Heinrich Hansjakob
Der Vogt auf Mühlstein
Heinrich Hansjakob

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8.

Auf dem Hermeshof hatte das Trauerspiel bereits begonnen, ehe der Hans draußen auf der Straße und still der Magdalene ein letztes Lebewohl zurief.

Er war in der besten Absicht, seine gute Miene zu zeigen, bei der Hochzeit erschienen. Wäre die Magdalene im Hochzeitssaal geblieben und nicht zum Singen heraufgekommen, dann hätte der gute Hans wohl nicht daran gedacht, sein Müllerlied zu singen. Aber wäre er gänzlich vom Feste weggeblieben, so hätte die Magdalene ebensowohl auch ihre »Hartschlägigkeit« und den stummen Opfersinn bewahrt.

Sein Kommen und sein Singen hatten bei ihr schweres Unheil angerichtet.

Sie war am Abend ihrem Manne gefolgt auf den Hof und ins Haus. Aber hier wich ihr vorheriges, dumpfes Brüten einer unheimlichen Aufregung. Wie ein Heldenweib, das bereit ist, unterzugehen, stellte sie sich vor den Ulrich hin und sprach: »Du hast des Vogts Magdalene heimgeführt, aber du sollst kein Weib haben an mir. Der Vater hat seinen Willen gehabt, du hast deinen Willen durchgesetzt – aber jetzt hab' ich noch meinen Willen, und der ist unabänderlich. Ihr zwei habt mich gezwungen, eine gezwungene Ehe ist aber keine Ehe – hat der Pater Guardian gesagt, und sie soll auch keine werden. Ich werde dir die erste Magd auf deinem Hof sein, still und fleißig, aber nie dein Weib.«

Am Hochzeitsabend

So sprach sie, und dabei blieb es.

Der Hermesbur, welcher in seinem starken Leib einen kleinen Geist trug, stand vor der Sprecherin wie ein abgescholtener Knabe vor seiner Mutter. Er fürchtete das junge Weib, wie 81 es sich in seiner ganzen tragischen Größe so vor ihn hingestellt hatte, kalt, entschlossen und heldenhaft.

Drum ließ er sich den Wahrspruch gefallen ein, zwei, drei Tage, die ganze Woche, während welcher die Magdalene vor den Mägden die Bäuerin spielte, in aller Arbeit unverdrossen voran.

Am Sonntagnachmittag aber ging Ulrich den Buchenwald hinaus zum Vater und Mitschuldigen, um ihm zu sagen und zu klagen, was vorgegangen war.

Der Vogt hatte den Eindruck, welchen die Szene in der Stube im »Hirschen« zu Zell auf ihn gemacht, längst aus seinem Herzen verwischt. Die alte Härte war in dasselbe zurückgekehrt. Er gab drum dem Ulrich den kurzen und harten Rat: »Hau sie einmal tüchtig durch, dann wird sie schon gescheit werden. Als ich ihr hier auf Mühlstein mit dem Strick gedroht, ist's auch besser geworden.«

Selbst dem Hermesbur war »diese Kur« noch zu früh, und er meinte, er wolle noch acht Tage zuwarten, ehe er zu den Schlägen seine Zuflucht nähme.

Während die zwei auf Mühlstein sich berieten, waren, wie üblich, auf dem Hermeshof die zur Hochzeitstafel geladenen Bürinnen erschienen mit den am Sonntag nach der Hochzeit üblichen Gegengaben an Geld, Tuch, Flachs und RisteSpinnfertiger Hanf..

Die Magdalene empfing alle mit freundlichem Ernst und bewirtete sie in damals herkömmlicher Art mit Eiern, Küchlein, Schinken, Most und Kirschenwasser. Die Bürinnen meinten beim Weggang: »Es tuet's am End' doch mit den zweien. Die Magdalene scheint sich gefunden zu haben.«

Gegen Abend – der Bur war noch nicht zurück – kam die »Zeine-Lies« aus dem Bärhag, eine alte Leichensagerin, welche stets eine ZeineEin großer Korb aus Weidengeflecht. auf dem Kopfe trug, worin sie die fürs 82 Leichensagen erhaltenen Naturalien (Bohnen, Zwiebeln usw.) verwahrte und deshalb den Namen trug. Sie hatte eine Kindsleiche in Nordrach anzumelden und war mit dieser Ansage bis auf den Hermeshof herabgewandelt, weil sie dachte, an dem Tage der Hochzeitsspenden werde bei der jungen Bürin auch etwas Besonderes für sie abfallen.

Sie täuschte sich nicht und erhielt eine ordentliche Portion »Küchle« in ihre Zeine. Dafür wollte sie aber der Bürin auch etwas Neues sagen.

Die Alte hatte schon von dem Singen gehört bei der Hochzeit. Man hatte in der abgelaufenen Woche auf allen Höfen davon gesprochen. Die Lies wußte also auch, daß die Neuigkeit die Hermesbürin interessiere.

»Habt Ihr auch schon gehört, was man heute vor der Nordracher Kirch' erzählt hat?« hub die Zeine-Lies an.

»Ich war in Zell in der Frühmess'«, entgegnete die Bürin, »und hab' nichts Neues gehört.«

»Nun«, fuhr die Alte weiter, »so wisset, man hat gesagt, des Öler-Joken Hans sei fort. Am Dienstag nacht hab' er seine Kleider zusammengepackt und sei's Tal hinaus. Einer der Klosterknechte in der Fabrik, der Glas und Farbe ins Elsaß geführt und gestern mittag wieder heimkam, hat erzählt, er habe am Donnerstag bei der Hinfahrt den Hans gesehen, wie er mit den österreichischen Werbern zum unteren Tor in Offenburg hinaus sei.«

»Jeses Marie!« rief die Magdalene erschrocken. »Ist der Hans fort!? Fort wegen mir!« Sie setzte sich auf die Stubenbank und fing an zu weinen und zu schluchzen.

Die Zeine-Lies entschuldigte sich, wie alte Weiber tun, wenn sie mit ihrer unüberlegten Zunge einen Schaden angerichtet, und schlich mit ihren »Küchle« davon.

83 Die Magdalene weinte noch, als der Bur heimkam. Er hatte den Heimweg über Zell genommen und noch einige Schoppen getrunken. Weibertränen reizen bekanntlich die Männer weit eher zum Zorn als zur Milde, namentlich wenn ihr Grund verheimlicht wird.

So ging es auch dem Ulrich, der ohnedies verstimmt war, dazu aufgehetzt vom Vogt und gereizt vom Wein. Sein Vorsatz, noch acht Tage zuzuwarten, ging rasch zuschanden, als er sein junges Weib im stummen Weinen traf und keine Aufklärung bekam. Er schlug sie, wie Bauern schlagen, grob und roh und kräftig.

Sie sprang hinaus in die Hausflur und flüchtete in die Kammer der Mägde. – In der Nacht ward sie irrsinnig. Stumpf und irr blieb sie fortan. Sie sang den ganzen Tag ihr Lied, lachte, weinte, aber es war nichts Vernünftiges mehr in ihr.

Tagsüber saß sie auf der Ofenbank oder in der Küche ohne jede Arbeit, und nachts war sie nur ruhig bei den Mägden.

Es war ein Jammer, das schöne, junge Weib in diesem Zustande zu sehen. Der Ulrich ging schweren Herzens, aber erst nach acht Tagen, auf Mühlstein und berichtete, was vorgefallen und wie unglücklich der Rat des Vaters ausgeschlagen habe.

Der harte Vogt meinte, das sei nur Verstellung, das Maidle müsse man nochmals tüchtig hauen, dann werde es schon wieder vernünftig werden. Er wolle selber kommen und eine »Radikalkur« vornehmen.

Er kam richtig, der harte Mann – aber kaum hatte die Unglückliche den Vater erblickt, als sie mit einem Schrei davonfloh, hinaus in den Wald, aus dem sie erst spät am Abend zurückkehrte und in die Kammer der Mägde schlich.

Der Physikus von Zell, den man geholt, wußte keinen anderen Rat, als sie ruhig gewähren zu lassen; es werde mit der Zeit vielleicht wieder anders werden. Das Gemüt sei 84 gestört, und solange sie nicht tobe, solle man sie nicht hart behandeln.

Es vergingen Wochen. Der Schnee begann selbst auf den Höhen zu schmelzen. Auf den Matten unter dem Hermeshof fingen die gelben Schlüsselblumen zu blühen an, im Buchenwald ließen am Abend schon die Schwarzdrosseln sich hören. Der Frühling war im Anzug. Mit der Magdalene war es immer noch nicht besser. Sie saß ganze Tage lang am sonnigen Waldrand und sang leise ihr altes Klagelied oder brütete irr vor sich hin.

Der Ulrich war ein unglücklicher, schwer heimgesuchter Mann. Schon längst hatte er es bereut, auf Mühlstein gefreit, aber auch bereut, sein junges Weib so geschlagen zu haben. Mit der Zeit – da der Hans fort war – glaubte er, wäre es ohne das Schlagen doch besser geworden.

In allen Tälern im Klostergebiet und in den »Reichslanden« sprach man viel und vieles von der unglücklichen Heirat auf dem Hermeshof und von der »besundern« Magdalene, die nicht, wie andere, leichten Herzens ihre Jugendliebe mit einem anderen Manne vertauschen konnte.

Hart blieb nur der Vogt. Er war immer noch der Meinung, man könnte mit Schlägen das Maidle gescheit machen, das nur boshaft sei und sich verstelle, weil sein Wille nicht geschehen.

Er beredete den gutmütigen und beschränkten Ulrich, ihm Gelegenheit zu geben, die Magdalene zu überraschen, so daß sie nicht davonspringen könnte. So überfiel sie der Vater eines Tages während des Mittagessens und schlug sie abermals.

Die Unglückliche geriet in heftige Delirien oder, wie man in ihrer Familie heute noch erzählt, in eine »hitzige Krankheit«, aus der sie nach Wochen erst wieder erwachte, um zu sterben. 85 Sie kam noch einmal zu sich. Man holte den Pfarrer von Zell, denselben Pater Haan, der sie getraut hatte und der im Totenbuch ausdrücklich bemerkt, daß sie »mit allen Sakramenten versehen worden sei«.

Dienstag den 17. Januar 1785 war sie am Traualtar gestanden, und Dienstag den 15. März desselben Jahres haben zwei Pferde des Hermesburen die junge Bürin im Sarge hinabgeführt auf den Zeller Kirchhof »unter den Eichen«, und der Pater Pirmin Haan hat sie begraben. –

Als der Knecht vom Hermeshof am Sonntag zuvor auf Mühlstein geeilt war mit der Kunde, die Bürin sei gestorben, da fuhr es in den starken, harten Vogt, wie ein Blitzstrahl in eine alte Eiche.

Er fing an zu weinen wie ein Kind, und dann reichte er seiner weinenden Frau die Hand und sprach: »Mutter, ich hab' der Magdalene schweres Unrecht angetan. Gott mög' mir verzeihen.«

Am Dienstag schritten hinter dem Sarg her der Vogt und der Ulrich wie zwei arme, todeswürdige Sünder und beteten – der Vater unter Weinen – mit den Betenden: »Herr, gib ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr.«

Und als die Leute aus dem Kirchhof herausgingen nach der Beerdigung, da meinte manch alte Bürin: »Man sollte eben nie ein Kind zwingen zum Heiraten« – und alles sprach von der armen Magdalene, die so jung und so elend ihr Leben endigen mußte.

Und nachdem der Vogt mit seinem Weib und seinen vier erwachsenen Buben am Abend heimgekehrt war und alle in der Stube still und traurig ihre Nachtsuppe aßen, da sprach der Vater: »Wenn ich hundert Kinder hätte, ich würde keines mehr zum Heiraten zwingen. Heiratet, wen ihr wollt, ihr Buben, 86 ob reich oder arm, wenn's nur euer freier Wille ist. Mir geht es mein ganzes Leben nach, was ich am Maidle gesündigt habe.«

Einst hatte er gesagt: »Liebe wächst nicht auf Mühlstein«, und er hatte am Maidle erfahren, wie sie doch gedieh und stark ward bis zum Tod. Und sie wuchs auch fortan. Seine Buben heirateten alle nach Herzensneigung, drei sogar arme Mädchen auf Taglöhnergütchen. –

Am Sonntag nach der Beerdigung der Magdalene lag lieblicher Frühling über dem Kirchhof »unter den Eichen«. In Zell und in Nordrach war alles in der Kirche. Rings um den Gottesacker war so tiefe Stille wie über seinen Gräbern selber.

Da schritt von Lindach her eine Frauengestalt. Sie trug ein Körblein mit Blumen in den Händen. Die Blumen waren »Monerle« und »rote Mattengele«, wie sie zur Frühjahrszeit die Bäuerinnen des mittleren Kinzigtales samt den Wurzeln auf den Markt nach Hasle tragen, wo dann die Schwarzwälder aus der Gegend von Triberg und Schramberg sie, diese Erstlinge des Frühlings, kaufen und heimbringen in ihre Gärtchen auf den rauhen Höhen.

Solche Blumen trug die Frauensperson in ihrem Körblein in der Rechten. In der Linken hatte sie ihr rotes »Fazzinettli« und wischte sich damit fortwährend die Tränen aus den alten Augen.

»Unter den Eichen« verließ sie die Straße und schritt dem Gottesacker zu. Leise trat sie ein und vor das neue Grab der Magdalene. Sie stellte das Körblein ab, faltete die Hände über dem feuchten Fazzinettli, weinte und betete ein Vaterunser und »Herr, gib ihr die ewige Ruhe«. Dann kniete sie nieder, nahm die Blumen aus dem Körblein und setzte sie auf das frische Grab und begoß sie mit ihren Tränen.

87 Und als sie zu Ende war, sprach sie: »'s Maidle isch halt immer a Edelfräule gsi, drum isch ihm 's Herz gebrochen. Gott geb' dem armen Tropf die ewig Ruah!«

Dann betete sie noch ein paar Vaterunser und ging, die Tränen trocknend, von dannen.

Es war die alte Marianne gewesen, die treue Magd auf Mühlstein. Die Bürin, die Mutter der Toten, hatte ihr die Blumen ins Körble gegeben, und sie hatte sie durch den Wald heruntergetragen und in Tränen aufs Grab »des toten Edelfräules« gepflanzt.

Die Wellen der Liebe schlagen in der Regel jedes Jahr schwächer an unsere Gräber. »Versunken und vergessen« ist nicht bloß des Sängers Fluch, sondern unser aller Los.

Das Grab der Magdalene »unter den Eichen« ward nicht so schnell vergessen. Im Herbst kam die Marianne wieder und pflanzte Astern unter das Kreuz, und am Allerheiligennachmittag kamen der Vogt und die Mutter und beteten und weinten und grämten sich über das zu Tode gequälte Maidle.

So kamen die drei, solange sie lebten. Der Ulrich kam nicht einmal am ersten Allerseelentag. Er hatte keine Liebe erfahren und war auch keine schuldig, und Reue fühlte er sicher nicht lange. Schon am folgenden 26. April 1785, also kaum einige Wochen nach dem Tode der Magdalene, hatte er als dritte Bürin des Vollmer-Jörgen Tochter aus dem Oberentersbach auf den Hermeshof geführt. So meldet das Ehebuch in Zell und läßt tief blicken in Ulrichs Seele.

Das dritte Weib war ihm holder. Er ward Vater vieler Kinder. Die Buben des Hermesburen waren intelligente Burschen. Da nur der Jüngste den Hof bekommen konnte, blieb den anderen wie herkömmlich nur übrig, als Knechte zu dienen, bis ein Zufall sie auf einen Hof, dessen Geschlecht im Mannsstamm erlosch, 88 bringen könnte. Das war den zwei Ältesten zu wenig. Sie gingen lieber in die neugegründete Steingutfabrik nach Zell und wurden »Porzellanmacher« und tüchtige, fleißige Arbeiter.

Als der alte Ulrich Faißt 1816, 84 Jahre alt, starb und jeder seiner Buben ein hübsches Stück Geld bekam, gründeten die zwei im württembergischen Schwarzwald, in Schramberg, eine eigene, große Porzellanfabrik, die heute noch blüht. Auf dem Hermeshof aber ist das Geschlecht der Faißten jetzt untergegangen.

Im »Adler« im Hambe, dem besten Wirtshaus im alten Reichstal, hängt heute noch das Bildnis des Ulrich; denn die greise Adlerwirtin ist seine Enkelin. 89

 


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