Gerhart Hauptmann
Griechischer Frühling
Gerhart Hauptmann

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Unten, im Dämmer der Rückfahrt, während die Feldgeister über der in Gerstenhalmen wogenden Gräberstätte des alten Korinth sich zu regen beginnen, zuckt im Rädergeroll der nächtlichen Fahrt ein und das andere Bild der lärmenden alten Stadt vor der Seele auf. Mitunter ist alles plötzlich von einer so tosenden Gegenwart, daß ich Geschwätz und Geschrei des Marktes um mich zu hören glaubte, und alles dieses mit dem Anblick weiter abgelegener Felder verquickt, die sich rings um den übermächtig hineingelagerten, finsteren Gewalttäterfelsen wie Leichentücher weit umherbreiten.

Und ohne daß dieser tote Dämmer, dieses ewig teilnahmlose Gegenwartsbild verändert wird, sehe ich die Lohe der Totenfeier Melissens nächtlich hervorbrechen und fühle das Fieber, das die leidenschaftliche Kraft des großen Periander auf die Bewohner der geknechteten Stadt überträgt. Der Heratempel ist vom Geschrei der Weiber erfüllt, denen die Bravi die Kleider vom Leibe reißen, die Gassen vom Geschrei jener anderen, die nackt und beraubt entkommen sind. Nicht weit vom Tempel, den Blick in den rötlichen Schein der Feuersbrunst mit einem starren Lächeln gerichtet, steht Lykophron: durch Schmerz und die Wollust der Selbstkasteiung fast irrsinnig, das Antlitz durch Hunger und innere Wut verzerrt, aber in diesem Augenblick nicht nur vom Widerscheine des Feuers, sondern von einem bösen Triumphe verklärt. Rings lärmen und brüllen die Leute um ihn: es ist durch Verordnung Perianders aufs strengste verboten, ihn anzureden.

Als aber am folgenden Tage Periander selbst dies zu tun unternimmt, erhält er von seinem Sohne nur diese Antwort: Man wird dich in Strafe nehmen, weil du mit Lykophron gesprochen hast.

 

Gegen zwölf Uhr mittags, nachdem wir am Morgen Korinth verlassen haben, befinde ich mich in einer Herberge, von der aus man die argivische Ebene übersieht. Sie ist begrenzt von gewaltigen peloponnesischen Bergzügen und augenblicklich durchbraust von einem heißen Wind, der in der blendenden Helle des Mittags die Saatfelder wogen macht.

Der Raum, in dem die Kuriere das Frühstück auftragen, hat den gestampften Boden einer Lehmtenne. Er ist zugleich Kaufladen und Weinausschank. Es riecht nach Kattun. Blaue Kattune sind in den Wandregalen aufgestapelt. Dank den Kurieren, die in Athen eine Korporation bilden, herrscht in den Herbergen, die sie bevorzugen, eine gewisse Sauberkeit.

Ich bin vor die Tür des kleinen Wirtshauses getreten. Die von den Bergen Arkadiens eingeschlossene Ebene ist noch immer durchbraust von Sturm und steht noch immer in weißer Glut. In weißlich blendendem Dunst liegt der Himmel über uns. Die Burg von Argos, Larissa, ist in der Talferne sichtbar, der Boden des Tals ist in weite Gewände abgegrenzt, die teils von wogender Gerste bedeckt, teils unbestellt und die trockene rote Scholle zeigend daliegen.

Diese Landschaft erscheint auf den ersten Blick ein wenig kahl, ein wenig nüchtern in ihrer Weiträumigkeit. Ich bin nicht geneigt, sie als Heimat jener blutigen Schatten anzusprechen, die unter den Namen Agamemnon, Klytaimnestra, Aigisthos und Orestes ruhelos durch die Jahrtausende wandern. Ihre Heimat war im Haupte des Aischylos und des Sophokles.

Die Gestalten der großen Tragödiendichter der Alten sind von einem Element des Grauens getragen und in ihm zu körperlosen Schatten aufgelöst. Es ist in ihnen etwas von den Qualen abgeschiedener Seelen enthalten, die durch die unwiderstehliche Macht einer Totenbeschwörung zu einer verhaßten Existenz im Lichte gezwungen sind. Auf diese Weise wecken sie die Empfindung in uns, als stünden sie unter einem Fluch, der ihnen aber, so lange sie noch als Menschen unter Menschen ihr Leben lebten, nicht anhaftete. Der schlichte Eindruck einer realen landschaftlichen Natur bei Tageslicht widerlegt jeden Fluch und zwingt der bis zum Zerreißen überspannten Seele den Segen natürlicher Maße auf.

Den Tragikern bleibt in dieser Beziehung Homer vollkommen gesondert gegenübergestellt. Seine Dichtungen sind keine Totenbeschwörungen. Über seinen Gedichten ist nirgend das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang – seines gleicht überall einem Lobgesang, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element der Klage wie von seinem Lebensblute durchdrungen ist, so ist das Gedicht Homers eine einzige Vibration der Lobpreisung. Die dichtende Klage und heimliche Anklage und das dichtende Lob, wer kann mir sagen, welches von beiden göttlicher ist?

Die Tragödie ist immer eine Art Höllenzwang. Die Schatten werden mit Hilfe von Blut gelockt, gewaltsam eingefangen und brutal, als ob sie nicht Schatten wären, durch Schauspieler ins reale Leben gestellt: da müssen sie nun nichts anderes als ihre Verbrechen, ihre Niederlagen, ihre Schande und ihre Bestrafungen öffentlich darstellen. Hierin verfährt man mit ihnen erbarmungslos.

Seit Beginn meiner Reise liegt mir eine wundervolle Stelle der Odyssee im Sinn. Der Sonnengott, dem man seine geliebte Rinderherde getötet hat, klagt die Frevler, die es getan haben, die Genossen des Odysseus, im Kreise der Götter an und droht, er werde, sofern man ihn nicht an den Tätern räche, fortan nicht mehr den Lebenden, sondern den Toten leuchten:

Büßen die Frevler mir nicht vollgültige Buße des Raubes,
steig' ich hinab in Aïdes' Reich und leuchte den Toten!

 

Wer wollte diese erhabenste und zugleich herrlichste Drohung in ihren überwältigenden Aspekten nicht empfinden! Es ist nicht mehr und nicht weniger als der ganze Inhalt eines künftigen Weltepos, dessen Dante geboren werden wird. Aber wenn nicht mit der ganzen apollinischen Lichtgewalt, so doch mit einem Strahle davon erscheinen die Gestalten Homers beglückt und sind damit aus dem Abgrund der Toten zu neuem Leben geweckt worden, und es ist nicht einzusehen, warum der Gott nicht auch dem dramatischen Dichter einen von seinen Strahlen leihen sollte. Ist doch das Dramatische und das Epische niemals rein getrennt, ebensowenig wie die Tendenzen der Zeit und des Ortes. Und wer wüßte nicht, wie das Epos Homers zugleich auch das gewaltigste Drama und Mutter zahlloser späterer Dramen ist.

Wenn wir einen Durchbruch des apollinischen Glanzes in die Bereiche des Hades als möglich erachteten, so möchte ich die Tragödie, cum grano salis, mit einem Durchbruch der unterirdischen Mächte oder mit einem Vorstoß dieser Mächte ins Licht vergleichen. Ich meine damit die Tragödie seit Aischylos, von dem es heißt, daß er es gewesen ist, der den Erinnyen Schlangen ins Haar geflochten hat.

Nehmen wir an, die Tragödie habe dem gleichen Instinkt gedient wie das Menschenopfer. Dann trat allerdings an Stelle der blutigen Handlung der unblutige Schein. Trotzdem in Wahrheit aber Menschenblut nicht vergossen wurde, hatte die bange und schreckliche Wirkung an Macht gewonnen und sich vertieft, derart, daß erst jetzt eine chthonische Wolke gewaltsam lastend und verdüsternd in den olympischen Äther stieg, deren grauenerregende Formen mit den homerischen Lichtgewölken olympischen Ursprungs rangen und schließlich den ganzen Olymp der Griechen verdüsterten.

 

Wir brechen auf, um die Trümmer von Mykene und die unterirdischen Bauten zu sehen, die man Schatzhäuser nennt. Ich bin durchaus homerisch gestimmt, wie denn mein ganzes Wesen dem Homerischen huldigt, auch wenn ich nicht des wundervollen Schatzes gedenken müßte, der im Museum zu Athen geborgen liegt und der aus den Gräbern von Mykene gehoben ist. Wo ist das Blutlicht, mit dem Aischylos und Sophokles durch die Jahrhunderte rückwärts diese Stätte beleuchteten? Es ist von der Sonne Homers getilgt. Und ich sehe in diesem Augenblick die Greueltaten der Klytaimnestra, des Aigisth und des Orest höchstens mit den Augen des Menelaos in Sparta an, als er dem jugendlichen Telemach, der gekommen ist, nach Odysseus, seinem Vater, zu forschen, davon erzählt:

Aber indessen erschlug mir meinen Bruder ein andrer
heimlich mit Meuchelmord durch die List des heillosen Weibes . . .
Dennoch, wie sehr ich auch traure, bewein' ich alle nicht so sehr
als den einen . . .

womit er Odysseus – nicht einmal Agamemnon! – meint, den lange Vermißten.

Wer, der die kerngesunde Königsidylle jenes Besuches liest, den Telemach in Sparta abstattet, könnte dagegen des Glaubens sein, daß der erprobte Held, Mann und Bruder sich sophokleischen Blutträumen überlassen hätte? Zumal, wenn er sagt:

Laßt uns also des Grams und unserer Tränen vergessen . . .

oder wenn Helena bei ihm ruhte, noch immer »die Schönste unter den Weibern«.

 

Das Löwentor, der mykenische Schutthügel und die Hügel ringsum sind von Sonne durchglüht und von Sturm umbraust. Überall füllt Duft von Thymian und Myrrhen die Luft. Ganz Griechenland duftet jetzt von Thymian und Majoran. In den Kalksteintrümmern der alten Stadt schreien Eulen einander zu, wach und lebhaft, trotz hellblendender Sonne. Weiß wie Schlacke liegt Trümmerstück an Trümmerstück.

Die Burg hat eine raubnestartige Anlage: in Hügeln versteckt und von höheren felsigen Bergen gedeckt, übersah sie das ganze rossenährende Argos. Zur Seite hatte sie eine wilde Kluft, die jeden Zugang verhinderte.

Es ist von eigentümlichem Reiz, sich nach den mykenischen Gräberfunden in dieser Umgebung ein Leben in Üppigkeit und Luxus vorzustellen: Männer und Frauen, die sich schnürten, und besonders Frauen, deren Toiletten an Glanz und Raffinement der Toilette einer spanischen Tänzerin, die in einem Pariser Theater tanzt, gleichgekommen sind. Aber schließlich ist es wieder Homer, der überall den Sinn für Komfort und Luxus entwickelt und nie vergißt, Bäder, duftende Betten, reinliches Linnen, hohe und hallende Säle, Schmuck und Schönheit der Weiber, ja sogar den Wohlgeschmack des Getränks und der Speisen gebührend zu würdigen.

 

Die unterirdischen Kuppelbauten, die Pausanias Schatzhäuser nennt, sind ihrer eigentlichen Bestimmung nach noch heute ein Rätsel. Sie waren bekannt, wie es scheint, durch das ganze griechische Altertum und wahrscheinlich, soweit sie frei lagen, wie noch heute, erfüllt von Bienengesumm. Das »Schatzhaus des Atreus« ist völlig freigelegt. Die weiche, sausende Chormusik der kleinen honigmachenden Priesterinnen der Demeter, die den unterirdischen Bau erfüllt, verbreitet mystische Feierlichkeit. Sie scheinen im Halblicht der hohen Kuppel umherzutaumeln. Sie fliegen, an den unbestrittenen Besitz dieser Räume gewöhnt, gegen die Köpfe der Eintretenden. Ihr sonorer Flug bewegt sich mit Gehen und Kommen in eine niedrige Nebenkammer, die sehr wohl eine Grabkammer sein könnte. Aber die Menge der Schatzhäuser würde durch eine Bestimmung als unterirdische Tempelgräber, für Totenopfer und Totenkult, nicht erklärt. Ich stelle mir aber gern inmitten dieses sogenannten Atreusschatzhauses einen Altar vor und das Feuer darauf, das den Raum erleuchtet und lärmend belebt und dessen Rauch durch die kleine runde Öffnung der Kuppel abzieht und oben scheinbar aus der Erde selber hervordringt.

 

Drei Schimmel ziehen unsern Wagen im Galopp durch die Vorstädte von Tripolitza in die arkadische Landschaft hinaus. Der wolkenlose Himmel ist über weite Ackerflächen gespannt, auf denen Reihen bunter griechischer Landleute arbeiten. Der Tag wird heiß. Die Luft ist erfüllt von Froschgequak.

Nun, nach einer längeren Fahrt durch kleine Ortschaften, verlassen wir die Ebene von Tegea. Die schöne Landstraße steigt bergan, und statt der Felder haben wir rötlich-graue Massen kahlen Gesteins zur Rechten und Linken, die spärlich mit Thymiansträuchern bewachsen sind. Es beginnt damit ein Arkadien, das mehr einer Wüstenei als dem Paradiese ähnlich sieht. Nach einiger Zeit ist in der Höhe ein Dorf zu sehen, mit einigen langen, dünnbelaubten Pappeln, die das Auge hungrig begrüßt. Nur wenig lösen sich die Häuser der Ortschaft von ihrem steinichten Hintergrund, der mit schmalen Gartenstreifen rötlicher Erde durchsetzt ist.

Die Spitzen des Parnon werden zur Linken sichtbar, auf denen der Schnee zu schwinden beginnt. Ein kühler Wind setzt ein und erquickt inmitten dieser arkadischen Wüste.

Ich hatte hier einen womöglich noch größeren Reichtum an Herden zu sehen gehofft als zwischen Parnaß und Helikon: aber auf weitgedehnten, endlosen Trümmerhalden und auf der Landstraße begegnet nur selten Herde und Hirt. Die Gegend ist arm und ausgestorben, die ehemals das waldreiche Paradies der Jäger und Hirten gewesen ist.

Die Straße wendet sich auf einer freien Paßhöhe rechts und tritt in das Gebiet von Lakonika. Der Taygetos liegt nun breit und mächtig mit weißen Gipfeln vor uns da.

Aus einer ärmlichen Schenke ertönt Gesang. Und zwar ist es eine Musik, die an das Kommersbuchtreiben deutscher Studentenkneipen erinnert. Die Stimmen gehören Gymnasiallehrern aus Sparta an, die, noch im Osterferienrausch, fröhlich dorthin zurückreisen.

Es erscheinen jetzt Äcker, Gartenflächen, Wiesen und Bäume oasenartig. Die Erde zwischen Felsen und Bäumen ist rot, und hier und da stehen rötliche Wasserlachen.

Der Parnon verschwindet und taucht wieder auf. Die Gegend gewinnt, nachdem wir die Paßhöhe überschritten haben, an Großartigkeit. Einige der vielen steinichten Hochtäler, die man übersieht, zeigen Baumwuchs inselartig in ihrer Tiefe. Es ist mir, solange mein Auge durch diese uferlosen, kochenden Wüsteneien schweift, als ob ich das traurig-nackte, ausgetrocknete Griechenland mit einem Mantel grüner Nadelwälder bedecken müßte, und meine Träumereien führen Armeen tätiger Menschen hierher, die, vom sorglich gepflegten Saatkamp aus, in geduldiger Arbeit Arkadien aufforsten. Mit tiefem Respekt gedenke ich der zähen Kraft und Tüchtigkeit jener Männer und Frauen meiner engeren Heimat, auch derer mit krummgezogenem Rücken, die den Forst ernähren, mehr wie sie der Forst ernährt, und mit Staunen vergegenwärtige ich die Schöpferkraft, die in der harten Faust der Arbeit liegt.

 

Wir halten Rast. Die Herberge ist an eine Krümmung der Bergstraße gestellt. Unter uns liegt ein weites Tal, das der Taygetos mit einer Kette von Schneegipfeln mächtig beherrscht. Der Himmel glüht in einer fast weißen Glut. Hügelige Abhänge in der Nähe, von Olivenhainen bestanden, erscheinen ausgebrannt.

Unsere Herberge hat etwas Japanisches. Das Schilfdach über der schwankenden Veranda, auf der wir stehen, ist durch dünne Stangen gestützt. Unten klingeln die müden Pferde mit ihren Halsglöckchen. Die trinkfrohen Lehrer aus Sparta haben uns eingeholt und sitzen lärmend unten im Gastzimmer. Wir werden in ein oberes Zimmer geführt, dessen Dielen dünn wie Oblaten sind. Durch fingerbreite Fugen zwischen den Brettern können wir zu den Lehrern hinabblicken. Der Kurier trägt ein Frühstück auf. Indessen schwelgen die Augen und ruhen zugleich im jungen Blättergrün eines Pappelbaums, der, vom heißen Winde bewegt, jenseit der Straße schwankt und rauscht.

Nachdem wir gegessen haben, ruhen wir auf der Veranda aus. Bei jedem Schritt, den wir etwa tun, schaukelt die ganze Herberge. Zwei Schwalben sitzen nahe bei mir unter dem Schilfdach auf der Geländerstange. Überall um uns ist lebhaftes Fliegengesumm.

 

Wir haben vor etwa einer Stunde das Chani verlassen, wo uns die Lehrer aus Sparta eingeholt hatten. Ihr Einspännerwägelchen stand, als wir abfuhren, vor der Tür und wartete auf die indessen lustig zechenden Gäste. Sonderbar, wie in diesem heißen, stillen und menschenleeren Lande die brave Turnerfidelitas anmutete, die immer wieder in einem gewaltigen Rundgesang gipfelte!

Die Straße beginnt sich stärker zu senken. Wir fahren weite Schlingen und Bogen an tiefen Abstürzen hin, die aber jetzt den Blick in eine immer reicher ausgestaltete Tiefe ziehen. Wir nähern uns der Gegend von Sparta, dem schönen Tal des Eurotas an.

Es ist eine wundervolle Fahrt, durch immer reicher mit Wein, Feigenbäumen und Orangenhainen bestandene Abhänge. Ziegen klettern zur Linken über uns und zur Rechten unter uns. Lieblich gelegene Ansiedelungen mit weißem Gemäuer mehren sich, bis wir endlich das flache Aderngeflecht des Eurotas und zugleich die weite Talsohle überblicken können.

Fast wie Vögel senken wir uns aus gewaltiger Höhe auf das moderne Sparta herab, das, mit weißen Häusern, aus Olivenhainen, Orangengärten und Laubbäumen weiß heraufleuchtet. Es ist mir dabei, als beginne das strenge und gleichsam erzene Wort Sparta sich in eine entzückende, ungeahnte südliche Vision aufzulösen. Eine augenblendende Vision von Glanz und Duft.

Ich kann nicht glauben, daß irgendein Land an landschaftlichen Reizen und in der Harmonie solcher Reize mit dem griechischen wetteifern könnte. Es zeigt den überraschendsten Wechsel an Formen und überall eine bestrickende Wohnlichkeit. Man begreift sogleich, daß auch dieses Tal von Sparta eine festgeschlossene Heimat ist, mit der die Bewohner, ähnlich wie mit einem Zimmer, einem Hause, verwachsen mußten.

Ich möchte behaupten, daß der Reichtum der griechischen Seele zum Teil eine Folge des eigenartigen Reichtums der griechischen Muttererde ist. Wobei ich von dem landschaftlichen Sinn der Alten den allerhöchsten Begriff habe. Natürlich nicht als einem landschaftlichen Sinn in der Weise moderner Malerei, sondern als einer Art Empfindsamkeit, die eine Seele immer wieder zum unbewußten Reflex der Landschaft macht.

Zweifellos war die Phantasie im Geiste des Menschen die erste und lange Zeit alleinige Herrscherin, aber das im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten feste Relief des Heimatsbodens blieb in einem gewissen Sinne ihr Tummelplatz. Was an bewegten Gestalten von ihr mit diesem Boden verbunden wurde, das hatte dieser Boden auch miterzeugt.

Das unbewußte Wirken des Geistes, im Kinde so wie im Greise, ist immer wesentlich künstlerisch, und Bildnertrieb ist eine allgemein verbreitete Eigenschaft, auch wo er sich nie dem äußeren Auge sichtbar kundgibt. Auch der Naivste unter den Menschen wohnt in einer Welt, an deren Entstehung er den hauptsächlichsten Anteil hat und die zu ergründen ebenso reizvoll sein würde, als es die Bereisung irgendeines unentdeckten Gebietes von Tibet ist. Unter diesen Naivsten aber ist wiederum keiner, der nicht das Beste, was er geschaffen hat, mit Hilfe des kleinen Stückchens Heimat geschaffen hätte, dahinein er geboren ist.

 

Ich befinde mich im Garten eines kleinen Privathauses zu Sparta. Vor etwa einer Stunde sind wir hier angelangt. Ich habe mich beeilt, aus dem dürftigen Zimmerchen, das man uns angewiesen hat, wieder ins Freie zu gelangen. Es war eine sogenannte gute Stube, und es fehlte darin nicht einmal das Makartbukett.

Irgendwie, ich weiß zunächst nicht wodurch, bin ich in diesem Grasegarten an längst vergangene Tage erinnert. Eindrücke meines frühen Jünglingsalters steigen auf. Ich vergesse minutenlang, daß die verwilderte Rasenfläche unter meinen Füßen der Boden von Sparta ist. Dann kommt es mir vor, als wandle ich in jenem kleinen Obstgarten, der an das Gutshaus meines Onkels stieß, und etwas vom Tanze der nackten Mädchen Spartas und erster Liebe ginge mir durch den Kopf.

Es ist aber wirklich ein Garten in Sparta und nicht das Gehöft meiner guten Verwandten, wo ich jetzt bin. In der nahen Gartenzisterne quakt ein spartanischer Frosch, ich schreite an einer spartanischen Weißdornhecke hin, und spartanische Sperlinge lärmen.

Auf der Konsole des Nußbaumspiegels, dessen sich das Quartier meiner Gastfreunde rühmen kann, fand ich unter anderen Photographien auch ein Bild – das Bild eines hübschen ländlichen Mädchens –, das mir sogleich ins Auge fiel. Sie mag wohl längst gestorben sein oder ist etwa vor dreißig Jahren jung gewesen, um jene Zeit, als auch das Mädchen, an das ich mich jetzt erinnern muß, siebzehnjährig durch Garten, Hof und Haus meiner schlesischen Anverwandten schritt.

Die Bergwand des Taygetos ist zum Greifen nahe. Die Sonne versinkt soeben hinter die hohe Kammlinie, und beinahe das ganze Tal des Eurotas ist in Schatten gelegt. Die Landschaft ringsum ist zu dieser Stunde zugleich heroisch und anheimelnd.

Plötzlich finde ich mich mit lebhaftem Griechisch angeredet. Ein Mann hat mich zwischen Stachelbeer- und Johannisbeersträuchern entdeckt, ist herzugetreten und setzt voraus, daß ich Griechisch verstehe. Kurze Zeit bin ich hilflos gegen seine neuspartanische Zudringlichkeit, dann aber wird im Giebel unseres Häuschens – das übrigens, windschief, wie es ist, von außen betrachtet unbewohnbar scheint – ein Fenster geöffnet, und das schöne Mädchen, die schöne Spartanerin, noch ganz so jung, wie das Bild sie zeigte, lehnt sich heraus.

Der Mann von der Straße wird nun durch eine tiefe, sonore Frauenstimme zurecht-, das heißt aus dem Garten gewiesen, und ich habe, mit gebundener Zunge, Antlitz und Blick der hübschen Spartanerin über mir.

Gott grüß' euch, schönes Jungfräulein!
Wo bind' ich mein Rößlein hin? –
Nimm du dein Rößlein beim Zügel, beim Zaum,
bind's an den Feigenbaum!

Der irrationale Wunsch und Zwang, eine Stätte wie die des alten Sparta zu sehen, erklärt sich zwar nicht durch den Namen Lykurg, aber doch ist es vor allem der Genius dieses Namens, der Genius, dessen Wirken eine so unvergleichliche Folge hatte, den man in dieser Landschaft sucht. Man konnte nicht hoffen oder erwarten wollen, hier irgendein Jugendidyll, auch nur in Erinnerung, sich erneuern zu sehen: dennoch nimmt mich, statt jeder historischen Träumerei, eine solche Erinnerung jetzt in Besitz.

Nicht zweimal schwimmst du durch die gleiche Welle, sagt Heraklit, und es ist nicht dieselbe, die um mich und durch mich flutet, wie jene Frühlingswoge, durch die ich vor Jahren geschwommen bin: aber es ist doch auch wieder etwas von ewiger Wiederkehr in ihr.

Ich sage mir, daß Lykurg wiederum nichts weiter als ein großer Hirte, ein großer Schäfer gewesen ist, der den Nachwuchs seines Volkes in »Herden« teilte. Daß seine Gedanken in der Hauptsache sehr entschlossene Züchtergedanken gewesen sind, wie sie aus den Erfahrungen eines Hirtenlebens sich ergeben, und zwar mit Notwendigkeit. Lykurg, der trotzdem mit Delphi Verbindung hatte, war überwiegend ein Mann der kalten Vernunft, gesteh' ich mir, und wußte, wie keiner außer ihm, das zeitliche Leben vom ewigen und ihre Zwecke rein zu sondern. Allein durch alle diese Erwägungen vermag ich meine Seele nicht von dem spartanischen Ebenbilde meiner ländlichen Jugendliebe abzuwenden.

Jungens, nicht anders als Jungens sind, gucken über den Zaun, der hier allerdings von dem krebsscherenartig, stachliggrünen Gerank der Agave gebildet ist. Sie sind neugierig, werfen Steine in blühende Obstbäume, suchen etwas für ihre Tatkraft, stören mich. Der gleiche Fall veranlaßte mich vor Jahren, an einem denkwürdigen Tage, aus begreiflichen Gründen zu vergeblicher Heftigkeit, dagegen gelang es dem deutschen Urbilde der Spartanerin, das damals neben mir durch den Grasegarten schritt, die Knaben mit wenigen gütigen Worten zu bewegen, von ihren Störungen abzulassen.

 

Nun ist das schöne Mädchen im Garten erschienen. Ich grüße sie und werde dann magisch in die gleiche Richtung gezogen, die sie eingeschlagen hat, und durch dasselbe Pförtchen im Heckenzaun, durch das sie verschwunden ist.

Ich stehe auf einer kleinen begrasten Halbinsel hinter dem Garten, um die der starke Bergbach eilig sein klares und rauschendes Wasser trägt. Es kommt, eisfrisch, vom Taygetos. Kaum fünf Schritt von mir entfernt haben Zigeuner ihr Zelt aufgeschlagen. Der Vater steht in gut erhaltener kretischer Tracht, mit ruhiger Würde, pfeiferauchend, am Bachesrand. Die Mutter, von zwei Kindern umspielt, hockt an der Erde und schnitzelt Gemüse für die Abendsuppe zurecht, die allbereits über einem bescheidenen Feuerchen brodelt. Zwischen den braunen, halbnackten Kindern springt ein zähnefletschendes Äffchen umher. Dies alles, besonders das kleine Äffchen, wird mit kindlicher Freude bewundert von meiner Dorfschönen.

Ich sehe nun, sie ist kräftig gebaut und jünger, als ich nach dem Bilde, nach der Erscheinung am Fenster und nach den Lauten ihrer Stimme geurteilt hatte, wahrscheinlich nicht über fünfzehn Jahre alt. Sie erinnert mich an den derben Schlag der Deutschschweizerin. Die Zigeunermutter hat, sobald sie meiner ansichtig wurde, ihrem singenden, springenden Lausetöchterchen das Tamburin zugeworfen, womit es sich augenblicklich klirrend vor mir im Tanze zu drehen beginnt. In der Freude darüber trifft sich mein Blick mit dem der jungen Spartanerin.

Inzwischen ist alles um uns her mehr und mehr in abendliche Schatten gesunken. Die Glocke einer nahen Kirche wird angeschlagen. Gebrüll von Rindern dringt von den dämmrigen Weideflächen am Fuß des Taygetos. Das ganze Gebirge ist nur noch eine einzige, ungeheure, blauschwarze Schattenwand, die, scheinbar ganz nahe, den Bach zu meinen Füßen zu speisen scheint, dessen Wasser blauschwarz und rauschend wie flüssiger Schatten heranwandelt.

Grillen zirpen. Ein märchenhaftes Leuchten ist in der Luft. Kalte und warme Strömungen machen die Blätter der Pappeln und Weiden flüstern, die, zu ernsten, ja feierlichen Gruppen gesellt, die Ränder des breiten Baches begleiten.

 

Es ist ein Uhr nachts, aber in der Mondeshelle draußen herrscht trotzdem dämonischer Lärm. Hühner und Hähne piepsen und krähen laut, Hunde kläffen und heulen ununterbrochen. Mitunter klingt es wie Stimmen von Kindern, die mit lautem Geschrei lustig und doch auch gespenstisch ihr nächtliches Spiel treiben. In der Gartenzisterne quakt oder trillert immer der gleiche Frosch.

Die alten Spartaner befolgten jahrhundertelang eine Züchtungsmoral. Es hat den Anschein, als wenn die Moral des Lykurg in einem größeren Umfang noch einmal aufleben wollte. Dann würde sein kühnes und vereinzeltes Experiment, mit allen seinen bisherigen Folgen, vielleicht nur der bescheidene Anfang einer gewaltigen Umgestaltung des ganzen Menschengeschlechtes sein.

Wenn etwas vorüber ist, so ist es am Ende für unsere Vorstellungskraft gleichgültig, ob es gestern geschah oder vor mehr als zweitausend Jahren, besonders, wenn es menschlich voll begreifliche Dinge sind. Ob also die spartanischen Mädchen gestern nackt auf der Wiese getanzt haben, damit die Jünglinge ihre Zuchtwahl treffen konnten, oder vor dreitausend Jahren, ist einerlei. Ich nehme an, es sei gestern gewesen. Ich nehme an, daß man noch gestern hier die Willenskraft, den persönlichen Mut, die Disziplin, Gewandtheit, Körperstärke und jedwede Form der Abhärtung vor allem gepflegt und gewürdigt hat. Und daß meinethalben die Epheben noch heute nacht im Heiligtum des Phoibos, draußen auf den dämmrigen Wiesen, wo ich sie nicht sehe, wie unsre Zigeuner dem Monde einen Hund opfern.

Ihr Gesetzgeber war Lykurg, ihr Ideal Herakles. Die Standbilder beider Heroen standen auf beiden Brücken, die über den Wassergraben zum Spielplatz bei den Platanen führten. Leider ging es auf eine sinnlose Weise roh, mit Treten, Beißen und Augenausbohren, bei diesen Ephebenkämpfen zu.

 

Immer noch herrscht im Mondschein draußen derselbe dämonische Höllenlärm. Durch Ort, Stunde, Mondschein und Reiseermüdung aufgeregt, bevölkert sich meine Phantasie mit einer Menge wechselnder Vorstellungen, gleichsam einem altspartanischen Gespenster- und Kirchhofsspuk. Bald sehe ich zappelnde Säuglinge im Taygetos ausgesetzt, bald löffle ich selbst bei der gemeinsamen öffentlichen Männermahlzeit die greuliche schwarze Suppe ein, bald bin ich gleichzeitig dort, wo ein Ephebe zu Ehren der Artemis nackt im Tempel gegeißelt wird, und sehe auf dem entfernten Stadion Odysseus mit den ersten Freiern der jungfräulichen Penelope wettlaufen.

Zaudern ist, wie es scheint, schon damals eine Schwäche des edlen Weibes gewesen: ich führe auch die Mißwirtschaft der Freier, im Hause des Gatten, auf sie zurück. Ikarios, der Vater Penelopes, wollte sie aus dem Elternhause in Sparta nicht mit Odysseus ziehen lassen und folgte dem Paare, als es nun doch nicht zurückzuhalten war, im Wagen nach. Dem Odysseus aber, der das Herz seines Weibes noch auf der Reise schwankend sah, ist, nach einem Bericht des Pausanias, die Geduld gerissen, und er hat kurzer Hand seinem Weibe an einer gewissen Stelle des Weges zur Wahl gestellt: entweder nun entschlossen mit ihm nach Ithaka oder mit ihrem Vater und einem Abschied für immer wieder nach Sparta heimzureisen.

 

Der Spuk der Nacht ist dem Lichte des Tages gewichen. Unten im Garten grasen Ziegen und eine Kuh. Das Zigeunermädchen sucht nach irgend etwas die Hecken ab. Man hört drei- oder viermal die Pauke der Zigeuner anschlagen. Es ist kein Tropfen Tau gefallen in der Nacht. Ich schreite trockenen Fußes durchs hohe Gras.

Der Zigeuner und seine Frau hocken auf Decken vor ihrem Zelt. Er hat den roten Schal des Kreters bereits um die Hüften und schmaucht behaglich, indes die zerlumpte Gattin Knöpfe an seiner geöffneten Weste mit Zwirn und Nadel sorgsam festmacht. Der Bergfluß rauscht um die Lagerstatt.

 

Herr Allan J. B. Wace, Pembroke College, Cambridge, hat die Freundlichkeit, uns im kleinen Museum von Sparta mit Erklärungen an die Hand zu gehen. Er geleitet uns durch ausgedehnte Olivenhaine, trotz brennender Sonnenglut, zur Ausgrabungsstätte am Eurotas. Zu Hunderten, ja zu Tausenden werden hier in den Fundamenten eines Athenatempels Figürchen nach Art unserer Bleisoldaten aufgefunden. Diese Figürchen, von denen viele zutage lagen, so daß die spartanischen Kinder mit ihnen spielten, verrieten das unterirdische Heiligtum.

 

Gegen Mittag besteigen wir Maultiere, nicht ohne Mühe, weil diese spartanischen Muli besonders tückisch sind. Die schöne Tochter unseres Gastfreundes, die uns noch gestern abend mit tremolierender Stimme etwas zur Laute sang, lehnt im Fenster der kleinen Baracke, nicht sehr weit über uns, und beobachtet die Vorbereitungen für unsere Abreise mit kalter Bequemlichkeit. Das hübsche, naive Kind von gestern, dessen Gegenwart mir die Erinnerung eines zarten Jugendidylls erneuern konnte, ist nur noch eine träge, unempfindliche Südländerin.

Ich erinnere mich – und schon ist dieses Gestern wieder Erinnerung! –, wie mir die Kleine nochmals im Garten begegnete, mir ins Gesicht sah und mich anlachte, mit einer offenen Lustigkeit, die keine Schranke mehr übrigläßt. Nun aber blickt sie über mich fort, als ob sie mich nie gesehen hätte, mit vollendeter Gleichgültigkeit.

 

Wir frühstücken gegen ein Uhr mittags im Hofe eines byzantinischen Klosters – einer Halbruine unter Ruinen – an den steilen Abhängen der Ruinenstätte Mistra.

Der quadratische Hof ist an drei Seiten von Säulengängen umgeben. Sie tragen eine zweite, offene Galerie. Die vierte Seite des Hofes ist nur durch eine niedrige Mauer vom Abgrund getrennt und eröffnet einen unvergleichlichen Blick in die Ferne und Tiefe des Eurotastales hinab.

Den kurzen Ritt von Sparta herauf haben wir unter brennender Sonne zurückgelegt. Hier ist es kühl. Eine Zypresse, uralt, ragt jenseits der niedrigen Mauer auf. Sie hat ihre Wurzeln hart am Rande der Tiefe eingeschlagen. Ich suche den Lauf des Eurotas und erkenne ihn an seiner Begleitung hoher und frischgrüner Pappeln. Ich verfolge ihn bis zu dem Ort, wo das heutige Sparta liegt: mit seinen weißen Häusern in Olivenwäldern, unter Laubbäumen halb versteckt.

Dieses mächtige, überaus glanzvolle südliche Tal, mit den fruchtreichen Ebenen seiner Grundfläche, widerspricht dem strengen Begriff des Spartanertums. Es ist vielmehr von einer großgearteten Lieblichkeit und scheint zu sorglosem Lebensgenusse einzuladen.

Herr Adamantios Adamantiu, Ephor der Denkmäler des Mittelalters in Mistra, stellt sich uns vor und hat die Freundlichkeit, seine Begleitung durch die Ruinen anzutragen. Seine Mutter und er bewohnen einige kleine Räume ebendesselben ausgestorbenen Klosters, in dem wir jetzt sind.

Oben, auf einer der Galerien, hat sich ein lustiger Kreis gebildet. Es sind die gleichen lebenslustigen Pädagogen, denen wir bereits auf dem Wege nach Sparta mehrmals begegnet sind. Sie befinden sich noch immer im Enthusiasmus des Weins und singen unermüdlich griechische, italienische, ja sogar deutsche Trinklieder.

Ich kann nicht sagen, daß dieser Studentenlärm nach deutschem Muster mir an dieser Stätte besonders willkommen ist, und doch muß ich lachen, als einer der fröhlichen Zecher, ein älterer Herr, im weinselig-rauhen Sologesang ausführlich darlegt, daß er weder Herzog, Kaiser noch Papst, sondern, lieber als alles, Sultan sein möchte.

Der lebenslustige Sänger, spartanischer Gymnasialprofessor, spricht mich unten im Hofe an. Er macht mir die Freude, zu erklären, ich sei ihm seit langem kein Unbekannter, was mir begreiflicherweise hier, an dem entlegenen Abhange des Taygetos, seltsam zu hören ist.

 

Die Herren Lehrer haben Abschied genommen und sich entfernt. Herr Adamantios Adamantiu hat mittels eines altertümlichen Schlüssels ein unscheinbares Pförtchen geöffnet, und wir sind, durch einen Schritt, aus dem hellen Säulengang in Dunkelheit und zugleich in ein liebliches Märchen versetzt.

Der blumige Dämmer des kleinen geheiligten Raumes, in den wir getreten sind, ist erfüllt von dem Summen vieler Bienen. Es scheint, die kleinen heidnischen Priesterinnen verwalten seit langem in dieser verlassenen Kirche Christi allein den Gottesdienst. Allmählich treten Gold und bunte Farben der Mosaiken mehr und mehr aus der Dunkelheit. Die kleine Kanzel, halbrund und graziös, erscheint, mit einer bemalten Hand verziert, die eine zierliche, bunte Taube, das Symbol des Heiligen Geistes, hält.

Dieses enge byzantinische Gotteshaus ist zugleich im zartesten Sinne bezaubernd und ehrwürdig. Man findet sich nach dem derben Schmollistreiben der Herren Lehrer ganz unvermutet plötzlich in ein unterirdisches Wunder der Schehrazade versetzt, gleichsam in eine liebliche Gruft, eine blumige Kammer des Paradieses, abgeschieden von dem rauhen Treiben irdischer Wirklichkeit.

Herr Adamantios Adamantiu, der Ephor, liebt die ihm anvertrauten Ruinen mit Hingebung, und was mich betrifft, so empfinde ich schmerzlich in diesem Augenblick, daß ich mich schon im nächsten von dem reinen Vergnügen dieses Anblicks trennen muß. Reichtum und Fülle köstlichen Schmucks wird hier vollkommener Ausdruck des Traulichsten, Ausdruck der Einfalt und einer blumigen Religiosität. Das byzantinische Täubchen am Rande der Kanzel verkörpert ebensowohl einen häuslichen als den Heiligen Geist.

Es scheint, daß Herr Adamantios Adamantiu keinen heißeren Wunsch im Herzen trägt, als dauernd diese Ruinen zu hüten, und ich bin überrascht, im Laufe der Unterhaltung wahrzunehmen, wie sehr verwandt der Geist des lauteren Mannes mit jenem ist, der dieses Kirchlein schuf und erfüllt.

Mit leuchtenden Augen erklärt er mir, daß ich, glücklicher als der große Goethe, diese Stätten mit leiblichen Augen sehen kann, wo Faust und Helena sich gefunden haben.

In dieses Heiligtum gehört keine Orgel noch Bachsche Fuge hinein, sondern durchaus nur das Summen der Bienen, die von den zahllosen Blüten der bunten Mosaiken Nektar für ihre Waben zu ernten scheinen.

 

Sparta und Helena scheinen einander auszuschließen. Was sollte ein Gemeinwesen mit der Schönheit als Selbstzweck beginnen, wo man den Wert eines Suppenkochers höher als den eines Harfenspielers einschätzte? Was hätte Helena mit der spartanischen Strenge, Härte, Roheit, Nüchternheit und Tugendboldigkeit etwa gemein?

Ein junger Spartaner rief, als man beim Gastmahl eine Lyra herbeibrachte: solche Tändeleien treiben sei nicht lakonisch. Wer möchte nun, da Helena und die Leier Homers nicht zu trennen sind, behaupten wollen, daß Sparta Helenen eine wirkliche Heimat sein konnte?

Herr Adamantios Adamantiu geleitet uns stundenlang auf mühsamen Fußpfaden durch die fränkisch-byzantinisch-türkische Trümmerstadt, die erst im Jahre 1834 durch Ibrahim Pascha zerstört worden ist. Das alte Mistra war an die schwindelerregenden Felswände des Taygetos wie eine Ansiedelung von Paradiesvogelnestern festgeklebt. Einzelne Kirchen werden durch wenige Arbeiter unter Aufsicht des Herrn Ephoren sorgsam, Stein um Stein, wiederhergestellt: Baudenkmäler von größter Zartheit und Lieblichkeit, deren Zerstörung durch die Türken einen unendlich beklagenswerten Verlust bedeutet.

Überall von den Innenwänden der Tempel spricht uns das Zierliche, Köstliche, Höfische an, in dem sich der Farbenreichtum des Orients mit dem zarten Kultus der Freude des deutschen Minnesanges durchdrungen zu haben scheint. Die Reste herrlicher Mosaiken, soweit sie der Brand und die Spieße der Türken übriggelassen haben, scheinen, auch wenn sie heilige Gegenstände behandeln, nur immer die Themen: Ritterdienst, Frauendienst, Gottesdienst durcheinanderzuflechten.

Mittels eines nassen Schwammes bringt der Herr Ephor, auf einer Leiter stehend, eigenhändig die erblindeten Mosaiken zu einem flüchtigen Leuchten im alten Glanz.

»Ein innerer Burghof, umgeben von reichen, phantastischen Gebäuden des Mittelalters« ist der Schauplatz, in dem Helena sich gefangen fühlt, bevor ihr Faust, im zweiten Teil des Gedichts, in ritterlicher Hoftracht des Mittelalters entgegentritt. Und mehr als einmal umgibt mich hier das Urbild jener geheiligten Szenerie, darin sich die Vermählung des unruhig suchenden deutschen Genius mit dem weiblichen Idealbild griechischer Schönheit vollzog.

 

Herr Adamantios Adamantiu, der etwa dreißig Jahre alt und von zarter Gesundheit ist, stellt uns auf einer der Galerien des Klosterhofes seiner würdigen Mutter vor. Diese beiden lieben Menschen und Gastfreunde wollen uns, wie es scheint, nicht mehr fortlassen. Die Mutter bietet meiner Reisegefährtin für die Nacht ihr eigenes Lager an, ihr Sohn dagegen das seine mir.

Von seinem Zimmerchen aus überblickt man die ganze Weite und Tiefe des Eurotastales, bis zu den weißen Gipfeln des Parnon, die hineinleuchten: das Zimmer selber aber ist klein und enthält nichts weiter als ein kleines Regal für Bücher, Tisch, Stuhl und Feldbettstelle, dazu im Winkel ein ewiges Lämpchen unter einem griechisch-katholischen Gnadenbild. Natürlich, daß in einem verlassenen Kloster die Fenster undicht, die Wände schlecht verputzt – und daß in den rohen Bretterdielen klaffende Fugen sind.

Ganz Sohnesliebe, ganz Vaterlandsliebe und ganz von seinem besonderen Beruf erfüllt: der Pflege jener vaterländischen Altertümer, bringt Herr Adamantios Adamantiu in weltentsagender Tätigkeit seine jungen Jahre zu und beklagt es, daß manche seiner Mitbürger so leicht die mütterliche Scholle aufgeben mögen, die ihrer Kinder so sehr bedarf.

Der hingebungsvolle Geist dieses jungen Griechen erweckt in meiner Seele wärmste Bewunderung, und ich rechne die Begegnung mit ihm zu den schönsten Ereignissen meiner bisherigen Reise durch Griechenland. Wie er unverdrossen und mit reinster Geduld Werkstück um Werkstück aus dem Schutt der Verwüstung zu sammeln sucht, um in mühsamen Jahren hier und da etwas weniges liebevoll wiederherzustellen von der ganzen, beinahe in einem Augenblicke vernichteten, unersetzlichen Herrlichkeit, das legt von einem Idealismus ohnegleichen Zeugnis ab.

 

Wir nehmen Abschied von unsern Wirten, um noch vor Einbruch der Nacht den Ritt bis Tripi zu tun: Tripi am Eingang jener mächtigen Schlucht, die sich in die Tiefe des Taygetos fortsetzt, den wir übersteigen wollen.

Unsere Maultiere fangen wie Ziegen oder Gemsen zu klettern an: bald geht es fast lotrecht in die Höhe, bald ebenso lotrecht wieder hinab, so daß ich mitunter die Überzeugung habe, unsere Tiere hätten den eigensinnigen Vorsatz gefaßt, um jeden Preis auf dem Kopfe zu stehen. Wenn man, mit den Blicken vorauseilend, als Unerfahrener die drohenden Schwierigkeiten des Weges im Geiste zu überwinden sucht, so glaubt man mitunter verzagen zu sollen, denn es eröffnet sich scheinbar nur selten für ein Weiterkommen die Möglichkeit.

Aber das Maultier nimmt mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit jedes Hindernis: über Böschungen rutschen wir an steinige Bäche hinunter, und jenseits des Wassers klettern wir wieder empor. In einem Bachbett steigen wir lange Zeit von einem kantigen Block zum andern bergan, und zwar bereits von der Dunkelheit überrascht, bis wir das Wasser am Ausgang der Langada in dem steilen Tale von Tripi rauschen hören. Über eine Geröllhalde geht es alsdann in gefährlicher Eile hinab, bis wir, die Lichter von Tripi vor Augen, auf einer breiten, gesicherten Straße geborgen sind.

 

Gegen vier Uhr des Morgens wecken mich die Nachtigallen von Tripi. Ich glaube, daß alle Singvögel der ganzen Welt den Aufgang der Sonne mit einem kurzen Konzert begrüßen. Zweifellos ist dies Gottesdienst.

Unser Haus ist in schwindelerregender Höhe über der Talwand erbaut. Wir haben in einem Raume übernachtet, der drei Wände von Glas ohne Vorhänge hat. Büsche reichen bis zu den Fenstern. Mächtige Wipfel alter Laubbäume sind unter uns und bekleiden die steilen Wände der Schlucht.

Während das einsame Licht zunimmt, schlagen die Nachtigallen lauter aus dem Abgrund herauf. Nach einiger Zeit beginnen alle Hähne des Dorfes einen lauten Sturm, der die Nachtigallen sofort verstummen macht.

Auf einem Felsen, scheinbar unzugänglich, inmitten der Schlucht, erscheint die Kirche von Tripi im Morgenlicht. Die Pfade von Tripi, die ganze Anlage dieses Ortes sind ebenso malerisch wie halsbrecherisch.

 

Die Maultiere klettern schwindelerregende Pfade. Sie halten sich meistens am Rande der Abgründe. Die Langada beginnt großartig, aber kahl und baumlos. Die Gesteinmassen des Bachbettes, auf dem Grunde der gewaltigen Schlucht, liegen bleich, verwaschen und trocken da. Das Tal ist tot. Kein Vogellaut, kein Wasserrauschen!

Indem wir ein wenig höher gelangen, zeigt sich geringe Vegetation. Einige Vögel beginnen zu piepsen. Nach einiger Zeit fällt uns der Ruf eines Kuckucks ins Ohr.

Weiter oben erschließt sich ein Tal, auf dessen Sohle lebendiges Wasser rauscht. Wir steigen in dieses Tal, das eigentlich eine Schlucht ist, hinunter. Die Abhänge sind von Ziegenherden belebt. Eng in die Felswände eingeschlossen, schallen die Herdenglocken laut.

Bis hierher war es, trotz der Frühe, ziemlich heiß. Nun werden wir von erquickenden Winden begrüßt. Erfrischt von der gleichen Strömung der Luft, winken die grünen Wedel der Steineichen von den Felsspitzen. Plötzlich haben wir nickende Büsche überall. Efeuranken klettern wohl hundert Meter und höher die Steinwand hinauf.

Immer wasserreicher erscheinen die Höhen, in die wir aufdringen. Mehrmals werden reißende Bäche überquert. Eine erste, gewaltige Kiefer grüßt vom Abhange. Anemonen, blendend rote, zeigen sich. Kleine Trupps zarter Alpenveilchen. Aus Seitenschächten stürzen klare Wasser über den Weg und ergießen sich in das Sammelbett des größeren Baches.

Wir halten die erste Rast, etwa zweitausenddreihundert Meter hoch im Taygetos, unter einem blühenden Kirschbaum vor der Herberge, genannt Zur kleinen Himmelsmutter. Der Bergstrom rauscht. Kirschblüten fallen auf uns herunter. Wir haben herrliche Abhänge gegenüber, die mit starken Aleppokiefern bewaldet sind.

Es ist köstlich hier, entzückend der Blick durch die tiefgesenkten Blütenzweige in die ebenso wilde als wonnige Bergwelt hinein.

Man fühlt hier oben das unbestrittene Reich der göttlichen Jägerin Artemis, die in Lakonien vielfach verehrt wurde. Hier ist für ein freies, seliges Jägerleben noch heut der eigentlich arkadische Tummelplatz. Hier oben fanden auch Opfer statt. Und zwar jene selben Sonnenopfer, die bei den alten Germanen üblich gewesen sind und bei denen die Spartiaten, nicht anders als unsere Vorfahren, Pferde schlachteten.

 

Wir haben den Hochpaß überstiegen und nach einem ermüdenden Ritt, meist steil bergab, das Dörfchen Lada erreicht. Ein Bergstrom hat die steinige Straße der Ortschaft mit seinen stürzenden Wellen überschwemmt, und niemand denkt daran, ihn in sein Bett zurückzuleiten. Mit Ausnahme eines kleinen Bezirks um die Ansiedelungen Ladas ist das weite Tal eine einzige Steinwüste.

Träge, fast unwillig, öffnet auf das Klopfen unseres Führers eine derbe, blonde, noch nicht zwanzigjährige Bäuerin die Tür zur Herberge. Ein Ferkel wühlt zwischen Tisch und Bank, in einem finsteren, kellerartigen Raum, dessen Hintergrund ein Lager mit gewaltigen Fässern ausfüllt. In einer hölzernen Schlachtermulde auf dem Tische schläft ein neugeborenes Kind.

 

Die Jachten der Königin von England und des Königs von Griechenland liegen im Hafen zur Abfahrt bereit. Eben hat sich die »Galata« des Norddeutschen Lloyd in Bewegung gesetzt, die uns nach Konstantinopel führen soll. Die Häuser des Piräus stehen im weißen Licht.

Athen ist das Licht, das Auge, das Herz, das Haupt, die atmende Brust, die Blüte von Griechenland: heute des neuen, wie einst des alten! Ich empfand das lebhaft, trotz aller großen Landschaftseindrücke meiner peloponnesischen Fahrt, als ich nach ununterbrochener Reise von Kalamata wieder hier anlangte. Athen ist durch seine Lage geschaffen, und Griechenland ohne Athen wäre niemals geworden, was es war und was es uns ist. Der freie attische Götterflug hat den freien attischen Geistesflug hervorgerufen.

Indem wir, Abschied nehmend, die Küste zur Linken, hingleiten, vorüber an dem kleinen Hafen Munichia, vorbei an den Siedelungen von Neu-Phaleron, steigt noch einmal das ganze attische Wunder vor uns auf.

Dieser Hymettos, dieser Pentelikon, dieser Lykabettos, dieser Fels der Akropolis sind keine Zufälligkeit. Alles dieses trägt den Adel seiner Bestimmung im Angesicht.

Wir trinken gierig den Hauch des herrlichen Götterlandes, solange er noch herüberdringt, und saugen uns mit den Blicken in seine silberne Anmut fest, bis alles unseren Augen entschwindet.

 


 


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