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Lange steh' ich am Tor und horche, ob nahende Schritte
nicht die Hoffnung erwecken, das stumme Bereich zu gewinnen.
Ist es gleich ein Bereich der Vergessenheit, wo auf dem Kiesweg
Gräser wuchern, mich lockt's, dieses Reich. Unter gilbenden Wipfeln
langsam wandelnd, auch ruhend auf goldenem Teppich des Herbsttags,
sinnen möcht' ich, dem Heute entrückt, und dem Damals gehören.
Damals! Köstliches Wort! – Doch wahrhaftig, jetzt naht sich der alte
Gärtner. Er, der ergraut, doch als Letzter zurückblieb von damals,
als noch Mary und ihre drei Schwestern den Garten belebten,
lichte Blüten der Jugend, vier wandelnde Blumen. Und solche
zwar, die silbern zu lachen vermochten und gleichsam mit Lachen
dieses liebliche Reich von Wiesen und Hainen regierten.
»Ach, ist's möglich? Ihr seid's!«sprach mit mäßigem Staunen der Gärtner.
»Nun, ich wage etwas, sofern ich den Weg in den Park Euch
nicht verwehre. Doch tretet nur ein! Und ich nehme es auf mich,
denn ich kenne Euch ja. Meine Herrschaft ist Gott sei Dank auswärts.« –
»Bester«, sprach ich, »wie waren die Zeiten doch schön, als das Kleeblatt
hier noch herrschte!« – Er drauf: »Ja, da waren wir jung, Herr, das ist es.«
Und er wandte sich ab. »Verzeiht, mich erwartet die Arbeit.
Zwar, ich sollte Euch führen. So will's bei Besuchen der Brotherr.
Aber geht nur allein! Ich verantworte das. Und Ihr kennt ja
das Gelände genugsam und werdet Euch schwerlich verlaufen.« –
»Hört!« begann ich. »Vielleicht, ich suche wohl etwa das Weite
irgendwo an der Mauer, die vielfach ja niedrig und morsch ist,
und dann würdet Ihr mich vergeblich am Tore erwarten:
deshalb nehmt meinen Obolos jetzt!« Er empfing ihn mit Sträuben.
Danach seufzte er auf: »Es sind vierzig Jahre vergangen,
seit Ihr hier, guter Herr, Eure glücklichen Tage verlebtet.
Ich bin immer noch hier. Ihr, was habt Ihr erlebt! Ich dagegen
wurzle hier wie ein Baum. Und sooft ich auch über die Mauer
recht verlänglich geblickt, guter Herr, niemand wollte mir helfen
in die Welt, in das Leben hinaus. Nun, so lassen wir's gut sein.«
Und er ging. – Also blickt' ich ihm nach, bis ich endlich allein war
und die große Magie des geheiligten Ortes mich einspann.
Freilich seltsam, so dacht' ich, was über dir stand die Jahrzehnte,
einer seligen Insel vergleichbar im himmlischen Goldlicht,
ein Gefängnis nur war es für ihn. – Und es rauschten die Wipfel.

Ist es wohl noch derselbige Kies, den dereinst meine Sohlen,
siebzehnjährig, berührt? Denn ich schreite den Weg, den ich erstmals
schritt vom Tore hinan zu dem elbtalbeherrschenden Landhaus.
Ach, du bist arg vergrast, guter Weg, und die Hacke des Gärtners
hat seit Jahren nicht mehr belästigt dein wucherndes Unkraut.
Trotzdem forsch' ich, den Rücken gebeugt und mit schmerzlicher Neugier,
töricht jetzt nach der Spur, die ein jugendlich schwebender Fuß trat –
denn er schwebte! Wofern er indessen nicht schwebte und schwerer
auch gewesen als Blei, längst wär' er verweht und verschwunden.
Ist es wohl noch derselbige Kies, den dereinst meine Sohle,
siebzehnjährig, berührt oder wenigstens schwebend gestreift hat?
Und ich prüfe davon eine Handvoll mit törichter Sorgfalt.
Nein! Kein Steinchen ist hier geblieben von damals, kein Sandkorn.
Schutt ist's, und er beschmutzt meine Hand. Damals waren's Juwelen.
Wer den leuchtenden Weg der Götter hinwandelt am Himmel,
jene Straße, mit Sternen bestreut, er allein mag ermessen,
wie du damals dem Jüngling geleuchtet, verwachsener Kiesweg.
und mit welcher Musik im Schreiten sein Ohr du gespeiset.

Und warum dieses alles? Warum? Oh, dies ist ein Geheimnis
allerzartester Art. So gärt in der Knospe der Nektar,
eh sie springt, und erfüllt mit vorahnender Süße die Seele.
So bereitet in purpurnem Dunkel sein Bette sich Eros;
bald wird drüber aus lauterem Gold sich sein Tempel erheben.

Herrlich prunkte der Herbst mit der Glut seines Laubes und mehr noch
seiner köstlichen Frucht, als ich damals zum Tore hereintrat
und, von Mary begrüßt, mit ihr diesen Kiesweg hinanschritt.
Vor uns wandelten her ihre Schwestern und meine zwo Brüder.
Heinz, der Älteste, hatte am Arme die Braut, die Vermählung
stand bevor und der Hochzeitstag auf dem lieblichen Landsitz.
Auch der zweite der Brüder, Erasmus, er hatte sein Liebchen
schon gewählt insgeheim und sie ihn. Das Geheimnis bestand nur
für die Alten, nicht aber für uns, die durch Jugend Verschwornen.
Und so lachten wir denn, als nach kurzem im Dickicht des Weges
Melanie und Erasmus im Laube des Parks sich verloren.

Horch! Gelächter! Ich lege die Hand an die Muschel des Ohres –
eben ist es verhallt. Verhallt: wie lastet dies Wort doch
schwer auf mir. Oder nicht? Nein, verhallen wird nimmer das Echo
dieses Lachens in mir, und es ist nicht verhallt bis zur Stunde.
Oh, verleumde mir keiner das Glück, wenn es wahrhaft uns anblickt,
unverminderten Glanzes bewahrt es der Spiegel der Seele.
Erst wenn diesen der Tod zerschlägt, ist sein Schatten verloschen.
Leicht, viel leichter als Glück, o ihr Freunde, vergißt sich das Unglück.

Zeit! Was ist denn die Zeit? Es ticket die Uhr deines Pulses
sechzigmal, und du achtest es nicht. Fünf mal sechzig der Schläge
tut sie kaum, und du hast schon die Stufen erreicht vor der Haustür,
bist vom Tore des Gartens herauf schon bis hierher gelanget.
Ahntest du auf der Schwelle, mein Freund, was soeben geschehn war,
was die kurze Minute enthielt, was die wenigen Tritte,
die du eben getan, im Bereich deines Lebens bedeuten?
Schon, Freund, bist du am Ziel, und nie wirst du je wieder im Leben
gleichen Pulses und gleichen Schrittes den nämlichen Weg gehn.
Hungern wird deine Seele nach ihm, und es wird deine Sehnsucht
ungezählte Male ihn schreiten im Geist, wie du's heut tust.
Du? Wen meinst du mit Du, meine raunende Seele? Du meinst ihn
selber, jenen, der hier seiner eigenen Fährte sich nachschleicht
und der Fährte des Mädchens, das damals zur Rechten ihm hinschritt.

Mary! – Wußten wir nicht sogleich und sofort, wer wir waren,
ob wir niemals uns auch bis dahin im Leben begegnet?
War es nötig, auch nur ein Wort des Erkennens zu äußern?
Nein! Seit Ewigkeit war uns gefallen das Los, und wir wußten's
ohne Wort, ohne Blick. Und zitternd im Hauch der Bestimmung,
die uns wieder emporgeführt aus dem Dunkel der Urnacht,
unverbrüchlich getreu dem Gesetz, schritten beide wir aufwärts,
ganz vereinigt und eins, still schwelgend im seligsten Einklang.

Freund, daß niemand es merk', wer wir sind! also schien sie zu sagen,
schwarzer Wimper, den Blick zu Boden gerichtet. Geliebter,
sei behutsam, verrate mich nicht, und verrate auch dich nicht,
daß unheiliger Blick nicht entehre das sel'ge Geheimnis,
nicht entweihe das Wunder der Wunder, in dem wir jetzt beben
und erschauern, wie unter dem Taue des Morgens der Grashalm.
Er erschrickt, so wie wir, weil er plötzlich ein Lichtdiadem trägt,
Sonnen gleichsam der sprühenden Glut, der noch eben in Nacht lag.
Freund, verbirg ihn, verbirg mir den Schrecken! Wir sind ja doch fremd hier
unter Fremden erwacht, die nichts ahnen von dem, was geschehn ist
an uns beiden und welcherlei Stunde uns eben beschert war. –
Nun? Und ich? Mich umkreiste die Welt, und ich schien mir erblindet.

Wer dich damals erblickt, o Geliebte, ihn hätte ein leichtes
Schaudern etwa gestreift, denn es lag eine wächserne Blässe
in dem süßen Oval des Gesichts, so als hättest du lange
unterirdisch gelebt in dem Reiche der Nacht bei den Toten.
Und getaucht in dieselbige Nacht schien dein düsteres Haupthaar.
Schwarz umspannte das Kleid deine Glieder, in zartester Fülle
blühend, doch ohne Blut, wie es schien. Trotzdem schritt keine Tote
neben mir, nein, leicht wiegenden Ganges des holdesten Lebens
heiter lachendes Bild. Heute nenn' ich dich Persephoneia,
nun du wieder dort weilst, dort unten, von wannen du herkamst.
Denn sie gaben dich nie ganz frei, jene unteren Mächte,
auch solange du hier und im Lichte der Sonne gewohnt hast.

Wieder bin ich allein im verwilderten Park. Meine Seele
sinnt und mühet sich ab an dem dunklen Geheimnis des Daseins.
Warum ist denn, dem Damals so nah, dieses Heute kein Damals?
Und ich schreite den köstlichen Weg: heut erscheint er mir spukhaft,
Stimmen flüstern um mich. Es sind nicht die Stimmen Lebend'ger.
Längst schon sind sie dahin, welche damals hier oben sich fanden.

Vor mir ragt nun das Haus mit den wuchtigen Wänden, des hohen
Daches Ziegel geschwärzt. Das Ganze ein mächtiger Steinblock,
drohend fast, mit geschlossenen Läden, geschlagen mit Blindheit.
Damals lachte das Haus, drang Freude aus jeglichem Fenster,
unschuldsvolle Musik des Glückes. Es luden zur Freude
ein die Rufe des Spechts und die fliegenden Sprünge des Eichhorns
und die Stufen im goldig brennenden Teppich des Weinlaubs
und die Traube, blauschwarz, am Spalier der Mauer, die nun so
kerkerhaft und verödet und kahl meinen sinnenden Blick hemmt.

Plötzlich bin ich versetzt in die oberste Kammer des Hauses,
die mein älterer Bruder bewohnet und ich. Durch das Fenster
flutet leuchtenden Dämmers die Nacht und auf unsre zwei Betten,
drin wir liegen und, schlaflos vor Glück, uns im stillen beraten.

»Lebrecht«, spricht eine Stimme zu mir, »es bleibt leider bestehen,
hat es mir meine Liebste doch heute aufs klarste bestätigt:
Mary liebt, und sie wird geliebt, und den Glücklichen kennt man,
den sie liebt, und du hast es ganz richtig bemerkt, wie die Schwestern
ihre Gläser bei Tisch erhoben und ihres berührten,
ohne Worte. Allein, wem es galt, war nicht schwer zu erraten.«
Der so sprach, war Erasmus. Ich seufzte. Ich seufzte gewaltig.
Schrecklich war, was ich da erfuhr und in Wahrheit schon wußte.
Doch was wurde aus mir, wenn es nicht mehr erlaubt war zu zweifeln
am Verlust eines Dings, das ich freilich auch niemals besessen.
Wühlst du noch in der nagenden Wunde und drückest den Stachel,
o Erasmus, noch tiefer hinein? Ja wahrhaftig, du tust es:
»Köstlich ist dies Geschöpf! Und der Selige, welchem sie zufällt«,
spricht der Bruder, »er ahnet noch nicht, welcher Schatz ihm zuteil wird.
O wie schön, o wie schön ist dies Mädchen, wie selten, wie seltsam,
einer Blume vergleichbar, gebrochen auf fremdem Planeten!
Und wie gut, o wie gut ist dies Mädchen! Wie fest ist ihr Wille,
nur das Gute zu tun, nur dem Großen und Guten zu leben.«
Leinwand zwischen die Lippen gepreßt, in den Knoten verbissen,
ächz' ich auf. Und: »Wie? sagtest du was?« also fragt mich mein Bruder.
Keine Antwort erfolgt. Und so schwärmet er fort, zur Verzückung
fast sich steigernd. Mir ist, als ringe im Herzen des Bruders
das Beschloßne und schon Entschiedne, als wär' es noch immer
unentschieden, mit einer Neigung, die lange besiegt schien.
Haß erhebt sich in mir im Gedanken, es habe Erasmus
seine Blicke zu heben gewagt, noch bevor Melanie ihn
band, zu Mary. Ich hasse den Bruder und möchte ihn würgen
wiederum, wenn ich denke, er habe sie können verschmähen.
Ich verbeiße den Haß und die Wut und die nackte Verzweiflung,
und so findet der Schlaf mich und macht meine Seele bewußtlos.
Naß von Tränen ist morgens mein Kissen, doch lacht meine Seele
wiederum wie die Sonne des lustig erbrausenden Elbtals.
Und sie hebt sich und springt mit dem Körper zugleich in das Dasein.
Heiter, heiterer wahrlich als Tage des blühenden Frühlings,
reihte Tag sich an Tag in dieser goldleuchtenden Herbstzeit.
Niemals trank so viel Gold meine goldene Jugend wie damals,
lautres Gold, in sich ein. Und nimmermehr kann eine Goldfracht,
acht Provinzen zu kaufen genug, mir den Goldtrunk von damals,
dargeboten dafür, erneuern. Und dürft' ich den Becher
nochmals heben zum Rand der Lippen – gern hätte wohl damals
in der Tasche mein Gröschlein geklimpert: nur daß es allein war!
und es böte mir wer den Goldschatz der Alten und Neuen
Welt, es würde der Trunk, dieser köstlichste Trunk, mir nicht feil sein.

Es durchwandelten wohl gemeinsam die alten und jungen
Hochzeitsgäste den Park, seine ebnen und steilen Gebiete.
Neidisch sah ich es an, wenn Erasmus der klopfenden Herzens
langsam schreitenden Mary ergeben und hilfreich den Arm bot.
Warum durfte er denn das tun? Und ich durfte es nicht tun
oder hatte den Mut nicht dazu. Oh, wie feig macht die Liebe!
Wut ergriff mich und Gram dieserhalb: denn so war denn ein andrer
so von Liebe verzehrt und im Grunde so eins mit der bleichen,
lilienhaften Gestalt. O du chthonische Lilie des Abgrunds,
Mary! War es nicht so, als hätte dich nur wider Willen
Aides aus der Nacht entlassen und gönne das Leben
dir im Lichte durchaus nicht und habe dich deshalb mit dunklen,
schweren Schleiern gebleicht und mit chthonischem Gifte vergiftet?
Nicht ein Tropfen schien in dir zu rollen lebendigen Purpurs.
So als ob um das Herz der entlassenen Persephoneia
sich die Hand des Gemahls gekrallet, gleichwie um ein Vöglein
die des Voglers, so zuckte dein Herz und bemühte sich fruchtlos
aufbegehrend, sein Haus und sein kaltes Gefängnis zu sprengen.
Dennoch: Mut! Obgleich heute noch feig, schon erfühl' ich die Allmacht
sich entwinden dem Schoß meiner Liebe. Es soll dich kein Gott mehr
martern dürfen. Ich will's und ich kann's ihm, ich weiß es, verwehren.
Doppelt strömen die Kräfte der Liebe, wo das in Gefahr ist,
was wir lieben, und leidet und ist eines Retters bedürftig.

Trotzdem, ob auch dein Herz mit ringenden Schlägen um Freiheit
kämpfte, Mary, doch wandeltest du durch den Himmel der Jugend.
Was ist Jugend? Sie ist, was die Götter sich ewig bewahren.
Wenig sag' ich damit: was bewahren die Götter sich ewig?
Etwa Freude? Gewiß! Also Freude ist Jugend und Jugend
Freude! Wiederum stock' ich. Was ist denn nun Freude? Ein Schwelgen
ist's in Schönheit! Da haben wir Jugend und Freude und Schönheit,
die, dreieinig, das Herz des erwachenden Menschen umflechten.
Jugend kennt keine Last, und es trägt nicht an Jahren die Freude.
Schönheit blüht, und sie weiß von der kommenden Schwere der Frucht nichts.
All ihr Hoffen ist süß wie der Staub, den von Blüte zu Blüte
Lufthauch trägt, es ersehnet, ob noch so süß, nicht das Fruchtfleisch,
sondern höheres, höchstes Erblühn in glückseligster Fernheit.
Unschuld: plötzlich wie kommt mir das Wort? Es umfasset die Dreiheit,
scheint mir. Schuld ist das Wort, ist die Schrift, das Erinnern an gestern,
ist das Wissen von gestern und heut und noch mehr das von morgen,
das Begehren, das Wollen, die Gier: und dawider die Unschuld
ist das Sein, das Vertrauen zum Sein, ist die Freude, die Wonne
nur zu sein und im Sein. Wievielmal sie verloren, die Dreiheit,
Liebe schenkt sie zurück, und nun gar, was tut Liebe, sofern sie
da ist und übers Sein des Augenblicks treibt jene Blume,
ohne deren erblitzenden Tau selbst die Engel verschmachten.

Einsam bin ich. Um mich ist Stille. Nur manchmal ein Rascheln,
das mein sinnender Schritt im Golde gefallener Blätter,
das sonst lautlos ihn macht, hervorbringt. Erblickte mich jemand
hier, was sähe er mehr als ein Bildnis vertrockneten Alters,
das die eigene Jugend vergaß, von der Jugend vergessen.
Und doch würde er irren, der Späher. Zwar zeigt mir der Spiegel
weißes Haar und ein altes Gesicht: ein Gesicht, das mir fremd ist.
Ohne Spiegel indes noch bin ich der Knabe von einstmals,
so hur freilich erkannt von den Schatten der einstigen Dinge.
Diese blieben mir treu, die Schatten, was sonst auch dahinschwand.
Und so wart' ich auf dich, holde Mary. Es springt bis zum Halse
mir das Herz, denn es fällt das Portal jetzt ins Schloß, und der Sand knirscht.

Mary naht, und es knirschen die rötlichen Körnchen des Sandes
unterm schwebenden Gang der Geliebten, es löst sich die Ferse
jedesmal wie befreit von der Erde, es schwebt auf dem Ballen
leicht und frei einen Augenblick lang die Gestalt, und es scheint fast
so bei jeglichem Schritt, als sei er ein Anlauf zum Fluge.
Lautlos lächelt der Mund, und das lächelnde Grübchen Giocondas,
es verwirrt mir den Sinn. Aus welcherlei Stoffen bestehst du?
Ganz vergeblich durchforschet mein Geist nach dem Worte den Sprachschatz,
das den himmlischen Stoff deines Körpers mir möchte bezeichnen.
Götter essen ambrosische Speise und trinken den Nektar,
und ich denke, es gibt eine Sprache der seligen Götter
und in ihr dann ein Wort, um das selige Fleisch ihrer Leiber
zu benennen. O wüßt' ich dies Wort, um den Leib der Geliebten,
den olympischen Stoff, daraus er bestehet, zu zeichnen.
Alle Zauber der Allmacht enthält er. Allmächtige Schönheit
schlägt aus ihm, und sie macht deine staunende Seele erzittern.
Er umschließt, ganz Magie, was dein frühestes Lächeln geahnt hat,
als du, kaum erst geboren, den Mund im Erinnern verzogest
an die himmlischen Quellen und Gärten olympischer Herkunft.
Jede Süße von jeglicher Frucht und von jeglicher Sonne,
die jemalen und je und wo immer auch Früchte gereift hat,
ist in ihm. Er ist Träger des Glückes auf jeglichem Erdball,
Inbegriff aller Wonnen der Welt und jedweder Verzückung.

»Lebrecht«, sagt sie, »du hast dies Gedichtchen geschrieben. Ich soll es
memorieren, so hast du's gewollt. Polterabend ist morgen,
also dränget am Ende die Zeit. Muß ich es deklamieren?
Wie du meinst: wenn es übel gelingt, lieber Schwager, bist du schuld.
Doch wir wollen das mögliche tun, und so nimm ins Gebet mich
bitte, höre mich ab, korrigiere mich, springe gehörig
mit mir um, bis ich alles so spreche, wie du dir's gedacht hast!«
Ein Gewölbe ist eingebaut in das Innre des Berges,
durch ein niedriges Pförtchen mit farbigen Scheiben betretbar.
Der musivische Grund zeigt geflügelte Knäblein, Eroten.
Solche finden sich auch gemalt überm Simse der Kuppel,
feiste Puttos in rosigem Fleisch, sowohl Knäblein als Mägdlein.
Sie verrichten ringsum die Geschäfte des Winzers. Der Weinstock
wird der Trauben beraubt, diese werden gekeltert, es reichen
dir die lüsternen Kinder zuletzt im Pokale den Trunk dar,
glühend rot. Und hier ist's, im Verborgnen, im Innern der Erde,
wo die liebliche Mary, errötend zu Purpur, den Mantel
abwirft und sich als Genius zeigt, der sie morgen zu sein hat.
Griechisch über dem Scheitel geknotet das herrliche Haupthaar,
frei die Schultern und frei der Hals, so steht Mary nun vor mir.
Dünn umgibt sie und florhafter Weiße die kurze Gewandung,
die, von goldenem Gürtel gerafft, an die Hüften sich anschließt.
Frei beinahe das Knie, die atlassenen Schuhe mit Bändern
aus dem nämlichen Stoff und weiß bis zum Kniee gebunden.
Also steht sie vor mir, die Geliebte, halb Knabe, halb Mädchen,
breite Reife von Gold um den Oberarm, um die Gelenke
blitzen Reife von dunklen Rubinen, es blitzen Brillanten
an den Fingern der zärtlichen Hand. Oh, wie warst du berückend,
Mary, und wie so schwül und gefährlich ward plötzlich die Grotte,
Muschelgrotte genannt von dem Kreise gewaltiger Muscheln,
die am Fuße der Rundwand den Mosaikgrund umgaben,
rosenfarbenen Fleisches, verschwiegener Inbrunst sich öffnend.
Nun, ich lache. Die Vision, das Gesicht ist verschwunden,
und ich finde mich wieder als den, der sein einstiges Selbst sucht.
Ach! Wo bin ich? Hier ist ein verwahrloster Weg, ganz vergraset,
fast zerbröckelt die niedrigen Pfeiler, die einstmals Girlanden
von Jelängerjelieber und Wein und von Rosen getragen.
Alles wüst und verwüstet, verwachsen und regellos wuchernd.
Doch ich weiß, dieser Weg, er geleitet noch immer zur Grotte,
und so mach' ich mich auf, den geheiligten Ort zu besuchen.
Und da ist sie, die Tür, die im grünen Gestrüppe sich auftut.
Mehr als vier der Jahrzehnte vergingen, und noch sind die bunten
Scheiben ganz, und nicht eine von ihnen entstellet ein Sprung nur.
Leise öffn' ich den Fels, durch das efeuumwucherte Schlupfloch
tret' ich scheu in die Nacht dieser Höhlung, die heut ja ein Grab ist.
Alles ist wie dereinst. Es umgeben noch immer die Muscheln
rings am Boden die Wand mit den rosenfarb-fleischigen Lippen,
so, ein wenig verblaßt, das Gesimse der Kuppel die Puttos,
lüsternd blickend aus wissenden Augen, teils blinzelnd geöffnet,
teils mit weitem kindlichem Blick. O wie eigen, wie seltsam!
Wie ein Toter ist dieses Gewölb', der hervor aus dem Nichts tritt,
lebt, um stumm zu erkennen, mir gilt sein lebendiges Dasein.
Schauer wehen mich an, und ein seltsames Grausen ergreift mich.
Fröstelnd schließ' ich die Tür nun von innen. Was gibt mir den Mut wohl,
dies zu tun? Ja, was lockt mich dazu? Ein verrostetes Tischchen
ist das alte von einst und zwei eiserne Stühle die gleichen
deren einer den Mantel getragen, den Mary einst abwarf.
Leise nehme ich Platz und fast furchtsam. Es haben im Winkel
dicke Hummeln – ich höre ihr Brummen – wahrscheinlich das Schlupfloch.
Tropfen wandern die Wölbung herab oder fallen hei unter,
auch wohl mir auf die Hand. Warum denk' ich an Tränen? Ich weiß nicht.
Und ich harre. Wo ist sie geblieben, die Zeit, seit den Tagen
Marys? Gilt sie mir jetzt doch nicht mehr, als der Traum einer Nacht gilt.
Und ich schwör's, daß sogleich Mary selbst durch die Glastür hereintritt.
Denn wir haben uns ja am gestrigen Abend versprochen,
fortzusetzen die Einstudierung des harmlosen Festspiels.
Horch, sie naht sich! Doch nein. Aufatm' ich beklommen. Wo bin ich?
Keine Frage. Sie muß erscheinen. Ich schwöre! Wo bleibt sie?
Alles ist hier bereit zum Empfang und ich selbst. Wer bestreitet's?
Wirklich ist dieser Raum, und er duldet es nicht, daß man zweifelt
an der Wahrheit der wirklichen Dinge, die mit ihm verquickt sind.
Und du weißt ja den Weg, o Geliebte. Du kannst ja nicht fehlgehn.
Plötzlich stößt mir die Brust mit Gewalt, und Entsetzen ergreift mich.
Denn da ist sie, unmerklich genaht, und umhalst mich von rückwärts.
Aufgesprungen umwerf' ich den Stuhl – und der Spuk ist verschwunden.

»Herr«, so spricht eine Stimme, »wer ließ Euch in dieses Bereich ein,
das, geflohen von Menschen, nur seligen Geistern bestimmt ist?« –
»Und wer Euch?« also gab ich zur Antwort dem fragenden Winzer,
»denn du bist doch kein seliger Geist, bist ein derber Geselle,
der den Weinberg betreut und die strotzende Traube vom Stock nimmt.« –
»Das ist wahr«, spricht der bärtige Mensch, der mit funkelnden Augen
mich durchleuchtet. Sie schillern zwei grünen Opalen vergleichbar.
»Das ist wahr. Doch ich stehe mich gut mit dem Herrn dieses Gartens,
der den Tempel bewohnt im verwilderten oberen Buschwerk.
Denn dies alles ist heil'ger Bezirk eines freundlichen Halbgotts,
der, unsterblich, trotzdem Mutter Erde zu lieben nicht aufhört,
sich der irdischen Haine erfreut und die Traube des Weinstocks
lieber sieht als die goldenen Schalen olympischen Nektars.«
Seltsam horchte ich auf. Und es schien mir, ich sei unversehens
durch ein lautlos geöffnetes Tor in Bezirke getreten,
unbekannt der gewöhnlichen Welt und doch ebenso wirklich.
»Was du denkst«, spricht der Winzer, »beweist mir das Recht deines Hierseins,
und ich sehe daraus, daß der selige Heros dir wohlwill.« –
»Freund, du liesest Gedanken«, so sagt' ich, und jener gab Antwort:
»Schon, Herr, las ich Euch ganz, und ich weiß auch den Grund Eures Hierseins.
Dahin mußtet Ihr kommen, heut nur zu Besuch, doch inskünftig
als ein Bürger des Reichs unsres erdnah göttlichen Gastfreunds.« –
»Und du nennst ihn? Wie nennst du ihn, Winzer?« – »Er hat keinen Namen,
nennt sich nie, wie er sagt, weil die Sprache der Menschen zu arm ist!« –
»Und vermag man den Heros zu sehn?« – »Eben kannst du ihn hören:
singend tritt er mit lungengewaltigem Basse die Kelter,
nackten Fußes bis über die Knie in der Maische versinkend.« –

Dies war mehr, als ich unten erwartet am Gitter des Tores,
das aus eisernen Speeren bestand mit vergoldeten Spitzen:
jetzt erschien es als Tor beinah mir vom Diesseits zum Jenseits.
Des Mysteriums voll mir bewußt, so betrat ich der. Garten.
Doch ich trug es im Geiste allein, und die dichtende Seele
war es, welche mit seligen Schatten das Diesseits bevölkert.
Anders war es nunmehr. Das Erscheinen des bärtigen Winzers,
der Bericht, den er gab, es versetzte mich ganz in ein Jenseits,
das nicht weniger wirklich sich gab als die Welt vor dem Tore.
Wodurch war mir wohl alles auf einmal so gründlich verändert,
als ich, den Platz vor der Grotte betretend, ins Freie zurückkam,
wo der Winzer noch neben mir stand, in der Rechten die Hippe?
War's das farbige Glas wohl, durch welches nach Weise der Kindheit
ich auch wiederum hatte geblickt, das Gewölbe des Himmels
bald des Lichtes beraubend durch Schwarz, bald in Feuer entflammend
durch der winzigen Scheibe Rot, ihn zum Weltbrand entzündend?

»Nein«, so sagte der Winzer, der wiederum meine Gedanken,
so als hätt' ich sie laut ihm verkündet, vernommen, »es ist hier
schlecht und recht wie bei Euch jedes Ding, und das sollst du mir glauben.
Komm und laß dich von mir zu dem Tempel des seligen Halbgotts
führen, daß du ihn fühlst und ihm huldigst, bevor du ihn selbst siehst.«
Friedenstal hieß der Aufstieg, den ich an der Seite des Winzers
nahm, mir innig vertraut, als stillheimlicher Liebe Begängnis.
O wie raschelte hier alles Buschwerk und raunte mit Zungen!
Grüße waren's von alten Vertrauten, Geraun von Verschwornen,
die so beflissen dereinst das Geheimnis der Liebe bewahrten.
O wie lachte mein Herz! Und nun sagte der Gärtner: »Der Tempel
liegt in Trümmern. Allein, so in Trümmern liebt ihn der Halbgott.
Doch der heilige Hain, der ihn flüsternd umgibt, es sind Ulmen,
die der Heros als Knabe gepflanzt, in gewaltigen Wipfeln.
Um so mächtiger hebt er sich auf. Sein prophetisches Rauschen
reget Atem des höchsten Olymp und des schwärzesten Abgrunds.«
Von der Kelter herauf drang noch immer die Stimme des Keltrers.
»Freund, beschreibe mir doch diesen irdisch ländlichen Gottmann!« –
»Wird er sichtbar, so ist's ein Ephebe, ein blühender Jüngling,
blondgelockt, über schwellenden Lippen kaum merklichen Bartflaum.
Meistens hörst du ihn nur oder fühlst seine Hand in der deinen,
streifst wohl etwa sein lockiges Haar oder spürst in den Nüstern
seines Nackens ambrosischen Duft.
Alles blühet an ihm, sofern dich sein Anblick begnadet.
Süße Anmut des Knaben vor Staunen fast preßt dir das Herz ab.
Ist er ernst und gespannt, so wird furchtbar sein Blick und gewaltig:
du erbebst, denn du ahnest den Gott und das Graun der Vernichtung.«
Endlich stand das Gemäuer nun da: zwar ich kannt' es von einstmals,
doch es hatte ein Gott sich's zu eignem Gebrauche verändert.
Spielerisch ward es dereinstens erbaut in romantischen Zeiten
als Ruine, doch nunmehr bedeckt es ein Mantel von Efeu.
Grünlich schwarz war das Vlies, das es einte zur raunenden Ganzheit,
Und wer kennt nicht den Gott, dem die Ranke des Efeus geweiht ist?
Einst war einst, und das Einst war noch da. Doch das andere, Neue
hauchte kühl wie aus Tiefen mich an aus dem Innern der Erde
und verband sich zugleich auch mit heiterer Wonne des Daseins.

Heiligtümer sind Rätsel, in ihnen und um sie verdichtet
Unsichtbares zu schweigendem Dasein jenseitiges Wirken.
Körperloseres trägt als sich selber die Luft: nämlich Seele,
die, noch nahe dem Tod und dem Leben, von beiden befreit ist.
Warum hatte der Genius wohl diesen Ort sich erwählet,
seine göttliche Welt in der irdischen Welt sich zu bilden?
Fragend blickt' ich dem Winzer ins Antlitz. Der nickte und sagte:
»Gib dir selber die Antwort, mein Freund!« Und ich tat, was er sagte.

Hier im kühlen Gewölb' des Getrümmers – ein halbes Jahrhundert
ist verronnen seitdem – vereinten zwei schuldlose Kinder
schüchtern sich in dem ersten unsterblichen Kusse der Liebe.
Unverdorben und rein und den Augen der Menschen verborgen,
nur von Göttern belauscht, geschah dieses süßeste Wunder.
Ihm, ihm selber, dem Herrn aller Wunder: nur selten gelingt's ihm,
und er betet es an, wie die Himmlischen alle die Reinheit,
mit der Liebe verbunden, zum höchsten verehren. »So ist es!«
sprach der Winzer, und dies ist die rauchlose Flamme des Altars
auf dem heiligen Herd, die den Heros erwärmet und festhält.

»Ahnungslose, ihr beiden von damals!« so wieder der Winzer,
»wußtet nicht, daß die oberen wie auch die unteren Herrscher
Neid erfüllte und Schreck und Entzücken, sobald sie erkannten,
was die Parze in eures Lebens, des sterblichen, Faden
vom elysischen Flachse unsterblicher Wonnen hineinspann?
O wie selten gelingt ihrer Spindel der himmlische Einschlag!
Und noch weniger war euch gegeben, zu wissen vom ewig
weihrauchduftenden Haine und Hause und Altar hier oben,
eurer ewigen Wohnstatt, allwo euch ein Heros verehrend
dient und reichliche Opfer von Blumen und Kräutern euch darbringt.« –
»Du hast recht, braver Mann, und in einem Betrachte auch unrecht.
Denn ich fühlte schon damals die namenlos hohe Begnadung,
die das nimmer Vergängliche gab unserer heiligsten Stunde.
Jetzt nun rede, du Wächter des Weinbergs und so auch des Heiltums!
Welcher Art ist der Kult, den der Heros hier treibt? Wie verdichtet
sich die Seele des einstigen Seins im Gewölbe des Denkmals,
das jetzt Kühle des Grabmales haucht und jetzt Atem des Lebens?« –
»Folge mir!« Und ich tat's. Wir betraten das Innre der Trümmer,
von den Strahlen der Sonne gefolgt, bis ein Dämmer sich auftat,
formlos unterm Gewölb' einer feierlich schweigenden Tiefe.
Nicht durchdrang ihn das Auge sogleich, das vergeblich sich mühte,
suchend schmerzlicher Lust nach dem fremden, dem eignen Geheimnis.
Da, aus nächtlichem Schatten enthob sich ein tieferer: Formung,
menschenähnlich, entkleidete jetzt sich des Mantels der Dämmrung
mehr und mehr. Was ich sah: war es Persephoneia, gebildet
von der Hand eines griechischen Künstlers in Erz oder Marmor?
Nein, nicht Erz und nicht Marmor war sie, diese Blume des Abgrunds,
diese Doppelgeburt aus dem Schoße des Lichts und der Urnacht.

Elfenbein schien mir Antlitz und Brust der Gestalt. Dieses Kultbild
schien im Fleische ein Tod im Tod. Bis herab zu den Füßen,
aufrecht stehend und schlank, schien es welk, so als hätte der Körper
Helios vergeblich gesucht durch das Dunkel der Zeiten.
Wie verdichtete Nacht schien darüber die Fülle des Haupthaars.
Doch da glühten Rubinen hervor aus den Höhlen der Augen,
speiend gleichsam verzehrendes Feuer, so innere Gluten
göttlich furchtbarer Brunst dämonischen Blickes verratend.
Plötzlich wieder erstarb sie, die Glut, aus den Winkeln der Augen.
Sie erschienen erblindet. Nunmehr flossen blutende Tränen.
Ich erbebte, ich wandte mich um, und ich suchte das Freie.
»Winzer!« sprach ich, »ich bin nur ein Mensch, dem Geheimnis der Götter
nachzutrachten gelüstet mich nicht! Denn sie lieben das Grauen,
das den Menschen, sofern er es spüret, mit Wahnsinn umnachtet!«
Danach war's so, als ob ich erwachte. Ich fand mich im Freien,
nah dem Hause. Der Winzer war fort, das Gemäuer das alte.
Doch da wurde es Nacht, eine andre als die, die ich kannte,
und mir war, als umhüllete mich ein schwarzfaltiges Grabtuch.
O wer hat mich verführt an die Schwelle des Hades? Wer hieß mich
ungewarnt das Geheimnis berühren der Mächte des Abgrunds?
Also dacht' ich, indes Entsetzen mich anfiel und, eisig
mich umklammernd, dem rächenden Biß der Erinnyen preisgab.
Schrie ich auf? Nun, gewiß ist, daß düstere Feuchte heraufdrang
wie aus Schächten, von Erzen und rostigem Eisen geschwängert,
Hauch vom Rachen des höllischen Hundes, vom Atem des Charon,
der mir seltsamerweise die tödliche Spannung hinwegnahm.
Aus dem dichtesten Schwarz über mir fiel indessen ein Rumpeln
wie von Wagen, von Rossen ein Wiehern, ein Fluchen von Knechten,
Schüsse blitzten, des Donners beraubt, und es rief eine Stimme:
»Du Verstiegner! Noch lebe du fort auf die Art, wie du jetzt lebst!
Doch den Tod, den du starbest dereinstens, und auch deinen Leichnam
sollst du sehen! Nichts macht ihn lebendig, solange du atmest!
Doch verhülle dein Haupt und stopfe dir Wachs in die Ohren!
denn hier gibt es von klagenden Vetteln Geheul und Gegille!
Klageweiber zerraufen ihr Haar und zerschlagen die Brüste!«
Nun, ich stand und ließ es geschehen, was allbereits anfing.
Schwacher Rauch wie von Phosphor umleuchtete sie, die den Thyrsos
kreischend schwangen umflort, er umdämmerte heilige Jungfraun,
Nonnen, die sich in heiß aufwimmernde Tränen ergossen.
Schluchzend kam ein Gesang hinterdrein wie von Frierenden. Mägdlein
in melodischen Chören ertönten mit Ach und mit Wehlaut:
»Kehre wieder! o kehre doch wieder!« so könnt' ich verstehen,
»kehre wieder! o kehre doch wieder!« schwoll immer das gleiche.
Schließlich sang es die ganze Natur, sang es Himmel und Erde.
Und dann kam, auf die Bahre gelegt, ein Bild, das ich kannte.
Klagetöne von Flöten umgaben es. War es ein Toter?
Nein: ein lebender Knabe, ein Jüngling mit wallendem Blondhaar.
Milch und Blut seine Wangen, ein Grübchen in jeder, ein drittes
in der weichlichen Rundung des Kinns – nun, ich rede nicht weiter.
Kalt und starr nahm ich auf, was ich sah, bis ein Ton aus der Höhle
leise drang, der zu hilflosem Schluchzen und Weinen mich hinriß.
»Kehre wieder, Geliebter, o kehre mir wieder! zu deiner
Schwester kehre zurück, deiner Mutter, zu deiner Geliebten!
Mag auch kurz wiederum das Glück uns gewährt sein: kehr wieder!«

Nun, ich lache. Die Vision, das Gesicht ist verschwunden,
und ich finde mich wieder als den, der sein einstiges Selbst sucht.
Horch, ein Flüstern am Ohr! Wärme hauchet ein Mund! Was erschreck' ich?
Kalt, als würde zu Marmor mein Leib, überfällt mich Erstarrung.
Nichts erblick' ich. Und dennoch: es liegt mir ein Arm um die Schultern,
eine Hand mir im Haar, und es raunet: »Ich bin es, mein Liebling!«
Ist's der Heros, der so nach den Worten des Winzers sich kundgibt?
Ruhig, ruhig, mein Herz! Und versuche, durchdringenden Sinnes,
klar zu bleiben, mein Geist! Du erwecktest die Dinge des Jenseits,
und nun stunden sie auf in dir selber und wurden lebendig.
Nimm sie hin nun mit klarem Verstande, so wie sie dir nahen!
So gedacht, so getan. Und nun hauchet es wieder: »Mein Liebling!
Du hast recht, und ich bin es wahrhaftig, der Halbgott, der Heros,
dem die Kraft zur Verwandlung gegeben die Geister des Weltplans.
Eben hab' ich die Kelter getreten. Doch sähest du jetzt mich,
gäbst du mir noch nicht siebzehn der Jahre des irdischen Daseins.«
Sah ich ihn, oder sah ich ihn nicht, jenen blühenden Jüngling?
Oder war es ein Knabe? Er schien mir nicht dieses, nicht jenes,
aber zwischen dem einen und andern ein blühendes Drittes,
unbekleidet und so Übergossen von göttlicher Schönheit,
daß sich gleichsam ein schweigender Schrei mir entrang, weil so Hohes
auch zugleich das Vergängliche sei und zum Welken verdammt ist.
Wer erlitt ihn wohl je, jenen Schmerz, den unnennbarer Adel
höchster Schöne dem Blinden, nun plötzlich Sehenden antut,
seinem verzauberten Auge, der Seele, dem Geiste, dem Herzen,
wenn sein Wesen, sein Alles, nach Zeugen des Wunders umherblickt
und kein Rufen, kein Zwang es vermag, nicht Befehl, nicht Gewalttat,
stumpfes Menschengetier solchen Wunders teilhaftig zu machen?
»Bin ich du? Bist du ich?« So erschallte nun deutlich die Stimme
dessen, der seinen Arm mir gelegt um die Schultern. Er zog ihn
nun zurück, und ich fühlte nichts mehr, hörte weiter kein Wort mehr,
und verschwunden zugleich war das Bild aus dem Reiche der Schönheit.

Grübelnd schritt ich dahin durch das Grün des verwilderten Parkes,
unter Blättern versteckt oder frei und am Weitblick mich labend:
sieben Male aufblitzte die Flut des geschlängelten Stromes
fern im Tal, des Eridanos, welcher dereinst zu den Städten der Alten
Bernsteinfrachten geführt. Heute nennt man ihn Elbe, er mündet
in die nordische See! Wie beschenktest du damals den freilich
von der Muse berühreten Knaben mit Glück! Und du stelltest den Kömmling
in den begnadeten Kreis der wenigen, denen gewährt ward,
zu erkennen das Glück und was wirklich das Glück in der Welt ist. –
Horch, hier plätschert ein Brünnlein. Das Löwenmaul spritzt einen Strahl aus
in das Becken, von Efeu umbuscht. Mein weißhaariges Alter
beugt sich nieder und spiegelt sich sinnend im Wasser des Jungbrunns:
blond ist wieder mein Haar, ein Oval mein Gesicht, mich befremdet
nicht das Grübchen am Kinn und das andere nicht in der Wange.
Jugend blicket mich an: nun, was weiter? Es spiegelt die Quelle
meine Seele und nicht meinen Körper. Sie spiegelt die Seele,
welche ewiger Jugend und ewiger Schönheit sich freuet.
Was ist ewig? Nur das, was der Mensch bei dem Worte empfindet.
Und nun schwinden nicht fünfzig der Jahre, nein, ihrer zweitausend.
Am Eridanos unten ruht wohlig sich sonnend der Flußgott,
hebt den Dreizack und lauscht dem Getöne der lesenden Winzer. –
Mittlerweile erregt sich der Quell, überflutend die Schale,
die ihn faßt, ihm entsteiget laut lachend ein winziges Knäblein,
prustend, niesend, ganz nackt, goldenlockig, mit gurgelndem Singsang,
Liebesliedchen, so wie sie im Volke wohl umgehn, verspottend.
Sonderbarer Geselle! So denk' ich bei mir, als das Bübchen,
tropfend noch von dem seligen Bad, mich nicht weiter beachtend,
in das Liliputgärtlein vom Rande des Beckens hinabspringt.
Und er klettert am Pfirsichspalier in die Höh', oder fliegt er,
wie die grüne Phaläne es tut, mit den klirrenden Flüglein?
Und nun pocht er ans Fenster ganz laut, bis es leise sich auftut
und das süßeste Haupt eines Mädchens – ist's Mary? – herabblickt.
Nein, du liebst nicht das Tote, mein Knäblein! Man weiß es, man kennt dich.
Früchtenascher! Genießer der Traube! Im Gärtlein der Liebe
Blumenräuber! Du Plündrer der Kelche, der Blüten des Honigs!
Dieb der Unschuld! Du goldene Hummel der Göttin von Knidos,
deren Stachel schon mancher gefühlt unter Göttern und Menschen!
Und er klettert hinein oder flattert hinein in das Fenster,
auf den Arm, an die Brust, an das Herz der erschrockenen Jungfrau.
Hilferufe verbietet sogleich ihr sein schwellendes Mündlein,
das mit rosigem Schloß ihr die zuckenden Lippen verschließet.
Beide weichen zurück und verschwinden im Dunkeln des Hauses.
Doch sogleich wiederum kommt der Kleine durch Blumen gestolpert,
bricht sie, knicket sie, wirft sie umher. Er verschont nicht den Lorbeer,
der mit rundlich geschnittenem Wipfel in Kübeln umhersteht.
»So, wie du es betreibst, kommst du schwerlich hier weiter!« so winkt er
mit den funkelnden Augen, den göttlichen, »zimperlich darf man
in der Liebe nicht sein! Sie ist da, und sie soll dich erquicken!«

Und wahrhaftig, sie kam, um die Schultern ein wolliges Jäckchen,
es war weiß und war schwärzlich gestreift, und wir nannten es Zebra.
Mary trug in der Hand eine köstliche gläserne Schale,
bot sie hin dem kristallenen Strahl, der zur Hälfte: sie füllte,
hob alsdann mit der Rechten ein zweites Gefäß wie: das erste,
kostbar, köstlichen Wein mit dem Quelltrunk der Jugend vermischend.
Mary bot ihn mir dar, und ich trank ihn – so heut wie vorzeiten
oftmals, selig, mit Dank an die Götter – auch heut bis zum Grund aus.

Viele haben den Eros gescholten, sogar seine Mutter
Kypris, die ihn den Lungerer nennet auf Straßen und Plätzen.
»Bringt mir«, ruft sie, »den Jungen zurück, der mir immerfort durchbrennt!
Zu erkennen das Früchtchen, ich meine, es kann wohl nicht schwer sein!
Freilich lügt er gewandt. Des Züngleins hymettischer Honig –
o wie leicht wird der süße zu bitterer Galle! Wie boshaft
ist mitunter das Kind und voll Kniffe! Frech blickt er ins Antlitz
selbst dem Zeus und dem Bruder des Zeus, der im Aides herrschet.
Zeigt er nackt sich, so plant er nichts Arges. Doch nichts ist auf Erden
und im Himmel, worein er sich nicht zu verstecken die Macht hat.
All sein Denken ist List. Dem furchtbaren Schützen entgeht nichts,
was da kreuchet und fleucht in den Lüften, im Meer, auf der Erde.
Artemis, die gewaltige Jägerin, stümpert, verglichen
mit dem Burschen, in Wäldern und Feldern herum. Ja, sie selber
wird dem Göttlein zum Wild, und er trifft sie, sooft es ihm Spaß macht.
Greifst du ihn, bring ihn gefesselt, und laß kein Erbarmen dich rühren!
Weint er, sei auf der Hut, und lacht er, erst recht! Seinem Kusse
weiche aus, er ist Gift, und du fällst in gefährliche Krankheit!
Auch vor Blut schreckt der Wicht nicht zurück, er verwickelt in Mordtat!
Brände, welche die Städte vernichten, sind oftmals sein Werk nur!«
Also Kypris, die Göttliche, selber, die Mutter vom Sohne.
O wie schwer wird das Scheiden mir sein aus dem heil'gen Bezirke,
dessengleichen kein zweiter besteht auf dem Runde der Erde:
scheinbar nur übereint er sich diesem, in Wahrheit umhegt ihn
ein Gemäuer aus gleichem Gestein und aus selbigem Mörtel,
aufgebaut wie die selige Wohnstatt unsterblicher Götter.
Draußen raset und tobet die Welt, doch die Schreie des Jammers
der in grauser Verstrickung des Kampfes verknäuelten Menschheit
wandeln hier sich zum goldenen Flug eines schweigenden Falters,
der, hintaumelnd von Blume zu Blume, aus Kelchen von Ocker,
unersättlich, berauschenden Nektar der Wonnen genießet.
Als die Pforte dereinst sich dem werdenden Jüngling geöffnet,
kam er wund und verstaubt, mit zerschlißnem Gewand, in der Tasche
abgegriffene kupferne Heller: ihn hatte der Regen,
hatte eisiger Sturmwind gepeitscht, und die Höhlen des Lasters,
die den frierenden Bettler gelockt, sie ergossen den Inhalt
über ihn ihrer Beulen und sonstigen grausigen Unflats.
Ihm zur Seite jedoch war gewandelt ein himmlischer Schutzgeist,
unsichtbar, der die fressenden Gifte der Lüste allstündlich
von ihm wusch mit der läuternden Hand und den Wassern der Reinheit.
Und er war es, wer sonst, dieser göttliche Mentor, der jetzt ihn
vor die Pforte geführt und hindurch in den Garten der Schönheit.
Kaum im Innern, was tatest du damals? Du hobest vom Tor dir
aus der Reihe der eisernen Speere vergoldeter Spitze
einen, der dir gefiel, und durchliefest die Haine wie Hylas,
nackt, als ein troischer Held mit kaum schon sichtbarem Bartflaum.
Und es sauste dein Speer durch die Lüfte, glückselig erblitzend.
Und Diana, sie sandte dir Hirsche mit goldnen Geweihen,
die, von deinem Geschosse durchbohrt, Duftgewölke, entschwanden.
Marmorrein warst du da und von göttlich hinstürmender Spannkraft.
Hylas! Hylas! Wo bist du? Kein Herakles ruft dich, ein Greis nur,
der dich kannte, dich sah und dich heute voll Wehmut bewundert,
ja dich liebt, so als wärst du sein anderes Ich: oder bist du's
etwa wirklich? Des Einst, das auf eigenen Spuren ich suche?
Lebe wohl! Lebet wohl! Ihr Gestorbnen in Gräbern! Lebt wohl auch
ihr, die lebend Gestorbnen, die einst diesem Grund sich vermählten.
Und auch du lebe wohl, der du bist und nicht bist und trotzdem erst
sterben wirst, wenn der tödliche Pfeil der Diana mich hinstreckt.
»Nun, mein Her, wie gefällt Euch die Wildnis?« So fragt mich der Gärtner.
»Nichts ist hier, wie dereinst es gewesen, verwachsen ist alles
und verwuchert: ich dringe nicht durch, alldieweil ich allein bin.
Altersschwach ist mein Weib. Unsre Wiesen verwüstet das Unkraut,
unsere Wege dagegen das Gras, das Wasser, der Maulwurf.
Oh, es gäbe für Hunderte fleißiger Hände hier Arbeit,
doch die Herrschaft bezahlt nur die beiden von mir, die, schon zittrig,
wenig oder fast nichts mehr vermögen – und diese recht kärglich.«
Damit stieß er den Schlüssel ins Schloß des erklirrenden Speertors,
um den Weg in die Welt mir zu öffnen, die nun mir fast fremd war.
»Freund«, so sprach ich, »wie kommt's, daß ich oben im Garten den Winzer
traf von einst? Und wie stimmt das, mein Werter, zu Eurer Behauptung?« –
»Also habt Ihr den Burschen gesehn, der da oben im Holz spukt
und als Winzer sich gibt: hahaha! Und wo ist denn sein Weinberg?«
So der Gärtner; »Nun ja«, fährt er fort, »allerlei wohl begibt sich
hierherum und besonders dort oben im Berg und am Wartturm.
Auch im Haus, und beinahe schon sind wir im Volksmund verrufen.
Habt Ihr wohl die vier Pappeln gesehn, manche sagen, die Schwestern,
alle viere, sie stünden dort oben, in Pappeln verwandelt?« –
»Mann! Ihr habt sie gesehn, so laßt mich noch einmal im Brunnen
Eurer eigenen Augen sie finden, wie Bilder im Spiegel!« –
»Blickt hinein«, sprach der Gärtner, »dort leben sie immer, dort sind sie!
Und nicht selten auch treff ich das Vierblatt leibhaftig auch heut noch.«

O wie schlug mir das Herz, als ich außen die Mauer entlangschritt.
Wer denn bog sich herüber und winkte mit bläulichem Schleier
mir zum Abschied? Nun, Mary im seidenwolligen Zebra,
jenem Jäckchen, das, grauschwarz gestreift, von uns also genannt ward.
Und ich rief ihren Namen und schritt auf sie zu, immer näher;
deutlich lächelte sie, immer winkend, dann war sie verschwunden.
Und ich schritt meinen Weg wiederum. Als ich, fern schon, mich umsah,
fielen eisige Schauer mich an, denn nun wiederum winkte
Mary ganz wie zuvor, ihren bläulichen Schleier bewegend.
Du Unsterbliche, rief meine Seele, gleich Kore begnadet
war dir ewige Jugend im Licht und die Herrschaft in Nachtglut,
wo der zweite, der nächtliche Zeus, deiner Schönheit genießet.
Walte weiter am heiligen Born mit der göttlichen Schale,
am Kastalischen Quell, wo das Wasser so wenig versieget
als der Durst, und erquicke mein Herz mit dem köstlichen Mischtrank,
der nur jenem gebührt, der olympische Erde berührt hat.

 


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