Gerhart Hauptmann
Und Pippa tanzt!
Gerhart Hauptmann

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Zweiter Akt

Das Innere einer einzelstehenden Hütte in den Bergen. Die große und niedere Stube ist in einem nicht zu überbietenden Maße verwahrlost. Die Decke ist schwarz von Rauch und Alter. Ein Balken geborsten, die übrigen gebogen und auf notdürftige Weise durch unbehauene Pfähle gestützt. Den Pfählen sind kleine Brettchen untergeschoben. Der Fußboden besteht aus Lehm und zeigt Vertiefungen und Erhöhungen; nur um die Ofenruine herum ist er mit Ziegeln gepflastert. Von den drei kleinen viereckigen Fensteröffnungen, unter denen eine schwarzverkohlte Wandbank hinläuft, sind zwei mit Stroh, Moos, Laub und Brettern versetzt; die dritte enthält ein Fenster mit drei trüben Scheiben, statt der vierten wiederum Bretter und Moos. An der gleichen Wand im Winkel der Ofen, weiter nach vorn zu der geflickte Tisch. In der Hinterwand eine Tür. Man sieht durch sie in den finsteren Hausflur, dessen Balken wie die des Zimmers gestützt sind, und auf eine schräge, leiterartige Stiege, die nach dem Dachboden führt. – Ein Verschlag von Brettern im Zimmer, mit Birken-, Buchen- und Eichenlaub gefüllt, darauf einige alte Lumpen von Kleidungsstücken und Decken liegen, ist das Nachtlager des alten Huhn, dem die Hütte gehört. An der Wand hängen ein altes Feuergewehr, ein zerlumpter Schlapphut, Kleidungsstücke und mehrere, aus Journalen geschnittene Bildchen. Viel Laub liegt auf der Diele. In der Ecke ein Schober Kartoffeln; Zwiebelbündel und getrocknete Pilze hängen an der Decke. Ein einziger heller Lichtstreif dringt aus der klaren Mondnacht draußen durchs Fenster herein.

Im Hausflur wird es plötzlich ebenfalls hell. Man hört prusten und stark atmen. Darauf wird der alte Huhn sichtbar, Pippa noch auf den Armen tragend. Er betritt die Stube und bettet Pippa auf das Laublager, sie mit den vorhandenen Lumpen bedeckend. Darauf holt er aus einem Winkel ein altes Kienspangestell, darin der Span steckt, und entzündet ihn, dabei sogleich sehr erregt nach der Kleinen hinglotzend. Die ersten Stöße eines beginnenden Sturmes werden hörbar. Schnee wirbelt in den Hausflur herein. Huhn nimmt jetzt eine Flasche von irgendeinem Regal und flößt Pippa Branntwein ein. Sie atmet tief auf, er bedeckt sie noch sorgfältiger, rennt zum Ofen und macht aus vorhandenem Haufen Reisig ein Feuer an.

Huhn steht unvermittelt auf, horcht an der Tür und ruft mit irrsinniger Hast und Heimlichkeit. Kumm runder, kumm runder, aler Jakob! – aler Jakob, ich hoa dir woas mitgebracht! Er lauscht auf Antwort und lacht in sich hinein.

Pippa ächzt, durch das geistige Getränk belebt; plötzlich reißt sie den Oberkörper empor, blickt entsetzt um sich, drückt die Hände vor die Augen, entfernt sie wieder, ächzt, springt auf und flieht, wie ein geängstigter Vogel, blind gegen die Stubenwand. Frau Wende, Frau Wende, wo bin ich denn? Entsetzt an der Wand herunterkrallend, blickt sie hinter sich, gewahrt Huhn und irrt in einem neuen Anfalle von verzweifelter Angst, bald da, bald dort, blind gegen die Wände. Ich ersticke! zu Hilfe! begrabt mich nicht! Padre! Padrone! ach, ach! Hilfe! Frau Wende, mir träumt!

Huhn trottet auf sie zu, worauf sie sogleich in sprachlos entsetzter Abwehr die Hände reckt. Bis stille, bis; der ale Huhn tutt d'r nischt! – und der ale Jakob is derwegen o umgänglich. – Da Pippa, vollkommen erstarrt, ihre abwehrende Stellung nicht ändert, macht er unsicher noch einige Schritte auf sie zu, steht aber plötzlich wieder von dem Ausdruck besinnungslosen Entsetzens gebannt. Aso geht's nich! – Nu? – sprich a Wort! – zerstoß dich nich an a Wända! – bei mir iis's scheen, draußen lau'rt d'r Tod! – Er glotzt eine Weile forschend und abwartend; plötzlich kommt ihm ein Gedanke. Halt! – Jakob, bringe de Ziege runder! – Jakob –! – Ziegamilch wärmt! Ziegamilch wird gutt sein. Er ahmt das laute und leise Blöken von Ziegen und Schafen nach, wie von einer verschlafenen Herde im Stall. Bä, böö, bä! – Horch, se kommt ieber de Stiege runder. Jakob, Jakob, bring se rein! Pippa hat die Tür ins Auge gefaßt und erkannt; unwillkürlich erhebt sie sich und stürzt darauf zu, um zu entschlüpfen. Huhn vertritt ihr den Weg.

Huhn. Ich greif dich ni oa! ich rühr' dich ni oa, Madla! ock bei mir mußte . . . ock bei mir bleib'n.

Pippa. Frau Wende! Frau Wende! Sie steht und schlägt die Hände vors Gesicht.

Huhn. Angst dich ni! – 's iis woas gewest – und woas wird sein! ees stellt manchmal im Friehjohre Sprenkel uff . . . und manchmol im Winter kumma de Goldammern! Er nimmt einen tiefen Zug aus der Schnapsflasche. Jetzt steckt eine Ziege den Kopf in die Tür. Halt, Jakob, luß Liesla draußa stiehn! Se wird mir an'n Troppa Milch wird se mer ablossa! Er ergreift einen kleinen Schemel, trottet in den Hausflur und milkt die Ziege, so daß er gleichzeitig die Tür verstellt. Inzwischen scheint ein wenig mehr Fassung in das Wesen Pippas gekommen zu sein. Aus ihrem Wimmern und Ächzen spricht ohnmächtige Ergebenheit; sie empfindet den Frost wieder und wird unwillkürlich von der hellen Stelle der Wand angezogen, dem Reflex des Feuers im Ofenloch; dort scheint sie zu einigem Nachdenken aufzutauen und starrt, an der Erde kniend, in die knackende Lohe hinein.

Pippa. O santa Maria, madre di dio! O madre Maria! O santa Anna! O Maria, madre santa!

Der alte Huhn hat gemolken und tritt wiederum ein. Pippas Furcht und Angst steigt sogleich; aber er tritt zu ihr, stellt das Töpfchen mit Milch in einem Abstand von ihr hin und weicht zurück.

Huhn. Trink Ziegenmilch, kleene Goldmuhme du! Pippa sieht Huhn zweifelnd an und ermannt sich so weit, mit gieriger Hast die Milch aus dem dargebotenen Töpfchen zu trinken. Aso schloappern de Tuta au ihre Milch! Der alte Huhn bricht, mit beiden Händen seine Knie schlagend, in ein heiseres, triumphierendes Gelächter aus. Satt'rsch, nu koan se zu Kräften kumma! Damit trollt er sich, zieht hinterm Ofen ein Säckchen hervor, schüttet daraus Brotkrusten auf den Tisch, zieht eine eiserne Topfscherbe aus dem Rohr, in welcher Kartoffeln sind, und stellt sie dazu, trinkt, setzt die Schnapsflasche ebenfalls auf den Tisch und sich dahinter auf die Bank zur Mahlzeit. Ein neuer Windstoß wuchtet gegen das Haus: wild herausfordernd antwortet ihm Huhn gleichsam. Nanu koanst de kumma, for mir immerzu; versucht's, versucht's, ob se enner wird rauskriega!

Pippa. Huhn, alter Huhn, ach laß mich doch fort! ich kenn' Euch ja doch: Ihr seid Vater Huhn! Was ist denn passiert? weshalb bin ich denn hier bei Euch?

Huhn. Weil's eemal asu muß gehn ei der Welt.

Pippa. Was muß so gehen? was meint Ihr denn?

Huhn. Was eener ni hat, das muß a sich nahma!

Pippa. Was meint Ihr denn? ich versteh' Euch ja nicht!

Huhn. Riehr mich ni an, sonste derschlägt mich mei Herze! Er ist bleich geworden, zittert, atmet tief und rückt fort, weil Pippa mit den Lippen seine Hand berührt hat.

Pippa stutzt, flieht und wirft sich gegen die verschlossene Tür. Zu Hilfe! zu Hilfe!

Huhn. Nischte! dort iis kee Durchkumma! Du bleibst bei mir, und bei mir iis scheen! Du hust's bei am Kaiser . . . hätt'st du's ni scheener! ock folga mußte, folgs'm sein.

Pippa. Vater Huhn, Vater Huhn, du tust mir doch nichts?

Huhn, entschieden das Haupt schüttelnd. Und o kee andrer soll dir kee Haar krimma! kee Voater und kee Direkter nich. Hie bist du sicher, und meine biste.

Pippa. Hier soll ich für immer begraben sein?

Huhn. A Raupla, a Puppla, a Schmatterling! Harr ock: du werscht ins de Grube schunn uffmachen. – Horch, horch, der Nachtjäger kommt! duck dich! d'r Nachtjäger kommt von a Bergen! heerscht's, draußen de Kinderla wimmern schon! se stehn nackta uff a kala Sten'n im Hausflur und winseln. Sie sein tut! Weil se tut sein, ängsta se sich. Duck dich, setz d'r a Kappla uff; sonste greift a d'r mit d'r Faust in a Schoop, und gnade dir Gott, mußt du rei in a Wirbel. Kumm her, ich versteck' diich! iich wickel' dich ein! hiehr ock, wie's heult und faucht und miaut; voll'ns runder vom Dache mit da poar Strohwischen! For mir, immer runder vom Schädel d'rmit! – Nu is a vorbei: gelt, doas woar a Spuk? Iich bin a Spuk, und du bist a Spuk, de ganze Welt iis a Spuk, nischt weiter! aber eemal wird's vielleicht anderscher sein.

Es ist eine rasende Sturmwelle vorübergetobt. Pippa zeigt wieder den Ausdruck fast bewußtlosen Entsetzens. Huhn steht mitten im Zimmer, auch noch, als tiefe, unheimliche Stille herrscht. Nun wird draußen eine Stimme vernehmlich und deutliches Klopfen; zuerst an eins der vernagelten Fenster, hernach an die Scheibe, die durch einen Schatten verdunkelt wird. Huhn zuckt in sich zusammen und glotzt auf die neue Erscheinung hin.

Eine Stimme, gedämpft von außen. Huhu, schuhu! Donnerlittchen nochmal, das ist ja ein höllisches Morgenlüftchen, was? Wohnt jemand hier? Meinen allerschönsten Vergelt's Euch Gott! Tut mir nichts, so tu' ich Euch nichts! schenkt mir nur etwas heißen Kaffee und laßt mich, bis es Tag wird, vorm Ofenloch sitzen! ein ergebenst zerfrorener Handwerksbursch!

Huhn, in stierer Wut. Wer wiel hie was? wer lungert ums Häusla vom ala Huhn? was Mensch? woas Gespenst? ich wer dir forthelfa. Er ergreift einen schweren Knüppel und stürzt zur Tür hinaus.

Mit einem Seufzer schließt Pippa die Augen. Nun ist es, als ob etwas wie ein klingender Luftzug durch den finsteren Raum hauchte. Dann erscheint, während die Musik noch immer zunehmend ebbt und flutet, Michel Hellriegel in der Tür. Gespannt und vorsichtig bewegt er sich in den Lichtkreis des Kienspans, die Augen mißtrauisch forschend ins Dunkle gerichtet.

Hellriegel. Das ist ja eine ziemlich harmonische Mordspelunke! – He, Wirtschaft! Da spielt wohl ein Mehlwurm Harmonika? He, Wirtschaft! Er niest. Das scheint musikalischer Nieswurz zu sein. – Pippa niest ebenfalls. War ich das, oder war das ein anderer?

Pippa, im Halbschlaf. Hier – spielt wohl – jemand Harmonika?

Hellriegel, horchend, ohne Pippa zu sehen. Ganz recht, ein Mehlwurm, nach meiner Ansicht! –? »Sause, liebe Ninne, was raschelt im Stroh?« – Wenn nachts eine Ratte nagt, so denkt man, es ist eine Sägemühle, und wenn ein bißchen Zugluft durch eine Türspalte dringt und zwei trockne Buchenblättchen reibt, so meint man gleich, ein schönes Mädchen lispeln zu hören oder nach seinem Retter seufzen! – Michel Hellriegel, du bist sehr klug, du hörst sogar im Winter das Gras wachsen! aber ich sage dir, halte deine Siebensachen zusammen im Kopf! deine Mutter hat recht! laß dein phantastisches Gemüte nicht überlaufen wie einen Milchtopf! glaube nicht steif und fest an alles, was nicht wahr ist, und laufe nicht einem fliegenden Spinngewebe hundert Meilen und weiter nach! – Guten Abend! mein Name ist Michael Lebrecht Hellriegel! Er horcht eine Weile, es erfolgt keine Antwort. Jetzt wundert mich, daß mir niemand antwortet, weil doch'n richt'ges Feuer im Ofen is – und weil man hier eigentlich wirklich was ganz Besonderes beanspruchen muß: so sieht's hier aus! Wenn ich zum Beispiel hier einen Papagei auf dem Ofentopf sitzen sähe, der mit dem Kochlöffel eine Metzelsuppe rührt und der mich dabei anschrie: Halunke! Spitzbube! Pferdedieb!, das wäre doch eigentlich das wenigste hier. Auf'n Menschenfresser verzichte ich, oder wenn schon, dann auch 'ne verwunschene Prinzessin, die ein Unmensch verfluchter im Käfig hält; zum Beispiel das kleine, niedliche Tanzjungferchen, – halt, da fällt mir was Kluges ein: ich hab' eine Okarina gekauft! ich habe dem alten Lausepeter, der in der Schenke zum Tanz gespielt hat, für meinen letzten Taler – was auch sehr klug war! – die Okarina hier abgehandelt. Warum – weiß ich eigentlich selber nicht! vielleicht, weil der Name so seltsam klingt! oder bild' ich mir ein, daß die kleine rothaarige Nixe drinsteckt und womöglich herausfährt und tanzt, wenn man darauf spielt? – Und da will ich wahrhaftig mal den Versuch machen. Michel Hellriegel setzt die Okarina an den Mund, sieht sich forschend um und spielt. Bei den ersten Tönen erhebt sich Pippa mit geschlossenen Augen, trippelt mitten in die Stube und nimmt eine Tanzstellung ein.

Pippa. Ja, Vater, ich komme! ich bin schon hier!

Michel Hellriegel läßt die Okarina sinken und starrt mit offenem Munde, entgeistert vor Überraschung.

Hellriegel. Siehst du, Michel, das hast du von der Geschichte: jetzt bist du tatsächlich übergeschnappt!

Pippa schlägt wie erwachend die Augen auf. Ist jemand hier?

Hellriegel. Nein, nämlich außer mir niemand, wenn Sie erlauben.

Pippa. Wer spricht denn da? und wo bin ich denn?

Hellriegel. In meinem übernächtigen Kopfe!

Pippa erinnert sich Hellriegels aus der Waldschenke und fliegt ihm in die Arme. Hilf mir! hilf mir! errette mich! Hellriegel blickt starr an sich hinunter auf das herrliche, tizianblonde Haar des Köpfchens, das sich an seiner Schulter birgt. Er rührt die Arme nicht, die ihm Pippa fest umschlungen hält.

Hellriegel. Wenn ich jetzt . . . wenn ich jetzt . . . zum Beispiel: ich setze den Fall, und ich hätte jetzt meine Arme frei, so würde ich jetzt, trotzdem es die Mutter nicht gerne sieht, ein kurzes Memorial in mein Büchelchen setzen, möglicherweise in Versen sogar. – Aber ich kann meine Hände nicht frei kriegen! Die Phantasie hat mich eingeschnürt! sie hat mich auf eine – hol' mich der Teufel! –, eine verwünscht eigentümliche Art und Weise festgeschnürt, daß mir das Herz im Halse bumpert, und vorn einen blonden Knoten gemacht!

Pippa. Hilf mir, hilf mir! befreie mich! errette mich von dem alten Untier und Scheusal!

Hellriegel. Wie heißt du denn?

Pippa. Pippa!

Hellriegel. Richtig, jawohl. Den Kerl mit den Reitstiefeln hört' ich so rufen. Dann war der Kerl fort: er drückte sich. Als sie den welschen Hund massakrierten, wollte er lieber woanders sein. Und auch du warst fort, als ich wiederkam . . . das heißt wir, mit dem sterbenden Italiener, wenigstens unten fand ich dich nicht, und in sein Schlafquartier stieg ich nicht mit. – Ich hätte ihn gern noch nach dir gefragt, aber er hatte sein Italienisch vergessen! –

Pippa. Komm fort, komm hier fort! Ach, verlaß mich nicht!

Hellriegel. Nein! Da magst du ganz ruhig sein, wir zwei beiden verlassen einander nicht mehr. Wer einmal, wie ich, einen Vogel hat, der läßt ihn auch nicht so leicht wieder fortfliegen. Also, Pippa, setz dich, beruhige dich! und wir wollen die Sachlage nun mal ernst nehmen! als wenn keine Schraube nicht locker wär'! Er macht sich sanft los, faßt Pippas kleinen Finger mit ritterlicher Ziererei und Bescheidenheit zwischen Zeigefinger und Daumen und führt sie an ein Schemelchen im Lichtbereich des Ofens, auf das sie sich niederläßt. – Vor Pippa stehend, mit phantastischem Gestus. Also, ein Drache hat dich geraubt – ich dachte mir das sofort in der Waldschenke –, dem welschen Zauberer wegstibitzt, und weil ich ein fahrender Künstler bin, stand es sogleich fest bei mir, dich zu befreien, und sofort rannte ich auch ganz ziellos ins Blaue.

Pippa. Wo kamst du denn her? Wer bist du denn?

Hellriegel. Ein Sohn der verwitweten Obstfrau Hellriegel.

Pippa. Und woher kommst du?

Hellriegel. Aus dem großen Wurstkessel unseres Herrn!

Pippa lacht herzlich. Aber du sprichst ja so sonderbar!

Hellriegel. Darin hab' ich mich immer ausgezeichnet.

Pippa. Aber sieh doch, ich bin doch von Fleisch und Blut! und der alte wahnsinnige Huhn ist ein alter, entlassener Glasbläser, weiter nichts; davon hat er den Kropf doch und seine Ballonbacken; feurige Drachen gibt es doch nicht!

Hellriegel. Gott soll mich bewahren! warum denn nicht?

Pippa. Schnell! bring mich zu Mutter Wende zurück! komm mit mir mit: ich kenne den Weg zur Rotwasserschenke. Ich führe dich! wir verirren uns nicht! Da Hellriegel ablehnend den Kopf schüttelt. Oder willst du mich wirklich wieder allein lassen?

Hellriegel, heftig verneinend. Meine Okarina verkaufe ich nicht!

Pippa lacht, schmollt, drängt sich ängstlich an ihn. Was du nur mit der Okarina hast? warum willst du denn kein vernünftiges Wort sprechen? Du redest ja immer dummes Zeug! Du bist ja so dumm, signore Hellriegel! Ihn innig küssend, halb weinerlich. Ich weiß ja gar nicht, wie dumm du bist!

Hellriegel. Halt! nun geht mir ein Seifensieder auf! Er nimmt sie beim Kopf, sieht nahe in ihre Augen und drückt seine Lippen mit ruhigem Entschluß lange und inbrünstig in die ihren. Dumm machen läßt sich der Michel nicht! Ohne sich loszulassen, sehen beide einander betroffen und einigermaßen unsicher an. Es geht etwas in mir vor, kleine Pippa! eine sonderbare Veränderung!

Pippa. Ach, guter . . .

Hellriegel, ergänzend. Michel.

Pippa. Michel, was tust du denn?

Hellriegel. Ich bin selbst ganz verwirrt! bitte, erlaß mir die Antwort! Bist du nicht böse deswegen?

Pippa. Nein.

Hellriegel. Könnten wir das dann vielleicht gleich noch mal machen?

Pippa. Warum denn?

Hellriegel. Weil es so einfach ist! – es ist so einfach und ist so verrückt und so . . . so allerliebst, zum Unsinnigwerden.

Pippa. Ich denke, Michel, das bist du schon.

Hellriegel, sich hinterm Ohr kratzend. Wenn sich einer bloß darauf verlassen könnte! ich sage, es ist kein Verlaß in der Welt! – Weißt du, da kommt mir mal wieder'n Einfall! – nehmen wir uns mal richtig Zeit! – gehen wir der Sache mal auf den Grund! komm, setz dich hierher, hier neben mich. Also erstlich ist das hier eine Hand! . . . erlaube mal, kommen wir gleich mal zur Hauptsache: ob eine Feder im Uhrwerk ist? Er behorcht ihre Brust, wie ein Arzt. Du bist ja lebendig! Du hast ja ein Herz, Pippa!

Pippa. Aber, Michel, zweifelst du denn daran? –

Hellriegel. Nein, Pippa! – doch wenn du lebendig bist – dann muß ich erst mal zu Atem kommen! Wirklich nach Atem ringend, tritt er von ihr zurück.

Pippa. Michel, wir haben ja keine Zeit! hör doch mal, wie es draußen schnauft und wer immer herum um die Hütte trampelt! schon dreimal ist er am Fenster vorbei. Er schlägt dich tot, Michel, wenn er uns findet. Siehst du, da stiert er wieder herein!

Hellriegel. O du armes Prinzeßchen Fürchtemich! Ei, du kennst meiner Mutter Sohn noch nicht! Den alten Gorilla laß dich nicht anfechten! wenn du willst, fliegt ihm ein Stiefel an den Kopf!

Pippa. Michel, nein, Michel, tu das nicht!

Hellriegel. Gewiß! – oder fangen wir meinethalben das neue Leben auch anders an! richten wir uns mal erst ganz gelassen und nüchtern ein in der Welt! klammern wir uns an die Wirklichkeit, Pippa! gelt? du an mich und ich an dich! Doch nein: das wag' ich kaum auszusprechen, weil du ja nur, wie eine Blüte auf biegsamem Stengel, so duftig und so zerbrechlich bist! genug, Kind, keine Phantasterei! Nimmt sein Ränzel ab und schnürt es auf. Hier im Ränzel ist ein Etui. Paß auf, der Michel Hellriegel hat eine reelle Erbschaft an Mutterwitz für alle Fälle mit auf die Welt gebracht. Er hält ein kleines Kästchen hin. Praktisch! hier drin sind praktische Dinge! erstlich hier: das ist ein verzauberter Zahnstocher! siehst du: gestaltet wie ein Schwert; damit kannst du Riesen und Drachen totstechen! – Hier im Fläschchen hab' ich ein Elixier, und davon wollen wir dann dem Unflat was eintränken; ein sogenannter Schlaftrunk ist das, wider Riesen und Zauberer unentbehrlich! – Hier dem kleinen Zwirnsknäuel sieht man's nicht an, aber wenn du das eine Ende hier festbindest, so purzelt das Röllchen sogleich vor dir hin und hüpft dir voran, wie ein weißes Mäuschen, und gehst du nur immer dem Game nach, so kommst du direkt ins Gelobte Land. – Noch ein kleines Puppentischchen ist hier: aber das, Pippa, hat nicht viel zu bedeuten: das ist bloß ein Tischlein-deck-dich. Gelt, ich bin ein Kerl, und du hast nun Zutrauen?

Pippa. Michel, ich seh' ja das alles nicht!

Hellriegel. Wart nur, dann muß ich dir erst noch den Star stechen!

Pippa. Ich glaub's ja! versteck dich, der Alte kommt!

Hellriegel. Sag mal, wo bist du geboren, Pippa?

Pippa. Ich glaube, in einer Wasserstadt!

Hellriegel. Siehst du, das hab' ich mir gleich gedacht! War es dort auch so pfiffig wie hier? und waren dort auch meistens Wolken am Himmel?

Pippa. Nie, Michel, hab' ich dort eine gesehen, und Tag für Tag scheint die liebe Sonne!

Hellriegel. Also! siehst du wohl, wie du bist! denkst du, die Mutter wollte das glauben? – Jetzt sage du mir mal: glaubst du an mich?

Pippa. Zehntausendmal, Michel, in allen Dingen.

Hellriegel. Schön! dann wollen wir übers Gebirge gehen – und das ist eigentlich bloß eine Kleinigkeit! ich kenne hier jeden Weg und Steg! – und drüben fängt gleich der Frühling an!

Pippa. O no, no, no! ich kann nicht mit! mio padre è tanto cattivo! er sperrt mich wieder drei Tage ein und gibt mir nur Wasser und Brot zu essen!

Hellriegel. Nun, Pippa, dein Vater ist jetzt recht umgänglich! seine Art und Weise ist jetzt recht gesetzt! er ist auf erstaunliche Weise demütig! Es hat mich gewundert, wie duldsam er ist! ganz kaltblütig! gar nicht wie ein Italiener: sanft! er tut keiner Fliege mehr was – verstehst du, was ich eigentlich sagen will, kleine Pippa? – Dein Vater hat so lange gespielt und gewonnen, bis er verloren hat. Am Ende verliert schließlich jeder, Pippa! nämlich, sozusagen – dein Vater ist tot.

Pippa, indem sie Michel Hellriegel mehr lachend als weinend um den Hals fliegt. Ach, so hab' ich ja niemand mehr in der Welt! niemand als dich!

Hellriegel. Das ist auch genug, Pippa! ich verkaufe mich dir mit Haut und Knochen! vom Kopf bis zur Sohle, wie ich bin! – und heißa, heißa, nun wollen wir loswandern!

Pippa. Du nimmst mich mit, du verläßt mich nicht?

Hellriegel. Ich dich verlassen? ich dich nicht mitnehmen? . . . und jetzt führ' ich dich, jetzt verlaß dich auf mich! Du sollst deinen Fuß nicht an einen Stein stoßen! – Horch, wie das Glas an den Bergfichten klingt! Hörst du? die langen Zapfen klirren. Es ist kurz vor Tage, doch bitter kalt. Ich wickle dich ein, ich trage dich! wir wärmen eins das andre, nicht? und du sollst erstaunen, wie schnell wir fortkommen! Es kriecht schon ein bißchen Licht herein! sieh dir mal meine Fingerspitze an: da ist schon ein bißchen Sonne dran. Die kann man essen! die muß man ablecken! da steht man nicht ab und behält heiß Blut! – Hörst du auch Vögel singen, Pippa?

Pippa. Ja, Michel!

Hellriegel. Ziep, ziep! das kann eine Maus, eine Goldammer oder eine Türangel sein! – einerlei! alle merken was! das alte Haus knistert durch und durch! manchmal wird mir gradezu ganz erhaben zumut: wenn das ungeheure Ereignis kommt und der Lichtozean aus dem heißen, goldenen Krug sich ergießt! –

Pippa. Michel, hörst du nicht Stimmen rufen?

Hellriegel. Nein, eine Stimme hör' ich nur! so, als wenn ein Stier auf der Weide brüllt!

Pippa. Der alte Huhn ist es! schauerlich!

Hellriegel. Es ist aber seltsam, was er ruft!

Pippa. Dort steht er, Michel, siehst du ihn nicht?

Hellriegel, mit Pippa am Fenster. Ja! das scheint ja ein furchtbarer Waldgott zu sein! – den Bart und die Wimpern voller Eiszapfen, die Hände gespreizt emporgestreckt: so steht er da und rührt sich nicht – die geschlossenen Augen nach Osten gerichtet!

Pippa. Jetzt bestrahlt ihn das erste Morgenlicht.

Hellriegel. Und er schreit wieder!

Pippa. Verstehst du denn, was er ruft?

Hellriegel. Es klang wie . . . es klingt wie . . . wie . . . eine Verkündigung.

Es wird ein eigentümlicher, langsam und mächtig anschwellender Ruf hörbar, den der alte Huhn ausstößt und der wie Jumalaï! klingt.

Hellriegel. Wie Ju . . . Jumalaï klingt es mir.

Pippa. Jumalaï? was bedeutet denn das?

Hellriegel. Ganz bestimmt, kleine Pippa, weiß ich das nicht. Aber wie mir deucht, heißt es: Freude für alle! Der Ruf Jumalaï wiederholt sich stärker, während es heller im Zimmer wird.

Pippa. Weinst du, Michel?

Hellriegel. Komm, kleine Pippa, du täuschest dich!

Innig verschlungen bewegen sich Pippa und Hellriegel zur Tür hinaus. Die Szene schließt sich, und Musik, die mit dem Licht auf Hellriegels Finger begonnen hat, schwillt an und schildert, anwachsend, den mächtigen Aufgang der Wintersonne.

 


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