sei eine haargenaue Kopie, aber es fehle ihr eben die Seele.

Dann hatte sie Schirner über meine wachsende Leidenschaft zum Theater ausgeforscht: was sie für einen Grund habe und wie er darüber denke. Von Siri sprach sie vorerst noch nicht, dagegen drückte sie ihre Besorgnis aus, ich könnte durch diese neue Passion die Universitätskreise verstimmen und meinen Ruf als Gelehrter schädigen. Sie wies zwei Briefe, einen von meinem Vater an sie, einen von ihrem, vor, die mit einer gewissen Besorgnis von vagen Gerüchten handelten, die also bis zum fernen Osten sowie zum Westen gedrungen waren, da Annemaries Vater in Danzig, der meine in Köln ansässig ist.

Was diese Gerüchte besagten, verschwieg seltsamerweise der eine wie der andere Brief.

»Was hast du ihr«, fragte ich Schirner, »darauf gesagt?«

Sie solle getrost beide Augen zudrücken, hätte er ihr geantwortet.

Schirner ist Arzt, ein mitunter recht derbes Original. Er will ihr erklärt haben, es könne sich wohl bei mir gelegentlich mal eine Schraube lockern, aber ich hätte sie immer wieder höchstselbst festgemacht. Ein solches Rindvieh sei ich nicht – und dann habe er allerlei Halbhumoristisches durcheinandergesprochen.

Ich kenne Annemarie genau. Ich bin überzeugt, sie weiß nicht, wie weit ich bis diese Stunde, sagen wir, einem irregulären Seelenprozeß verfallen bin. Ihr natürlicher Stolz verbietet ihr, einem Ohrenbläser stillzuhalten. Nun gar Spione und Lauscher anzustellen oder selbst zu spionieren liegt außerhalb ihrer Möglichkeit. So könnte es denn eine gute Weile so weitergehen. Wenn ich nicht selbst an sich und auch im Hinblick auf ein Versprechen, das wir uns gegeben haben, gegeneinander offen zu sein, in mir den Drang fühlte, sie ins Vertrauen zu ziehen. Ich könnte ihre Freundschaft aufrufen. Ich könnte ihr sagen: »Hilf mir, indem du ruhig duldest, was nun einmal nicht zu ändern ist. Ich meine damit meine Leidenschaft. Indem du ruhig und langmütig duldest und meine Genesung abwartest; denn zu genesen hoffe und mehr noch wünsche ich.«

Noch immer aber ist freilich meine Krankheit im Fortschreiten und auf ihrem Höhepunkt, dem gefürchteten und ersehnten, dem gebenedeiten und verfluchten, nicht angelangt.

Wir wollen die Frage nicht beantworten, ob ich nach einem solchen Bekenntnis der Schwachheit mich noch achten kann. Dieser Monolog schreit mir ins Gesicht: »Du bist eine kraftlose Memme, du bist kein Mann!«

Hinwiederum, was kraftlos ist, braucht mit einer Memme nichts zu tun haben. Es gibt keinen Starken, nicht einmal Herakles, der einen Stärkeren nicht gefunden hätte. Und gerade hier, gerade bei Herakles, ist's wie in meinem Falle ein Weib.

Genug, ich habe nun zu bestehen, was vor mir liegt: den Weihnachtsabend zweimal zu feiern. Erstlich im eigenen Heim und Haus, wo bei der Bescherung, dem Lichterglanz und hernach beim Mosel und beim gekochten Karpfen mit einigen Freunden Familienglück zu markieren ist, und hernach um zwölf, nachdem ich aus dem Hause geschlichen bin, angeblich als Alter Herr bei meiner Burschenschaft, in Wahrheit bei Siri und ihrer Mutter in einer ärmlichen Pension im Hinterhaus.

Es ist nicht wenig, was eine solche Spaltung in zwei Bewußtseinssphären der Psyche zumutet! Ich leide denn auch seit Wochen an beinahe völliger Schlaflosigkeit.

*

Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags.

Die Lichter sind gelöscht. Der große Tannenbaum in unserem Wohnzimmer und der kleine Tannenbaum bei Siris Mutter im bescheidenen Pensionsstübchen sind ihres Glanzes beraubt. Das Weihnachtsfest ist wieder einmal vorüber, wie alles, kaum in die Gegenwart getreten, schon vorüber ist. Diese Flüchtigkeit des Daseins ist überall erschreckend.

Dieses schreibe ich drei Uhr nachts vor Sonnenaufgang des ersten Feiertags. An Schlaf ist vorläufig nicht zu denken. Sich schriftlich von dem Erlebten Rechenschaft ablegen ist, wie gesagt, eine Art Therapie. Ich werde sie – die Wirkung ist da, mag sie noch so langsam sein – unbedingt beibehalten. Ich glaube sogar, daß der Spiegel, den ich mir heute vorhalte, mir ein verhältnismäßig ruhiges Bild zeigen wird.

Allerdings, zwei Weihnachtsabende in einem liegen hinter mir. Erst stand ich mit Annemarie und den Kindern, Agnes und Paul, unterm Weihnachtsbaum. Paul hatte sich Schlittschuhe, einen Rodelschlitten, eine Pelzjacke und eine Pelzmütze gewünscht und natürlich neben vielen Kleinigkeiten, die sein Wunschzettel noch enthielt, auch erhalten. Agnes befindet sich noch im Puppen- und Puppenstubenstadium. Mich hat meine Frau wahrhaft fürstlich mit einem Nerzpelz beschenkt. Während ich ihren Toilettentisch mit einigen schwersilbernen Gegenständen, Gefäßen und Bürsten, komplettiert habe. Für Schirner hatten wir ein Dutzend Flaschen Champagner aufgestellt. Die Bescherung verlief, dank der Kinder, in größter Harmonie und Heiterkeit. Am Essen nahm noch eine meiner Studentinnen, Fräulein von Bredow, teil, die mir zuweilen als Sekretärin behilflich ist.

Die festliche Stunde umgab uns mit dem gewohnten Zauber. Schirner war köstlich aufgelegt. Die Kinder wurden zu Bett geschickt, nachdem sie noch einmal »O Tannebaum, o Tannebaum« und dann »Stille Nacht, heilige Nacht« auf eine Weise gesungen hatten, die uns Tränen ins Auge trieb. Wir schwelgten hernach in Kindheitserinnerung. Die Unschuld der frühen Knaben- und Mädchenjahre mit ihren Glücksräuschen gewannen gleichsam eine neue Gegenwart. Zeitweilig lebte ich so in den Meinen und mit den Meinen und in dem harmonischen Wachsen und Werden meines Geschicks, daß ich Siri durchaus vergessen hatte. Fiel sie mir ein, so begriff ich ebensowenig die Macht, die sie einmal über mich ausgeübt hatte. Ja, hatte sie denn überhaupt eine Macht auf mich ausgeübt? Ich war sehr geneigt, es zu bezweifeln. Ich kicherte manchmal zum Befremden der anderen deswegen in mich hinein und lachte mich aus.

Als aber dann, von mir genau gezählt, elf Schläge der Standuhr in unserer Halle durchs Haus hallten, sprang ich vom Stuhl, gehorsam wie ein Rekrut, und log ohne alles Bedenken: ich hätte den Rhenanen versprochen und müsse das Versprechen halten, und sei es für eine halbe Stunde, auf ihrer Kneipe zu erscheinen. »Eilt denn das so?« hatte Annemarie gefragt. Aber schon war ich die Treppe hinab und im Schneegestöber der Straße. Heftig rufend kam Schirner mir nach, er käme gern mit, sagte er, zu den Rhenanen.

»Sei so gut, Schirner, geh voraus«, sagte ich. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Es handelt sich um eine sogenannte verschämte Arme, der ich gern noch eine kleine Unterstützung zukommen lassen will.«

Als Schirner mir aus den Augen war und mir die Gewandtheit, mit der ich log, ins Bewußtsein trat, zuckte ich fatalistisch die Achseln.

Bereits waren einige Schlittendroschken eingestellt, ich stieg in die erste beste, die vorbeiklingelte. Die Welt, in die ich noch eben ganz und gar eingesponnen war, ließ sich in meinem Geiste nicht mehr feststellen. Ich puffte den Kutscher in den Rücken und drückte ihm – zum Teufel: er möchte schnell fahren – den doppelten oder dreifachen Fahrpreis in die Hand.

Ich fand Siris Mutter noch allein. Siri spielte in einem Weihnachtsmärchen und war – das Stück mußte längst zu Ende sein – noch nicht heimgekehrt.

Ich gönne niemandem den Zustand, der sich meiner bemächtigte während der nun folgenden halben Stunde Wartezeit. Obgleich meine Beziehungen zu Siri über eine Art väterlichen Protektorats nicht hinausreichten, befiel mich eine wütende Eifersucht. Sie wurde durch die Mutter gesteigert, deren Besorgnisse die gleichen Befürchtungen ahnen ließen, die ich empfand. Wir hatten uns für den Abend verabredet, wenn sie aber nun nicht erschien, was hinderte sie? Was war geschehen? Die Möglichkeiten, die ich mir ausmalte, übergipfelten sich: in einer wahren Orgie von Geschehnissen raste meine Phantasie sich aus, Geschehnisse, in denen Siri das haltlose, hilflose Opfer war und die alle auf ein und dieselbe Handlung hinausliefen.

Die Einbildungen wurden allmählich so stark, daß, obgleich sie unzählig waren und durchaus nicht alle hätten geschehen können, ich sie als vollendete Tatsachen nahm. Wahrscheinlich bin ich allmählich dabei sehr bleich geworden. Sonst hätte am Ende wohl nicht Siris Mutter, die mit mir am Tisch saß, ihre Hand auf meine gelegt und leise begütigend sie gestreichelt.

»Wie erklären Sie sich die Verspätung?« fragte ich. »Das ist bei Siri«, sagte die Mutter, »nichts Besonderes, wenn sie unpünktlich ist. Sie kann mit einer Freundin, dem Spielleiter oder sonst einem Schauspieler, der sie aufgefordert hat, gegangen sein.«

»Wohin gegangen?«

»In ein Restaurant oder in die Wohnung.«

In meinem Kopf raste indessen ein Wachtraum mit einer Postkutsche. Siri hatte mehrmals von einem Herrn von Soundso gesprochen, einem Studenten, Korpsier, dem einzigen Sohn einer verwitweten Mutter, deren Affenliebe ihn mit unsinnigen Mengen Geldes ausstatte. Griff der Bursch in die Hosentasche, so brachte er Ballen von Hundertmarkscheinen heraus, die er ohne zu zählen verschleuderte. »Komm mit mir, wir reisen nach Paris, Rom, Nizza, wohin du willst«, hatte er zu Siri gesagt, »und amüsieren uns wie die Götter. Was wirst du dich hier für eine Hungergage im Theater abquälen!« Das Pärchen raste durch die winternächtige Gegend davon, unsinnigerweise in einer Postkutsche, wie mein eigensinniger Wachtraum es haben will. Wie marterte mich diese fixe Idee. Ich wußte, daß es nichts anderes war, und konnte mich trotzdem nicht von ihr losmachen.

»Was ist Ihnen denn?« fragte Siris Mutter. Ich war heftig hin und her gegangen, hatte zweimal ein wildes Ha! ausgestoßen und dazu beide Fäuste geballt.

Da hörte man Lachen auf dem Flur, und schon war Siri fröhlich und harmlos eingetreten. Im gleichen Augenblick aber mit Siris Erscheinen nahm auch die gesunde Vernunft wieder ihren Platz bei mir ein.

Einer der Gründe, um derentwillen ich die Gegenwart Siris immer und immer wieder suchen mußte, lag ja überhaupt in der heilenden, in der gesundenden Wirkung dieser Gegenwart. Jedesmal war durch sie der ganze quälende Krankheitsprozeß meines aufgestörten und ruhelosen Innenseins ausgelöscht.

»Warum kommst du so spät, Siri?« fragte die Mutter.

»Spät? Ich weiß ja nicht, daß ich spät komme. Lehmann, der Inspizient, der Quatschkopf, der so schrecklich in mich verliebt ist, hat mich bis an die Haustür gebracht. Weil es so schneite und man die Hand vor den Augen nicht sah, wollte er mir immer Küsse beibringen, aber er ist ja zu plump, er hat jedesmal eine herausbekommen.«

Das klang nun ein bißchen ordinär, doch man konnte mit Lachen darüber hinwegkommen. Die Mutter und ich nahmen ihr dann den nassen Mantel ab, und nun sah man wieder das kindhafte, von seiner Glorie umlockte Engelshaupt und konnte daran sich schadlos halten.

Das erste, was sie dann sagte, war: »Nun, liebe Kinder, es ist also Weihnachten. Hübsch, Herr Doktor, daß Sie zu uns kleinen Leuten gekommen sind.«

Kleine Leute, sie waren es wirklich. Ihre Lebenshaltung grenzte an Dürftigkeit.

Und plötzlich erschien mir das kleine Milieu in neuem Licht. Ich empfand eine Rührung und zugleich Achtung vor dieser Arbeitsgemeinschaft von Mutter und Kind, die eher dazu geeignet war, ins Feuer meiner nun einmal vorhandenen Leidenschaft Öl zu gießen, als ihr den von mir immer heimlich ersehnten Abbruch zu tun.

Diese Generalswitwe hatte andere Zeiten gesehen und also ebensowohl ihr Kind, obgleich diese kleine Siri in irgendeinen allgemeinen Rahmen nicht einzuordnen war. Die Sorge der Eltern hatte sie schließlich in einem Kloster zu Sarajewo untergebracht, wo sie, wie sie erzählt, eher Schlimmes als Gutes zu den Verfehlungen ihres bisherigen Lebens hinzulernte. Hernach kam die Schauspielschule in Wien, kam das Theater mit seinen Pflichten, und hier zeigte sich, daß die Kleine zu ernster Arbeit ebenso fähig als entschlossen war. Und welche Entbehrungen hatten, die Mutter verwitwet, die Tochter verwaist, beide seither ausgestanden! Denn eine fast völlige Verarmung, ich weiß nicht wodurch, war eingetreten. Der bekannte verhüllende Schatten lag über der Vergangenheit.

Statt des pompösen Christbaums in einer Kommandantur stand hier ein winziges Bäumchen auf einer Fußbank am Ofen, das die Mutter mit kleinen Kerzen aus einem zerschnittenen Wachsstock beklebt hatte. Sie wurden von Siri mit schwedischen Streichhölzern angesteckt.

Ich war plötzlich gerührt, fast bis zur Erschütterung.

Mußte man nicht den Schmerz, den man um der Verderbnis willen empfand, die das eigenwillige Bekenntnis des Kindes von sich behauptete, mit der Achtung vermählen, die ihr tapferer Lebenskampf beanspruchte? Ich habe bereits genug gesehen, um zu wissen, daß wohl kaum ein zweiter Beruf so rücksichtslos alle Kräfte des Menschen abbraucht als der des Schauspielers. Er verlangt einen Heroismus der Hingabe, der bis zur letzten Erschöpfung aller Reserven eines menschlichen Wesens gehen muß.

Um das Bäumchen her hatte die Generalin – sie trug zur Feier des Abends ein schwarzes Seidenkleid – einige nützliche Gegenstände gelegt, wesentlich solche, die dazu bestimmt waren, Siri vor Winterkälte zu schützen. Neben der Pelzmütze pelzgefütterte Handschuhe, neben der Strickjacke dicke Pulswärmer. So dürftig auch die Bescherung war, so kindlich freute sich Siri darüber – oder wenigstens schien es, daß es so war. Aus einem Delikatessengeschäft war ein Korb mit allerlei guten Flaschen und Eßwaren abgegeben worden. Man wollte behaupten, ich sei der Geber, was ich indessen heftig ableugnete. Es gab ein lustiges Hinundher, bis ich erklärte, wir würden uns jedenfalls, selbst wenn der Korb vom Himmel gefallen wäre, jetzt ohne Zögern darüber hermachen. Damit öffnete ich, nicht ohne Gewandtheit, eine Büchse Kaviar, hernach eine Straßburger Gänseleberpastete – und zwar mit den Worten: »Nimm, Petre, schlachte und iß!«

Ein humoriger Anfang dieser Art wäre mir allerdings nicht möglich gewesen ohne Absichtlichkeit. Vielleicht ging die Generalin und ihre Tochter ebenfalls nicht durchaus unwillkürlich darauf ein. Aus der ein wenig gezwungenen entwickelte sich aber bald eine natürliche Heiterkeit, verbunden mit einer lustigen Tätigkeit, darin jeder von uns dreien sich eine andere Aufgabe zuteilte. Siri deckte den kleinen Tisch und holte Bestecks und Teller herbei. Ich öffnete eine Flasche Punschessenz. Die Generalin holte Gläser und kochendes Wasser. Es wurde gebraut, Toast geröstet, Butter dazu aus dem Korbe geholt, Schinken und Mettwurst aufgeschnitten und schließlich gegessen und getrunken mit aller jener guten Laune, die sich bei solchen improvisierten kleinen Schlemmereien fast immer einfindet. Die Weihnachtslichter waren weit früher als unser Frohsinn heruntergebrannt.

Eigentlich hatte ich nicht geglaubt, daß mir ein so harmlos-heiterer Abend bevorstünde. Das bewirkte wohl auch hier wie daheim, das alte Weihnachtsmysterium. Ich war nur der Deus ex machina, eine Art lustiger Onkel als Wohltäter. Der gemarterte, in Wirrnissen kämpfende Liebhaber in mir schien eingeschlafen zu sein.

Er ist auch den ganzen Abend über kaum aufgewacht. In Gegenwart ihrer Mutter zeigt eine Tochter hauptsächlick kindliche Wesenszüge ihrer Abhängigkeit. Die Mama korrigiert, rügt und befiehlt, die Tochter gehorcht oder zeigt sich aufsässig. Das läßt den Reiz ihrer Einmaligkeit, den Reiz ihres wahren Wesens nicht aufkommen; er schlief in ihr – und somit in mir der Liebhaber.

Seit ich daheim bin: leider wacht der eine und wacht der andere wieder auf.

*

27. Dezember.

Die doch irgendwie am Weihnachtsabend eingetretene Ernüchterung hält an. Als ich gegen Morgen von Siri nach Hause kam, war ich doch wohl befriedigt und befreit. Ich hatte die Grenzen ihrer Macht gespürt. Seither ist überdies das Bild Annemaries zu einer unüberwindlichen Schönheit in mir gediehen. Zwar diese in ihrem Wesen so bestimmte und tapfere Annemarie verliert, sosehr sie es auch verbergen will, zusehends ihre Sicherheit. Aber das gerade rührt mich tief, denn ich spüre zugleich den Kampf, den sie schweigend kämpft. Sie weiß, man hat es ihr irgendwie zugesteckt, daß ich nicht bei den Rhenanen gewesen bin und wo ich in Wahrheit das zweite Weihnachten gefeiert habe. Nein, gelobe ich mir, der Zerstörungsprozeß alles dessen, was in ihrer Persönlichkeit schön, vertrauend, gläubig und zuversichtlich gewesen ist, darf nicht fortschreiten. Freilich ist zu bezweifeln, ob mein erster Versuch, ihn aufzuhalten, glücklich gewesen ist.

»Was ist dir?« fragte ich, ihre Hand fassend. Sie sah mir ins Auge und sagte: »Nichts.« Worauf ich sie dann mit diesen gewissermaßen orphischen Sätzen bedacht habe:

»Ich verlange jetzt dreierlei von dir: du mußt deine Langmut, dein Vertrauen und deine Liebe steigern. Dagegen verspreche ich dir, das zu besiegen, was den Tempel unseres Lebens unterminieren und so zerstören will. Und dieses Versprechen werde ich halten.«

Wie auch immer die Wirkung auf Annemarie gewesen sein mag, mir selber schaffte diese Apostrophe merkliche Erleichterung. Ich nahm meinen Hut und lief ins Freie. Im scharfen Winde, der von den Höhen pfiff, schüttelte mich ein innerliches, befreiendes Lachen. Ich hatte Not, einen singenden Jubel zurückzuhalten vor triumphhafter Ungebundenheit. Ich stellte mein Mitgefühl vor Gericht und bestätigte mir, daß ich nun einmal nicht fähig sei, das Schicksal Siris zu durchkreuzen. Es würde ja doch geschehen, was nun einmal in ihrem Wesen beschlossen lag. Ich weiß nun, daß ich dem nun noch folgenden Loslösungsprozeß gewachsen bin und gewachsen sein werde. Zunächst meide ich nunmehr das Theater. Ich war ein Gelehrter, ein Forscher, ein Dozent lebte in einer schön umgrenzten und doch wiederum unbegrenzten äußeren und inneren Welt, in der ich stark war während das grelle Licht des buntfarbig-wilden, theatralischen Scheins mich nach und nach einsog, aufsog und schwach machte. Es überfiel mich mit einem Rausch wie von Haschisch und Opium. Es tut mir leid, kleine Siri, süßes Kind, daß du in mir den glühendsten deiner Anbeter und zugleich deinen besten Beschützer verloren hast.

*

1. Januar.

Hab' ich es nun doch wieder nötig, nach meinem Diarium und der Feder zu greifen, um mich durch die Tätigkeit des Denkens und des Schreibens wieder einigermaßen zu klären und abzukühlen? Mein Blick fällt auf den Schluß der letzten Einzeichnung: O weh! da habe ich Siri bedauert und nicht mich. Heut habe ich wiederum mich zu bedauern.

Mich zu bedauern? Oder was sonst?

Unzählige Antworten drängen sich zu. Draußen friert alles zu Stein und Bein. Bei mir aber ist es, als schüttete sich eine warme Frühlingswolke voller bunter, lockender Bilder aus. Spielsachen des Geistes sozusagen, nach denen die verzückte, besser die verrückte Seele bis zur Ermüdung greift, die einzelnen Stücke betrachtend, um und um wendend, wieder betrachtend, wendend und wegwerfend, wieder aufhebend, wieder betrachtend und so fort.

Gestern war im Schillersaal der Silvesterball. Die führenden städtischen Kreise, die Universität und eine geladene Anzahl Vertreter der Studentenschaft war gegenwärtig. Eine hübsche Bierzeitung, die in Wort und Bild viel Übermut und Talent zeigte, war aufgelegt. Ein kleiner Studentenulk, der große Heiterkeit auslöste, wurde zum besten gegeben. Und Theaterdirektor Fritsch brachte eine kleine, berühmte Tanzszene zur Darstellung, in der ein wilder, zottliger Riese, eine Art Menschenbär, mit einer kapriziösen, lieblichen Elfe tanzt. Die Elfe aber, die niemand anders als Siri war, hat mit allen Hexenliebeszaubern, die überhaupt möglich sind, sich in mein wehrloses Blut hineingetanzt – und beherrscht seitdem wiederum jeden Blutstropfen.

Täppisch drehte der Unhold sich um sich selbst, von der schmetterlinghaften Elfe bunt, lieblich und neckisch umflattert. Hier wirkte seltsam Magie auf Magie. Siri war frei und der Waldmensch nicht minder. Aber dennoch bestand zwischen ihnen unsichtbar eine Bindung durch Anziehungskraft. Der wilde Urwaldgeselle griff immer wieder nach ihr, er verfolgte die Elfe, er schlug nach ihr. Mit seiner Wonne nahm seine Wildheit zu, sein Begehren nahm zu, seine Wut, seine Liebeswut nahm zu. Ein wachsender Rausch, eine Raserei, wodurch er die kleine Elfe mehr und mehr ansteckte. Nein, sondern eine Art Od, eine odisch-magnetische Kraft ging von ihm aus, welche die kleine Elfe zwar in Farbe, Anmut, Schönheit und Wildheit der Bewegungen zu außerirdischer Schönheit aufblühen ließ, aber zugleich ihm hörig machte. Auf die Zuschauer legte sich ein Alb von Bangigkeit. Eine fallende Nadel wäre im Saale gehört worden. War wirklich diese verflogene, Goldgespinste um sich schleudernde Feuermotte, dieses mänadische Kind einer Huri des Paradieses, das ursprünglich ohne Schwere war, dazu bestimmt, von den Kräften und Dünsten des Erdballs überwältigt zu werden? War in dem knorrigen, stampfenden Baum, den das rostrote Moos wie ein Bart umhing, etwas vom götterfeindlichen Blut der überwundenen Giganten inkarniert, die, im Abgrund der Erde gebunden, nach den verlorenen Freuden der Himmel lechzen? Und so ward sie sein Opfer. Es kam der Augenblick: aber doch nur so, daß die funkelnde, süße olympische Psyche an ihm, er dagegen an ihr zerbrechen mußte.

Nun ja, dieser Tanz hat stattgefunden. Und, wie gesagt, seine Magie, seine schwarze und weiße Magie, hat mich mit allem, was ich ausgestoßen zu haben glaubte, wiederum imprägniert.

Der Schauspieler, der den Unhold tanzte, ging in der Menge verloren, als er sich wieder in seinen Frack geworfen hatte. Siri dagegen, die ihr malerisches Kostüm nicht zu wechseln brauchte, blieb der allgemein bewunderte und umschwärmte Mittelpunkt. In den Kreisen der Damen, insonderheit bei den Frauen und Töchtern der Dozenten, regte sich bald und wuchs die Eifersucht.

Aber es war nicht jene, als deren Opfer ich mich betrachten mußte. Mir wurde der Abend, die Nacht zur bittersten Qual.

Wer war es, der diesen Tanz des menschlichen Ungeheuers mit dieser libellen- oder schmetterlingshaften Sylphe erfunden hat? Er mußte, es konnte nicht anders sein, um Siri so gut wie ich Bescheid wissen. Dämonische Mächte hatten von diesem Wesen Besitz ergriffen. Sie legten ihm unzerreißbare Fesseln an, die es zur Gefangenen machten und allem Brutalen und Häßlichen hilflos preisgaben. Einmal sagte Siri selbst: was ihr Widerwillen, Ekel, ja Abscheu errege, müsse sie anfassen. Das Wüste, Gemeine, Häßliche habe für sie eine grausame Anziehungskraft. Oft gebe sie ihr nur wimmernd, sich sträubend und mit wachsendem Abscheu vor sich selber nach. Dann aber biete sie sich und gebe sich hin, fast wider Willen und doch mit gräßlicher Lust dem Tatzenschlag der verkommensten Bestie. Wieso und warum sie dieses Verhängnis zum Häßlichen immer wieder packe und sozusagen den Hunden preisgebe, wisse sie nicht. Sie habe, um davon loszukommen, immer wieder Messen gehört und zur Gottesmutter gebetet. Aber der Mann, der sie diesen Todestanz mit dem Ungeheuer tanzen ließ, wußte auch, daß die Schönheit trotz alledem etwas Göttlich-Unverletzliches war und, wo sie aufleuchtet, immer wieder die Reinheit selber und nicht zu beschmutzen ist. Beispiele sind zu materiell, um diese Wahrheit zu erklären. Man könnte sonst sagen: Wasser erhält sich immer rein und sondert sich immer wieder von aller staubigen Trübung ab, oder ein edles Glas wird seine Reinheit nicht verlieren, gleichviel ob man schlechten, ob man edlen Wein hineingieße. Wie gesagt, es ist unnütz, erklären zu wollen, wieso wahre Schönheit, wahre Reinheit und wieso das eine wie das andere intangibel ist. Kurz und gut, seit ich diesen Tanz gestern abend erlebt habe, beherrscht mich aufs neue der Gedanke, Siri zu retten, und zwar mit einer vordem ungeahnten Kraft. Zwischen sie und den meinethalben erdgewaltigen Unhold zu treten mit einer höheren Macht der Liebe und Mission muß – komme, was wolle – mein Schicksal sein.

Ein seltsamer Umstand ist zu verzeichnen, was Annemarie betrifft. Wir sprachen wenig, wir sprachen beinahe nichts, als wir vom Silvesterball nachts in das neue Jahr hineinfuhren. Auch heimgekommen in unser Haus, in unsere Schlafzimmer, sprachen wir nichts. Nach einem Blick auf die mit roten Bäckchen friedlich schlafenden Kinder gingen wir dann zu Bett, jeder irgendwie in Gedanken, die für den anderen nicht bestimmt waren. Dann aber, als das alte Mysterium zwischen Mann und Weib uns zusammenführte, was ebenfalls wortlos geschehen war, konnten wir beide immer noch in Liebe Verbundenen nicht verbergen, daß in unser Blut eine Entfremdung getreten war. Ich fühlte, Annemarie in den Armen, in ihrem Körper ein leises Sich-Abwenden. Es war ein Geschehenlassen aus Güte, die sich mißbilligt, aus gewohnter Duldung, die sich verurteilt. Ich spürte, sie hielt sich für mißbraucht. Sie war es, denn als mir an ihrem Halse die Tränen hervorbrachen, gestand ich mir ein, daß ich Siri statt ihrer umarmt hatte.

*

27. Januar.

Die Wochen seit dem Silvesterball haben meinen Kampf und mein Unterliegen gesehen. Annemarie ist die Duldung selbst und, wie mir scheinen will, auch der Glaube. Es scheint wirklich, als ob sie, meines Verlangens streng eingedenk, ihre Langmut, ihr Vertrauen und ihre Liebe gesteigert hätte. Und das, trotzdem sie mir nichts dergleichen versprochen hat. Wie steht es dagegen mit meinem Versprechen: »Ich werde besiegen, was den Tempel unseres Lebens und so unser Leben selbst unterminieren und zerstören will.« Heute würde es überheblich sein, dergleichen bestimmt vorauszusetzen.

Ich muß durchaus ehrlich gegen mich sein. Verliert meine Selbstbetrachtung ihren kühlen Blick und ihre rücksichtslose Ehrlichkeit, so entschwindet der letzte Halt, den ich habe. Ich werde dann einfach ins Unbekannte hinweggespült.

Mein Verhältnis zu Siri ist bereits stadtbekannt. Unverkennbar ist in den Kreisen der Alma mater ein leises Abrücken. Als ich neulich im Kolleg Wissenschaft und Kunst, insonderheit die Dichtkunst, verglich und die Kunst höher stellte, dann auch auf Goethe überging, seiner Beziehungen zum Theater gedachte und der anderen zum weiblichen Geschlecht und insonderheit diese für die Entwicklung seiner Kunst als unumgänglich wertete, mußte ich mit aller erdenklichen Selbstbeherrschung ein Scharren unter den Bänken überhören.

Werde ich eigentlich durch meine Beziehungen zu Siri korrumpiert, das heißt, von meinem Berufe abgelenkt – oder zu meinem wahren Berufe hingezogen? Mehr und mehr schwindet mir in der Tat der Sinn für den Dozentenberuf. »Bild' mir nicht ein, ich könnt' was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren.« Nun, das ist ja der Fall von Faust, der ja auch den Dozentenberuf verließ und, ja – zunächst zu Gretchen, aber allerdings vorher zum Teufel überging.

Ist dieser bei mir nun auch im Spiele?

Irgendwie ganz gewiß. Wenn man sein Wirken im hergebrachten Sinne nimmt: Ehen trennend, Zwietracht stiftend, Verbrechen und alle Laster fördernd, das der bösen Lust allen voran.

Ein Gretchen ist meine Siri nicht.

Hat einer von uns den anderen mit dem Teufel bekannt gemacht, so ist es in meinem Falle eher der weibliche Teil gewesen.

Aber was geht uns moderne Menschen der Teufel an!

Sonst geht es mir ähnlich wie dem Faust. Nur daß eine Lilith, eine leibhaftige Teufelin, mir den Kerker, »beschränkt von diesem Bücherhauf«, geöffnet hätte.

Annemarie ist nach München gereist, um für uns eine Wohnung auszumitteln. Mich allein zu lassen war unklug von ihr, denn eben dieses Alleinsein wird unserem Zustand, wie ich fürchte, einigermaßen verhängnisvoll. Vergeht doch kein Tag, den ich nicht, sofern Siri frei ist, auf Spaziergängen, auf Fahrten über Land oder in ihrer Wohnung mit ihr verbringe. Das Du ist allbereits eingeführt. Über das Tabu, das Berührungen verbietet, sind wir hinaus – obgleich noch alles von mir, im Sinne des Geistes ihrer Mutter, im einigermaßen Erlaubten erhalten wird. Indem ich eine gemeinsame Zukunft mit Siri nicht will und wiederum will, ist's mir gelungen, bisher im Sinne des Nichtwollens zurückzuhalten. Und im Sinne des Wollens selbst möchte ich meinen Ernst einigermaßen erzieherisch beweisen durch achtungsvolle Enthaltsamkeit.

Trotzdem ist die Schlinge fest zugezogen.

Bei alledem ist die Umbildung meines Inneren, die ohne mein Zutun vor sich geht, nicht wenig beunruhigend. Es zieht mich aus allem geregeltem Leben heraus. Ein Begriff von Freiheit schwebt mir vor, der sich beinahe in nichts mit meinem bisherigen Leben vereinigt. Er verwirft die elterliche Erziehung, verwirft die Schulbänke, verwirft die Ehe mit ihrem Zwang, das Katheder mit dem seinen desgleichen, verwirft die Karriere mit ihren Stufen und ihrer Gipfelung und setzt dafür ein Zigeunertum ohne Seßhaftigkeit. Ein freies Wandern mit Körper und Geist. Unter der Herrschaft dieses Begriffs wird Altgewohntes mir überdrüssig. Eine ganz neue Welt möchte ich aufbauen. Zur Not käme Seßhaftigkeit in ganz neuer Umgebung, mit Siri gemeinsam und allein, in Betracht, also in Kolonialländern, nicht in Asien, denn das eigentliche Kleinasien sind ja wir. Ich will mit Siri allein und ganz einsam sein, damit die Welt niemand anders gehört als uns: die ganze Welt uns beiden allein.

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2. Februar.

Noch immer ist Annemarie in München. Ich lese die letzten Zeilen meiner Tagebucheinschrift – dies ist ein überaus wunderliches Tagebuch! –, und ich bin erschrocken über den Abgrund, der zwischen ihr und der heutigen liegt. Wie stolz war ich darauf, daß meine Ehe, mein Haus in sich selbst eins war. Das ist nun vorbei. Ich fürchte, es hat nicht nur Risse bekommen, mein scheinbar unzerstörbares Haus, sondern ich selber habe die Fundamente zerstört, so daß es in Trümmer fallen muß. Soll ich verschweigen oder bekennen, wenn Annemarie wiederkommt? Der Zerfall meines Hauses ist so oder so nicht aufzuhalten. Geschehenes wird durch Schweigen nicht ungeschehen, durch Bekenntnis ebensowenig. Schweigen fördert einen qualvoll langen Zersetzungsprozeß, es verursacht eine um sich greifende krebsartige Wucherung, die sich auf alles rings überträgt. So wird das Verhältnis zu Annemarie und diese selbst durch Lüge vergiftet, mit dem Giftstoff der Lüge infiziert, ich selbst immer tiefer erniedrigt von Tag zu Tag und besonders vor den gläubig vertrauenden Augen meiner Kinder furchtbar entlarvt, ich werde zum Verräter gestempelt. – Wie sieht es um das Bekenntnis aus? Zweifellos folgt ihm sogleich die Entscheidung, ein völliger, in seinen Folgen nicht abzusehender Zusammensturz. Er begräbt vielleicht Annemarie, meine unendlich geliebte Lebensgefährtin und Mutter meiner Kinder, und diese mit ihr unter den Trümmern. Vielleicht aber, daß mein Vater, der Schuldirektor, dessen Musterschüler ich immer gewesen bin, auf den Schauplatz tritt und mich auf seine bereits von der ganzen Schule gefürchtete Art moralisch züchtigt. Dann wäre auch das Band zerrissen zwischen mir und ihm, und wir wären erbitterte Feinde geworden.

Was für Worte würde er nicht auf mein schutzloses Haupt zermalmend herniederschmettern! Und müßte ihm nicht der bessere Teil meines Wesens recht geben? Ich würde dann Annemarie verlassen wie ein geprügelter Hund und ebenso in Siris Umkreis zurückkehren.

Warum wird dies alles mit Tinte und Feder in diesem Buche verewigt? Weil noch immer der Aberglaube, es sei etwas zu retten, wenn man der Leidenschaft scharf und zähe ins Auge blickt, mich beherrscht. So sind meine Augen denn aufgerissen, so schmerzhaft starr und so schmerzhaft weit daß sich das Lid beinahe nicht mehr zu schließen vermag. Kann einem davon die Rettung kommen?

Ist es denn nun so schlimm, was geschehen ist? Ich werde auch dies Ereignis nachzeichnen. In alledem steckt vielleicht auch etwas von der mir anerzogenen, manchmal wie ein Nessushemd fast erstickenden, anerzogenen Gelehrtenpedanterie. Nun ja, ich mußte ihr eine Rolle abhören. Ich markierte dabei den Liebhaber. Es ist übrigens schon so weit, daß ich ihr beim Rollenstudium manches nützen kann. Sie folgt bereits mit Vertrauen meinen Vorschlägen und berichtet mir dann meistens, die so gewonnene Auffassung sei vom Direktor gelobt worden. In Arbeitspausen wird dann das theoretische Gespräch, womit ich sie vermöge meiner Natur und Erziehung nun einmal langweilen muß, fortgesetzt. Dabei entwickle ich Möglichkeiten. Afrika also, wie ich schon sagte, schwebt mir als Ort der Flucht für uns beide vor. Vielleicht Ostafrika, Daressalam. Auch wohl eine Farm am Tanganjikasee. Ich komme mir, glaube ich, auf die Schliche. Ich finde es leichter, wie es scheint, ganze als halbe Arbeit zu tun, also nicht nur meine Frau, meinen Beruf und den Ort seiner Ausübung zu vertauschen und eine andere Frau, einen anderen Beruf, einen anderen Ort in Deutschland dafür zu setzen, sondern lieber dabei ganz Europa mit einem anderen Erdteil zu vertauschen. So, wie ich mir schmeichle, werfe ich ein widernatürliches, gekünsteltes Dasein fort, mittels eines Prozesses, der einer Revolution näher steht als der Reformation, und kehre als meinethalben einsamer Farmer, im alleinigen Genuß meiner Liebe, zur Natur zurück. Aber Siri nun gerade ? Ist sie nicht eher etwa ein Figürchen aus Meißner Porzellan als Zeug zu einer mit schwarzen Arbeitern hausenden Farmersgattin? Genug. Ich redete eben noch wie ein Schulmeister, da riß ich sie plötzlich in meine Arme, und es wurde von weiter nichts mehr gesprochen.

*

15. Februar.

Wo stehe ich heut? Wie ist meine Lage? Sagen wir ruhig: verwirrt und schlimm. Zunächst ist mir nichts von dem, was ich ahnte, erspart geblieben. So hat Annemarie, zurückgekehrt, die gründliche Veränderung meines Wesens und den inneren Abfall von ihr sogleich durchschaut. – Bin ich denn von ihr abgefallen? – Auf welchem Wege, weiß ich nicht, aber mein Vater ist von jemand – gewiß nicht Annemarie! – von den »Gefahren«, in denen ich schwebe, verständigt worden. Ich gehe kaum fehl, wenn ich annehme, durch den Rector magnificus. »Du bist blind«, sagte mein Vater zu mir. »Du bemerkst nicht, daß dein Verhältnis zu dieser Person« – er nannte sie auch eine moralisch berüchtigte Theaterprinzessin – »ein öffentliches Ärgernis geworden ist. Das Gerücht davon ist nicht einmal mehr auf deinen jetzigen Wohnort und Wirkungskreis beschränkt, es ist bereits nach München gedrungen, wo man in den Kreisen, die deine Berufung dorthin betrieben haben, entschlossen ist, falls der Skandal nicht vermieden wird und dein Scheidungsprozeß durch die Zeitungen geht, von deiner Berufung zurückzutreten.« Mein Vater erschrak nicht wenig, was sehr natürlich ist, als ich ihm daraufhin ins Gesicht lachte. Es ist nun so und nicht zu ändern. Heut gilt mir meine Berufung nicht mehr einen Pfifferling. Dagegen aber leugne ich nicht, daß mich das manchmal selbst befremdet.

Nun, mein alter Vater hat mich beschworen, ja, dieser harte Mann hat geweint. Das hat ihn mir keineswegs nähergebracht, ich habe ihn wie einen Fremden betrachtet. Wie kann dieser Fremde, so dachte ich, sich einmischen, wo ein Mensch die schwerste Entscheidung seines Lebens zu treffen hat: entweder ein Scheinleben abzustoßen, um das wahre Leben zu gewinnen, oder das wahre Leben von sich zu werfen, um dafür den lebendigen Tod auf sich zu nehmen und, gehüllt in ein Grabtuch, vielleicht vier Jahrzehnte lang dem ersehnten Erlöschen entgegenzugehen.

Ich hatte eine Unterredung mit dem Rector magnificus. Der Rektor sagte: »Ich bin Ihr Freund. Sie waren in der Krone unserer Alma mater, ich sage es offen, ein Edelstein. Wir haben alle zu Ihnen gehalten. Heut sind Sie uns allen ohne Ausnahme eine Unbegreiflichkeit.« Darauf zählte er alles auf, mit großer Genauigkeit, was ich mir selbst zur Genüge gesagt hatte. »Mein Bester, ich könnte Ihr Vater sein, erlauben Sie mir mit der Gesinnung eines Vaters zu Ihnen zu reden. Sie sind in einem anormalen Zustande. Die Art der Leidenschaft, die Sie befallen hat, achte ich einer schweren Krankheit gleich. Sie müssen sich und wir müssen Sie wieder gesundmachen. Der klarste Geist, dessen Willensruhe und Selbstsicherheit uns vorangeleuchtet hat, ist heute verzeihen Sie, werter Freund, nur noch ein Ausdruck kläglicher Hörigkeit. Es ist eine Verrückung auf Grund einer schweren Verblendung bei Ihnen eingetreten. Sie stellen nicht mehr die Ordnung voran, sondern das Gegenteil. Nicht mehr die Pflicht, sondern das, was Sie Genuß nennen. Nicht mehr das moralische Gesetz in uns, sondern die Anarchie ...«

Es ging lange so fort. Seltsam, wie ich mich in diese Philippika des Rektors vertiefe. Will ich vielleicht versuchen, ob nicht von ihrer völlig verpufften Wirkung auf mich doch noch etwas zu retten ist?

Wahr ist, daß alle Hauptstationen meines Innern vom Feinde genommen und besessen sind. Eros ist eine Abstraktion, also ist Siri der wahre Feind. Zweifellos bin ich ihr hörig geworden. Wiederum eine Abstraktion. Nein, sie deckt meinen Zustand nicht. Mag der Mythos von Kirke herhalten, die ihre Gäste in Tiere verwandelt, und legen wir auf das Verwandeln Gewicht. Sie ist eine Zauberin, die verwandelt. Ihre Gäste sind ihre Gefangenen. Sie hat sie nicht nur selbst in allerlei Geschöpfe verwandelt, sondern auch alles, was sie umgibt. Das tat Siri-Kirke mit mir. Nur was ich durch ihren Zauber sehe, sehe ich. Ohne ihn aber sehe ich nichts, weder Erde noch Wasser noch blauen Himmel. Durch ihren Zauber allein atme, esse, trinke ich. Ohne ihn muß ich verhungern, verdursten, ersticken. So, ohne Beschönigung, steht es mit meiner Gefangenschaft.

Noch immer, wie selbstverständlich, möchte ich loskommen. Aber diese narkotischen Zaubergewölke haben keine peinigende, sondern eine entzückende und verzückende Undurchdringlichkeit. Ich würde Mohammeds Himmel ausschlagen. Siris Zauber ist alles in allem für mich. Er enthält alles, Essenzen aller Himmel, aller Meere und aller Blüten und Früchte, die unsere Erde hervorbringen kann. Es bleibt außer diesem Zauber nichts, aber auch gar nichts zu wünschen! Gold, Ehre, Ruhm: Lächerlichkeit! Und ebensowenig bleibt etwas zu fürchten, solange Kirkes Zauber den Verzauberten verbirgt und umschließt. Und deshalb will ich mit meiner Kirke aus dieser mit ihrem Gerassel und Getute, ihrem Geplapper und Geklapper überall störend eindringenden Welt hinaus. Ich will sie mit allem, was sie besitzt, ihren Nutznießern mit Freuden überlassen und dorthin gehen, etwa nach Afrika, in die entlegene Zweisamkeit, wo uns beiden, Siri und mir, allein die Welt gehört, die ganze, die große, die allverzauberte, unbestritten.

*

2. März.

Wieder habe ich mich durch einige Wochen hingeschleppt, und wiederum meldet sich der alte kategorische Imperativ: Erkenne dich selbst! Wenn ich nun nicht mein eigenes Objekt wäre, würde ich sagen, es liege Sadismus in der Art, wie ich diesem Grundsatz diene. So aber liegt noch immer darin der alte Versuch, trotz allem den Kopf über Wasser zu halten.

Die Wirkung des Zaubers, der von Siri ausgeht, warum sollte ich es leugnen, hat meinen Körper angegriffen. Nicht nur, daß er mich tyrannisch gefangennimmt und, berauscht, mich täglich ohne Widerrede in den Pferch der Zauberin zwingt, sondern er zehrt auch sozusagen an meinem innersten Marke. So hat sich ihm eine gewisse Bangigkeit beigemischt und die immer wieder leise mahnende Furcht, die mir die Frage zuraunt: Bist du krank?

In diesem Jahre scheint sogar die Natur aus dem Geleise geraten zu sein. In der zweiten Hälfte des Februar arbeiteten die Leute bereits in den Hausgärten. Sie gruben die weiche Erde um. An den Hecken zeigen sich krankhafte Blätter und Blüten. Warme und feuchte Hauche bewegen leise das überall fieberhaft sprossende Grün. Das alles ist wie ein Bild meines Innern. Auch Siri redet von schwerer Bangigkeit, mit der sie dieser krankhafte Frühling bedrücke. Aber von welcher Art ist bei ihr diese Bangigkeit!? Sie ähnelt der kosmischen Schwüle, welche unzeitig Knospen treibt und Blüten aufbrechen läßt. Es sei ihr immer wieder, wie sie bekannte, besonders nachts, wenn warme Strömungen die offnen Flügel ihres Fensters bewegten, als müsse sie sich dem ersten besten hingeben und habe dabei nicht einmal so viel Zeit, um über die Treppe hinab auf die Straße zu kommen, sondern müsse sich aus dem Fenster hinabwerfen. Da wäre wieder die alte Verwandtschaft von Liebe und Tod. Gewiß, es ist eine Art des Sterbens, des Vergehens in Liebe, die man sucht. Und wo wäre das Werden und das Vergehen enger als im Frühling vereint. In diesem verfrühten, den ich erlebe, treibt, quillt, geilt alles mit unaufhaltsamer Ungeduld, als gälte es nur noch schnell die Lust des Daseins zu ergreifen oder sich ihr hinzugeben, bevor ein bang gefürchtetes Ende aller Dinge das unmöglich macht. Eine Stimme raunt mir mitunter ins Ohr, die Natur ist krank, Gott ist krank, du bist krank! Aber so gesehen, lädt deine Krankheit, die zuweilen wilde Glute durch deinen Körper jagt, um ihn danach in Frost zu schütteln, eine Verantwortung nicht auf. Du irrst, wenn du glaubst etwas anderes zu sein als das Ganze, meinethalben von Gott und Natur. »Du bist es nicht, was da spricht, denkt, handelt, leidet oder genießt«, sagt ein Philosoph. Und ich fühle, daß es so ist. Ich weiß es sicher, wenn ich erwäge, wie ich Geist und Körper von seiner millionenfältigen Abhängigkeit loslösen könnte. Es kann nicht geschehen, nicht einmal durch einen Sturz ins Nichts.

Ist dies schon Fieberphantasie? Wo wirft dieser Leidenfrühling mich noch hin, und was wird er noch aus mir heraustreiben!

Ich schreibe dies bei offner Tür mit dem Blick über den Balkon ins Gruneln der Gärten. Vogelgezwitscher erfüllt sie ganz. Es ist wie der triumphale Lärm und Eifer während der Besitzergreifung nach einer Eroberung. Bei alledem nicke ich manchmal ein. Im Halbschlaf träumend, wobei mir die Feder entsunken ist, höre ich weiter und deute ich mir den Vogellärm. Auch aus ihm, wenn auch auf gesündere Weise spricht ebendieselbe Hast, nicht zu spät zu kommen, zu ergreifen, sich hinzugeben bei dem Gastmahl der Liebe, bei den Verzückungen und Erschließungen, die sie gewährt.

Bei einer solchen Gelegenheit hatte ich einen Traum. Den größeren Anteil daran schreibe ich dem Wachen zu. Und zweifelhaft wühlte mir dabei die zeugende Schwüle des krankhaften Frühlings im Blut. Sie brütete gleichsam über einer weiblichen Erscheinung, mit der mich der Zufall in einem der schon eröffneten Wirtsgärten zusammengeführt hatte. Wie sonderbar sehe ich überhaupt, in meiner doppelten Besessenheit von Siris Zauber und eigener Schwäche, die umgebende Welt. Entschleiert sie mir ein Mysterium? Gegen Mitte der Zwanzig konnte sie sein, diese andere starke, dunkeläugige Kirke, der ich begegnet bin. Schräg waren ihre Augen geschlitzt, die Nase schmal, mit großen, beweglichen Nüstern, die Oberlippe sinnlich stark, ein sinnlich verwirrendes Lächeln um die Mundwinkel. Mich traf ein schlangenartiger, magnetisierender Blick, geringschätzig, grausam und verächtlich. Sie kehrte das Wort des Dichters um, und ihr frech allwissendes Lächeln sagte: »Schwachheit, dein Name ist Mann.« Und diese Hüften und starken Schenkel: sie waren unwiderstehlich, furchterregend anziehend. Einen Strauß gelber Osterlilien hielt diese mit schwarzer Seide prallüberspannte Lemure vor den Mund. Weit aufgerissen wie Saugorgane wühlten ihre gierigen Nüstern in dem stark herüberduftenden Blütenbusch, bestäubt von dem Staube der duftenden Kelche.

Wo kam sie her, was hatte sie vor? »Ist's um den geschehen, muß nach andern gehen, und das junge Volk erliegt der Wut.«

Ja nun, was träumte ich denn von ihr? Ebendas, was die Träume der Männer im Wachen und Schlafen erfüllt, was den edlen Hirsch versklavt und mit heißer, stechender Wut erfüllt, wenn seine Zeit gekommen ist. Ohne Besinnung rast er gegen alles an, was sich seinem Lustrevier störend annähert. Haß und Liebe gebären sich mit der gleichen todesverachtenden Kraft fast im selben Augenblick, sie gebären sich, um wie fressende Flammen aus lebengebärender Nacht gen Himmel zu lodern.

Nicht aus Leichtsinn oder aus Laune habe ich hie und da ein Kolleg abgesagt, sondern mein bleierner Kopf fühlte sich unfähig, es zu halten. Dies irgend jemandem, sei es Annemarie, glaubhaft zu machen, vermag ich nicht. Mein Zustand zeigt nach außenhin, scheint es, keine Symptome. Vielleicht aber, was mein Kolleg betrifft, befürchte ich gerade das Gegenteil. Es ist mir, als ob die Augen meiner Studenten mich mit einer frechen, mir widerlichen Neugier gleichsam durchlöcherten. Ich fühle mich angeprangert, entehrt und auf empörende Weise im Heiligsten meines Erlebens und meines Kämpfens besudelt.

Genug für heut. Am Rande des Himmels murren Gewitter.

*

4. März.

Siri sieht meinen Kampf. Dabei aber sitzt sie auf meinen Knien und umwickelt meinen Hals mit der gelben Flut ihres Haares. Sie sieht meinen Kampf, sie fühlt ihn. »Ach, du bist langweilig«, sagt sie mitunter schmollend, windet sich aus meinen Armen und von mir fort, sich in irgendeine Beschäftigung scheinbar vertiefend. Es ist nicht zu leugnen, daß ich selbst im betäubenden Gefühl ihrer nächsten Nähe einen inneren Widerstand nicht überwinden kann. Er scheint mir nur seelisch, nicht körperlich ausgedrückt, und doch spürt sie ihn. Sie sagt entmutigt, indem sie sich abkehrt: »Was soll das, du liebst mich ja nicht.« Ich küsse sie mit der unaussprechlichen Wollust, einen unauslöschlichen Durst zu stillen und doch nicht stillen zu können. Aber zugleich durchdringt mich ein brennender Stich, der tödliche Schmerz Annemaries, deren Augen ich auf mich gerichtet sehe. »Du bist immer zugleich woanders«, sagt Siri, »wenn du bei mir bist.«

Und sie hat recht. Ich bin seit Monaten über einen Zustand innerster Zerrissenheit nicht hinausgekommen. Die Spaltung geht gleichsam mitten durch mich hindurch. Zwei Teile meines Wesens gehen, mechanisch aneinandergefesselt, jeder ein anderes Schicksal tragend, nebeneinanderher. Das Genügen des einen bedeutet das Hungern und Darben des anderen.

Dabei blüht Siri in diesen Tagen des unnatürlichen Frühsommers selber in einer Art pflanzlicher Schwüle. Das doch immer noch kindliche, ja zerbrechliche, süße Geschöpf wirkt mehr und mehr nur noch blumenhaft. Aus dem Kelch dieser Blüte, sagen wir dieser Narzisse, dringt etwas wie kitzelnder Blütenstaub und betäubender Duft.

Ist es eine giftige Blüte? Kann jemand einer Verwandlung, wie sie mit Siri geschehen ist, widerstehen und dann sich noch einen Mann nennen? Mich verwirrt ihre Lilienhaut. Aber es ist in mir etwas, das mich schwächt und lähmt, eine Verwandlung, zwar der Siris verwandt, aber mit leise drohenden Zeichen. Dieses Vogelgeschmetter in schnell hervortreibenden Büschen, Hainen, Wäldern und Feldern ist ungesund. Fast schmerzlich berührt es meine Gehörsnerven. Ich höre mitunter Schreie darin. Öfters ergreift mich sogar ein Frösteln, einmal sogar bis zum Schüttelfrost. Es ist, als ob der bestohlene Winter sich rächen wolle und zurückgriffe.

Sie fragte mich einmal: »Bist du krank?«

Eigentlich war dies ein neuer Ton. Unsere Beziehungen hatten sich äußerlich seltsam unsentimental entwickelt. Rein menschliche Teilnahme lag Siri nicht. Oder war eine Scheu, sie zu zeigen, in ihr? Nun aber auf einmal das »Bist du krank?«. Doch geschah noch mehr, unerwartet, über die Worte hinaus. Sie bewegte sich meist in kurzen Schrittchen. Mit solchen trat sie an mich heran. Sie betrachtete mich, fast, als sei sie allein, mit forschendem Nachdenken. Dann legte die kleine Sylphe oder sprechende Blume mir die Hand auf den Kopf und sagte dabei: »Du quälst dich zuviel. Du mußt dich nicht quälen.«

Seltsam, ich hatte an Gegenliebe bisher nicht gedacht. Sie war eben nur der Gegenstand meiner Leidenschaft. Sie sollte, sei es gewaltsam, mein werden, ob mit oder ohne Liebe mein Eigentum. Aber nun auf einmal erklang der paradiesische Ton eines liebenden Menschen: wodurch mein Fall in ein neues Stadium getreten und seine Überwindung kaum noch als möglich zu denken ist.

*

12. März.

Ich liege zu Bett. Ich bin ein hilfloses Opfer geworden. In der Stadt gehen Krankheiten ohne Namen um, aber die meine sitzt im Hals, sie fing mit 40 Grad Fieber an, und die Ärzte fürchten, sie könnte auf die Lungen übergreifen. Mein Freund Schirner und ein Professor behandeln mich.

Schirner sagt: »Du hast einmal etwas an den Lungen gehabt, und so etwas flammt manchmal bei einer Attacke, wie die deine, wieder auf.«

Schirner besitzt die Gradheit und Derbheit des Arztes im erhöhten Maß. Psychische Krisen, auch solche der Liebe, führt er nicht auf ihren Gegenstand, sondern auf Defekte einzelner Organe, Nieren, Magen oder Lungen, zurück. »Du bist nicht in die Macht deines berühmten Eros geraten, verehrtester Freund, sondern du hast, und zwar seit Monaten, wie es scheint, eine schleichende Staupe.«

»Nenn es, wie du willst, Schirner«, antwortete ich. »Die Sache bleibt trotzdem doch, was sie ist.«

Bin ich einer Staupe verfallen, so hat sie jedenfalls im Moralischen meines Hauses eine verderbliche Wirkung gehabt und leider auch meine Frau angesteckt. Das Versteckenspiel, das seine Unschuld durchaus verloren hat, ist in gegenseitige Überlistung mit dem häßlichen Motto »Der Zweck heiligt die Mittel« ausgeartet. Schauerlich, was aus Annemarie in diesem beinah ganz offenen Kampf zwischen uns geworden ist. Schuld aber an ihrer Veränderung darf ich nur mir geben. Diese Frau, deren Liebeswalten, deren tiefe Sorge um mich von jedem Kopfweh, das ich ihr klagte, beängstigt wurde, die bei jeder kleinen Unpäßlichkeit die ganze medizinische Fakultät meinetwegen in Atem hielt, diese Frau – als ich nach Hause gekommen war und sie selbst 40 Grad Fieber durch Messen unter meiner Achselhöhle festgestellt hatte – schien dafür nicht mehr im allergeringsten interessiert. Sie fragte mich nur: »Wo bist du gewesen?« Es ist nur natürlich, daß ich log, denn da ich von Glut und Frost abwechselnd überfallen wurde und meine Zähne ohne mein Zutun klapperten, wollte ich im Augenblick nicht meine Liebesgeschichte aufgerollt sehen und angesichts einer akuten Passion meines Halses und meiner Lungen die meiner armen Seele zurückstellen.

Ich beteuerte also wieder und wieder, an diesem und jenem Ort gewesen zu sein, und bat sie inständig, es mir zu glauben, die Frage mindestens zu begraben in einem für mich so verhängnisschweren, mehr als kritischen Augenblick.

Allein, meine Frau verharrte bei ihrer Frage, wo ich gewesen sei, mit einer gnadenlosen Zähigkeit. Und da ich mich stellte wie irgendein Verbrecher, der sich auf alle Arten und Weisen aufs Leugnen legt – als ob ich nicht wüßte, was sie zu hören wünschte –, sagte sie mir zuletzt ins Gesicht: »Ich weiß es, du bist bei Siri gewesen.«

»Warum fragst du, wenn du es weißt?« sagte ich.

»Also bist du bei Siri gewesen.«

Indem ich mich auszog, im Kopfe dumpf und verwirrt mit meinen 40 Grad Fieber im Blut und jener Angst, ja Verzweifelung im Herzen, die nun einmal mit dem Beginn und der Erkenntnis einer schweren Krankheit verbunden ist, empörte sich plötzlich alles in mir über die unfaßbare Roheit ihres Betragens. Mit einer Wut ohnegleichen, mit einer Entrüstung ohne Maß fiel ich über sie her, nannte sie mit grausigen Namen, sah in ihr einen Ausbund von Herzlosigkeit, welche Gesinnungen einer mörderischen Megäre bisher nur schlau verborgen gehalten habe – und hielt ihr mehr wie einmal die geballte Faust vors Gesicht.

Aber das alles half mir nichts.

»Sage doch einfach: ›Ich bin bei Siri gewesen‹«, hörte ich sie, nachdem ich erschöpft war, ganz einfach hinsagen.

»Nun ja, ich bin bei Siri gewesen.«

»Nun gut. Du hast mir gestern versprochen, sie nicht zu besuchen, ich wollte nur wissen, daß du gelogen hast.«

Sie deckte das Bett ab, sie wollte mir beim Ausziehen helfen. Aber es überwältigte mich. Ich faßte sie sanft, aber fest im Nacken und drängte sie zur Tür hinaus.

Dann klingelte ich und fand andere Hilfe.

Das Fieber ist noch nicht abgeklungen. Ich liege den vierten Tag zu Bett. Eine Diakonissin besorgt meine Pflege. Obgleich ich Annemarie in meinem Krankenzimmer nicht gern sehe, geht sie doch darin ein und aus, als ob sie unbeteiligte Oberin wäre. Heute aber, Gott sei Dank, ist sie für anderthalb Tage abwesend.

Deshalb liegt mein Tagebuch auf der Bettdecke, und ich fröne, aus den alten Gründen, meiner Chronistenleidenschaft.

Überdies ist ein Umstand eingetreten, der den gemütischen Teil meiner Bettgefangenschaft von seiner ärgsten Klammer befreit. Vor einer halben Stunde wurde mir vom Briefträger ein großes eingeschriebenes Kuvert ans Bett gebracht. Ich machte es auf, nachdem sich die Pflegeschwester entfernt hatte. Es enthielt eine große gelbe Haarlocke, gebunden mit einem roten Band. Auf dem Bogen Papier, der sie gebrochen einschloß, standen die Worte:

»Siri grüßt und küßt ihren Freund, den Schöpfer ihres Menschentums.«

Ich stand nicht an, meine Diakonissin zu bitten, meiner Frau den Besuch des Briefträgers zu verschweigen.

*

16. März.

Morgen werde ich erstmalig aufstehen. Schirner und der Professor haben es mir erlaubt. Leider aber bin ich der schönen Welt vorerst nicht als Gesunder wiedergegeben. Meine Lungen, wie von den Ärzten gefürchtet wurde, sind wiederum inflammiert. Ich muß auf dem Lande eine längere Liegekur antreten.

Wäre ich Dichter, möchte ich einmal etwas über den leidenschaftlichen Kultus mit einer Locke schreiben. Und über alle okkulten Kräfte, die von einer solchen ausgehen.

*

11. April.

Meine Lage ist von Grund aus verändert. Erst jetzt nach Wochen bin ich wieder so weit, um mit einiger Klarheit etwas davon festhalten zu können. Etwas davon, denn sie selber besteht aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit.

Wir besitzen ein Landhaus im Gebirge. Um mich auszuheilen, hat man mich – was war dagegen zu tun? – dorthin gebracht, und also in die Umgebung, in der ich nun gleichsam, meist auf einem Liegestuhl aufgebahrt, meiner Genesung entgegenharre.

Ich leugne nicht, daß die Unmöglichkeit, etwas anderes zu wollen, als von meinen Ärzten über mich bestimmt wurde, eine Pause in den rasanten Ablauf meines Liebesleidens gebracht und ihn wesentlich verlangsamt hat. Jene Passivität, die nicht nur die Notwendigkeit gesund zu werden, sondern auch die Schwäche des ganzen Organismus auferlegt, ist natürlich auch ein Dämpfer für die Aktivität der Leidenschaft. Ich, der ich ohne diesen Dämpfer und den ärztlichen Zwang nicht einen Tag, ohne Siri zu sehen, mehr atmen konnte, atme nun wieder seit Wochen, indes sie fern ist, nicht ohne einen tiefen Genuß reine Bergesluft.

Ich bringe den ganzen Tag auf einer Loggia im Freien zu. Ich schlafe, lese und gebe mich der äußeren Betrachtung hin, aber darüber hinaus wohl noch mehr der inneren. Dazu machen die Stare Musik vor den Starkästen, die wir versuchsweise in den noch nackten, alten Eichen neben dem Hause aufgehängt haben. Wir wohnen mehr als siebenhundert Meter hoch überm Meeresniveau, haben aber die Luft aus der Tausender-Höhe des Engadin mit sehr dramatischem Wetterwechsel. Und wenn dies Jahr auch sehr milde ist, bleibt fraglich, ob sich die Vögel hierher gewöhnen werden. Jetzt pfeifen sie kräftig und lustig durcheinander; sie tragen zu Nest, sind ganz unter sich und verlieren sich ganz an Leben, Lieben und Fleiß.

Von Siri erhalte ich briefliche Nachrichten.

Wenn meine Liebe zu ihr insofern ein Übel ist, als sie nicht nur eine Umwälzung meines ganzen geistigen Seins, sondern sozusagen eine Revolution meines Körpers mit sich brachte – und nicht zu vergessen die Unterminierung meiner Ehe und meines Berufs –, so ist dieses Übel noch nicht behoben. Der hiesige Arzt und Schirner, der mich manchmal besucht, erklären, meine Lungenattacke werde in fünf bis sechs Wochen sicher ganz überwunden sein. Meine Abneigung, mein Leben als Gelehrter fortzuführen und als solcher Ruf und Ruhm zu steigern, besteht nicht mehr in der alten Kraft. Auch gewinne ich wieder Sinn für mein Hauswesen. Aber dies alles doch nur von Siris Gnaden, deren Macht über mich ungebrochen ist.

Heut hat mich eine Fremde besucht. Sie wollte einen Rat von mir haben. Die große, blonde und angenehme Dame konnte nahe an Vierzig sein. Eine gute Weile sprachen wir über allerlei, was einem Geiste von einiger Bildung so ungefähr in die Quere kommt. Danach bekannte sie etwa das Folgende: Sie wird aus der Ferne hypnotisiert. Das tut eine blinde Irre in einer Irrenanstalt. Fräulein von Prittwitz war, glaub' ich, ihr Name. Diese tauche sie abwechselnd in Kälte und Hitze, läßt sie im Winter ohne Hut gehen und zwingt ihr im heißen Sommer eine Pudelmütze auf den Kopf. Das Irrenhaus ist in Danzig oder wo. Aber wenn Fräulein von Prittwitz will, so muß sie in Breslau, München husten, niesen und so fort. Und sie wirft ihr auch Veilchen auf den Weg und zwingt sie, die Blümchen mühsam aufzulesen. »Sie kann mich krank machen«, sagt sie, »oder töten im Augenblick.« Während sie dieses sagte, krähte auf der Wiese nebenan ein Hahn. »Sehen Sie, sehen Sie«, sagte die Dame, »das ist sie. Sie will mir nur zu erkennen geben, daß sie sieht, wo ich bin, und hört, wie ich sie verklage. Das ist mir aber alles ganz gleichgültig. Ich liebe die Menschen; auch für Fräulein von Prittwitz bete ich. Aber sie verfolgt mich auf schreckliche Weise.«

Diese Dame unterliegt einer Form des Irreseins, die man Paranoia nennt.

Ich darf ohne Zweifel weit von ihr abrücken. Aber eine Quälerin in der Ferne, die mich nach Belieben heiter und traurig, hoffnungsfreudig und hoffnungslos machen kann, die es vermag, mir den Himmel am Tage zu verdunkeln und Traum und Wachen der Nächte zur Hölle zu machen, die mich husten, niesen, lachen und weinen läßt, habe auch ich.

Natürlich ist das Gerücht meiner Krankheit auch nach München gedrungen und hat meiner Sache dort genützt. »Ah so, eine Krankheit! das ist etwas anderes«, sagt man sich jetzt. »Ist er genesen, so wird er in jeder Beziehung der alte sein.« Manchmal ist mir, ich will es nicht leugnen, als wittere ich in dieser Hinsicht ebenfalls etwas wie Morgenluft.

Unleugbar ist mir Annemarie in einer gewissen Weise neu geschenkt. Der böse Geist jener sadistischen Anwandlung bei Beginn meines körperlichen Zusammenbruchs ist nicht mehr. Ihr praktischer Sinn versorgt still und mit Liebe Garten und Haus. Im Gemüsegarten wird fleißig umgegraben, gehackt, gerecht und gepflanzt. Vor einer Stunde führte sie mich, ich wagte den Gang, bis hinunter zu den Frühbeeten. Es ist ein besonderer Genuß für mich, das junge Wachstum unter den Glasscheiben auf mich wirken zu lassen: gleichsam die Quintessenz des Frühlings steckt darin. Außerdem ist es Annemarie, von der die Verbindung mit München sorgfältig aufrechterhalten wird.

Sie sagt mir trotzdem, sooft ich es hören will, sie dränge zu nichts, ich sei völlig frei. Wenn die neue Lebensphase mit Siri mein Verhältnis zum Dozentenberuf verändert hat, so ist sie klug genug, sich gegen die Veränderung selbst letztlich nicht aufzulehnen. Sie sagt sich, sie räume damit vielleicht ein Hindernis meiner Rückkehr zu ihr hinweg. Ich leugne nicht, daß diese ihre Wesenswendung, die ihre Liebe zu mir sich abgerungen hat, mich nicht berührt, sondern rührt. Und in dieser Beziehung, möchte ich sagen, grunelt es bei mir ebenfalls in den Frühbeeten.

Sie scheint das zu fühlen und läßt mir Zeit.

Paul und Olga spielen im Garten und tollen mit einem Esel herum.

*

19. April.

Der Wind weht. Ich bin erfüllt mit Trübsinn. Natürlich bin ich körperlich krank, immer noch, aber mehr an der Seele. Die Medizin ist verschlossen oder unerreichbar fern. Wo ich bin, bin ich nicht. Mein Geist wird aus Fernen schmerzhaft angezogen. Das Nichtzuerlangende dominiert. Mein passives Dasein auf dem Liegestuhl ist nichts als ein hilfloses Langen in die Ferne. Dies Haus ist mühsam von uns erbaut worden, aber meine Seele wohnt nicht mehr darin. Sie ist obdachlos, und eine furchtbare Macht zieht sie ins Ungewisse. Schon war wieder mein Stolz hochgediehen auf die wiedergewonnene Einheit und Einigkeit in mir. Wo ich war, war ich ganz, wie ich glaubte, nämlich hier. Ich glaubte an Rettung, glaubte, es sei eine neue Ordnung aufgerichtet. Aber diese bittere Täuschung ist wieder dahin.

Ein langes, lebendiges Leben leben heißt den Tod in jeglicher Form kennenlernen; diese Tode lebendig und bewußt zu überdauern ist individuelle Kraft.

Ein Rad geht locker und doch befestigt an einer Achse, die Achse wird gezogen durch eine unbekannte Kraft. Ich bin das Rad. Achse und Zugtier sind mir unbekannt. Oder rolle ich als loses Rad einem Abgrund entgegen, den Berg hinunter?

Das sind Phantasien, die allerdings dem Marasmus meiner liegenden Lebensweise völlig entgegengesetzt zu sein scheinen.

Soll ich aufstehen und doch noch, ins Blaue hinein, zu Siri hinwandern? Man muß »bei wunderhafter Wagefahrt nach einem kostbaren Talisman in entlegensten Bergwildnissen unaufhaltsam vorschreiten, sich ja nicht umsehen, wenn auf schroffem Pfade fürchterlich drohende oder lieblich lockende Stimmen ganz nahe hinter uns vernommen werden.«

Diese Worte stehen in Goethes Annalen, die ich gerade in der Hand halte. Nein, Rad an einer Achse, Rad an einem Wagen oder ein freies, den Berg hinabrennendes bin ich nicht. Ich bin ein Mensch mit seinem Willen, und dieser Wille gestaltet mein Schicksal. Aber wie soll ich es machen, mich nach den Stimmchen unten im Garten, den Stimmen meiner Kinder, nicht umzusehen oder die Stimme meiner Frau nicht zu hören, wenn sie mit peinlichster Sorgfalt der Liebe Tag und Nacht ermutigend heiteren Dienstes um mich beschäftigt ist? Sie sorgt für mich in der Küche, sie bringt immer wieder, wie Tizians Tochter, Früchte und Wein. Sie nimmt mir den unausgesprochenen Wunsch von den Lippen.

Kann ich mich achten, mich, der ich nichts als eine redende Schwäche bin? Wovon wurde mein Wesen am heutigen Tage so bitter zu Gram und Ohnmacht aufgewühlt?

Ich habe morgens im Halbschlaf gesehen, was mir wirklich zu sehen dereinst zuteil wurde. Es war Siri, ähnlich einer zarten Eva auf Kupfertafeln deutscher Meister, besser, einer aus Elfenbein geschnitzten Skulptur dieser Art, halb Maria, halb Wasserweibchen. Etwas so weiß Leuchtendes sah ich noch nie als die Weiße dieses kindlichen Leibes. Ich sehe, ich fühle diesen in Lockengold gehüllten, von allen Zaubern bebenden Körper in einer Nähe, die mich betäubt.

*

26. April.

Ich habe heut schon einige Schritte durch meine angrenzende Wiese gemacht. Nun ruhe ich wieder auf meinem Liegestuhl ausgestreckt. Ich ruhe wieder? Ein unzutreffendes Wort. Ich bin wieder ganz im Sinnieren begriffen. Aber ich habe von der Wiese ein seltsames Erlebnis heimgebracht. Im grünen Grase, beinah versteckt, stand eine kleine, in Deutschland einheimische rotviolette Orchidee. Es ist nicht zu leugnen, ich mußte an ihr erleben, was mir an der blonden Dame, die mich besuchte, Irrsinn schien. Die Seele Siris war mir auf eine magische Weise in dieser Blume gegenwärtig. Sie sah mich an, sie machte mir Zeichen. »Sieh mich nur wieder an«, schien sie zu sagen, »ich bin es wirklich, ich bin bei dir.«

In der Wiese steht noch die Orchidee, natürlich durfte ich sie nicht abpflücken.

Unzweifelhaft geht durch sie ein magischer Kontakt, der das Herz wie Gegenwart berührt. Das tausend Kilometer und weiter Entfernte gibt mir durch dieses Blümchen Zeichen. Ich bin von diesem Zauber entzückt, der mich nicht einmal wundert, sondern mir selbstverständlich ist. Eben eine okkulte Macht in der Natur.

Eine solche Personifikation einer fernen Geliebten ist dem griechischen Mythos nicht fremdartig. Leukothoe, eine Geliebte Apolls, von ihrem Vater lebendig begraben, verwandelte der Gott in eine Weihrauchstaude, Klytie lebte, von ihm verwandelt, in einer Blume fort, Daphne, wie die vorigen, nur dem Gotte noch sichtbar, im Lorbeer. Nun ja, Siri hat eben noch lebend die Kraft, sich in der kleinen Blume zu manifestieren.

Ist dies nun, wenn es nicht Irrsinn ist, zum mindesten eine kranke Einbildungskraft? Ich bestreite es. Die Liebe als große Passion ist nur um so mehr normal, als sie den alltäglichen Zustand des körperlichen und geistigen Seins unterbricht: und sei es, ihn erhöhend, auch dadurch gefährdet.

Ich muß mir klar werden, daß ich noch immer ringe und kämpfe, um ihrer Herr zu werden. Freilich erlaubte meine Krankheit mir nicht, hinter Siris Schauspielgesellschaft, die nun in verschiedenen Städten gastiert, her zu reisen. Aber ich hätte mich an einem neutralen Ort, etwa in einem Sanatorium, ausheilen können, und sie würde mich dort besucht haben. Dagegen habe ich diese Festung gewählt, in deren Inneres einzutreten ihr naturgemäß verboten ist. Ein Verdacht der Feigheit gegen mich selbst und eines Verrates an meinen afrikanischen und sonstigen Ideen und der fast schon beschlossenen Rückkehr zur Natur ist nicht ganz abzulehnen. Obgleich ein nicht immer fester Grundwille mir den Kampf gegen diese Passion und die damit verbundene Hörigkeit von Anfang an aufnötigte.

Nun, so steht denn die Blume Siri in der Wiese an der Mauer vor dem Tor: und der Gott in mir, Eros, vermag sie zu sehen.

Es ist damit eine neue Lage geschaffen, die viel Beruhigung in sich hat.

*

2. Mai.

Der Arzt erklärt, er werde mich in spätestens einer Woche aus der Behandlung entlassen können. Meine Behandlung meiner selbst wird sich trotzdem fortsetzen müssen, denn es wird noch viel Zeit brauchen, ehe meine Seele wieder fest und gesund auf ihren zwei Beinen steht und geht.

Mag sein, daß meine Liebe im Augenblick nicht mehr als eine Flamme in mir lodert. Sicher ist, daß sie als unverlöschlicher Funke in mir brennt. Ich denke keinen Gedanken, durch den er nicht sichtbar wird, tue keinen Blick in mein Hauswesen oder in die Natur, darin er nicht wie ein Glühwurm schwimmt. Ich spreche kein Wort mit Annemarie, wo sich nicht unser beider Augen vor seinem stechenden Glanze zur Hälfte schließen.

Die augenblickliche Phase meiner Zustände ist eben doch, trotzdem der praktische Gang unseres Lebens nicht unterbrochen wird, eine gärende Passivität. Da Siri nur als Funke zugegen ist, scheint Eros – unter dem Aushängeschild der Versöhnung – Annemarie und mich doch noch in die Gewalt seines Unfugs ziehen zu wollen. Ich schiebe auf Eros, was mein unabwendbares Sinnen ist. Sollte ich alles dies überleben, was werde ich von mir halten müssen in späterer Zeit? Kurz und gut: ich sah zum ersten Mal in die starblinden Augen der Sphinx.

Annemarie hat sich seltsam gewandelt. Sie ist durchaus nicht mehr eine Professorenfrau. Oft sprechen wir beide über den Fall Siri, er geht uns ja allerdings beide an, und kommen dabei einander näher. Die Art meiner Liebe zu Annemarie wächst seltsamerweise aus neuen Anfängen. Sie wird einem anderen Menschen zuteil, als der es war, der sie zum ersten Mal in mir erweckte. Sie fühlt es und scheint auch für den kommenden neuen, komplizierteren Fall bereit zu sein. Ein leichter Schauder faßte mich an, als sich dies vollkommen neue Wesen in Annemarie mir eröffnete. Warum soll man eigensinnig einen monogamen Bauplan der Ehe festhalten? Warum sollen nicht die Fundamente festbleiben, wenn auch kühnere, freiere, orientalisch-wuchernde Formen sich im erweiterten Rahmen entwickeln dürfen. Benötigt man ein neues Stockwerk im Verlauf des Lebens, auf die alten Fundamente und das Parterregeschoß von Ehe und Haus aufgesetzt: warum sollte man davor zurückschrecken, in diesem Stockwerk etwas von dem mormonischen Ideenkreis zu verwirklichen? Die Erweiterung des physisch-ehelichen Wohnraums in Freiwilligkeit wird allen Ernstes in Aussicht genommen. Und aus diesem Gedanken, wie gesagt, blüht zunächst eine neue gegenseitige Liebe in uns auf.

Das Denken ist uferlos, das Leben ist uferlos. Aber das Denken kann wie eine Mutterlauge ein festes Gebilde auskristallisieren. Das ist es, was meine uferlose Hingabe an das Denken als Erlebnis in diesen Tagen vielleicht rechtfertigt. Ein Suchen also nach versöhnlichen Auswegen beherrscht mich jetzt. In den sich steigernden Phasen der Leidenschaft, vor der physischen Krankheit, wäre das nicht möglich gewesen. So hätte denn diese doch wohl meine Leidenschaft abgeschwächt?

Aber ein Funke, der unverlöschlich ist, kann immer noch, wenn er die nötige Nahrung findet, nicht nur Häuser, sondern Dörfer und Städte einäschern. Und draußen, wie ich mich bei einem kleinen Spaziergang überzeugt habe, hält überall in Wiese und Waldrand das Blümchen Siri Wacht.

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6. Mai.

Der Mai ist gekommen. Meine Spaziergänge werden länger. Überall blinzt mich aus seinen Verstecken das Blümchen Siri an. Wie viele Arten von wunderlicher Zauberei doch der Liebesgott, um seine Opfer nicht aus der Hand zu geben, in Bewegung setzt! Bin ich nicht eigentlich Rationalist? Trotzdem: ich bestehe, sobald meine Liebe in Frage kommt, vornehmlich aus Aberglauben. Wenn der Kuckuck elfmal ruft, hat Siri ihr lockeres Leben um meinetwillen geändert; wenn ich mit einem Steinchen einen hüpfenden Frosch treffe, werde ich sie noch einmal in den Armen halten. Das alte Orakel mit den ausgezupften Blütenblättern wird angewandt und immer wieder die mit Ja und Nein abgezählten Knöpfe.

Ich rede mir ein, meiner Passion in einem engen Zusammensein mit Siri durchaus noch einmal trotzen zu müssen, wenn ich sie überwinden will. Und ich setze dies durch bei Annemarie. Man wird sich in einem Seebad treffen. Die gleiche Speerspitze, welche die Liebeswunde hervorbrachte, soll sie ausheilen.

Immer noch beherrscht meine Stunden in Hunderten von Vorspiegelungen die quälende Eifersucht. Kein anderer soll besitzen, was mir unerreichlich ist. Je hoffnungsloser naturgemäß die Entfernung in Hinsicht auf eine Erfüllung machen muß, um so wütender brennt der Liebesneid aus unbekannten Ursachen.

Ist dieser Zustand auf seinem Höhepunkt, oder hat er den traurigen Gespenstern, die ihm meist folgen, Platz gemacht? So ist, wie die Weisheit Salomonis sagt, keine Kraft des Feuers hinreichend, mir zu leuchten. Und man ist – mit dem gleichen Text – sich selbst unerträglicher als die Finsternis.

Ich mag diese Seiten nicht rückwärtsblättern. Wahrscheinlich zeigt sich in ihrer Wirrnis wenig Zusammenhang. Es ist möglich, daß Annemaries Klugheit darin besteht, die Gedankensprünge meines gestörten und geschwächten Geistes, sofern sie Kenntnis von ihnen erhält, ohne allen Protest hinzunehmen. Eine Wunde, sagte man früher, müsse sich ausbluten. Vielleicht heilt sich ein Trauma der Seele auf ähnliche Weise.

Immerhin seltsam, daß Annemarie mit meiner Reise zu Siri, in etwa acht Tagen, nach einem Rügenschen Badeort durchaus einverstanden ist.

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9. Mai.

Noch immer verbringe ich Stunden auf dem Liegestuhl, wenn ich mich auch einen Teil des Tages bereits in Haus und Garten herumbewege.

Es ist wirklich wahr: vergleicht man die Leidenschaft mit einem unwiderstehlichen Strom, dessen Kraft man bekämpfen will, so gleichen die Meditationen darüber dem Versuch, ihn nach und nach in unzählige Richtungen abzulenken und versickern zu machen.

Ich sehe Blätter und Blättchen durch, die ich, außer meinem Diarium, dicht bekritzelt habe. Hier zeigt sich der Blutstrom der Liebe in unübersehbare Kapillaren verteilt und abgelenkt. Diese Art Rückstände Gerinnsel der Leidenschaft zu nennen würde nicht unzutreffend sein.

Da steht zu lesen:

»Es tritt etwas aus der Seele und wird eins mit etwas, das aus einer anderen Seele erwacht. Beide Seelen leben eine Weile in der Schönheit, die sie sich gemeinsam zu erzeugen das Glück haben, bis diese Erzeugungskraft nachläßt. Hat sie nachgelassen, alsdann verflüchtigt sich die Schönheit, und die Seelen gehen, ohne es zu wissen, wieder blind aneinander vorüber. Das geschieht selbst, wenn die Körper sich noch umarmen. Die Seelen befinden sich also dann in der alten suchenden Vereinsamung.«

Warum zieht es mich wieder in ihre Gegenwart? »Um selig-elende Augenblicke wieder zu fühlen«, würde Goethe sagen. Und zugleich fällt mir Mignon ein, das Tamburin und der Eiertanz. Nein, Siri ist gar nicht schwärmerisch. Das sehnsuchtsvolle Lied »Kennst du das Land« würde ihr nicht liegen. Aber man könnte ein dämonisches Capriccio aus ihr ziehen und komponieren.

Gestern abend, als ich bei der Lampe las, sagte mein kleiner Sohn zu mir: »Vater, du hast vier blutige Ritze auf der Stirn.« Es war mir immerhin merkwürdig, trotzdem ich natürlich wußte, daß er nur einen Beleuchtungseffekt anmerkte.

Die Liebe ist eine Sucht, aus peinvoller Entbehrung entstehend, ein Hunger des Verhungernden, ein Durst des in wasserlose, heiße Wüsten Verirrten. Sie ist eine Abhängigkeit, eine Hörigkeit, eine Verzweiflung, ein Fluch, eine Folter, kurz, eine Hölle durchaus und durchum, wenn sie ohne Erfüllung ist.

Meine halbe Bibliothek ist gleichsam am laufenden Band über mein Ruhelager gelaufen. Die Bücher gleichen Pflastern, auf meine Wunde gelegt, die ihr Gift soweit wie möglich aussaugen sollen. Sollte ich nicht am Ende der neuen Begegnung fernbleiben? Läge nicht ein Beweis von Stärke darin? Während ich anderenfalls doch nur wieder meiner Schwäche nachgebe.

Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

*

13. Mai.

Ich muß mir bestätigen, daß ich nicht ausschließlich dem Kultus meiner Liebe und dem Versuche, sie zu beherrschen, meine Zeit widme. Denn dies wäre besonders bei fortschreitender körperlicher Genesung eine Erbärmlichkeit. Aber selbst wenn ich mich meiner Wissenschaft widme, in meinen Forschungen vorwärtsdringe und an einem umfassenden Buche arbeite, habe ich manchmal das Gefühl einer überflüssigen Tätigkeit.

Ohne viel darüber zu reden, darf ich es mir recht wohl bestätigen, daß ich bereits ein gewaltiges Stück Geschichte durchlebte. Überall habe ich den regellosen Erscheinungen ihres Lebensstromes, ob er nun stagnierte, schneller oder selbst wütend floß, den Versuch des Begreifens entgegengesetzt. Dabei aber ist mir – ich flüstere das nur mir selber ins Ohr – das allerdings jederzeit reparaturbedürftige Gebäude des Glaubens in Trümmer gegangen. Die Überschwemmungen des Nil, wenn sie sich zurückziehen, hinterlassen Fruchtbarkeit. Es ist nicht das gleiche mit denen, die weite Gebiete menschlicher Kultur unterwühlen und unterwühlt haben. Wir gehen – es ist nicht zu leugnen – in ungeheueren, kläglichen Trümmerfeldern umher. Wir suchen verschwemmte Reste zusammen, die wir nach Möglichkeit da und dort an versteckten, leidlich verschont gebliebenen, klösterlichen und burgenartigen Gebäuden und auch in unseren Gehirnen magazinieren. Dort schleichen wir Sonderlinge hin und holen uns diese und jene vergessene Scharteke, Sokrates, Platon und manche einstige Bibel der gläubig-getäuschten Menschheit heraus.

Ich verliere mich nicht in diese Materie, die eine ungeheuere ist, und finde bei dieser Sintflut, die zum Teil eine blutige ist, nur einen Halt im Inselgedanken. Ich habe die Kühnheit, mich auf der Insel nach Kräften zu konservieren und dieses Beginnen zu verantworten. Unter den Gründen, die mich entschuldigen müssen, steht der, daß ich unter Milliarden eine kleine Ameise bin, deren Sein oder Nichtsein wenig verschlägt. Es bleiben trotzdem in der Welt Fahrplanrechner und Maschinenbauer mehr als genug übrig. Vielleicht sind noch bessere Gründe vorhanden: indem man für sich selbst nach geistiger Vielfalt, geistigem Reichtum strebt, nach Kräften mit seinem Pfunde wuchert, denkend sich neue Werte schafft, wird man vielleicht auch den einzelnen Menschenbruder, die einzelne Menschenschwester bereichern und dazu helfen, daß sie sich in sich selbst befrieden und wappnen.

Gewiß, ein Geist wie der Goethes fällt nicht unter den Begriff der Nützlichkeit. Der große Mann ist auch, sosehr er es erstrebte, aus den Spielereien des Rokoko nie ganz und gar herausgekommen. Aber er hat einen Reichtum ausgeschüttet, wie nur die fruchtbarste Erde es vermag, die ja in ihren Wiesen unzählige nutzlose Blumen und Blümchen zum Lichte treibt. An diesem Reichtum beglückender Geistigkeit, der in Samen, Blüten und Früchten fortwuchert, wird sich der deutsche Geist Jahrhunderte weiter erquicken können.

Ich komme zu meinem Palimpseste zurück. Wenn es ein Späterer einmal unter Verschleierung anderer Handschriften finden sollte, so mag ihn vielleicht anziehen, zu wissen, wie ein Geist aus körperlicher und seelischer Krankheit um Gesundung rang.

»Derjenige, der eine Liebe erloschen geglaubt hat und von dem alten Feuer überrascht wird und der alten Tyrannei, empört sich dagegen und versucht sich freizukämpfen aus den Wolken vergessener Empfindungen, die ihn umdrängen: ein solcher Schmerz ist es für ihn, wenn die alte, süße Musik wieder erwacht und der Reiz seiner Leidenschaft ihn wieder überfällt«, sagt George Meredith in »Richard Feverel«.

Trotzdem – es ist nicht zu ändern –, in wenigen Tagen werde ich Siri wiedersehen.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Mein Nachbar lädt mit seiner Frau, der Bäuerin, in aller Eile Heu auf den Wagen. Er will es noch vor dem Regen unter Dach bringen. Ich verfolge diesen in unermüdlicher, rasender Arbeit sich aufreibenden Landmann seit Jahren.

Das Gewitter bricht los: Unter Hagelschauern und Sturm säen, unter Donner und Blitz ernten wir.

*

18. Mai.

Krankheit macht uns zum Eremiten, und der Genesungsweg ist ein Weg des Einsiedlers. Das erzwungene Einsiedlertum ist eines der wichtigsten Hilfsmittel der Genesung. Es entfernt von uns alles bis zu einem gewissen Punkt, über den es nicht näher dringen kann. Die seelischen Umwälzungen und Stürme der Leidenschaft werden faksimiliert und wieder und wieder in dieser abgekühlten Form dem Urteil vorgelegt. Ich wollte irgendwo in den afrikanischen Kolonien untertauchen, um nur allein in Siris Aura ungestört atmen zu können. Wie kommt es, daß ein so knabenhafter Gedanke Gewalt über mich gewinnen konnte? Fußt er doch auf einer mehr als mangelhaften Vorstellungskraft. Eros freilich ist immer ein Schönfärber.

Mein Nachbar, der Landmann, arbeitet wiederum unermüdlich auf dem weiten Wiesenland. Es ist eine Mühe ohnegleichen, die Winternahrung für sechs oder acht Kühe und Kälber auf die Heuböden zu schaffen, das Vieh zu füttern, Helferdienste zu leisten, wenn Kälber geboren werden, zu melken, Butter und Käse herzustellen und so fort. Über den geschorenen Teil der Wiese fährt er bereits mit dem Jauchefaß. Der Stall wird täglich ausgemistet, der Dünger über die Felder gebreitet und dergleichen mehr. Das ist eine harte Sklaverei, bei der die Natur unser schweigender, aber gnadenloser Fronvogt ist.

Und ich wollte mit Siri in Afrika eine Farm gründen auf Neuland, wo grenzenlose Entbehrung mit grenzenloser Arbeit und schwerer Gefahr von Menschen, Klima und Wetter verbunden sind.

Ich wollte – mit Siri und Annemarie – zu den Mormonen nach Salt Lake City auswandern, ein Gedanke, der eher ausführbar war, aber nun gerade in ein erstickend enges, praktisch-religiöses System einspannte. Ich wollte Mohammedaner werden. Fälle von Sonderlingen, die in Deutschland mit zwei Frauen leben, sind bekannt.

Dies alles habe ich aufgegeben.

Ein langes Nachdenken hat mich belehrt, daß man zwar physisch mit zwei Frauen, ja meinethalben mit einem Harem leben kann; aber wessen Liebe seelische Einheit mit dem geliebten Wesen nicht entbehren mag, der kann und wird nur eine Frau lieben.

Ist meine seelische Einheit mit Annemarie bereits wiederhergestellt?

Nun, wenn mich der Arzt in einigen Tagen aus der Behandlung entläßt, so bin ich in der Umarmung meines alten Heimes und Hauses, der Liebe meiner Frau und meiner beiden Kinder und durch sie wieder gesund geworden. Dieser Umstand, der nun einmal nicht wegzuleugnen ist, muß unbedingt seine Wirkung ausüben. Ein Gegner solcher Arten von Lösungen, und es gibt welche, würde freilich sagen: der Weichling, der sich eine Zeitlang vor sich selbst als einen kühnen Himmelsstürmer aufspielen durfte, kriecht in sein gemachtes Bett zurück.

Oder ist Liebe vielleicht immer nur eine Seifenblase?

Habe ich nicht voll Mitleid auf meine Umgebung als auf die ahnungslos in finsteren Kellergewölben Lebenden im Zustand meiner Liebesinbrunst herabgeblickt? Und schon heut scheint dieser Zustand mir nicht nur wieder annehmbar, sondern manchmal sogar begehrenswert. Man fühlt seine Füße fest auf der Erde, was immerhin eine gute, nicht zu verachtende Sache ist.

Ich möchte glauben, daß auch das Auge sich für das Verlorene schadlos hält. Es heftete sich in der Wirklichkeit nur an ein und denselben Gegenstand. War Siri da, wurde nichts sonst gesehen. War sie fort, so wurde durch Einbildungskraft ihr Bild vor das Innere gestellt und auf einem Altare angebetet. Das gleiche geschah im Wachen, geschah im Traum. Bücher wurden zur Makulatur, Freunde zu überflüssigen Irrtümern. Die Gebilde der Kunst galten nur einigermaßen durch ihre Ähnlichkeit mit dem Idol. Heute hat sich mir – ich muß mir's gestehen – die Welt der Bücher, die Welt der Plastik und Malerei, die Welt der Forschung, die des praktischen Lebens, der Häuslichkeit und des häuslichen Fortschritts wieder eröffnet. Trotzdem gebe ich die Reise nach Rügen nicht auf.

Nun ja: ich fühle Verantwortung. Ich möchte Siri nicht sozusagen sich selbst überlassen und ihr auch künftig in Freundschaft nahe sein. Diese Wendung ist mit Annemarie in aller Ruhe durchgesprochen. Ich glaube es nicht, aber immerhin: bei der Tücke des Liebesgottes kann es möglich sein, daß ich mich doch wieder in sein Netz verwickle, ja, bereits in der Absicht kann schlauer Selbstbetrug vorhanden sein. Wenn die kluge Annemarie diesen Fall sicherlich in Erwägung zieht, so muß sie damit doch ein überwiegend großes Vertrauen in meine Genesung verbinden.

Ihre ruhige Klugheit, das Gleichmaß der Güte, die Abwesenheit aller Vorwürfe erschafft gleichsam eine zweite neue Liebe in mir, die mich – so seltsam es klingt – auf festerem Grunde mit ihr verbindet. Heißt dieser Grund Kameradschaftlichkeit? Dann müßte man, um eine solche Entpuppung herbeizuführen, mancher Ehe eine Krise wie die unsere wünschen. Vielleicht ist das Sakrament der Ehe erst erfüllt in einer solchen heiligen Kameradschaftlichkeit.

Soll man nicht staunen und in Liebe bewundern, wenn eine Frau in Duldung und Hoffnung dem nun einmal geschlossenen Bunde schweigend dient?

Mein Vater hat mich besuchen wollen, so der Rektor der Universität, mehrere Abgesandte aus München wollten mich sprechen: alle hat sie mir, mit plausiblen Gründen auf die Genesung vertröstend, ferngehalten.

*

15. Juni.

Noch sind die Wiesen nicht abgemäht, und ich werde auf meinen nun schon recht ausgiebigen Wanderungen immer wieder von dem Blümchen Siri begrüßt. Es ist, wie gesagt, eine Orchis und bekannt unter dem deutschen Namen Knabenkraut. Was ich hier niederschreibe, macht mich zum Opfer, oder sagen wir besser, Gegenstand der Psychiatrie: in ihr ist die Liebe eine Neurose. Das einfache Denken auf ihrem Gebiet lehnt jede Skepsis, die der umfassende Geist ihr entgegenbringt, aus angeborener Enge ab. So ist sie jederzeit schnell bereit, das Eigenschaftswort »pathologisch« anzuwenden. Nicht ganz ungefährlich ist dieser Betrieb, da die Herren Psychiater geneigt und zum Teil befugt sind, vermeintlich Geisteskranken gegenüber polizeilichen Zwang auszuüben. Ihr Gefängnis, das heißt das ihrer Delinquenten, ist das Irrenhaus.

Pathologisch ist ja wohl keinesfalls der gewaltige Sexualtrieb in seiner Eigenschaft als Ausgangspunkt des Menschengeschlechts. Ohne ihn könnte auch wohl der-Psychiater seine Kritik daran nicht ausüben. Wenn er aber ein gesunder Vollmensch ist, so besitzt er kein Mittel, sich gegen die Leidenschaft einer Liebe immun zu machen.

Ich empfehle übrigens diesem Zweige der Wissenschaft, zunächst einmal den gesunden Menschen, den Menschen der Norm, festumrissen darzustellen. Bevor man nämlich diesen nicht kennt, ist nicht erwiesen, ob man nicht etwa die Abweichung von der Norm für normal halten muß.

Morgen reise ich über Berlin nach Heringsdorf, von dort mit dem Schiff nach Insel Rügen, um mich schließlich auf einer anderen kleinen Insel absetzen zu lassen, die an der Westseite von Rügen liegt. Dort haben sich Siri und ihre Mutter für einige Sommerwochen eingemietet.

Übermorgen reist meine Frau mit den Kindern an die Nordsee nach Westerland.

*

Heringsdorf, den 18. Juni, vormittags.

Ich habe auf der besuchten Terrasse meines Hotels im Angesicht der See mein erstes Frühstück eingenommen. Gestern abend bin ich hier angelangt. Morgen nachmittag reise ich weiter. Ich habe mir einen besinnlichen Tag, einen, an dem ich mit mir selbst allein bin, reserviert.

Aber einer Besinnlichkeit zu genießen scheint hier schwer.

Das also ist Heringsdorf, das große Seebad Heringsdorf, das im Augenblick durch seine Besucher fast zum Stadtkreis Berlin gehört. Dabei ist es recht weit von der Hauptstadt entfernt und liegt auf der Insel Usedom, näher an Swinemünde als an Peenemünde. Aber, wie gesagt, der dahin gegen Nordwesten gedehnte Strand ist von nackten oder auch angezogenen Berlinerinnen und Berlinern dicht bedeckt. Die nackten liegen im Sand oder baden, die angezogenen promenieren durcheinander auf dem breiten Strandweg, der vor zahllosen Villen gelegen ist. Es ist die Stadt, die sich hier an der See amüsiert, erholt und erfrischt und wiederum amüsiert, und zwar auf die alte städtische Art und Weise. Man spürt sogleich, daß Eros keineswegs in Berlin zurückgeblieben ist und sich der Erholung und Erfrischung hier ganz besonders erfreut. Venus, die Schaumgeborene, stieg aus der See. Hier tun es Tausende und aber Tausende ihrer Töchter, die ihr an Schönheit, wenigstens in den Augen ihrer Verehrer, nichts nachgeben. Ich habe mich in dem Trubel nackter und bekleideter Menschen, alter wie junger, dem Kindergeschrei einer beinahe wie Sand am Meer zahlreichen Nachkommenschaft, unter geschminkten Gesichtern, bunten Sommerkleidern, vierschrötigen Barten und sportlichen Jünglingen umherbewegt. Dabei kann man sich fast vergessen. Das Gegenwartsleben, das mich umgab, glich einem Wirbel, gegen den meine Eigenbewegung nicht aufkommen konnte. Beinahe vergaß ich, weshalb ich mich auf der Reise befand und welches Ziel ich dabei verfolgte.

Irgendwie lag in alledem etwas Gesundendes. Es lag sehr nahe zu erkennen, daß der Fall, der den einzelnen unter seinen Fron brachte, und so der meine, hier ein recht allgemeiner war. Man konnte es fraglich finden, ob hier mehr den Bädern im Salzwasser oder der Liebe gehuldigt wurde. Diese Erkenntnis, verbunden mit anderen Eindrücken, löschte zeitweilig meine Erinnerung an Weib und Kind, ja selbst an Siri aus.

Allein, gewisse Begegnungen einer Stunde unter der Sommersonne angesichts der Bläue von Himmel und Meer, die ich watend im blendenden Goldsande hatte oder auf dem Promenadenweg, bewiesen mir in Sachen der Treue gegen Frau und Geliebte meine Unzuverlässigkeit. Das Herz tat mir immer wieder weh, wenn ich ein verführerisch schönes Mädchen, eine junge begehrenswerte Frau nur mit den Augen genießen und im Geiste umarmen konnte.

Aber selbst die Wahl, bei so großer Auswahl, ist schwer. War es nicht besser, sich zu bescheiden bei dieser unübersehbaren Fülle von schönen Einmaligkeiten und an jeglicher Blume nur zu nippen, statt eine bis zum letzten Tropfen Saft auszuquetschen? Gerät man nicht, wenn man sich einem schönen Kinde statt allen ergibt, diesem gegenüber in einen Eunuchenzustand, dazu in Gefangenschaft? Haben mir nicht mindestens ein halbes Dutzend der köstlichsten Mädchenwunder, erschlossene Blüten, berückende Wunder des Paradieses, lustig zugewinkt, mehr als bereit, sich mir hinzuschenken?

Ich schließe diese Betrachtung für diesmal ab, allzu gewiß, sie, solange ich weiter lebe, noch oft machen zu müssen.

Unzweifelhaft ist mir, seit ich hier bin, freier und leichter ums Herz. Vor dem blendenden Glanz des Himmels und dem bewegten Blau der See sowie dem festlichen Treiben der Menschen ist mein eigener Fall beträchtlich verblaßt. Somit: ohne mein Zutun allerdings. Der Willens- und Pflichtenweg meinetwegen spricht dabei nicht mit: noch nicht mit, so möchte ich hoffen!

Wo ist dieser Weg? Wo habe ich ihn und mich verlassen? Seit langem fühle ich ihn nicht mehr unter den Füßen und sogar nur schwach in der Vorstellung. Man sollte sich vielleicht mehr zu einer simplen, bodenständigen Arbeit hinwenden, um nach und nach wieder Mann unter Männern und nicht mehr Sklave der Liebe zu sein.

Vielleicht war mein ganzer Zustand von Anfang an nur eines unter anderen Symptomen einer verborgenen Lungeninfektion. Diese, wie bekannt, hat erregenden Einfluß auf die Sexualsphäre. Dann stünde besser eine in Kurven und Worten aufgenommene, banale Krankheitsgeschichte anstelle dieser so widerspruchsvollen Selbstgespräche.

*

Heringsdorf, 18. Juni, nachmittags.

Unter vielen übermütig belebten Tischen habe ich mein Mittagessen eingenommen. Man trug allenthalben Delikatessen auf, und Champagner schäumte in den Gläsern. Was ist eigentlich die Quintessenz dieser Fröhlichkeit? Die Menschen sind ihren Kerkern und Fesseln entsprungen. Diese Kerker mögen nun noch so verschiedenartig sein, etwa wie ein Palast und die Hundehütte – die Fesseln wie solche von gedrehtem Hanf und von Gold. Trotzdem bleiben sie, was sie sind. Es ist weniger damit der Beruf gemeint, mehr die Fülle von Zwang, Ärger, Sorgen und Plagen, die, außerhalb seiner, mit ihm verbunden sind. Irgendwie ist auch die Ehe mit Kerker- und Fesselhaftem verschwistert.

Als die Pfropfen öfters und öfters knallten, fragte ich mich: Was anderes als Vergessen genießen die Menschen in dem Trunk? Das Wesen des Rausches, des Lachens, des Augenblicksglückes ist Vergessen. Und weil es so ist, dachte ich mir, wirst auch du dir eine Flasche Champagner öffnen lassen.

Schwelgte ich nun in Vergessenheit, und schwelgte ich im glücklichen Augenblick?

Ich bin Gott sei Dank mein einziger Zuhörer, ein Mensch sozusagen mit seinem Widerspruch. Ich brauche mir Inkonsequenz nicht vorwerfen. Freilich ein simples Nichterinnern war mein neugewonnener Zustand nicht. Ich hätte sonst schwerlich die Photographien von Annemarie und Siri aus der Tasche gezogen und nebeneinander an den Eiskühler gelehnt, so daß meine Nachbarn sich verwunderten. Allein, solche Taktlosigkeiten berühren mich nicht.

Zwar ist nicht zu leugnen, daß die bloße bildliche Gegenwart beider Frauen alle ringsum lebendigen auslöschte – aber die Bilder lösten in mir nur Freude aus. Den Konflikt, den sie in sich trugen, sah ich nicht, von Tragik vermochte ich nichts mehr zu spüren.

Wie wächst der Mensch, wie unabhängig, wie groß, ja allmächtig wird der Mensch in einer selbstauferlegten Einsamkeit, auch mitten im Gewimmel der anderen.

Es zuckte in mir: wenn ich nun diesen Zustand ausnützte? Ich hatte einen Freund, mit dem ich am Sonntagabend vor acht oder neun Jahren heiter zusammen war und der in der darauffolgenden Woche nicht mehr auftauchte. Er war nicht gestorben, aber niemand vermag bis heut zu sagen, wo er geblieben ist.

Ich könnte mit meinen zwei Photographien, losgelöst, wie ich jetzt schon bin, auf Nimmerwiedersehen davongehen.

Ich würde damit nichts weiteres tun, als meinen Gegenwartszustand verewigen.

Nach dem Essen legte ich mich ein wenig aufs Ohr, trank irgendwo am Strande Kaffee und bewegte mich planlos unter der Menge.

Der Abend war unvergleichlich schön: zur Rechten das perlmutterfarbene Meer, der Himmel blaue Helligkeit und ein gutes Orchester mit Walzern von Strauß.

Was für Tagen gehe ich entgegen?

»Die Versuchungen des heiligen Antonius« von Flaubert, die meine Reiselektüre sind, gehen mir durch den Kopf. Ein gewaltiger Wurf, trotzdem es, platt ausgedrückt, nur ein Wurf und kein Treffer ist. Der Heilige hätte hier in Heringsdorf am heutigen Abend noch ganz andere Versuchungen als in seiner Thebaïs bestehen können.

Merkwürdig war ein russisches Windspiel, blond wie der Strand, das mich immer in einer gewissen Entfernung begleitete. Stand ich still und blickte aufs Meer, so setzte es sich und tat das gleiche.

Das Verhalten des Tieres irritierte mich.

Was suchte es auf der glitzernden Fläche der weiten See? Boote, größere Schiffe sah man nicht; es sei denn, daß Punkte am Horizont sich für ein Falkenauge in solche auflösten.

Das Windspiel äugte hinaus und winselte.

Im Weiterschreiten gegen Nordwest, wo es einsamer wurde und zur Linken waldartige Baumgruppen, Wiesen und Äcker erschienen, wurde ich von dem vereinsamten edlen Hunde im Abstand begleitet, auf Grund einer Sympathie, aber ohne Aufdringlichkeit.

In das grüne Hinterland, das ich streifte, um mich an den stillen Gehöften der Landleute von den gekünstelten Villen des Strandes zu erholen, folgte er nicht. Angemessener schien es für ihn, weiter den Blick in die Ferne von Wasser und Himmel zu richten. Irgend etwas war ein und dasselbe, bei mir und ihm, was uns einander nahebrachte. Ich erkannte das plötzlich mit einer gewissen Ergriffenheit. Und eben in diesem Augenblick winkte etwas überraschend und magisch im Wiesengrün: die kleine rotviolette Orchis, Knabenkraut, die ich Siri getauft hatte. Nicht anders wie jene geistesgestörte Dame, die mich auf meinem Landhaus besucht hatte, fühlte ich überzeugend die Geliebte ganz nah, ganz gegenwärtig und vielbedeutend mir zuwinkend.

Ich pflückte die Orchis und drückte sie an den Mund.

Mein Bruder saß angewurzelt am Strand. Er kehrte mir seinen Rücken zu und sah unverwandt in die blaue Ferne. Ich kehrte zurück und tat das, in ziemlichem Abstand, ebenfalls.

Hernach ging ich weiter, blieb wiederum stehen und ließ meiner fragenden Sehnsucht, im Blick auf das nunmehr langsam verlöschende Meer, freien Lauf. Abermals tat das Windspiel das gleiche.

Einsam wie ich, fühlte der Hund im Menschen die gleiche Einsamkeit und suchte, von dieser Erkenntnis tröstlich berührt, seine Nähe.

*

Binz / Insel Rügen, 19. Juni

Also, das durch Monate schmerzlichen Entbehrens Heiß ersehnte, nämlich das Wiedersehen mit ihr, ist bereits wiederum vorüber. Ich schreibe in einem kahlen Hotelzimmer, und zwar ist es bereits gegen Mitternacht. Draußen freilich plätschert das Meer und spiegelt den Himmel und seine Sterne

Indes, die Verfassung meiner Seele ist wunderlich. Sie nämlich spiegelt die Sterne nicht und nun gar nicht den Stern dei Liebe, wie es doch in den Monaten des Entbehrens täglich geschah. Meine Seele war reich, sie ist arm geworden.

Sollte wirklich ein Nichts die Ursache meines endlosen Grübelns, meiner Räusche von Schmerz und von Seligkeit, meiner Hoffnung, meiner inneren Kämpfe gewesen sein? Kann ein Nichts Ängste und Befürchtungen mitteilen, ja bis dorthin treiben, wo die Verzweiflung fast zu dem kurzen, aber furchtbaren Schritt aus dem Leben entschlossen ist?

Sie sprang mir mit fliegenden Haaren entgegen über den Landungssteg. Zweifellos, ihre leichte Bewegung, ihre blonde Schmetterlingshaftigkeit machte sie auffällig: hernach uns beide, als wir gemeinsam davongingen. Kannte mich nun dieser und jener der zahlreichen Kurgäste? Jedenfalls macht sich ein Liebespaar stets, und ein illegitimes erst recht, immer auffällig. Meine Rolle, die mir in diesem Augenblick gar nicht natürlich war, keinerlei Glück der Erfüllung in sich trug, statt mir Freude zu machen, brachte mich in Verlegenheit.

An und für sich mag ich große Ansammlungen von Menschen nicht. Ich lebe zu Haus meinen gelehrten und anderen Studien, teile gern an Lernende mit und habe auch in den Wäldern und an der See die Gewohnheit peripatetisch versonnener Einsamkeit. Alledem widerspricht der vulgäre Lärm gewisser Seebäder, zu denen Heringsdorf nicht zu rechnen ist. Hier sind Karusselle, Orchestrions, Kindergeschrei und schlimmeres Geschrei von Erwachsenen, mokante Blicke, Anrempelungen, Gelächter und so fort. Wehe dem weiblichen oder männlichen Wesen, das äußerlich dem hier herrschenden Stil nicht ganz entspricht. Es wird beinahe zum allenthalben verfolgten Wilde.

Inmitten solchen Getriebes, an der Seite einer kleinen Schauspielerin, erschien ich mir selber plötzlich unverständlich, ja lächerlich. Ich schwatzte allerlei durcheinander und grübelte innerlich fast nur über die Frage: Wie entziehst du dich dieser beschämend peinlichen Situation?

Mir schwebten die schlimmsten Bilder vor. So jenes, wo die Geliebte des preußischen Kronprinzen, späteren Friedrich dem Zweiten, nackt, auf dem Esel verkehrt sitzend, durch Potsdam geführt wurde. Dies Bild war freilich ein wenig zu abstoßend. Aber das Heiligtum meiner Liebe war plötzlich aller Welt preisgegeben und dem Hohne des Marktes ausgesetzt.

Beinahe noch Schlimmeres kam hinzu: das Geschöpf, das für mich, wie ich glaubte, alle übrigen Güter des Lebens belanglos machte, um dessentwillen ich zeitweilig Weib und Kind, Vater und Mutter preiszugeben, meinen inneren und äußeren Beruf fortzuwerfen entschlossen war, ging nicht anders als eine hölzerne Puppe neben mir: sie war mir nur insofern nicht gleichgültig, als ich nicht wußte, wie ich sie loswerden sollte.

Eine solche Erfahrung ist fürchterlich.

Kann man sich wundern, wenn ein so Betroffener allerlei abergläubischen Vorstellungen in Sachen der Liebe verfällt, die dem Wahnsinn der von dem irren Fräulein von Prittwitz magisch über jede Ferne belästigten Dame, die mich zu Hause besuchte, ähnlich sind? Ist es hier schwer, an boshaften Zauber zu glauben?

Und dennoch: ich harre gespannt dem Morgen entgegen.

*

20. Juni.

Ein voller Tag des Zusammenseins mit Siri liegt hinter mir. Ein solcher Tag wird zur Unendlichkeit, will man seine Geschichte schreiben. Sie würde nicht leichter zu bewältigen sein als die Geschichte meines ganzen bisherigen Lebens. Was ich hier niederschreibe, maßt sich nicht einmal an, ein Versuch in dieser Richtung zu sein.

Ohne Zweifel: mein augenblicklicher Zustand ist eine Ernüchterung, wenn auch nicht ganz die vom gestrigen Abend. Aber ich bin gefördert dadurch? Muß ich nicht etwa dem magischen Wesen, das mich besessen hielt, nachtrauern?

Ich habe meine Notizen, das wirre Durcheinander meiner Gedanken und Gefühle auf den Seiten dieses nun bereits ziemlich dicken Buches, vergessen. Irgend etwas davon wieder durchzulesen, vermeide ich. Ich würde vielleicht zu der Ansicht gelangen, daß ich reif für den Psychiater sei.

Doch muß ich hier einen Riegel vorschieben.

Was wäre der Mensch ohne die Möglichkeit einer Leidenschaft, insonderheit ohne jene der Liebe: mitsamt dem Leben das dann über ihn der übelste Dämon verhängt hätte, eine Sinnlosigkeit.

Ja, was die sogenannten fünf Sinne des Menschen betrifft so gleichen sie Bettlern ohne die Zündung der Leidenschaft so wäre das Auge als eine Art Blindheit, das Ohr als eine Art Taubheit, der Tastsinn als eine Art Blindenführung, wie Geruch und Geschmack, anzusprechen. Liebe ist es, mit allen ihren erweckenden Zaubern, die Himmel und Erde mit Wundern erfüllt, die Affekte steigert, sie zugleich fruchtbar macht und adelt. Sie entfaltet die Welt der Phantasie, darin sie Paradiese und Höllen bettet, als die große, beinahe allmächtige Künstlerin. Sie stellt uns vor eine immerwährend bewegte, überirdische Phantasmagorie und verzückt uns zu einem allwissenden Staunen.

Ich gebrauche da starke Worte: sind es vielleicht die Noten des Finale der zu Ende gehenden Symphonie?

Wir haben einen langen Weg durch die Wälder des Fürsten Putbus und dann nach dem Jagdschloß Binz gemacht. Fünf oder sechs Stunden ging, stand oder lagerte Siri neben mir. Wir verloren uns in die verstecktesten Dickichte. Nein, ich will die Phasen der nun einmal vorhandenen Halbheit meiner Liebe, mit ihrem doch eben vielfach kritisch-scheelen Blick, nicht festhalten. Wem nützt es, wenn ich sage: Siri ist jung und doch nicht jung, das Jugendliche in ihr scheint erzwungen. Sie ist eine Glocke, die nicht klingt oder nur in gemachten, falschen Tönen. Oder ihre Gegenwart gibt mir den geistigen Tod: es ist eben doch nur der Tod meiner Liebe.

»Es wird dir übel werden vom Wein«, sagte sie am Wirtstisch des Jagdschlosses. Sie setzte hinzu: »Man soll auf das Essen keinen Wert legen.« Während des Essens sagte sie das. Sie fügte an: »Mich widert's, Leute essen zu sehen.«

War es der uns umgebende Wald, der alles Theater von ihr nahm und die Aureole künstlichen Lichts um sie her nicht duldete? So ist sie noch überdies ähnlich wie ich – das bewiesen ihre Bemerkungen – ein Opfer allgemeiner Ernüchterung. Liebesleute kann sie nicht sehen. Das Meer, überhaupt die Natur, sagt sie, liebe sie nicht. Es kamen dann schreckliche Konfessionen. Wer sie beleidige, den könne sie kalten Blutes ermorden, ja, sie würde es tun, obgleich morden ekelhaft sei. Sie würde aus Haß noch den Toten mißhandeln. Heiter sein, sagt sie, koste sie Anstrengung, es sei meistens bei ihr nur Grimasse. Sie sei erlöst, wenn ihre Mienen in den ernsten Ausdruck zurückfallen könnten.

Von einem Schauspieler erklärte sie, er könne ohne sie nicht sein, und doch blieben sie zwei Einsame. Freilich hätten sie »das gemeinsame Gebet«.

Es gab einen mystischen Zwischenfall: Siri sprang plötzlich vom Weg in die dichten Farnkräuter. Sie holte eine Blume heraus, die sie mir ansteckte. Es war jene Orchis, das Knabenkraut, durch die sie sich in den Heimatswiesen der Ferne, gemäß meiner Einbildung, oft gegenwärtig gemacht und mich getröstet hatte. Es war, als wenn sie von alledem wüßte: als Zauberin ihren Zauber bekannte und in der Blume sich ganz mir hinschenkte.


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