Carl Hauptmann
Heimstätte
Carl Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

In den Gebirgen oben war es still wie im Tode und gleichmäßig lagen in Luft und Tälern die grauen, einförmigen Tinten, wenn nicht aus dem ewigen Stummsein und Trostlostot und Starr eine Silbersonne glüh für Augenblicke hindurchgeblitzt hätte, fast wie ein großer Schalk im Glanzkleid hinter einem ärmlichen Vorhang, um zu necken, daß es jetzt nicht Zeit wäre, herauszukommen und die stumme, verschlafene Welt aufzuwecken. Tot war es. Die Welt hing in Millionen weichen, tanzenden Flocken. Die Lüfte waren voll davon, daß sie Martin in Mund und Nase kamen, ihn juckten und krauten, als er vor die Tür trat, um nach dem Vater auszusehen. Er sah nichts, als nur eine Enge ohne Raum und Grenzen, erfüllt von Gequirl und sinnlosem Hin und Her im nahen Luftkreise – als wenn es nichts gäbe, als dieses Einerlei, immer nur Flocken nahe und fern, wo eine und noch eine sich eine Lust machte, im Bogen zu schießen, und eine und noch eine und tausend fielen mit der ganzen Würde eines winterstillen Tages – und eine und noch eine und eine andere sich wieder erheben wollte, daß sie in die Lüfte käme und fortfliegen könnte, wer weiß wohin, wie ein Vogel oder eine graue Motte. Alles war verschüttet und vergraben hier oben in Gründen und auf dem Höhenmoore. Es gab kein unten und oben, nicht ein Tal mit Menschenwohnungen tief – und eine weite, einsame Höhenwelt. Nur Flocken nahe und fern – tief und hoch – aufdringlich dicht und weich und stumm – alles sonst zugedeckt im Winterschlaf.

»Martin – Martin!« rief Frau Rubener aus der Stubentür, lief eilig in die Holzkammer am Flurende, wo das Bergwasser in einen Trog rann, und es eisig und dunkel war, und sah dann in den Stall, woraus warmer Brodem in die Kälte quoll. Die Frau ging in Hoffnungslosigkeit herum, denn sie wußte, daß Vaters Hoffnung, die ihn auch heute wieder zu Tal getrieben, längst ein Wahn geworden war.

»Martin – Martin!«

»Was wär denn?« erwiderte eine Knabenstimme mit großer Ruhe von draußen.

»Der Vater kimmt nee.«

»Nu ebens, ebens, Mutter. Da wer'n mir halt missen alleene gihn.« Martin kam hemdärmelig, aber mit hohen Stiefeln an den Füßen von draußen herein, wo er sich im Schuppen am Holzschlitten zu schaffen gemacht.

»Werd Ihr denn au' durchkummen?« fragte die Rubenern, während sie selbst vor die Tür geeilt und sorglich nach dem Grunde ausgesehen. Die Schneewirbel waren plötzlich verschwunden, die Luft war rein geworden. Es war schon am späten Nachmittag.

»Mir nahmen ni viel, Mutter. Der kleene Schlitten is au' leichte!« Max war ebenfalls aus der Stube getreten. Dann liefen die beiden Jungen munter hinein, packten sich warm in kurze Kittel und zogen Shwals und Mützen über, unterdessen die Rubenern den Holzschlitten vollends aus dem Schuppen in's Freie zog. Als Martin dann noch wie ein Alter die Ketten aus der Wasserkammer geholt und an der Deichselstange befestigt hatte, ging es mit dem leeren Schlitten heidi der Höhe zu. Es war still und stumm. Der Himmel grau, aber die Luft klar geworden bis zum Kamme.

Frau Rubener war gleich in die Stube zurück und an die Arbeit gegangen. Es waren Stunden vorüber geflohen – zu schnell für den, der seine Zeit mit Sorgen und Handreichen ausfüllte, wie die gehetzte Rubenermutter. Sie hatte im Stall und am Ofen hantiert, hatte gewaschen und den Butterschwengel gezogen – an Ella ermahnt und das Kleinste an die Brust gehalten – gequält und abgehetzt an den Vater denkend und an all ihr Leid und hatte mehrmals nach dem Vater ausgesehen. Daß ihr die Stunden in der Hast des rastlosen Tuns und Sinnens hingestreut schienen wie Millionen Flocken und jede fiel – und jede zerging. Nur einmal war die Sorge lauter aufgewacht. Ein Sturmstoß hatte sich, als es dämmerte, plötzlich greifend und rüttelnd aufgemacht und Schneewolken verfinsternd zu Tale getrieben. »Jeses! Jeses! daß au' de Junga nee kumma!« hatte sie hastig vor sich hingeredet und war einen Augenblick an's Fenster geeilt. Aber hier oben in der Bergschlucht – der Sturm – das ist ein Genosse der Einsamkeit fast Tag und Nacht und ein Freund derer, die den Menschen fern in der Höhe leben. Frau Rubener hatte nur flüchtig gedacht, daß 's ock ni etwan die Jungen vom Wege treibt – nur so etwas ganz von ferne. Und dann war sie neu in ihre Arbeit versunken, daß die Stube vom Getöse des Stampfers erfüllt gewesen, und das Kleinste mit offenen Augen auf die Mutter, und die Mutter aus Hast und Sorge mit flüchtigem Lachen auf das Kind gesehen. Aber wie dann der Abend ganz herangekommen und niemand heimgekehrt war, begannen für Frau Rubener furchtbare Stunden. Draußen waren wieder Sturmlüfte aufgewacht – dann aber auch diesmal eingeschlafen. Frau Rubener war in heller Angst plötzlich vor die Haustür geeilt. Wie sie die Höhe im Dämmer deutlich liegen sah, hatte sie sich noch einmal beruhigt, daß sie eben in die Stallarbeit zurücklief. Da begannen mächtige, neue Erschütterungen. »Mein Gott! 'S is ju ni meeglich!« hatte sie sofort hastig hervorgestoßen, wie es ihr vollends klar einfiel, daß die beiden Jungen jetzt in Nacht und Schneesturm oben auf der Höhe wären. Sie hatte gleich alle Sorgen hinter sich geworfen und dachte an nichts mehr. Sie war in die Stube zurückgelaufen, hatte das Kind eilig in die Wiege gebettet, Ella einen Schemel daneben geschoben, eine Sturmlaterne entzündet und war in Wettersturm und Flockenfinsternis hinausgeeilt. Und nun lief sie aufwärts. Sie kannte die Stelle, wo das Winterholz stand und lief und stapfte. Das Jagen der aufgewehten Lawinen fegte rasend um ihren Weg, daß sie bald nur Schritt um Schritt vorwärts kam und nicht Atem fand. Es war eine Nacht zum Erschauern. Die Lüfte stießen und rissen und bliesen um das Laternenlicht, selbst wie sie es unter ihre Jacke geborgen und eine Weile mitten im Tiefdunkel stehend überlegt hatte. Es war nicht vorwärts zu kommen. Es war völlig aussichtslos, den Weg in den jagenden Wirbeln in stockfinstrer Sturmnacht bis hin zu den Holzstößen auf der Höhe auszufinden. Und sie tat doch immer wieder Schritte, überlegte, schöpfte Atem, und es kam eine helle Verzweiflung. Aber sie mußte vorwärts. Sie stapfte und stapfte. Den Strahlenschein der Baudenfenster hatte sie noch in ferner, unbestimmter Sicht. Sie watete nun mit Kraft. – Sie merkte längst, daß es nicht Sinn und Ziel hatte, daß nicht an Vorwärtskommen zu denken war. Die Nacht war pechschwarz. Die Sturmreiter sausten und schlugen an Harnisch und Waffen, und nicht Vater noch Mutter konnten da Wege finden, selbst wenn ihr eigen Fleisch und Blut längst in Nacht und Kälte erstarrt war.

Frau Rubener war jetzt zur Baude zurückgestapft und ratlos wieder in die Stube gegangen. Sie sah, daß Ella eingeschlafen vor der Wiege saß und hörte, wie der Seeger tief und eintönig hin und her ging. Sie setzte sich einen Augenblick ziellos auf die Ofenbank und begann zu schluchzen. Sie wußte wirklich nicht, was zu tun war.

»Wenn ock der Mann käme! Jeses, Jeses, wenn ock der Mann käme!« sprach sie laut geängstigt in die Luft. Und sie stand wieder draußen und dachte daran, zu Tale zu eilen. Sie tat einige Schritte dem Grunde zu – sie lief eiliger und eiliger, den Laternenschein vor sich in die Nacht tragend, weil hier im Waldgrunde die Wege leichter verweht waren und die Wegstangen sie sicherer machten. Aber sie wußte nicht, wo jetzt in tiefer Nacht der Mann zu suchen war. Sie dachte, er könnte auf einem anderen Wege zurückkehren, ehe sie zu Tale käme, so daß sie doch abließ, weiterzuhasten, zögernd umkehrte und wieder heim lief. Aber kein Mann war da. Die Stube lag so still wie vorher. Ella war schlafend in der Bankecke umgesunken. Keiner ihrer beiden Jungen war zurückgekehrt. Der Mutter fing es plötzlich an zu schnüren und zu würgen. Sie hätte es hinausschreien mögen, daß ihr jemand zu Hilfe käme, in der Seelenangst. Und sie lief wieder vor die Tür, als sie an dem Seeger gesehen hatte, daß es auf die zehnte Stunde ging, und die Welt in hoffnungslosen Aufruhr und Finsternis verschlungen lag. Sie rief jetzt – kläglich in die Nacht, wie eine Hirschkuh nach ihren Jungen schreit: »Martin – Maxla – Martin!« immer von neuem erbärmlich hinausklagend: »Martinla! Maxla! – Jeses, Jeses! Ihr Junga! Martin! – Maxla!« Aber nur das Heulen auf den Holzstapeln und von den Hängen umpfiff sie grauenvoll wie ein wilder, finsterer Rachen.

*           *
*

Wer kennt die Erde noch, wenn sie schneeumfegt im grauen Nachtwind erfüllt ist von grausamen, einsamen Lauten, und nirgends Schutz ist, und überall nur ein Grab, hineinzusinken und zu erstarren. Hoch oben am Wegrand lagen die Hölzer. Sie waren hochgeschichtet und tief verschneit, und die beiden Jungen waren noch im Tagesdämmer sicher hingelangt. Aber das waren nun schon viele Stunden – und Stunde um Stunde war verronnen, ohne daß ein bekannteres Blicken außer in die sinnlose Flocken- und Schemenjagd – die neu aufgewacht – über die Halden und in die Gründe gekommen war. Wie die beiden das Holz aufluden, badeten sie im Schnee und kamen nicht rasch vorwärts. Zuerst hatte Martin gelacht, weil auch der Sturm dazu sein Lied gepfiffen. – Er war wie der Vater – ein frischer Kerl, dem nicht bange wurde. Und es war ihnen auch wirklich gelungen, Holzscheite zu laden und dann, trotz Wirbel und Lüftedrang, auf's Tal loszufahren. Aber an ein Selbstgleiten des Schlittens war vom ersten Augenblick an gar nicht zu denken gewesen. Sie hatten hart anziehen müssen – und schwere Arbeit tun, auch nur hundert Schritt weiter zu kommen. Martin hatte immer noch gelacht. Aber die Sache war bald nicht mehr lächerlich. Der Sturm hatte seine Stimme mit neuer Gewalt aufgehoben. Es waren wilde Stöße gekommen, die dicke Flocken in wirbliger Jagd umfegten, die ganze Gegend in sinnloses Wesen hüllten und nur noch selten und immer seltener einen freien Blick in den Grund zugelassen, nur unaufhörlich tanzende Luftgestalten eine um die andere die Höhe hinabgewirbelt und bald alles wie in Nacht verschlossen hatten. Max, der längst vom ziellosen Stapfen und ewigen Einsinken ratlos und müde geworden, nicht mehr recht vor- und rückwärts konnte, und dem es auch den Atem benahm, hatte da plötzlich zu weinen angefangen.

»Flenn ock nee«, sagte Martin beruhigend, der längst schwitzte und klapperte, aber noch immer nicht den Mut sinken ließ.

»O Jeses, Jeses, ma' sieht ju nischte«, weinte Max und hatte die Deichselstange des Schlittens losgelassen, der tief im Schnee steckte und nicht mehr zu bewegen war. Martin schlug die Hände in seinen Fausthandschuhen zusammen, weil die Kälte ihm in Finger und Zehen biß. Heulend umpfiff es sie, kam sinnlos heran und brachte die Nacht wie im Zuge. Martin überlegte. »Mir missen vurwärts«, sagte er hastig, weil auch an ein Laternenentzünden gar nicht zu denken war. »Mir kummen au' vurwärts«, sagte er jetzt auch freudig, wie plötzlich das Licht aus der Baude unter ihnen im Grunde aus Dunkel einen Augenblick zu leuchten begann. Sie hatten es beide aufblinken sehen und sofort neu angezogen. Am Himmel blinkten jetzt auch einige Sterne in sausenden Flockennebeln auf und schossen vorüber, als wenn sie sich jagten. Die Welt war einen Augenblick nachtdämmerig geworden und sie sahen, wohin sie fuhren.

»Zieh ock feste, Maxla, mir missen vorwärts, 's is ju ganz richtig hie – hie sein ju au' de Staugen, Hahaha!« Die beiden mutigen Jungen mußten an den Gurtbändern ziehen, wie Pferde in schwerem Geschirr. Aber sie kamen an kein Ziel. Denn die Stürme haben kein Herz wie Liebende und wie Vater und Mutter, und wußten nichts, daß die beiden rüstigen Gebirgskinder oben am Hange im Schnee wateten und heim mußten. Die Flocken fielen längst wieder ohne Sinn und Liebe, nur totenstumm und schießend, und wußten nicht, daß Rubener nicht daheim war, Fleisch und Blut, das ihm liebend zugehörte, zu retten aus Todesnot. Und es kamen neue Nebelgestalten, die hinflatterten, wie in riesigen Grabestüchern – über Kamm und Schlucht – die noch mehr einhüllten, als nur so ein warmes Strahlenlicht aus der winkenden, wohligen Heimstätte am Hange oder eine winzige Stimme aus der heißen Kinderbrust – die beide nur wie Mücken waren in dieser weiten Mäntel kleinster Falte. Jetzt hörte man Kinderstimmen, zuerst ein einziges kleines Weinen und Wimmern. Es klang gleich ganz hoffnungslos. Kein Auge, das offen war, sah noch in solcher Welt. Kein Auge, das gespannt lauschte, hörte außer die Sturmlawinen, die zu Tale stürzten. Es war längst wieder die wilde Nachtjagd der Wintergebirge, die aufgeweckt war, und das Kinderwimmern war kaum stark genug, auch nur die Flocken mit seinem Hauche zu rühren, die in den Mund flogen und in den Hals. Beide Kinder hatten lange fortgezogen – und standen immer nur in tiefster Finsternis. Sie hatten hierhin und dorthin versucht, während die Stürme schon durch Wams und Stiefeln griffen, daß es sie stach. Aber sie waren nur in zielloser Runde herumgeirrt. Dann waren sie endlich stehen geblieben, weil sie bis an den Leib im Schnee steckten. Sie hatten noch immer die Deichselstange in Händen. Aber die Hände waren angefroren, und die Kälte machte sie schauern.

»Vater! Vater! mein Gott! Jeses!« hatte jetzt plötzlich Martin auch zu rufen versucht. Sie sahen sich jetzt nicht mehr, nur wenn der Aelteste dem Jüngsten in's Gesicht griff – fühlten sie sich. »Jeses! Jeses! wu sein mir denn hie?« Martin überkam jetzt plötzlich auch eine Angst wie zum Herzbrechen, daß ihm der Schweiß neu ausbrach. Er hörte nun das Wimmern Maxens, das der Sturm grell zerriß und in den Grund fegte. Er begann laut zu rufen: »Vater! Vater! – ach lieber Vater!« Erst noch zögernd, dann immer herzhafter und lauter: »Vater! – mein Gott! – Vater! O Jeses nee – hie – hie uba! – hiert ock! – hie uba!« Der Kleine hatte längst die Deichsel losgelassen. Und er schrie jetzt auch lauter und flehte in die Stürme – und huschte sich wie vor bösen Geistern, wenn die Schneewehen im Tiefdunkel herandrängten und flatterten. Kein Stern kam mehr. Kein Leuchten aus der Tiefe winkte mehr vom Grunde.

»Maxla, bis ock geduldig. Nee – mir wer'n schun heemkumma, bis ock geduldig, hie stell'n mir ins an Weile hinger die Schniewand«, sagte Martin, den die Jammerlaute des Kleinen in der Seele quälten, und der sich immer noch wieder ermannte und Hoffnung fand. Dann versuchten sie wieder, vorwärts zu kommen. »Wu mir ock hiegeraten sein«, sagte Martin frisch.

»Vater, Vater – nee Vater«, entrang es sich dann wieder klagend seiner Kehle. Laut und eindringlich, und dann plötzlich war auch bei ihm kein Halten mehr. Und sie schrien in die Sturmlaute nach Hilfe und saßen tief in weichen Schneemassen – sahen und hörten das Heulen aus Nachttiefen und aus der finster drohenden Flockenjagd. – Stunden waren vergangen. – Sie hatten sich lange stumm umschlungen gehalten und versuchten wieder fortzustapfen. Es war ein unbarmherziges Irreführen mit Schein und Laut manchmal, weil ihnen die Pulse in den Schläfen schlugen und in den Ohren sinnlos Auf- und Abwogen sie erfüllte, heller Schein vor ihnen und hinter ihnen aus Sturmnacht sie nun narrte, und bekannte Rufe sich formten in der verzweifelten Seelenangst.

O, die lieben, munteren Jungen in Nacht und Schnee hoffnungslos begraben. Das Schreien war erstorben. Das Weinen erfroren im Auge und die Gesichter hingen voll Schnee und Eis. Die Kleider waren starr, vom Schweiß gebadet und dann hart geworden wie Bretter. Sie hatten sich in den Schutz einer Schneewehe gesetzt, ohne es zu merken, daß sie den Holzstoß zufällig wieder gefunden. Nur dann und wann murmelte eins einen Laut. Dann wurden sie wieder neu aufgestachelt von dem schneidenden Erstarren, das bis zum Herzen kroch, – daß sie zum Leben neu zu flehen und zu rufen begannen. Sie hatten sich ganz umfaßt, wie Zweie, die sich halten und küssen. Sie brachten die Münder nahe aneinander, um das Warme zu fühlen. Dann schrie Martin allein, weil der Kleine längst matt und erstarrt war. Er schrie unheimlich – und mit rätselfremder Totenstimme – ganz einzeln jedes Wort – und eindringlich – und manchmal mutig noch wie ein Jugendton: »Hie uben – sein Rubenersch Jungen – eim Schnie – versunka –! Vater! – Vater! – hie – uben – stecka de Rubener Jungen – eim Schnie –«. So schrie Martin, sich noch einmal aufraffend, mit fremder, hoffnungsleerer Totenstimme – noch einmal – noch einmal. Alles zerflatterte. Dunkel und Einsamkeit und Eiseskälte und Sturm und tausend johlende Stimmen – ohne Sinn – antworteten um sie ohne Erbarmen.

*           *
*

Wie der Morgen zu dämmern begonnen, war Rubener heimgekehrt und war auch sogleich – aus seiner dumpfen Verstörtheit aufgeweckt – samt dem zernagten Weibe hinausgeeilt. Und er fand auch die Kinder bald oben im Schnee – erstarrt – nicht atmend. Leeren Auges sah er sie an. Leeren Wesens, staunend fast. – Hastig horchend und lauschend hob er den ältesten Jungen, der oben lag, der den Kleinen mit seinem Körper decken gewollt. Wenige Schritte davon steckte der Schlitten mit dem Holze im Schnee. Rubener horchte nahe am Munde des Großen. – »Hauch – ah« – sagte er, wie zufrieden lachend, und versuchte, ihm geschäftig einen Schluck einzuflößen, den er seit gestern Mittag unberührt bei sich trug. Dann horchte er an dem Munde des Kleinen. Aber der lag ganz erstarrt und tot. Und Rubener nahm den ältesten Jungen ohne eine Erregung auf den Rücken und stapfte mit ihm heim. Dort hatte er ihn feierlich auf sein Bett gelegt, wo Martin noch einmal ausatmete – tief – freundlich und erstaunt – mit ganz seltsamen, fernem – ganz seligem Blick aufsah – dann einen langen, tiefen nicht endenwollenden Atemzug tat – und dann nichts mehr. Die Erschöpfung war zu groß gewesen. Wie die Leiche des Kleinen in die Baude kam, wußte Rubener nicht mehr. Er hatte nicht gesehen, daß im Morgendämmer sein Weib hinter ihm den Weg gemacht – weil der Sturm längst geschwiegen und die Welt weiß und klar und ruhig dalag – und daß sie gleich nach ihm den Kleinen in's Haus getragen hatte.


 << zurück weiter >>