Gerhart Hauptmann
Hexenritt
Gerhart Hauptmann

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Gewölbte Halle in einer schloßartigen Ruine auf einer Insel an der Ostküste Südschwedens. Die Hinterwand ist ausgebrochen. Man blickt – es ist eine helle Mondnacht – über Reste eines französischen Parkes auf die Wasserflächen des Sundes und kleine Inseln. In der Halle, zu der ein gewölbter Treppengang aus dem oberen Stock des Hauses führt, ist unter anderem ein Kartoffelhaufen, in dem ein alter Konzertflügel ohne Deckel halb versinkt. Es liegen Ackergeräte umher, einige Meter geschichtetes Brennholz. Ein schwerer Kronleuchter hängt von der Decke. Man hört drei Flintenschüsse. Nach einer Weile kommen Lars Andersdal und Peter Lerch durch den Garten.

Lars: Schwede, hohe Erscheinung, Jäger mit Flinte und Wasserstiefeln; an seiner Jagdtasche baumelt ein eben erlegtes Wasserhuhn. Lerch: touristisch ausgestattet, kleiner und bürgerlicher.

Lars. Ja! Ja! Hier sind wir! das ist der alte gespenstische Schutthaufen. – Das war eine Sache, sage ich Ihnen! In einer Nacht total ausgebrannt! So lange hat die Alte mit dem Satan gegokelt – und er mit ihr! und er mit ihr! –, bis es so weit gekommen ist! Aber glorios, lieber Lerch, diese Feuersbrunst, dieses Krachen in der Einöde, diese Tageshelle, dieser doppelte Funkenregen von oben und unten auf der Wasserfläche! Von dem ganzen Schloß sind nur einige kahle Mauern, diese Eingangshalle und ein paar Mansarden hier rechts im Turme einigermaßen heil geblieben.

Lerch. Lebte die Generalin noch?

Lars. Offiziell war sie tot, sozusagen.

Lerch. Und inoffiziell?

Lars. Über diesen Punkt, den ich Ihnen ja schon einige Male unter der Blume vergeblich nahezubringen suchte, da Sie doch Philosoph und Freidenker sind, hülle ich mich nun in Stillschweigen.

Lerch. Und weshalb sind wir nun gerade hier auf dieser öden Insel gelandet und bei dieser trostlosen Brandstätte?

Lars. Weil es mich reizte und weil ich mit der Alten, wenn Sie wollen, ein Hühnchen zu pflücken habe.

Lerch. Wie lange sind wir eigentlich unterwegs?

Lars. Wir stiegen so gegen fünf Uhr morgens ins Boot.

Lerch. Jetzt haben wir ungefähr Mitternacht. Wieviel Flaschen haben wir ausgetrunken?

Lars. Niemals, niemals, mein lieber goldener Lerch, Sie täuschen sich. Was soll einem wohl eine Flasche Kognak tun, wenn man Enten schießt und den ganzen Tag auf dem Wasser ist?! Nein! ein Kerl wie ich sucht nun einmal das Abenteuer. Er tritt in die Halle und ruft. Tolle Madame! Tolle Madame!

Lerch. Was schreien Sie denn, um Himmels willen?!

Lars, wiederholend. Tolle Madame! Tolle Madame! – Haben Sie Angst? fürchten Sie sich?

Lerch. Höchstens vor Ihnen, guter Lars.

Lars, mit sarkastischem Übermut, wie vorher. Tolle Madame! Tolle Madame!

Lerch. Wo werden wir denn nun über Nacht bleiben?

Lars. Natürlich hier, bei der tollen Madame!

Lerch. Nicht sehr einladend, lieber Lars.

Lars. Die alte Dame war nie sehr einladend. Laden wir uns denn selbst bei ihr ein! Dieser Sache will ich mal auf den Grund kommen. – Packen wir aus! Breiten wir unser Hamburger Rauchfleisch, unsere hartgekochten Eier, Gänseleberpastete, Butter, Aquavit und dergleichen auf dieser Kiste aus. Wir wollen diese Kiste befestigen. Wir wollen diese Kiste gegen den bösen Blick, gegen böse Geister und Hexen befestigen. Jawoll! auch gegen Hexen befestigen! mit Kognak schützen, Gilka und Aquavit! – Oben im Kronleuchter sitzt ein Eichhörnchen. Er reißt die Flinte an die Schulter und zielt hinauf.

Lerch. Ich fürchte, daß in Ihrem Kopf ein Eichhörnchen sitzt, lieber Lars.

Lars. Sie fürchten zu viel. Ich habe den ganzen Tag schon gemerkt, bei vielen kleinen Gelegenheiten, daß Sie ein bißchen ein ängstlicher Stadtmensch sind. Verehrter, das muß man Ihnen austreiben! Wenn wir miteinander am Kongo jagen wollen, geht das nicht!

Lerch. Will ich mit Ihnen am Kongo jagen?

Lars. Sie meinen, man jagt nicht mit Löwen, wenn man – kein Löwe ist. – Aber dort auf dem Kronleuchter sitzt ein Eichhörnchen. Wollen Sie wissen, wer das ist?

Lerch. Ich bin gegen Späße nicht unempfindlich.

Lars. Die Generalin, die uns beobachtet! – Sie spielte Klavier. Sie spielte, als sie noch lebte, sogar sehr gut Klavier. Hier in den Kartoffeln steht ihr Konzertflügel.

Lerch. Waren Sie jemals nervenkrank?

Lars. Tiere sind niemals nervenkrank. Ich bin ein gesundes, starkes Tier. Ich habe mit Berggorillas gerungen, in tausendfünfhundert Meter Höhe, am Kiwusee. Ich würde mit Gott und dem Teufel anbinden. Ich werde mich doch nicht vor einem Gespenst fürchten!! – Tolle Madame! Tolle Madame!

Lerch. Hören Sie auf, um Gottes willen! was hat Ihnen denn die Dame getan?

Lars. Darüber wäre vieles zu sagen. Sie spielte mir manchen Schabernack. Nun, das würde nicht ins Gewicht fallen, wenn sie nicht einen Onkel von mir, als siebenten Gatten, geheiratet und beerbt hätte. Sie hat mich dadurch um vierzehntausend Morgen Wald und einige Dutzend schöner Inseln gebracht. – Aber sie hat einen Schatz vergraben, das weiß man gewiß. Ich werde nicht ruhen, bis er in meinen Händen ist!

Lerch. Lars Andersdal, der große Schatzgräber!

Lars. Jawoll! wir Schweden sind leidenschaftliche Schatzgräber. Was die alte Vettel vergraben hat, ist der Colloredo-Mansfeldsche Familienschatz, unsinnige Mengen von Perlen und Diamanten. Die Generalin stammte von Liabordo von Waldsee ab, der von Poppo von Aquileja mit ich weiß nicht was für geraubten und gestohlenen Ländereien belehnt wurde. Rauben und stehlen und Männern die Gurgel durchbeißen, das konnte sie. Zuletzt hat sie meinen Onkel auf ähnliche Weise beiseite geschafft. – Haben Sie denn das Licht oben in der Mansarde gesehen, Lerch?

Lerch. Das ist eine alte Scheibe, in der sich der Mond spiegelt.

Lars. Das ist niemand anders als ihr Freund, der Marquis Rene Seigneur de Beauvau-Craon, der dort oben noch immer haust und an ihrer Biographie arbeitet.

Lerch. Wie heißt der Marquis?

Lars. Beauvau-Craon.

Lerch. Beauvau-Craon?

Lars. Zweifeln Sie daran? Beauvau-Craon! Aber nun wollen wir erst mal feste einhauen! Beide essen tapfer. Lars betrachtet Lerch scheinbar besorgt, unter dem Kauen. Haben Sie schon einmal etwas für Ihre Gesundheit getan, Lerch?

Lerch. Ich gehe jedes Jahr nach Marienbad.

Lars. Sie sollten vielleicht mal ein Jahr pausieren.

Lerch. Und weshalb?

Lars. Vielleicht greift Sie es an. Sie kauen so trübselig. Ich hatte Ihren Humor als unverwüstlich in Erinnerung. Wie mir vorkommt, hat er gelitten.

Lerch. Weil ich Ihre Tollheiten nicht goutieren kann?

Lars. Ein Mann muß toll sein, sage ich Ihnen, wenn er in diese tolle Welt passen will. – Tolle Madame! Tolle Madame! – Die Alte scheint heute etwas schwerhörig.

Lerch. Nur immer so fort, mich stört es nicht.

Lars. Sie sind ein Philosoph. Sie schreiben doch philosophische Aufsätze. Auch okkulte Probleme haben Sie interessiert. Sie treiben Parapsychologie: es wird einen Kenner der Höhen und Tiefen nicht stören, zwei Minuten allein zu bleiben.

Lerch. Stört mich nicht. Aber wollen Sie fort?

Lars. Ich lechze nach etwas kaltem Quellwasser.

Lerch ist allein geblieben. Er tut sehr harmlos, ißt, trinkt, pfeift sich ein Liedchen usw. Plötzlich entsteht auf der Treppe ein Geräusch, als würden eine Menge Rutenbesen mit Stielen heruntergeworfen.

Lerch fährt steil empor. – Äußerst scherzhaft! Machen Sie bessere Witze, mein guter Lars! Da sich nichts mehr rührt, fährt er in seiner Beschäftigung fort. Jetzt würde ich Ihnen vorschlagen, scherzhafterweise mit Gegenständen, etwa mit okkulten Kartoffeln, zu werfen, nach berühmten Mustern! Kaum gesagt, fliegen Kartoffeln. Gut gebrüllt, Löwe! Sie sind mit Ihren neununddreißig Jahren eben noch immer ein Kindskopf, Lars! Er lacht krampfhaft, ißt, singt halblaut. »So leben wir, so leben wir alle Tage«, bis etwas mit einem Ruck hart und disharmonisch über die Saiten des Konzertflügels streicht. Da schrickt er auf. Und wie er hinblickt, steht dort ein altes, verhutzeltes Weib mit einem scharfen, vertrockneten Vogelgesicht und glotzt ihn aus phosphoreszierenden Augen an. Sie breitet langsam ihre verdorrten Arme aus, winkt auch wohl mit dem Zeigefinger und kommt mit einem Ausdruck widerlicher Zärtlichkeit auf ihn zu. Er ist wie unter einem Bann. Plötzlich schreit er seltsam auf wie Hu! hu! hu!, und die Erscheinung verschwindet.

Lars kommt wieder.

Lars. Sie haben geschrien. Was schreien Sie denn?

Lerch. Ich habe zum erstenmal in meinem Leben eine sehr interessante, höchst verfluchte Halluzination gehabt. Sie werden mich hier noch völlig verrückt machen.

Lars. Gratulieren Sie sich! Gratulieren Sie sich! Ich wette, die Generalin hat sich bemerkbar gemacht.

Lerch. Brrrr! Er schüttelt sich. Wenn das eine Generalin ist . . .!

Lars. Sie macht Ihnen süße und weiche Gefühle, was?

Lerch. Sie treffen den Nagel auf den Kopf!

Lars. Sie hätten sie packen müssen und tüchtig durchbleuen, da hätte sie Ihnen süße und weiche Gefühle gemacht.

Lerch. Man kann eine Halluzination nicht durchbleuen.

Lars. Ich sage Ihnen, man kann sie durchbleuen. Und ich habe es in einer unvergeßlichen Nacht getan, an der sie möglicherweise gestorben ist. Ich schlief im Boot, damals lebte sie noch. Sie wurde rasend, wenn jemand landete. Sie war nämlich ein wunderschönes, pompöses Weib, sonst hätten die Männer nicht angebissen. Plötzlich brauste sie da durch die Luft als häßliche alte Hexe heran. Sie ritt einen Besen, der wahrscheinlich ihr jüngst verstorbener letzter Mann, mein Onkel, war. Aber das Luder sprang auf mich über. Sie huckte mir auf, und, kann ich Ihnen sagen, ich mußte füßeln, hopsen, springen, galoppieren, laufen, laufen, wenn ich nur daran denke, Himmelkreuzdonnerwetter noch mal! Ob ich nun wollte oder nicht wollte, ich war ihr nur eine Maschinerie. Meine Glieder arbeiteten selbständig. Ich schwitzte Blut, ich kotzte fast meine Lungen heraus, bis ich plötzlich fuchsteufelswild wurde. Ich warf sie ab, sie sprang wieder auf. Sie flog zum zweitenmal, zum drittenmal, aber nicht wie sie wollte, sondern wie ich wollte! Ich kriegte ein Holzscheit in die Hand, ich drosch wie ein Berserker auf sie los. Und jetzt – lachen Sie, bester Lerch, oder nicht – flehte das süßeste, holdeste junge Weib, das mir je vorgekommen ist, in zärtlich bereuenden, weinenden Tönen um Gnade. Und in diesem Augenblick hat sie mir süße und weiche Gefühle gemacht, bester Lerch! Man hört ein einmaliges starkes Klatschgeräusch. Lars hält sich seine Backe. Das war eine wohlüberlegte, wohlgezielte, mit vollkommenster Kunst applizierte Riesenbackpfeife. Bravo! die Alte kommt in Gang!

Lerch. Werden Sie in dem Stile fortfahren?

Lars. Ich? Wieso ich? und worin fortfahren?

Lerch. Mit Besen und mit Kartoffeln zu werfen. Und was diese Clownsmaulschelle betrifft, so könnten Sie wirklich im Zirkus auftreten.

Lars. Habe ich auch Ihre Halluzination gemacht?

Lerch. Das gerade nicht. Aber Nerven sind Nerven. Ich bin gewöhnt, die Nächte in meinem gemütlichen Bett zuzubringen, nicht aber unter dem Schutt einer alten Brandstätte auf einer verrufenen Insel im Kalmarsund. Da ist es kein Kunststück, zu halluzinieren.

Lars, am Treppenaufgang. Es sind Besen die Treppe heruntergeflogen. Ich habe sie nicht geworfen: eins, zwei, drei, fünf, sieben Stück – hier liegen sie. Das entspricht ihren sieben toten Männern. Ihr Harem oder ihr Marstall, wie jeder Fischer, Jäger und Bauer hierherum an der schwedischen Küste weiß. Er ruft. Tolle Madame! Tolle Madame! ich begebe mich jetzt an das Schatzgraben!

Lerch wickelt sich in eine Decke. Ruhe! ich will jetzt schlafen, Lars!

Lars. Mein Junge, Sie sollten etwas für Ihren Biotonus tun. Sie haben einen zu schlaffen Biotonus. Bedienen Sie sich, statt zu schlafen, noch etwas der sogenannten Gehirnrinde. Bleiben Sie, statt im Unbewußten zu ertrinken, noch etwas in Ihrer kortikalen Person. Sie müssen mir helfen, ich bedarf Ihrer! Versucht ihm ein Grabscheit in die Hände zu drücken. Nehmen Sie dieses Grabscheit, Lerch! Ich selbst werde mit der Hacke arbeiten. Morgen sind wir reich. Morgen zahlen wir jeder sechsmalhunderttausend Kronen auf der Bank von Schweden ein.

Lerch. Lassen Sie mich in drei Teufels Namen! Sie gehören in die größte, komfortabelste, bestgeleitete schwedische Irrenanstalt.

Lars. Sie sind ein Stadtmensch. Sie haben kein Mark in den Knochen. Wir Andersdals blicken auf Geschlechter von Piraten zurück. Sie sollten eine Transplantation vornehmen, eine gewisse delikate Drüse reaktivieren lassen, damit Sie noch eines Entrüstungsschreies und eines Wutanfalls fähig sind, wenn unser Geschlecht an einer Kirke zu rächen ist. Sehen Sie hier meinen armen Onkel an! Er hebt einen Besen hoch. Mein armer seliger Onkel Triglavson. Sein Stammbaum führt auf Oxenstjerna zurück. Er war ein prächtiger alter Haudegen. Und weil ich ihm mit ihr keine Hörner aufsetzen wollte, haßte sie mich.

Lerch ist eingeschlafen, er schnarcht laut.

Jetzt wird eine sehr liebenswürdige, dringlich-höfliche Stimme von oben auf der Treppe vernehmbar.

Die Stimme. Dürfte isch mir die Frage erlauben, warum man im Hause Ihrer Exzellenz der Frau Generalin ruhestörenden Lärm verursacht und auf ihre Zurückgezogenheit keine Rücksischt nimmt?

Lars, dämonisch pfiffig. Das ist der Marquis René Seigneur de Beauvau-Craon aus der Dachstube.

Lerch schüttelt sich vor Lachen im Schlaf. René Seigneur de Beauvau-Craon!

Ein eleganter, zarter kleiner Herr in Rokokotracht erscheint auf der Treppe. Es ist der Marquis René Seigneur de Beauvau-Craon.

Marquis spricht zart, liebenswürdig, mit zusammengelegten Händen, aber entschiedener Betonung. Warum reizen Sie eigentlisch Ihre Exzellenz die Frau Generalin immerfort, wo Sie doch hier in ihrem Schlosse zu Gaste sind? Das ist gar nischt hübsch, das ist keineswegs ritterlisch.

Lars stellt sich vor. Lars Andersdal.

Marquis. Oh, ich kenne Sie gut, Herr Lars Andersdal. Ich verehre sehr Ihre schöne und lehrreische Büscher. Ich interessiere mich ganz besonders für Wandervögel und das Geheimnis des Vogelzuges, Ihre feine und intuitiv-geniale Beobachtung, Ihre kühne und verwegene Forschergeist. Dabei haben Sie so reizend und liebenswürdisch geschrieben über den kleinen Regenpfeifer, über die letzten Seeadler und über den sagenhaften Vogel Abu Markub. Sie sind ein Dischter, Herr Lars Andersdal. Warum wollen Sie denn Ihren Ruf so aufs Spiel setzen?

Lars. Was heißt in diesem Falle »Ruf«, Herr Marquis?! Die Generalin hat weder geflüstert, wenn sie sprach, noch, wenn sie Appetit hatte, sich vom Essen abhalten lassen. Lief sie nicht am Tage mit dem schußbereiten Mauser-Repetiergewehr am Strande ihrer Insel herum und schoß auf die Fischer, wenn sie sich annäherten?

Marquis. Sie hatte Grund. Die Welt hat nischt gut an ihr gehandelt. Wie viele große Naturen hatte sie sisch völlisch von ihr zurückgezogen und verteidigte ihre Einsamkeit.

Lars. Aber was war das für eine höllische, mit schwarzen Verbrechen angefüllte Einsamkeit!

Marquis. Tout comprendre c'est tout pardonner, Monsieur Lars Andersdal. Ich rischte nischt, sondern isch lasse wöchentlisch zweimal in der Kirche Notre Dame de Paris für die Dame Messe lesen.

Lars. Das ist sehr edel von Ihnen, Marquis. Ich möchte aber fürchten, daß die Akten über das Rabenaas definitiv geschlossen sind.

Marquis. Was reden Sie da für brutale Sachen?! Das sind furchtbar häßlische, harte Worte, die eines großen Forschers wie Sie nischt würdig sind.

Einige Passagen der Danse Macabre werden heftig auf dem Konzertflügel im Kartoffelhaufen gespielt.

Marquis wendet sich mit sanfter Entschiedenheit gegen das Klavier. Isch möschte Sie dringend und herzlisch bitten, Generalin, die Verhandlungen mit Herrn Lars Andersdal doch gefälligst mir allein überlassen zu wollen. Lenken Sie sisch, wenn Sie Ihre begreiflische Erregung nicht bewältigen, bitte, bitte, auf irgend etwas anderes ab! Er wird sehr ernst, und es scheint, er spricht mit gebeugtem Kopf und gefalteten Händen ein Vaterunser. Alsdann halblaut, sehr bewegt und sehr ernst. Sie müssen nämlisch berücksischtigen: die arme Generalin weiß noch nischt, daß sie gestorben ist.

Lars. Ich nehme mein Wort trotz Ihrer Rüge und angesichts dieser musikalischen Manifestierung der tollen Madame nicht zurück. Ihr Sündenregister ist allzu gewaltig. Und übrigens, wenn sie auf einem ihrer Besen bei Vollmond um mein Gehöft auf Eknö ritt, da hat sie mir mit Ausdrücken, die ich nicht wiederholen kann, unflätigster Art ins Fenster gekrischen.

Marquis. Das war nischt recht. Ich war damit gar nischt einverstanden. Ich habe auch der Frau Generalin gegenüber kein Geheimnis daraus gemacht. Sie hatte mitunter krankhafte Anfälle.

Lars. Ja, es sind Kinder von Fischern verschwunden. Es sollen hier, abgesehen davon, daß sie ein weiblicher Blaubart war, blutbesudelte Orgien vorgefallen sein.

Marquis, eifrig. Das ist eben ganz und gar aus der Luft gegriffen. Und darum sind Fischer und Bauern gekommen, weil sie diese offenbare Verleumdung geglaubt haben. Sie ist der Grund, weshalb leider das Grab der Generalin geschändet worden und das hübsche Schloß mit den vielen reizenden Kostbarkeiten von Stoffen, Möbeln und Kunstwerken von ihnen in Brand gesteckt worden ist. So ist es leider nur noch ein Schutthaufen. Gott sei Dank weiß es die Generalin nischt.

Lars. Lassen Sie Gott aus dem Spiele, Herr Marquis.

Marquis. Keineswegs, denn es liegt darin ein Akt göttlischer Barmherzigkeit.

Lars. Nach Swedenborg trifft dieser Zustand des Nichtwissens vom eigenen Tode solche Verstorbene, die im Leben unrechtmäßiges und durch alle Mittel des Lasters und des Verbrechens zusammengescharrtes Gut aufgehäuft haben.

Marquis. Auri sacra fames: wer hat ihn nischt? Sie haben es sich in den Kopf gesetzt, hier einen Schatz zu heben, der gar nischt vorhanden ist. Ist es nischt ebendie gleische Habsucht, einen Schatz zu suchen, den Habsucht verborgen hat?

Lars. Von Habsucht bin ich sehr weit entfernt. Ich verwende mein Geld zu Forschungsreisen.

Marquis. Ich werde für Ihre Reisen das Geld schaffen. Nur bitte stehen Sie von den etwas peinlichen Ruhestörungen in diesem mir so lieben und verehrungswürdigen Hause ab.

Lars. Sie scheinen ebensowenig wie die Generalin zu wissen, daß es nur noch eine Trümmerstätte ist.

Marquis. Sie können nischt beurteilen, was es für uns Geister ist und welschen Reiz es für uns besitzt.

Lars. Es ist wohl der alte obszöne Reiz, mit dem die Generalin, noch als Gespenst, diese verrufene Stätte imprägniert, dieses Versteck unnatürlicher, unersättlicher, lichtscheuer Lust, wo das heimlich glimmende Laster in gehäuftem Unrat noch immer in Phosphorflämmchen leise faucht, bereit, in höllische Flammen auszuschlagen und den Bedauernswerten zu verzehren, der ihm in ahnungsloser Nähe Nahrung gibt, diese Kothöllen, die Ihnen ein so liebes und verehrungswürdiges Haus bedeuten, Herr Marquis.

Marquis. Ihre Anschauungen, Herr Lars Andersdal, sind vielleicht, isch möschte glauben, ein wenig allzu bürgerlich. Mir scheint, obgleich Sie Naturforscher sind, überblicken Sie die ungeheure Rolle nischt, welche der Liebe und allen ihren Abarten im großen Haushalte der Natur zugewiesen ist. Sie sollten darüber tiefer nachdenken. Wir kleinen Menschen sind ja nur Werkzeuge. Wir werden gebraucht, verbraucht und meinethalben mißbraucht, um in Krämpfen der Unzucht, in zuckenden Verschlingungen uns zu paaren und so immer wieder das Leben, das Leben vor dem Tode zu retten, die Vernischtung durch Zeugung zu überholen. Hier liegt ein großes Mysterium. Innerhalb dieses Mysteriums war sie die Eingeweihte, war sie die höchste Priesterin. Ihr war das verfluchte, unauslöschliche Tempelfeuer der Schöpfung anvertraut – wir gokeln höchstens ein wenig mit unseren schwedischen Streichhölzern! Diese Frau war groß, weil sie eigentlich ein Seraph, ein Dämon, ein Schlangendämon gewesen ist . . . – und weil sie es noch ist, Herr Lars Andersdal! weshalb sie auch allen Angriffen, allen Verleumdungen kleiner, kriechender Menschchen gegenüber unerreichlich hoch erhaben ist. Und ich bitte Sie dringend, das zu berücksichtigen!

Lars. Bitte sehr, zu den kleinen, kriechenden Menschchen gehöre ich nicht, Herr Marquis. Davon könnte der Alkoven dieser postumen Astarte oder syrischen Göttin etwas erzählen, wenn er nicht schon in Asche läge. Ich bin nicht ihr Besen, ich gehöre auch nicht zu ihren Gallen oder Verschnittenen. Über mich hat sie keine Gewalt.

Marquis. Weshalb sind Sie so schroff? Mit begütigendem Lächeln. Sie hätten ihr sollen ein wenig entgegenkommen! Und es ist eine eigentümliche Sache mit dieser großen Frau, sie versteht ihren Willen am Ende immer noch durchzusetzen.

Lars. Wie ich den meinen, Herr Marquis. Er führt heftige Schläge mit der Hacke, als ob der Marquis nicht da wäre. Dieser schaut ihm eine Weile zu.

Marquis. Ich wollte doch für Sie das Geld zu Ihrer nächsten Forschungsreise besorgen, Herr Lars Andersdal.

Lars. Sie meinen also, ich hätte auf konziliante Art und Weise auf die Konkupiszenz der Frau meines Onkels, dieser verführerischen Hexe, eingehen sollen, und sie hätte mir dann ihr Vermögen vermacht?

Marquis. Sehr möglisch, Herr Lars Andersdal, und Ihnen hätte es doch nischt weh getan. Aber das ist nun leider versäumt: wollen Sie also zum Ersatz von mir einen Scheck nehmen?

Lars. Sie sind ja nur ein Geschöpf meiner Einbildungskraft.

Marquis. Oh, ich könnte Sie leicht überzeugen, daß ich wirklisch bin.

Lars. Herr Marquis, man kann ja durch Sie hindurchsehen.

Marquis. Aber ich kann meinen Leib aus Paris holen, ich brauche nur höchstens zwei oder drei Minuten Zeit dazu.

Lars. Wie versteht sich das, darf ich fragen?

Marquis. Ich bin angeschlossen an eine Loge, deren Mitglieder gewisse okkulte Kräfte erlangt haben. Wir besitzen die Fähigkeit, des Nachts unsere Körper zurückzulassen und unsere Geistleiber zu bewegen, unabhängig von Raum und Zeit. Weil ich aber in der Loge kein Neuling mehr bin, vermag ich auch, wenn es sein muß, wie gesagt, meinen Körper, der augenblicklich Rue de Rivoli Nr. 23 schläft, mit geringer Mühe hierherzuholen, wo Sie sisch dann gefälligst überzeugen können, wie ich in diesem Falle kein Schemen mehr bin.

Lars. Sie haben einen stechenden Blick, Ihnen zuckt ein verderbliches Feuer in der Pupille. Ich kenne den Satan persönlich nicht. Aber, glauben Sie mir, ich neige dazu, Sie für einen nahen Verwandten von ihm zu halten. Trotzdem, holen Sie Ihren Leib aus Paris. Ich warte. Sie können Ihr Scheckbuch mitbringen.

Marquis. Oder, wenn ich mir eine Frage erlauben darf – wie wäre das, wenn Sie mit mir nach Paris gingen? Sie heben die gewünschte Summe persönlisch auf der Bank von Frankreich ab.

Lars. Wie ließe sich dieser Gedanke durchführen?

Marquis. In einer Sekunde sind wir dort, wenn Sie sisch nur entschließen wollen, Ihre irdische Hülle, die grobe Masse, das grobe Gewischt, den groben Körper von Lars Andersdal auf kurze Zeit hier zurückzulassen.

Lars. Die Seele schwinget sich wohl in die Höh', juchhe! Fast fühle ich meinen Körper nicht mehr . . . ich bin bereit . . . es muß alles einmal probiert werden . . .

Der Marquis verschwindet. Lars stürzt in sich zusammen und liegt wie ein Toter, und zwar in der Nähe seines Freundes Lerch.

Lerch, der geschnarcht hat, wacht auf. Was war das? – Das war ein Bums, als hielte ein Panzerkreuzer Schießübungen ab. Gehörshalluzination natürlich. Lars! – Lars! – Er entdeckt den Schlafenden, gleichsam Paralysierten. Da liegt er ja endlich! – Diese Redseligkeit! Es war ja unmöglich, einzuschlafen! – Endlich! Er gähnt. Oaaah! Wenn dieser Bursche ins Schwatzen kommt – da muß man mit! Da gibt's keine Nachtruhe! Dagegen hilft dann kein Vaterunser! Er steht auf und faßt Lars an. Lars! – Der Alkohol hat ihn endlich zur Ruhe bestattet! Er hält die leere Kognakflasche noch in der Hand. Ich werde es mir, denke ich, bei dieser Gelegenheit nicht versagen, einmal zu einem gewissen ästhetischen Zweck vor das große Tor zu gehen. Nach einigen Schritten darauf zu. Bleib ruhig, schlafe ruhig, mein Kind! Man verliert nichts im Schlaf. Du hast deine Siebensachen beisammen. Das Bewußtsein ist eine Nebenerscheinung – wie der Wiener sagt, es ist beiläufig. Der Philosoph nennt es ein Epiphainomenon. Ist es hin, so hat man wenig oder nichts verloren damit. Schon beinah im Freien. Man schämt sich förmlich vor den Gestirnen. Aber schließlich, es ist Gottes Wille, was soll man tun?! – Welches urgewaltige Schweigen! – Ur – Ur – Ur – Ur – – ja, was ist denn eigentlich jetzt die Uhr? Er zieht die Taschenuhr. Ach! Meine Zwiebel ist bei dreiviertel auf kalte Erbsen stehengeblieben. Er blickt gen Himmel. O züchtige Kassiopeia! O du erhabener Aldebaran! – Wie klein ist der Mensch! Und noch wieviel kleiner ist das, was dem Manne im Leben die meisten, aber auch weitaus die meisten Umstände macht! – Ich bin weit von Berlin, ja, ja, ich bin weit von Berlin! Weit, weit von Berlin, mitten im Skagerrak oder Kattegat, es ist ja gleichgültig! Oder auch weder im Skagerrak noch im Kattegat! Gott sei Dank bin ich weit von Berlin, wo meine Frau in ihrem stillen Zimmerchen mit Gottes Hilfe allein im Bette liegt. – Wie klein ist der Mensch! Und welche Umstände werden mit ihm gemacht! Dieses ausgestirnte, funkelnd unermeßliche Himmelsgewölbe: viel zu groß, viel zu erhaben, viel zu viel für ihn. Ich glaube, daß der liebe Gott ihn kaum in der stärksten Vergrößerung durch ein Zeißmikroskop überhaupt sehen kann! – Wieviel Umstände! Viel zuviel Umstände! – Ich glaube, ich habe im Halbschlaf etwas von Astarte oder von der syrischen Göttin gehört. Wenn Lars einen weg hat, geht ja alles wie Kraut und Rüben durcheinander bei ihm. Da gibt's einen Fluß, der Adonis heißt und sich alljährlich blutrot färbt, zum Zeichen, daß es die Göttin nun wieder nach den üblichen blutigen Opfern gelüstet: ich will nicht selig sein, oder ich träume, aber das Wasser um die Insel ist blutrot! – Aah! Aah! Venus! Astarte! Wie die sieben Planeten zwinkern! Planetarischer Augenblick! Stille! Haustus silentii! Er wendet sich um. Lars! Lars! – Geisterstunde! Warum denn nicht?! Aber er hat sich furchtbar besoffen! Steif wie ein Planet . . . wollte sagen, wie ein Besen liegt er da, als ob er zu den andern sieben Planeten . . . wollte sagen, zu den sieben Besen gehörte, zwischen die er gesunken ist! Er hebt einen Besen auf. Planetarischer Augenblick! Vivite, fratres, et bibite! Die übrigen Besen richten sich auf und rascheln. Dann wird ein vielstimmiger Seufzer ausgestoßen. Gut, gut, ich verstehe: Sie haben es mit der Generalin nicht leicht gehabt. Ich kenne das, ich bin selbst verheiratet, aber, Gott sei Dank, heut mitten in Schweden, fern von meiner Berliner Gartenwohnung, weit vom Schuß. Können Sie übrigens nur seufzen, meine Herren? oder haben Sie die Möglichkeit einer Mitteilung darüber hinaus? Es geschehen einige Schläge an eine Kiste. Gut, pochen Sie. Ich kenne das Alphabet. Einmal ist A, zweimal ist B . . . offenbaren Sie sich auf diese Weise. Schütten Sie Ihre Herzen aus! Entlasten Sie sich! Benützen Sie die Gelegenheit. Gewiß, ich bin exakter Naturforscher: Übernatürliches gibt es nicht. Aber man kann das Gebiet erweitern. Allomatik ist schließlich auch eine Wissenschaft, nämlich die Wissenschaft vom Andern. Alles ist Nicht-Ich. Es gibt kein Ich. Es gibt keine Autome, sondern nur Allome. Besondere Phänomene sind Druckdifferenz. Ob Spirits, Elementais, Dämonen, Engel, Zauberer oder Hexen am Werk sind – Druckdifferenz! Allomatische Vorgänge! Also, pochen Sie! Es wird schnell und heftig gepocht. Lerch buchstabiert. Vau, e, er, be, er, a, u, ce, ha, te . . . was ich mir zusammenbuchstabiere, heißt immer wieder »verbraucht«, verbraucht. Sie wollen also sagen, meine Herren, Sie seien verbraucht. Das ist Ihnen allerdings einigermaßen anzusehen, meine Herren. Das Pochen geht eine Weile heftig weiter. Lerch, nachdem er wiederum gehorcht hat. Sie beklagen sich, das verstehe ich. Weil Sie verbraucht sind, haben Sie sozusagen ein Anrecht auf Gnadenbrot. Man soll Sie gefälligst mal eine Weile in Ihren Särgen ausruhen lassen. Aber Sie werden jede Nacht, »Donde va Mama? – Ella va eso«, wie Goya sagt, zum Ritt nach dem Blocksberg abgeholt.

Stimme der Generalin, kräftig. Sie kleiner Knirps wollen am Ende auch noch mit mir anbinden?

Lerch. Ich bin Philosoph. Außer einmal im Traum, interessiere ich mich für die Restbestände des mittelalterlichen Gespensterwesens nicht. Außer es ginge mir wie Lars: sie erregten mir süße und weiche Gefühle.

Stimme der Generalin. Lümmel, werde nicht unverschämt!

Lerch schüttelt den daliegenden Lars. Ich kenne mich in der Sache nicht aus. Es ist Ihre Sache, mein guter Lars. Sie haben sich die Suppe eingebrockt, ich denke nicht daran, sie auszulöffeln. Also bitte wachen Sie auf und schnarchen Sie nicht!

Stimme der Generalin. Hoffentlich haben Sie sich die Hosen unten zugebunden, mein Herr.

Lerch, energisch. Ich habe die Hosen zugebunden.

Stimme der Generalin. Lassen Sie sich Ihr Schulgeld wiedergeben. Sie Kathederphilosoph!

Lerch. Bitte tun Sie die entsprechenden Schritte!

Das Pochen an den Kistendeckeln wird heftiger.

Stimme der Generalin. Das Pochen – verstanden?! – hört jetzt auf! Es wird sofort still. Man höre gefälligst zu, wenn ich rede.

Sehr einfach und wirklich, als ob es Tag wäre und irgend etwas Ungewöhnliches nicht vorgefallen sei, erscheint eine Art älterer Landedelfrau. Sie kommt sehr gelassen von hinten nach vorn, gelegentlich Bonbons in den Mund steckend und die einzelnen Gegenstände im Raum inspizierend. Über einer gestickten Robe trägt sie einen Knabenpaletot, der durch eine bizarre Stoffblume zu Ansehen gebracht wird. Die ländliche Kopfbedeckung aus einem Stroh, das lange Sonnen gealtert haben, hält ihre widerspenstigen, kurzen, wie Reptilien hervorquellenden Haare zusammen, unter denen die scharfen Augen leuchten und eine Hakennase sowie ein durch Vegetation noch betontes vorspringendes Kinn sich wölben. Alles, was sie tut und sagt, klingt anfänglich mißgelaunt.

Landedelfrau. Guten Abend, mein Herr, was wünschen Sie hier?

Lerch. Aah! endlich ein Mensch. Und nun darf ich auch gleich die einfache Wahrheit feststellen, daß ich nicht den geringsten Wunsch habe. Soweit ich einen gehabt habe, habe ich ihn mir bereits selbst erfüllt. Ich bin hier in Begleitung des Herrn Lars Andersdal, dem ich alle Verantwortung für diesen Besuch überlasse.

Landedelfrau. »Solln, wo du stehst, nicht stehn der Schurken zwei? so nah ihm nicht . . .«

Lerch. Ist das ein Zitat?

Landedelfrau. Ja, ein Zitat aus »Timon von Athen«. Stundenlang könnt' ich daraus zitieren. Zum Beispiel: »Der Tod in mir verlacht der andren Leben« oder: »Was würdest du mit der Welt tun? Ich gäbe sie den Tieren, um den Menschen los zu sein«. Oder:
        Willst fluchen du, so fluche nur dem Vater,
        dem armen Lump, der ekellos besprang
        ein Bettelweib und dich zusammenflickte,
        Erzbettler und Erzgauner du! Nun pack dich! –

Lerch faßt sich an die Stirn. Seltsam: ich beleidige mich selbst aufs gröblichste im Traum.

Landedelfrau. Sie können gehen.

Lerch. Das sagten Sie schon.

Landedelfrau. Ich hatte zunächst nur Shakespeare zitiert. Aber Sie sind nur eine Rabattmarke, auf die ich bei dem großen Coup, den ich vorhabe, gern verzichten kann.

Lerch. Aah, ich verstehe. Ich bin nicht im Wege. Sie wollen vielleicht wieder einmal auf einem gewissen . . . auf einem gewissen Besen spazierenreiten, wenn ich fragen darf?

Landedelfrau berührt Lars mit der Fußspitze. Ich wünsche höchstens einen widerspenstigen Esel abzustrafen.

Lerch schüttelt Lars ängstlich. Die Generalin wünscht Sie zu sprechen, Lars.

Landedelfrau. Ich brauche Ihre Vermittlung nicht. Wofür habe ich meine Leute? Ein Tscherkesse steht plötzlich da mit Patronengürtel, die kurze Flinte auf dem Rücken. Er hält in der Hand einen reich mit Silber beschlagenen Pferdezaum. Wollen Sie übrigens ein Bonbon haben?

Lerch nimmt das Bonbon, das sie ihm reicht. Mit dem größten Dank, Exzellenz. Er hält das Bonbon zwischen zwei Fingern vor seinem Mund. Ich weiß nicht wieso, aber Sie erinnern mich irgendwie an Katharina die Zweite, gnädige Frau. Er ißt das Bonbon und fällt sofort, paralysiert, neben Lars nieder.

Die Landedelfrau macht Zeichen. Blitze zucken um ihr Haupt. Es wird stockdunkel. Draußen entsteht ein wildes Gekreisch, ein rasender Sturm bricht los. Eine Männerstimme singt darin oder spricht pathetisch.

Stimme.
Tod ist ein selig Ding.
Je kräftiger er ist,
je herrlicher daraus
das Leben wird erkiest.

Dann tritt jäh tiefe Stille ein, bei hellem Mondlicht. Lerch liegt allein, der Körper von Lars Andersdal ist verschwunden.

Lerch erwacht und setzt sich auf. Ich habe eben einen wahren Kuhsturm erlebt. Aber das war natürlicherweise alles Traum . . . Es herrscht ja vielmehr eine geradezu beängstigende, tiefe Stille! – Das muß ich natürlich Lars erzählen, vorausgesetzt, daß ich es mir bis zum Morgen behalten kann . . . Das psychophysische Wellenmeer der Welt . . . – Wo lag doch Lars? – Hier liegt er nicht mehr! – Wenn ich nur wüßte, wo ich liege?! –? – Ja, wo lieg' ich? . . . wo lieg' ich? . . . Natürlich bin ich jetzt wach – oder träume ich? – Meine arme Seele hat ihren Anschluß verloren . . . ich schwebe . . . das macht der Kognak . . . »Jawoll!« würde Lars sagen . . . Das beste wäre, wenn ich wieder unter die Schwelle des Bewußtseins hinabsänke! – – Nun werden wieder sieben Besen ausdrücklich die Treppe herabgefeuert. Das alte Lied, die alte Leier! Die alte Landedelfrau hat wieder mal eine große Kavalkade unternommen. Ich habe sieben Besen gezählt, die sie nach dem Gebrauch die Treppe heruntergefeuert hat. Lars ist sicher der achte gewesen.

Er schläft ein.

Lars Andersdal kommt durch den Garten mit lebhaften Schritten herein.

Lars. Hier hab' ich irgendwo gelegen, soviel ich mich erinnern kann. Da liegt was. Das werde ich wahrscheinlich sein. Er findet den schlafenden Lerch und dreht ihn hin und her. Was für ein fremder Klumpen ist das?! Ein lähmender, ein furchtbarer Zustand, wenn Leib und Seele geschieden sind.

Lerch. Lassen Sie mich doch endlich schlafen! Verwickeln Sie mich doch nicht immerfort in Ihre abgeschmackte Gespenstergeschichte, Lars!

Lars. Lerch! Richtig, Lerch! Also, Sie sind's, Lerch?!

Lerch. Leben Sie noch? Na Gott sei Dank! Ich fürchtete schon, sie hätte Ihnen den Adamsapfel durchgebissen.

Lars. Sie wissen ja doch, ich war in Paris.

Lerch. Mir wäre nicht unlieb, wenn es Tag würde.

Lars. Uns leuchtet die nächtliche Sonne Saturns . . . – Aber ich möchte jetzt doch mal wissen, wo meine Siebensachen geblieben sind.

Lerch. Was nennen Sie Ihre Siebensachen?

Lars. Meine Siebensachen? Mein Kopf, meine Beine, mein Bauch, meine Brust, mein irdischer Leichnam mit einem Wort.

Lerch. Ich verstehe kein Sterbenswort.

Lars. Sie waren doch dabei, wie der Kerl, der Marquis Seigneur de Beauvau-Craon, mir sein Schnippchen geschlagen hat. Drei Wochen habe ich auf den Scheck gewartet in Paris, das heißt, meine losgetrennte Seele. Es war ja manchmal ganz nett, das bestreite ich nicht. Aber schließlich war es nicht angenehm, als sich die Unterschrift als gefälscht erwies und ich, ohne einen Franken für meine Forschungsreise von dem Filz herausgeholt zu haben, als betrogene Seele abziehen mußte. Aber zum Donnerwetter, wo ist denn mein aus Lehm gekneteter alter Adam hingekommen? Er lag doch hier, Lerch?! Er lag doch neben Ihnen, Sie müssen sich doch noch daran erinnern!

Lerch. Entschuldigen Sie, Lars, ich erinnere mich nicht.

Lars. Was?! Sind Sie ein Schuft? Sie erinnern sich nicht?

Lerch. Nein, bei Gott, ich erinnere mich nicht.

Lars. Sie erinnern sich nicht an mein stolz aufgerichtetes Haupt, meinen Adlerblick, meinen Stiernacken, meinen prachtvollen Thorax, meinen Bizeps, Trizeps et cetera, meine Oberschenkel aus Stahl, meine Waden, die alle Mädchen toll machten?

Lerch. Auf Ehrenwort, ich erinnere mich nicht.

Lars. Brachte ich Sie nicht mit hierher? Habe ich nicht Wasserstiefel angehabt? Schoß ich nioht gerade, eh wir hier eintraten, ein Wasserhuhn, dessen Beine wie Schnuren schlenkerten?

Lerch. Halt! Warten Sie mal, mir hat was geträumt! Ich wollte mir die Geschichte merken . . . es war irgend etwas, das Sie betraf. Ich wollte Sie gleich darauf aufmerksam machen.

Lars. Was? Was? Ich schreie!! Man hat mich lebendig begraben! Hilfe! Hilfe! Luft! Luft! – Lerch, wer hat meinen Leichnam gestohlen?

Lerch schlägt sich an den Kopf. Die Generalin! Nun weiß ich es, Lars!

Lars Andersdal springt auf, rennt gegen den Treppeneingang, an dem sich die sieben Besen drohend erheben. Er kämpft mit ihnen wie ein Berserker, er schleudert sie umher, wie der Rasende Roland ausgerissene Tannen umherschleudert.

Lars, im Kampf, schreit. Mein Leib! mein Nervensystem! mein Sonnengeflecht! meine Aorta! mein Fleisch! mein Blut! meine Wirbelsäule! meine Fünf-Sinnen-Maschine überhaupt!

Lerch duckt und versteckt sich.

Lerch. Hart auf hart! Mann gegen Mann! Mann gegen Mann!

Lars, wie vorher. Mein Rückenmark! meine endokrinen Drüsen! meine Hypophyse und Bauchspeicheldrüse! meine Keimdrüse nicht zu vergessen! – Tolle Madame! Tolle Madame!

Jetzt hört man oben im Haus die zauberisch girrenden Koloraturen einer verzückten weiblichen Stimme. Gleichzeitig ist ein schönes Mädchen in Hosentracht des orientalischen Harems die Treppe heruntergekommen. Sie hebt die Hand mit einer weichen Bewegung, die Besen fallen um, Lars starrt sie an.

Lerch fährt auf und verschwindet gleich wieder. Ich habe süße und weiche Gefühle . . .

Das schöne Mädchen. Die Frau Generalin bittet die Seele von Herrn Lars Andersdal, doch gefälligst zu ihr hinaufzukommen. Im Augenblick ist sie sehr fröhlich gestimmt.

Lars. Die Teufelin hat meinen Körper gestohlen.

Das schöne Mädchen. Er ist oben auf dem großen, mit grüner Seide bezogenen Paradebett sorgfältig für Sie aufgebahrt, Sie können ihn jederzeit wieder in Besitz nehmen.

Lars starrt das schöne Mädchen verzückt an. Oh, oh, nun habe ich auch meine Seele verloren.

Das schöne Mädchen. Eh es zu spät ist, schnell, schnell, kommen Sie mit!

Sie führt Lars die Treppe hinauf. Beide verschwinden. Die Koloraturen der weiblichen Stimme gehen eine Weile fort und in den Gesang der Vögel über, die draußen erwachen. Es wird nun sehr schnell Licht. Der Morgen ist da. Man sieht, als ob nichts geschehen wäre, die beiden Freunde, in Decken und Mäntel eingewickelt, schlummern. Mit einem Ruck sitzt Lerch aufrecht und erwacht.

Lerch sieht nach der Uhr. Wir haben die Zeit verschlafen, Andersdal.

Lars wendet sich gegen die Weckversuche Lerchs. Lassen Sie mich, ich will weiterschlafen. Ich kann kein Glied rühren. Ich glaube, ich habe mir in diesem verfluchten Nest eine schwere Gicht zugezogen.

Lerch. Ihre Glieder sind nur ein bißchen steif. Wenn wir erst in Bewegung kommen, im Handumdrehen verliert sich das.

Lars. Wenn ich mich nur nicht bewegen müßte. Mir graut davor. In mir steckt eine bleierne, totenähnliche Müdigkeit. Wenn ich aufstehe, werd' ich im Stehen schlafen. Haben Sie mal über Ihre große Zehe nachgedacht?

Lerch. Gelegentlich wohl. Zum Beispiel als Kind, als ich sie zum ersten Male entdeckte und zwischen die Finger nahm. Es war um die Zeit, wo ich meinen Ödipus-Komplex noch ohne jede Furcht vor dem Staatsanwalt am Busen meiner Mutter bergen konnte. Ach meine liebe Mutter: sie ist tot. Lars hat sich aufgerichtet, und es gelingt ihm nur mit großer Mühe, einen seiner großen Wasserstiefel auszuziehen. Was machen Sie denn, wir wollen doch aufbrechen?!

Lars. Ich will mich nur vergewissern, ob ich noch im Besitz einer großen Zehe bin. Zu Lerch. Ist das hier eine große Zehe?

Lerch. Das ist eine große Zehe.

Lars. Jawoll!

Er fängt nun an, seinen ganzen Körper abzutasten.

Lerch. Sie massieren wohl Ihre Gicht?

Lars. Jawoll! Während er schnell seinen Stiefel wieder anzieht. Aber nun, lieber Lerch, so schnell wie möglich fort von dieser Brandstätte! Er steht auf, hinkt, dreht sich und zuckt zusammen. Das hat man von diesen nächtlichen Biwaks im Freien: einen scheußlichen Hexenschuß! Halten Sie mich mal aufrecht, Lerch!

Lerch. Mut! Mut! Sie müssen in Gang kommen.

Lars. Es ist mir, als ob ich an keiner Stelle meines irdischen Leibes keinen blauen Fleck hätte.

Lerch. Haben Sie schlechte Träume gehabt?

Lars. Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Aber nun geht es schon wieder ein bißchen, Lerch. Und nun wollen wir wieder Enten totschießen. Er entfernt sich, nur noch mit leisem Hinken, an der Seite Lerchs. Die Vögelstimmen jubilieren. Als beide Männer verschwunden sind, hört man drei Schüsse knallen.

 


 


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