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Die letzte Freude

Roman


1

Nun bin ich in die Wälder gegangen.

Nicht daß mich etwas gekränkt oder die Bosheit der Menschen mich besonders verletzt hätte; aber wenn die Wälder nicht zu mir kommen, muß ich zu ihnen gehen. So ist es.

Diesmal bin ich nicht als Knecht und Vagabund ausgezogen. Ich bin reich an Geld und überernährt, schlaff vom Erfolg, vom Glück, verstehst du? Ich verließ die Welt, wie ein Sultan üppiges Essen, Harem und Blumen verläßt und das härene Gewand umtut.

Ich könnte vielleicht auch etwas mehr Wesens davon machen. Denn ich werde hier umherwandern und denken und große Eisen zum Glühen bringen. Nietzsche hätte sicher so gesprochen: Das letzte Wort, das ich zu den Menschen sagte, fand ihre Zustimmung, die Menschen nickten. Das aber war mein letztes Wort, ich ging in die Wälder. Denn da begriff ich, daß ich entweder etwas Unehrliches oder etwas Dummes gesagt hatte …;

Ich sprach mich nicht in diesem Sinne aus, sondern ging nur in die Wälder.

*

Glaub nur ja nicht, daß sich hier nichts ereigne. Die Schneeflocken fallen hier wie in der Stadt, und Vögel und Tiere sind mit dem Ihren beschäftigt vom Morgen bis zum Abend und auch vom Abend bis zum Morgen. Ich könnte vielsagende Geschichten von hier senden, aber ich tu es nicht. Ich habe die Wälder um der Einsamkeit und um meiner großen Eisen willen aufgesucht, ich habe einige große Eisen, die in mir liegen und glühend werden. Ich behandle mich also danach. Wenn ich eines Tages einem Renntierbock begegne, werde ich vielleicht sagen: Gott im Himmel, da ist ein Renntierbock, er ist wütend! Wenn das aber einen zu starken Eindruck auf mich macht, dann sage ich, es ist ein Kalb oder ein Federvieh und lüge mich gründlich an.

Hier sollte sich nichts ereignen!

Eines Tages sah ich, wie zwei Lappen einander begegneten. Es waren ein Bursche und ein Mädchen. Anfangs benahmen sie sich, wie Menschen tun. Boris! sagten sie zueinander und lächelten. Aber gleich darauf fielen sie in den Schnee und blieben eine gute Weile für mich unsichtbar. Du mußt nach ihnen sehen, dachte ich, als eine Viertelstunde vergangen war, sie könnten im Schnee ersticken. Da standen sie auf und gingen fort. Jedes in seiner Richtung.

Niemals in meinem zerschlissenen Leben habe ich einen ähnlichen Gruß gesehen.

*

Ich wohne Tag und Nacht in einer verlassenen Torfgamme Erdhütte. (Anmerk. d. Übers.), in die ich hineinkriechen muß. Wahrscheinlich hat jemand sie vor langer Zeit gebaut und als Notbehelf benützt, vielleicht war ein Mann verfolgt worden und hatte sich hier einige Herbsttage lang verborgen gehalten. Wir sind zwei in der Gamme, und wenn ich Madame nicht als Menschen rechne, bin ich nur einer. Madame ist eine Maus, mit der ich zusammen lebe, und ich habe ihr diesen Namen gegeben, um sie aufs höchste zu ehren. Sie frißt alles, was ich in die Winkel lege, und sitzt bisweilen da und schaut mich an.

Es war ursprünglich altes Heu in der Gamme, das überließ ich freundlichst Madame; für mein eigenes Bett schnitt ich mir weiche Tannenzweige ab, wie es sich gehörte. Ich habe Axt und Säge bei mir und einige notwendige Töpfe. Und ich besitze einen Schlafsack aus Schaffell mit der Wolle nach innen. Ich unterhalte das Feuer die ganze Nacht; meine Joppe, die dort hängt, riecht am Morgen frisch nach Harz. Wenn ich Kaffee kochen will, gehe ich hinaus und fülle den Kessel mit reinem Schnee und hänge ihn über das Feuer, so bekomme ich Wasser.

Ist das nun auch ein Leben?

Da hast du dich jetzt versprochen. Das ist ein Leben, wofür du keinen Sinn hast. Du hast dein Heim in der Stadt, jawohl, und du hast es mit Nippes und Bildern und Büchern ausgestattet; aber du hast Frau und Dienstmädchen und hundert Ausgaben. Und im Wachen und im Schlafen mußt du mit den Dingen um die Wette laufen und hast niemals Frieden. Ich habe Frieden. Behalte du deine geistigen Güter und die Bücher und Kunst und Zeitungen, behalte auch deine Caféhäuser und deinen Whisky, von dem mir nur jedesmal schlecht wird. Hier durchstreife ich die Wälder, und es geht mir gut. Stellst du mir geistige Fragen und willst mich in die Enge treiben, so antworte ich etwa nur, daß Gott der Ursprung ist, und daß die Menschen wahrlich nur Pünktchen und Fasern im Universum sind. Weiter bist du auch nicht gekommen. Gehst du aber so weit, mich zu fragen, was die Ewigkeit sei, so bin ich auch hierin an derselben Stelle angelangt wie du und antworte: Ewigkeit ist nur ungeschaffene Zeit, vollkommen ungeschaffene Zeit.

Kleiner Freund, komm her, dann will ich einen Spiegel aus der Tasche nehmen und dir einen Sonnenfleck ins Gesicht setzen und dich beleuchten, kleiner Freund.

*

Du liegst bis zehn oder elf Uhr am Tage im Bett und bist immer noch müde und matt, wenn du aufstehst. Ich sehe dich vor mir, wenn du auf die Straße hinauskommst, deine Augen blinzeln, denn der Morgen hat zu früh für sie gegraut. Ich stehe um fünf Uhr auf und bin ausgeschlafen. Draußen ist es noch dunkel, aber es gibt trotzdem genug zu beobachten, Mond, Sterne, Wolken und Wetterzeichen für den Tag. Ich sage mir das Wetter für viele Stunden voraus. Auf welche Art saust die Luft? Und kracht das Eis auf dem Glimmasee trocken und leicht oder tief und lang? Ich höre prächtige Anzeichen, und wenn es hell wird, füge ich die sichtbaren Zeichen zu den hörbaren und werde immer wissender.

Dann kommt ein schmaler Streifen des Tages zu unterst im Osten, die Sterne saugen sich selbst in den Himmel ein, und das Licht herrscht. Bald kreist ein Rabe über den Wäldern, und ich warne Madame, sich vor der Gamme sehen zu lassen, damit sie nicht verspeist werde.

Ist aber Neuschnee gefallen, so haben Bäume und Gebüsch und große Steine die Form von unirdischen Ungeheuern angenommen, sie sind des Nachts gleichsam aus einer anderen Welt gekommen. Eine windgefällte Kiefer mit ausgerissener Wurzel sieht aus wie eine Hexe, mitten in seltsamen Gebärden erstarrt.

Da ist ein Hase gesprungen, dort ist die Fährte eines einzelnen Renntiers. Ich hole meinen Schlafsack heraus und hänge ihn hoch an einem Baum auf, wegen Madame, die alles frißt, und folge den Renntierspuren in den Wald. Das Tier ist ganz gemächlich gegangen, wie ich sehe, aber es hat ein bestimmtes Ziel gehabt, es ist gerade nach Osten gewandert, dem Tageslicht entgegen. Beim Skjelfluß, der reißend ist und niemals zufriert, hat das Renntier getrunken, am Ufer nach Moos gescharrt, ein wenig gerastet und ist wieder weiter gezogen.

Und was dieses Renntier getan hat, ist vielleicht mein einziges Wissen und Erlebnis für diesen Tag. Ich finde, es ist etwas. Die Tage sind kurz, schon gegen zwei Uhr schlendere ich bei voller Dämmerung heimwärts, der gute und stille Abend kommt heran. Dann fange ich zu kochen an. Ich besitze eine Menge Fleisch in drei blendend weißen Schneehaufen, ich habe übrigens auch noch etwas Besseres: acht fette Renntierkäse zu Butter und Flachbrot.

Während die Grütze kocht, lege ich mich ein wenig hin, schaue ins Feuer und schlafe ein. Ich halte meinen Mittagschlaf vor dem Essen. Und wenn ich aufwache, ist die Grütze gekocht, es riecht nach Fleisch und Harz in der Gamme. Madame schießt auf dem Boden hin und her und erhält schließlich ihren Anteil. Dann esse ich und zünde die Pfeife an.

Der Tag ist zu Ende. Alles ist gut gewesen, ich habe keinen Verdruß gehabt. In der großen Stille, die mich umgibt, bin ich der einzige erwachsene wandernde Mensch, ich werde dadurch größer und bedeutungsvoller, Gottes Nächster. Mit den glühenden Eisen in mir geht es, glaube ich, gut, denn Gott tut große Dinge um seines Nächsten willen.

Ich liege da und denke an das Renntier, an den Weg, den es gegangen ist, was es beim Skjelfluß getan hat, und daß es dann seine Wanderung fortsetzte. Da ist es unter einigen Zweigen durchgeschlüpft, und das Geweih hat mehrere Zeichen in die Rinde geritzt; dort hat ein Weidengebüsch es gezwungen, einen Bogen zu machen; aber gleich hinter dem Gebüsch hat es von selbst den Bogen wieder ausgeglichen und ist dann weiterhin nach Osten gegangen. An all das denke ich.

Und du? Hast du deine zwei Zeitungen verglichen, und weißt du nun, welches jetzt die öffentliche Meinung in Norwegen über die Altersversicherung ist?

 

2

Bei schlechtem Wetter sitze ich daheim und vertiefe mich in allerhand. Ich schreibe auch Briefe an diesen und jenen Bekannten, daß es mir gut geht, was ich auch von dir wieder zu hören hoffe. Aber ich sende diese Briefe nicht ab, und sie werden jeden Tag älter und älter. Es ist ja gleich. Ich habe die Briefe mit einer Schnur zusammengebunden und lasse sie frei von der Decke herunterhängen, um zu verhindern, daß Madame sie zernagt.

Dann kam eines Tages ein Mann zu mir gewandert. Er kam hastig und gleitend, seine Kleider waren nicht sonderlich schön, und er trug nichts um den Hals; ein Arbeitsmann. Er hatte einen Sack auf dem Rücken. Was darin wohl sein mochte? Guten Tag, sagen wir zueinander, und schönes Wetter im Wald.

Ich hatte nicht erwartet, hier in der Gamme jemand vorzufinden, sagt der Mann. Gleichzeitig hatte er ein verdrießliches und heftiges Wesen, ohne jegliche Demut warf er den Sack hin.

Er muß etwas über mich wissen, dachte ich, weil er so auftritt.

Habt Ihr lange hier gewohnt? fragt er, und werdet Ihr bald fortgehen?

Gehört die Gamme vielleicht dir? frage ich meinerseits.

Da richtete er den Blick auf mich.

Denn wenn die Gamme dir gehört, so ist es etwas anderes, sagte ich. Und wenn ich von hier fortgehe, so habe ich nicht vor, sie wie irgendein Taschendieb mitzunehmen.

Das sagte ich sanft und scherzhaft, um mir den Mund nicht zu verbrennen.

Aber ich hatte gerade das Richtige gesagt, der Mann verlor auf einmal seine Sicherheit. Ich hatte ihm auf irgendeine Weise zu verstehen gegeben, daß ich mehr über ihn wisse, als er über mich.

Als ich ihn einzutreten bat, war er dankbar und sagte: Danke, aber ich trage Euch wohl nur Schnee hinein.

Und er reinigte seine Stiefel besonders gut, nahm den Sack mit und kroch hinein.

Nun wollen wir einmal Kaffee kochen, sagte ich.

Ihr sollt keine Umstände machen, erwiderte er und fing an sich das Gesicht zu wischen und vor Wärme zu schnaufen; aber ich habe einen langen Weg die ganze Nacht hindurch gehabt.

Willst du über das Gebirge?

Es kommt darauf an. Drüben, auf der anderen Seite des Gebirges, ist im Winter wohl auch keine Arbeit zu finden.

Er bekam Kaffee.

Habt Ihr ein bißchen was zu essen? Es ist eine Schande, Euch darum zu bitten. Ein wenig Flachbrot? Ich kam nicht dazu, mir etwas mitzunehmen.

Freilich, Flachbrot, Butter und Renntierkäse. Hier bitte.

Ach ja, viele haben es nicht leicht im Winter, sagte der Mann, während er aß.

Du könntest vielleicht wieder in die Ortschaft hinuntergehen und ein paar Briefe für mich mitnehmen, frage ich. Ich werde dich dafür entschädigen.

Der Mann antwortet:

Nein, wirklich, das kann ich nicht. Ich kann nicht. Denn ich muß unbedingt über das Gebirge, ich habe gehört, daß es in Hillingen, in Hillingswald Arbeit gibt. Nein, das kann ich nicht.

Du mußt ihn wieder ein wenig aufrichten, dachte ich. Jetzt sitzt er nur so da und hat keine Spur von Selbstbewußtsein; es endet noch damit, daß er dich um eine halbe Krone bittet. Ich tastete seinen Sack ein wenig ab und sagte:

Was trägst du denn da? Schwere Sachen?

Was schert Euch das? antwortete er augenblicklich und zog den Sack zu sich heran.

Ich wollte nichts daraus stehlen, ich bin kein Diebsgeselle, sagte ich wieder im Scherz.

Es ist mir gleich, was Ihr seid, murmelte er.

Der Tag ging so hin. Da ich einen Gast hatte, mochte ich nicht in den Wald hinausgehen, sondern wollte mit ihm schwätzen und ihn ausfragen. Es war ein gewöhnlicher Mann ohne größeres Interesse für meine Eisen, mit dreckigen Händen, unaufgeklärt und langweilig in seiner Unterhaltung; die Sachen im Sack hatte er wahrscheinlich gestohlen. Später merkte ich, daß er in vielen Kleinigkeiten, die das Leben ihn gelehrt hatte, ganz klug war. Er klagte darüber, daß ihn an den Fersen friere, und zog die Stiefel aus. Es wunderte mich nicht, daß er fror, es waren keine Fersen an seinen Strümpfen, nur Löcher. Er erhielt mein Messer und schnitt die Fetzen ab, dann zog er die Strümpfe verkehrt an, die Sohle über den Rist. Als er die Stiefel darüber gezogen hatte, sagte er: So, jetzt ist es gut und warm.

Er richtete keinen Schaden an. Wenn er die Säge oder die Axt aus dem Winkel hervorholte und betrachtete, stellte er sie wieder dorthin zurück, wo er sie hergenommen hatte. Als er die Briefe anschaute und vielleicht versuchte, die Adressen zu lesen, ließ er sie nicht unachtsam los und durch die Luft pendeln, sondern brachte erst die Schnur zum Stillhängen. Ich hatte keinen Grund, über ihn zu klagen.

Er blieb bis Mittag, und als er das Mittagessen erhalten hatte, sagte er:

Nehmt es mir nicht übel, aber habt Ihr etwas dagegen, wenn ich hinausgehe und mir Tannenzweige abschneide, um darauf zu sitzen?

Er ging hinaus und schnitt sich etliche weiche Zweige, und wir mußten das Heu von Madame ein wenig zur Seite rücken, damit der Mann Platz in der Gamme hätte. Dann lagen wir da, brannten Kienholz und unterhielten uns.

Am Nachmittag ging er auch noch nicht weiter, sondern blieb liegen und dehnte gleichsam die Zeit hinaus. Als es zu dämmern anfing, ging er zur Türöffnung und schaute nach dem Wetter aus. Er fragte zu mir zurück:

Meint Ihr, daß es heute nacht Schnee gibt?

Du fragst mich und ich dich, sagte ich, aber es sieht nach Schnee aus, es drückt den Rauch herunter.

Es machte ihn unruhig, daß möglicherweise Schnee kommen könnte, er sagte, er müsse lieber heute nacht gehen. Plötzlich aber wurde er wütend. Ich lag da und dehnte mich und hatte in Gedanken die Hand wieder auf seinen Sack gelegt.

Ich begreife nicht, was Ihr mit mir zu schaffen habt, schrie der Mann und riß mir den Sack weg. Ihr sollt den Sack nicht anrühren, das rat' ich Euch.

Ich antwortete, daß ich mir nichts dabei gedacht hätte und daß ich ihm nichts stehlen wolle.

Etwas stehlen, nein? Und weiter? Glaubt Ihr übrigens, ich fürchte mich vor Euch? Glaubt das ja nicht, guter Mann. Hier ist alles, was ich im Sack habe, sagte er und fing an mir verschiedene Dinge zu zeigen: drei Paar neue Fäustlinge, etwas dicken Stoff für Kleider, ein Säckchen Grütze, eine Speckseite, sechzehn Rollen Tabak und etliche große Klumpen Kandiszucker. Zu unterst im Sack war vielleicht ein halber Scheffel Kaffeebohnen.

Das waren wohl alles miteinander Waren vom Handelsplatz, mit Ausnahme einer Menge zerbrochenen Flachbrotes, das er vielleicht woanders stibitzt hatte.

Da hast du ja selber Flachbrot, sagte ich.

Wenn Ihr Euch darauf verstündet, würdet Ihr nicht so daher reden. Brauche ich vielleicht nichts zu essen, wenn ich über das Gebirge will und wandern und wandern muß? Das ist ja lächerlich.

Hübsch fein und sorgfältig legte er der Reihe nach jedes Ding wieder in den Sack. Es war ihm darum zu tun, die Tabakrollen unter dem Speck unterzubringen, damit der Stoff keine Fettstecke bekäme.

Ihr könntet mir gern diesen Stoff abkaufen, sagte er. Ich gebe ihn billig her. Es ist Düffel. Mir ist er im Wege.

Was verlangst du dafür? fragte ich.

Es ist mindestens für einen ganzen Anzug, vielleicht mehr, sagte er zu sich selber und breitete den Stoff aus.

Ich sagte zu dem Mann:

Eigentlich kommst du her und bringst die Welt und das Leben und Geistiges und Zeitungen mit in die Wälder hierher. Aber schwätzen wir ein bißchen miteinander. Eines sag mir: fürchtest du, man könnte deine Fußspuren morgen sehen, wenn heute nacht Neuschnee kommt?

Das ist meine Sache. Ich bin schon früher über das Gebirge gegangen und weiß viele Wege, murmelte der Mann. Ihr könnt den Stoff für wenige Kronen haben.

Ich schüttelte den Kopf, und der Mann legte den Stoff fein säuberlich wieder in den Sack, ganz, als gehöre er ihm. Er sagte:

Ich werde ihn in einzelne Stücke zu Hosen verschneiden, dann ist es nicht so groß, und ich werde ihn leichter verkaufen.

Du solltest es lieber in einem Stück für Hose, Jacke und Weste lassen, sagte ich, und den Rest teilst du in Hosen auf.

Meint Ihr? Ja, das ist vielleicht am besten.

Wir rechneten aus, wieviel man zu einem Anzug für einen erwachsenen Mann brauchte, und nahmen die Schnur mit den Briefen und maßen unsere Kleider, um es genau zu wissen. Dann machten wir einen Schnitt in den Stoff und rissen ihn auseinander. Es blieb, außer einem ganzen Anzug, noch reichlich Stoff für zwei Hosen.

Dann bot mir der Mann andere Dinge aus seinem Sack zum Kauf an, und ich kaufte Kaffee und einige Rollen Tabak. Er steckte das Geld in einen Lederbeutel, und ich beobachtete den vollkommen leeren Beutel und die ärmliche und umständliche Art, mit der er das Geld barg und nachträglich außen an der Tasche danach fühlte.

Es war nicht viel, was ich dir abkaufen konnte, aber ich brauche nicht mehr.

Geschäft ist Geschäft, sagte er, ich will nicht klagen.

Er war ziemlich aufgeräumt.

Während er sich fertig machte, um seines Weges zu gehen, da er nicht mehr auf seinem Lager aus Zweigen sitzen bleiben wollte, konnte ich es nicht unterlassen, die erbärmliche Art, wie er stahl, zu bemitleiden. Ein Diebstahl aus Notdurft, eine Speckseite und ein Stück Stoff, das man im Walde loszuwerden versuchte. Ach, wie sehr der Diebstahl aufgehört hat, irgend etwas zu bedeuten! Das kommt auch davon, daß die Strafe des Gesetzes für Vergehen aller Art aufgehört hat, etwas Besonderes zu sein. Es ist nur eine langweilige und humane Strafe, man hat das religiöse Element aus den Gesetzen herausgenommen, ein Hardesvogt ist jetzt ohne jegliche Mystik. Ich entsinne mich des letzten Richters, der die Bedeutung des Eides so auslegte, wie er ausgelegt werden mußte, um von Wirksamkeit zu sein. Und da standen uns allen miteinander die Haare zu Berge. Kommt wieder mit ein wenig Zauberei und dem sechsten Buch Moses und der Sünde wider den Heiligen Geist und Verschreibungen mit dem Blut neugetaufter Kinder. Und stehlt einen Sack Geld und Silberzeug am Handelsort und versteckt den Sack in den Bergen, daß an den Herbstabenden eine blaue Flamme über der Stelle schweben kann. Aber kommt mir nicht mit drei Paar Fäustlingen und einer Speckseite!

Der Mann war nun nicht mehr um seinen Sack besorgt, er kroch ganz aus der Gamme hinaus, um die Luft zu erforschen. Ich legte den gekauften Tabak und den Kaffee in den Sack zurück, weil ich beides nicht brauchte. Als er hereinkam, sagte er:

Ich glaube, ich muß mich damit abfinden, die Nacht hier zuzubringen, wenn es Euch nicht unangenehm ist.

Am Abend machte er keine Miene, als wollte er seinen eignen Eßvorrat heraustun. Ich kochte Kaffee und gab ihm dazu zu essen. Ihr sollt Euch keine Umstände machen, sagte er. Dann fing er wieder an in dem Sack zu kramen und schob den Speck gut zur Seite, damit der Stoff nichts davon abbekomme, danach schnallte er seinen Gürtelriemen ab, knüpfte ihn übers Kreuz und band ihn so, daß er den Sack mit dem einen Riemenende über der Schulter tragen konnte.

Wenn ich nun den Sackhals auf die andere Schulter herübernehme, trage ich leichter, sagte er.

Ich gab ihm die Briefe mit über das Gebirge, um sie dort zur Post zu geben, und er verwahrte sie gut und klopfte danach außen auf die Tasche; das Geld für die Briefmarken erhielt er in ein eigenes Papier eingewickelt, das er in einen Knoten am Sackhals band.

Wo wohnst du? fragte ich.

Wo soll ein armer Teufel wohnen? Ich wohne am Meere. Weib und Kinder hab' ich auch, leider, muß ich sagen.

Wieviel Kinder hast du?

Vier. Und das eine hat einen brandigen Arm, und das andere – irgend etwas fehlt jedem. Es ist nicht leicht für einen armen Kerl. Mein Weib ist krank, vor ein paar Tagen glaubte sie, es sei der Tod, und sie müsse zum Abendmahl gehen.

Es kam ein trauriger Ton in seine Stimme. Aber der Ton war falsch, er log mich sicher an. Wenn jetzt jemand aus der Ortschaft käme und nach ihm suchte, hätte wohl kein christlicher Mensch das Herz dazu, ihn anzugeben; denn er hatte ja eine so große und kranke Familie. So dachte er wahrscheinlich.

Mensch, o Mensch, du bist schlimmer als eine Maus.

Ich fragte ihn nicht weiter, sondern bat ihn, etwas zu singen, eine Weise oder ein Lied, weil wir nun doch so dasaßen.

Ich bin jetzt nicht in der Stimmung dazu, erwiderte er. Es müßte denn ein Psalm sein.

Nun, dann einen Psalm.

Nicht jetzt. Ich würde Euch gern einen Gefallen tun, aber –

Er war in steigender Unruhe. Kurz darauf nahm er den Sack und ging hinaus. Ich dachte: Da ging er nun, aber den gewöhnlichen Gruß: Friede sei mit Euch! hat er nicht gesagt. Es ist gut, daß ich in die Wälder gekommen bin, dachte ich, hier ist mein Platz, und nach diesem Tag soll keine sterbliche Seele mehr in meine vier Wände kommen.

Ich traf eine sehr genaue Verabredung mit mir, mich nicht mehr mit den Menschen zu befassen. Madame, komm hierher, sagte ich, ich achte dich und erkläre mich hiermit bereit, eine Verbindung fürs Leben mit dir einzugehen, Madame!

Nach einer halben Stunde kam der Mann zurück. Er hatte keinen Sack.

Ich glaubte, du seist gegangen, sagte ich.

Gegangen? Ich bin doch kein Hund, entgegnete er. Ich bin schon früher mit Leuten zusammen gewesen, und sage Guten Tag, wenn ich komme, und Friede sei mit Euch, wenn ich gehe. Ihr solltet mich lieber nicht ärgern.

Was hast du mit dem Sack gemacht?

Ich habe ihn ein Stück weit vorausgetragen.

Es machte seiner Umsicht Ehre, daß er den Sack fortschaffte, falls jemand heraufkäme, es war leichter, frei und frank davon zu laufen, als mit einer Bürde auf dem Rücken. Um zu verhindern, daß er mich noch mehr mit seinem Armutsgeschwätz anlöge, fragte ich:

Du warst wohl vor etlichen Jahren ein großer Draufgänger? Und bist es noch?

Ach ja, für meine Verhältnisse schon, sagte er lebhaft. Niemand hob die Trantonnen so leicht wie ich, und es gab auch niemand, der beim Weihnachtstanz länger aushielt als ich. Still – kommt da nicht jemand?

Wir lauschten. In einer einzigen Sekunde hatte er seine Blicke zwischen der Türöffnung und dem Loch im Dach hin und her gehen lassen und sich entschlossen, der Gefahr in der Türe zu begegnen. Er war gespannt und prachtvoll. Ich sah seine Kinnlade kauen.

Es war nichts, sagte ich.

Entschlossen und stark wie ein Satan, kroch er hinaus und blieb einige Minuten fort. Als er wieder hereinkam, atmete er auf und sagte:

Es war nichts.

Wir legten uns schlafen. Na also, in Jesu Namen! sagte er und rückte sich auf seinem Zweiglager zurecht. Ich schlief sofort ein und schlief eine Weile tief. Gegen Ende der Nacht hatte die Unruhe den Mann doch schon wieder auf die Beine gebracht, ich hörte, wie er murmelte: Friede sei mit Euch! und hinauskroch.

Am Morgen verbrannte ich die Tannenzweige des Mannes und bereitete einen angenehmen Rauch in der Gamme.

Und draußen lag Neuschnee.

 

3

Nichts ist so schön, als wieder allein zu sein und friedlich und in sich gekehrt durch die Wälder zu streifen, Kaffee zu kochen und die Pfeife zu stopfen und dabei ein wenig und langsam zu denken. So, jetzt fülle ich den Kessel mit Schnee, denke ich, und jetzt mahle ich diese Kaffeebohnen mit einem Stein; später muß ich meinen Schlafsack gut im Schnee ausklopfen, damit die Wolle wieder weiß wird. Darin ist keine Literatur und kein großer Roman und keine öffentliche Meinung. Was weiter? Ich bin mit niemand um die Wette gelaufen, um diesen Kaffee zu bereiten. Literatur? Als Rom über die Welt herrschte, war es in der Literatur doch nur Griechenlands stammelnder Lehrling. Aber Rom herrschte über die Welt. Schauen wir uns auch ein anderes Land aus unserer Bekanntschaft an: es führte einen Freiheitskrieg, an dessen Glanz es immer noch zehrt, es brachte die größte Malkunst der Welt hervor. Aber es hatte keine Literatur und hat heute noch keine …;

Tag für Tag kenne ich mich mit den Bäumen, dem Moos und dem Schnee auf der Erde besser aus, und alle Dinge werden meine Freunde. Ein Kiefernstumpf steht da und taut in der Sonne, ich fühle meine Vertraulichkeit zu ihm wachsen, ich stehe manchmal bei ihm und liebe ihn, irgend etwas rührt sich in meiner Seele. Die Rinde ist so schlimm abgerissen, der Stumpf ist eines Winters bei hohem Schnee schändlich abgehauen worden, darum steht er jetzt so hoch und nackt da. Ich denke mich an Stelle dieses Baumstumpfes und betrachte ihn barmherzig. Und meine Augen haben vielleicht denselben einfachen tierischen Ausdruck wie die Menschenaugen in der fossilen Zeit.

Hier wirst du sicher zugreifen und mich lächerlich machen, über den Baumstumpf und mich kannst du viele lustige Dinge sagen. Und ganz zu innerst weißt du dennoch, daß ich darin wie in allem dir überlegen bin, wenn ich davon absehe, daß ich nicht soviel bürgerliche Kenntnisse habe und nicht Student war, hehe. Über Wald und Flur kannst du mich nichts lehren, da fühle ich, was kein Mensch gefühlt hat.

Es kommt vor, daß ich mich in der Richtung irre und mich verlaufe. Ach ja, das kommt vor. Aber ich renne dann nicht herum und finde dicht vor der Haustüre doch nicht heim, das ist für die Stadtmenschen. Ich bin zwei Meilen vom Wege ab, weit jenseits des Skjelflusses, ehe ich anfange, und da ist es dann ein sonnenloser Tag, vielleicht mit dickem und wildem Schneetreiben ohne Norden und Süden am Himmel. Da heißt es dann, sich auskennen und die Merkmale und Zeichen an dieser Art und an jener Art von Bäumen wissen, das Harz an der Kiefer, die Rinde an den Laubbäumen, das Moos, das unten an der Wurzel wächst, den Winkel der Äste an der Südseite und an der Nordseite, wie die Steine bemoost sind, wie das Adernnetz der Laubblätter aussieht. Danach kann ich die Richtung bestimmen, soweit es überhaupt noch Tag ist.

Bricht aber die Dämmerung herein, so sehe ich ein, daß es unmöglich für mich ist, an diesem Tage noch heimzufinden, und mein Gott, wie wird die Nacht werden! sage ich zu mir selbst. Dann gehe ich umher und suche, bis ich eine geschützte Stelle finde, am besten ist eine Felswand, mit Schutz gegen Wetter und Wind. Dorthin trage ich ein paar Arme voll Tannenzweige, knöpfe meine Jacke gut zu und halte es lange aus. Wer das nicht ausprobiert hat, kennt das schöne Gefühl nicht, das einen in einer solchen Nacht durchströmen kann, wenn man in seinem guten Versteck sitzt. Um eine Beschäftigung zu haben, zünde ich meine Pfeife an, da ich aber zu hungrig bin, vertrage ich den Tabak nicht, und so stecke ich mir denn ein wenig Harz in den Mund und kaue und denke an mancherlei. Und draußen fegt der Schnee immer noch umher; habe ich Glück gehabt mit meinem Versteck, und liegt es in der richtigen Richtung, kann der Schnee näher und näher herankommen und schließlich eine Wächte als Dach über meine Stube wölben. Da bin ich dann vollkommen sicher und wage zu schlafen und zu wachen, wie ich will; ich werde mir die Füße nicht erfrieren.

*

Zwei Männer kamen zu meiner Gamme, sie hatten es eilig, und der eine rief mir zu:

Guten Tag. Ist gestern hier ein Mann vorübergegangen?

Ich mochte sein Gesicht nicht leiden, ich war nicht sein Diener, und er fragte zu töricht.

Hier können viele gegangen sein. Sie meinen wohl, ob ich gestern einen Mann vorübergehen sah?

Da hatte er's!

Ich sagte, was ich meinte, erwiderte der Mann heftig, ich frage Sie außerdem als Vertreter der Obrigkeit.

Soso.

Ich wollte keine Unterhaltung mehr und kroch in die Gamme. Die beiden Männer kamen nach. Der Lensmann schnitt eine Grimasse und fragte:

Haben Sie also gestern einen Mann hier vorübergehen sehen?

Nein, antwortete ich.

Sie schauten einander an und beratschlagten, kurz darauf verließen sie die Gamme und gingen wieder zur Ortschaft zurück.

Ich dachte, welche Tüchtigkeit im Fach bei diesem Lensmann, wie bebte er vor Durchschnittlichkeit! Es würden Gebühren abfallen für Ergreifung und Transport eines Gefangenen; es würde auch eine Ehre sein, die Sache ausgeführt zu haben. Oh, die ganze Menschheit müßte diesen Mann adoptieren, denn er ist ihr Sohn, nach ihrem Bild geschaffen! Wo waren die Handschellen? Er hätte ein wenig mit der Kette klirren sollen und sie über den Arm legen wie die Schleppe eines Reitkleides und mich etwas von der haarsträubenden Macht fühlen lassen, die ihn ermächtigte, jemand in Ketten zu schlagen. Nichts.

Und was sind das auch heutzutage für Handelsleute, für Handelskönige! Augenblicklich vermissen sie das, was ein Mann in einem Sack davontragen kann, und melden es dem Lensmann.

Von nun an sehne ich mich nach dem Frühling. Meine Torfgamme liegt doch zu nahe bei den Menschen, und ich will mir eine andere bauen, wenn der Frost weggeht. Ich habe mir im Wald auf der andern Seite des Skjelflusses eine Stelle ausgesucht, wo ich glaube, daß es gut sein wird. Es sind dort vier Meilen bis zur Ortschaft und drei über das Gebirge.

 

4

Sagte ich, ich sei den Menschen zu nahe? Gott bessere es, ich war jetzt mehrere Tage hintereinander ein gutes Stück im Wald, habe guten Tag gewünscht und getan, als sei ich in menschlicher Gesellschaft. Glaubte ich einen Mann vor mir zu haben, so führten wir ein langes und verständiges Gespräch, war es aber eine Frau, so wurde ich höflich: lassen Sie mich Ihre Tasche tragen, Fräulein. Einmal war es wohl die Tochter eines Lappen, der ich zu begegnen glaubte, denn ich überschüttete sie mit Schmeicheleien und wollte ihren Pelz tragen, wenn sie ihn abnehmen und nackt gehen wollte, dikkedik.

Es scheint, ich bin den Menschen nicht mehr zu nahe, Gott bessere es. Und ich werde mir wohl auch die Torfgamme, die noch mehr abseits liegen soll, nicht mehr bauen.

Die Tage werden länger, und ich habe nichts dagegen. Im Winter verhielt es sich eigentlich so, daß ich hier umherging und entbehrte und lernte, mich selbst zu züchtigen. Das nahm meine Zeit in Anspruch und bedurfte mitunter eines gewissen harten Willens, so daß ich sagen muß, ich habe mein eigenes Erziehungsgeld teuer bezahlt. Bisweilen war ich unnötig streng gegen mich. Da liegt nun ein Brot, sagte ich, und es wundert mich nicht, es interessiert mich nicht, ich bin daran gewöhnt. Aber jetzt sollst du zwölf Stunden lang kein Brot zu sehen bekommen, dann wird es Eindruck auf dich machen, sagte ich und versteckte das Brot.

Das war im Winter.

Waren es schwere Tage? Nein, gute Tage. Meine Freiheit war so groß, ich konnte tun und denken, was ich wollte, ich war allein, der Bär des Waldes. Aber selbst mitten im Walde wagt kein Mensch laut zu sprechen, ohne sich umzusehen, lieber geht man stumm umher. Man tröstet sich eine Weile damit, daß es echt englisch sei, stumm zu sein, daß man königlich schweigen solle; aber einen ganzen Tag ist das zu lang, der Mund fängt an zu erwachen, sich zu strecken, und plötzlich schreit man ein oder zwei idiotische Sätze hinaus: Ziegelsteine für das Schloß! Das Kalb ist heute viel frischer! Wenn man gut schreien kann, hört man es eine Viertelmeile weit – und dann steht man da und fühlt ein Brennen wie nach einem Hieb. Hätte man doch königlich geschwiegen! Es kam vor, daß der Briefträger, der einmal im Monat über das Gebirge wanderte, auf mich stieß, als ich eben geschrien hatte. Was? fragte er aus dem Walde. Paß auf dort unten, ich habe Selbstschüsse gelegt, antwortete ich als Ausrede.

Aber mit den langen Tagen ist mein Mut gewachsen, das macht wohl der Frühling, der mystische Aufschwung in meinem Innern, jetzt habe ich keine Angst mehr vor einem Schrei mehr oder weniger. Ich klappere unnötig laut mit meinen Töpfen beim Kochen und singe unnötig laut dazu aus vollster Brust. Das ist der Frühling.

Gestern stand ich auf einer Anhöhe und sah auf die Winterwälder hinaus. Sie haben einen anderen Ausdruck bekommen, sie sind grau und kläglich geworden, und die Mittagssonne hat den Schnee stark geschmelzt und zusammengedrückt. Überall liegen Birkenkätzchen, unter dem Jungwald liegen ganze Haufen davon, es ist, als wären Buchstaben durcheinander gefallen. Der Mond geht auf, die Sterne brechen hervor, ich schauere zusammen und friere ein wenig, da ich aber in der Gamme nichts zu tun habe, stehe ich lieber so lange wie möglich draußen und friere. Im Winter machte ich keine solchen Dummheiten, da ging ich heim, wenn ich fror, nun langweilt mich auch das. Das ist der Frühling.

Ah, jetzt ist der Himmel rein und kühl, er liegt weit offen da für alle die Sterne. Es ist eine ganze Herde von Weltkörpern oben auf der ungeheuren Ebene, sie sind so klein und wimmeln, so klein wie leiser Glockenton; wenn ich sie ansehe, höre ich gleichsam tausend kleine Glocken singen. Ja, alles drängt meine Vorstellungen in eine bestimmte Richtung: zum Frühling und zu den Weideplätzen.

 

5

Ich lege viel Kienholz auf die Feuerstätte, nehme alle meine Sachen auf den Rücken und verlasse die Gamme. Lebwohl, Madame.

Ja, das war das Ende.

Ich fühle keine Freude bei der Trennung von meiner Herberge, eher eine leise Traurigkeit – wie stets beim Verlassen eines Ortes, der längere Zeit meine Heimat gewesen ist. Aber die ganze Welt ruft mich ja jetzt da draußen. Ja, ich bin wie der Geliebte aller Wälder und Weiten, wortlos verabredeten wir, daß wir uns jetzt treffen wollten; das war gestern abend, ich fühlte, wie ich so dasaß, daß meine Augen zur Tür glitten.

Ein paarmal drehe ich mich um und schaue zu der Gamme zurück, der Rauch steigt vom Dach auf, er ballt sich und winkt mir zu, und ich winke zurück.

Der helle Seidenton in der Luft erfrischt mich; in einer langen, langen Bläue hinter den Wäldern beginnt langsam der Sonnenaufgang. Wie eine muntere Seeräuberküste ist der Himmel vor mir. Alle Berge habe ich zur Linken.

Nach ein paar Stunden Wanderung fühle ich mich durch und durch erneut, ah, jetzt geht's gut. Ich lasse meinen Stock durch die Luft sausen, und es sagt hoh; wenn ich finde, daß ich es verdient habe, setze ich mich hin und gebe mir etwas zu essen.

Nein, meine Freuden hast du in der Stadt nicht.

Vor lauter Leben und Feurigkeit recke ich mich in den Gelenken und möchte am liebsten jauchzen. Ich tue so, als sei meine Last nicht im geringsten schwer, ich mache unnötige Sprünge, und das überanstrengt mich ein wenig; aber es ist leicht, eine Überanstrengung auszuhalten, wenn man von innerer Zufriedenheit dazu getrieben wird. Hier in meiner Einsamkeit, viele Meilen von Menschen und Häusern entfernt, durchlebe ich kindlich frohe und sorgenfreie Zustände, die dir unfaßlich sind, wenn du nicht jemand hast, der sie dir erklärt. Hör zu: ich tue nun so, als würde ich auf eine merkwürdige Baumart aufmerksam. Zunächst achte ich ihrer nicht weiter, bald aber strecke ich den Hals vor, mache die Augen klein und schaue starr hin. Wie? sage ich zu mir selbst, das ist doch wohl nicht –! sage ich zu mir selbst. Ich werfe mein Bündel ab und gehe näher, ich untersuche den Baum und nicke, es ist der einzig dastehende Fabelbaum, ich habe ihn gefunden. Und ich ziehe mein Notizbuch heraus und beschreibe den Baum.

Nur Scherz und Freude, ein kleiner seltsamer Impuls, ich spiele. Das haben vor mir schon Kinder getan. Und hierher kommt kein Postbote und überrascht mich. Aber so plötzlich, wie ich das Spiel begonnen habe, beende ich es, wie Kinder tun. Oh, aber für einen Augenblick war ich in die liebe dumme Seligkeit des Kindes zurückversetzt.

Ob es nicht die Freude darüber war, bald wieder Menschen sehen zu können, die mir Lust zum Spielen machte?

Am Tag darauf komme ich zum Lappen, eben als ein zottiger Nebel sich auf Berg und Wald herabsenkt. Da gehe ich hinein. Und es widerfährt mir nur Gutes, aber es ist nicht lustig in einer Lappengamme. Da stecken die Hornlöffel und die Messer in der Torfwand, und von der Decke hängt eine kleine Petroleumlampe herunter. Und der Lappe selbst ist ein langweiliges Nichts, er kann weder wahrsagen noch zaubern. Die Tochter ist über dem Gebirge drüben, sie ist in die Schule der Ansässigen gegangen und kann lesen, aber nicht schreiben; die beiden Alten, der Mann und die Frau, sind nur Idioten. Ein tierisches Schweigen haftet der ganzen Familie an; wenn ich etwas frage, bekomme ich eine winzige Antwort zurück oder auch nicht: Mnein, mnja. Ich war kein Lappe. Sie hegten Mißtrauen gegen mich.

Den ganzen Nachmittag lag der Nebel auf der Erde und bereifte alle Wälder. Ich schlief einige Zeit. Am Abend wurde der Himmel wieder klar, es gab einige Kältegrade, ich verließ die Gamme, der Mond steht voll und still über der Welt.

Na – die ungestimmten Saiten!

Wo sind sie nur, die Vögelein?
Und sag mir, wo ich selber bin!
In eine silberne Welt verweht,
Wo keiner kommt und keiner geht!
Wie soll dies nur noch enden?
Ich schau' und weiß gar nicht, wohin
Ich darf das Auge wenden.

Da fand er einen Silberwald,
Also beginnt die Mär.
Hier wohnt ein Lied in Flimmer und Flor,
Das sang und schlang ein Sternenchor.
Käm' ich als kühnster der Recken,
Zu treffen den Troll mit spitzem Speer,
Und Mägdleins Schlummer zu wecken.

Jetzt lächle ich zu Märchen wohl.
Vor Alter ward ich weis'.
Einst schritt ich wie ein Tänzer daher.
Nun schlepp ich den Fuß so alt und schwer,
Das Herz, das Herz hat Eile,
Von Feuer gehetzt, gebunden von Eis,
Und findet nimmer Weile.

Und schaudernd schreckt die Dämmerung
Ein Atemzug so tief und bang,
Und wundervoll zittert die silberne Welt,
Als sei ein Löwe vorübergeschnellt,
Lautlos wie stummes Schweben …;
Und war wohl Gottes Abendgang …;
Die Wurzeln des Waldes beben Übertragen von Niels Hoyer..

Als ich wieder zur Gamme zurückkam, war auch die Tochter heimgekommen, sie saß da und aß nach der langen Wanderung. Die Lappin Olga, klein und seltsam, gezeugt in einem Schneehaufen, während eines Grußes. Boris! sagten sie und stürzten übereinander. Jetzt hatte sie sich rote und blaue Stoffstreifen gekauft, und noch ehe sie fertig gegessen hat, schiebt sie die Schüsseln über den Tisch und fängt an, ihr Feiertagsgewand mit den schönen Stoffen auszuschmücken. Dabei gibt sie keinen Ton von sich, weil ein Ansässiger da ist.

Du kennst mich wohl, Olga?

Mnja.

Aber du siehst so böse aus?

Mnein.

Wie war der Weg über das Gebirge?

Gut.

Ich kannte die verlassene Torfgamme, in der die Familie früher gewohnt hatte, und ich fragte:

Wie weit ist es zu eurer alten Gamme?

Nicht weit, antwortete Olga.

Ah, Olga hat sicher jemand, dem sie zulächelt, wenn auch nicht gerade mir. Da sitzt sie in dem weiten Wald und fröhnt ihrer Eitelkeit und näht wunderschöne Schnörkel auf ihr Gewand. Am Feiertag geht sie dann wahrscheinlich in die Kirche und trifft den, der das bewundern soll.

Es sagte mir nicht zu, länger bei diesen kleinen Wesen, bei dieser Menschengrütze zu bleiben, und als ich am Nachmittag ausgeschlafen hatte und draußen heller Mondschein war, machte ich mich zum Fortgehen bereit. Als ich mich noch mit Renntierkäse und was ich außerdem an Eßwaren bekommen konnte, versehen hatte, trat ich hinaus. Da wartete meiner eine Überraschung: es war durchaus kein heller Mondschein mehr, sondern bewölkter Himmel; es war auch nicht mehr kalt, sondern mildes Wetter, und die Wälder waren naß. Das war der Frühling.

Olga riet mir vom Fortgehen ab, als sie sah, wie es um das Wetter bestellt war; aber sollte ich etwa auf ihr Geschwätz achten? Sie begleitete mich ein kurzes Stück in den Wald hinein bis zum rechten Weg, dann kehrte sie um, klein und seltsam, zerzaust wie ein Huhn.

 

6

Es war beschwerlich, vorwärts zu kommen, – gut! Etliche Stunden später befinde ich mich hoch oben, zwischen den Bergen oben, ich muß irre gegangen sein. Was ist das Dunkle dort? Eine Felsspitze. Das Dunkle hier? Eine neue Felsspitze. Wir wollen uns hier lagern, wo wir gehen und stehen! Dennoch war eine tiefe Güte und Weichheit über der milden Nacht. Ich saß im Dunkeln und grub vergessene Erinnerungen aus der Kindheit aus und viele Erlebnisse aus verflossenen Zeiten. Welche Befriedigung ist es doch auch, Geld in der Tasche zu haben, selbst wenn man irgendwo draußen liegt.

In der Nacht wache ich auf, weil es mir unter meinem Felsvorsprung zu warm wird, ich muß den Schlafsack öffnen; außerdem ist es, als läge mir noch ein Ton im Ohr, vielleicht habe ich im Schlaf gerufen oder gesungen. Ich bin auf einmal ausgeruht und lege mich zurecht, um hinauszusehen. Dunkel und mild, eine steinstille Welt. Ich sehe zu dem etwas helleren Himmel empor und erblicke rings um mich einen Ring von Bergen, ich bin in einer Stadt von Zinnen, ich liege zu Füßen eines großen Gipfels, der bis zur Unförmigkeit gewaltig ist. Ein Wind erhebt sich, und plötzlich dröhnt es weit draußen. Solch ein Wetter! Dann blitzt es, und gleich darauf rollt der Donner wie eine ungeheure Lawine weit draußen zwischen den Bergen herab. Es ist unvergleichlich, dazuliegen und zuzuhören, unnatürlich herrlich, ein Schauer des Wohlbehagens durchströmt mich, ich werde wie trunken, auf eine seltsame und verrückte Art, wie ich sie noch nie erlebt habe, es äußert sich darin, daß ich lache, ausgelassen und lustig werde. Viele Einfälle kamen mir, Tollheiten fielen mir ein, untermischt mit Augenblicken großer Trauer, so daß ich daliege und schwer atme. Wieder blitzt es, und es donnert näher, es fängt auch zu regnen an, ein Sturzregen, das Echo ist sehr stark, die ganze Natur ist in Aufruhr, ein Tohuwabohu. Ich will die Nacht abschwächen, indem ich ihr entgegenschreie, sonst nimmt sie mir mystisch alle meine Kräfte und macht mich willenlos. Du wirst sehen, alle diese Felsen sind reine Verschwörungen gegen meine Wanderung, denke ich, riesenhafte gepflanzte Flüche, die mir den Weg versperren. Oder wie, wenn ich einfach in die Gewerkschaft der Felsen geraten wäre? Aber ich nicke einige Male, und das soll bedeuten, daß ich kühn und früh bin. Vielleicht sind die Felsen auch nur ausgestopft.

Mehr Blitz und Donner und mehr Sturzregen, es ist, als bekäme ich Hiebe von dem nahen Echo, es sagt Hundert! in mir. Gut – ich habe schon von vielen Schlachten gelesen und schon früher einmal im Kugelregen gestanden. Als mich ein Augenblick der Traurigkeit und das Bewußtsein meiner eigenen Nichtigkeit all der Gewalt ringsum gegenüber überfällt, klage ich und denke: Welch ein Mensch bin ich jetzt, oder bin ich vielleicht abhanden gekommen, bin ich vielleicht überhaupt nichts mehr! Und ich spreche laut und rufe meinen Namen, zu hören, ob er noch da ist.

Da – ein goldenes Rad schießt vor mir in die Höhe, und der Donner kracht dicht über meinem Kopf, in meinen eigenen Berg. Im gleichen Augenblick fahre ich aus dem Schlafsack und hinaus aus meinem Versteck. Der Donner rollt weiter, es blitzt wieder und donnert noch mehr, Welten werden mit der Wurzel ausgerissen. Daß ich nicht auf die kleine Olga gehört habe und in der Gamme geblieben bin! Am Ende ist es der Lappe, der das hervorzaubert! Der Lappe? Ach, diese Menschengrütze, dieser Hochgebirgshering – und da bin ich! Was habe ich mit all diesem Getöse zu schaffen? Ich mache einen leisen Versuch, ihm entgegenzutreten, halte aber inne, ich bin mitten in dem Großen und sehe ein, wie töricht es ist, sich ins Handgemenge mit einem Gewitter einzulassen.

Ich lehne mich an die Felswand und stehe nicht da und fordere meinen Widersacher heraus und schreie ihm nicht entgegen, im Gegenteil, ich mache ihm milchblaue Augen. Und wenn ich mich jetzt ergeben habe, so kann nur ein Fels so hart sein. Bitte. Aber ich bestehe durchaus nicht aus Versen und Rhythmen; glaubst du vielleicht, ich will meinen guten Kopf mit solchen Regenbogen aufs Spiel setzen? Das lügst du. Und ich stehe hier und lehne mich an die Welt, jawohl, und du hältst vielleicht das Blau in meinen Augen für echt …;

Da wurde ich selbst vom Blitz getroffen. Es war ein Wunder, und es widerfuhr mir. Er lief an meinem linken Ellbogen entlang und versengte den Jackenärmel, der Blitz war sicherlich wie aus Wolle, ein rollendes Knäuel. Ich fühlte eine Hitze, ich sah, wie der Boden weiter unten einen lauten Schlag erhielt und aufgerissen wurde, ein Druck preßte mich nieder, eine geballte Dunkelheit umfing mich. Dann donnert es ungeheuerlich, nicht lang und dröhnend, sondern fest und klar, schmetternd.

Das Gewitter zog vorüber.

 

7

Am nächsten Tag kam ich zu der verlassenen Gamme, naß bis auf die Haut, vom Blitz geschlagen, aber seltsam mild und nachgiebig wie nach einer Züchtigung. Mein Glück im Unglück machte mich überfreundlich gegen alles, ich stapfte meinen Weg dahin, ohne dem Felsen wehzutun, und vermied es, sündige Gedanken zu denken, obwohl es Frühling war. Es ärgerte mich nicht einmal, daß ich meinen eigenen Weg über das Gebirge hinab wieder zurückgehen mußte, um den Steig zur Gamme wiederzufinden, ich hatte ja Zeit dazu, es eilte mir nicht. Ich war der erste Frühlingswanderer und allzu zeitig draußen.

Ja, dann liege ich einige Tage in der Gamme, und es geht mir gut. Manchmal, nachts, fuhren mir Verszeilen oder kleine Gedichte durch den Kopf, als sei ich ganz zum Dichter geworden. Es waren auf jeden Fall Beweise dafür, daß ich mich seit dem Winter innerlich sehr verändert hatte, seit dem Winter, als ich noch keine Lust zu irgend etwas anderem verspürte, sondern nur daliegen und mit den Augen blinzeln und meinen Frieden haben wollte.

Eines Tages, bei warmer Sonne, ging ich von der Gamme aus in die Berge hinauf und streifte einige Stunden umher. Ich hatte in letzter Zeit vorgehabt, einige Kinderreime zusammenzuschreiben, die an ein bestimmtes kleines Mädchen gerichtet sein sollten, aber es war nichts daraus geworden, jetzt im Gebirge fühlte ich, daß ich wieder Lust zu diesem Zeitvertreib bekam, und ich arbeitete wieder mehrere Male daran, brachte es aber nicht gut genug fertig. Nein, so etwas kommt wohl nur in der Nacht zu einem, wenn man ein paar Stunden gut geschlafen hat.

Da ging ich geradeswegs in die Ortschaft und kaufte mir einen großen Vorrat an Lebensmitteln. Es waren viele Menschen in dieser Gegend, und es tat mir gut, wieder menschliche Rede und Gelächter zu hören; aber hier war kein Fleck, wo ich mich hätte niederlassen können, jedenfalls war ich zu früh daran. Als ich wieder zur Gamme heimwärts ging, trug ich sehr schwer. Ungefähr auf halbem Wege begegnete ich einem Mann, einem freien Arbeiter, einem Vagabunden, Solem hieß er. Später erfuhr ich einmal, daß er der natürliche Sohn eines Telegraphisten sei, der vor fast einem Menschenalter auf Rosenlund gewohnt hatte.

Schon allein, daß der Mann auf dem Pfad ein wenig zur Seite trat, um mich mit meiner Last vorüber zu lassen, war ein guter Zug, und ich dankte ihm und sagte, nein, das sei nicht nötig, ich würde ihn schon nicht über den Haufen rennen, hehe.

Als ich vorbeigegangen war, fragte der Mann, wie der Weg zur Ortschaft sei. Ich sagte ihm, der Weg sei so wie hier. Jaha, joho, sagte er und wollte gehen. Es fiel mir ein, daß er vielleicht schon einen weiten Weg hinter sich habe, und da er nichts trug, was wie Mundvorrat aussah, bot ich ihm von meinem an, um mit ihm ein wenig ins Gespräch zu kommen. Er dankte mir und nahm an.

Er war übermittelgroß, ziemlich jung, erst in den Zwanzigern oder vielleicht dreißig Jahre alt, ein fester Bursche. Auf flotte Vagabundenart lugte eine Haarlocke unter seinem Mützenschirm hervor; aber er trug keinen Bart. Dieser erwachsene Mann rasierte sich noch und war dessen nicht müde geworden; dies im Verein mit der Haarlocke und seinem Wesen überhaupt machte mir den Eindruck, daß er gern für jünger gelten wolle, als er war.

Wir redeten miteinander, während er aß, er lachte gern und war gutes Mutes, und da sein Gesicht bartlos und hart war, wirkte es wie ein Eisen, das lachte. Aber er war verständig und angenehm. Allein das: ich hatte ja so lange geschwiegen und schwätzte jetzt vielleicht ein wenig zu bereitwillig; geschah es dann, daß wir uns gegenseitig in die Rede fielen, dieser Junge Solem und ich, so hielt er sofort inne, um mir das Wort zu überlasten. Als sich das einige Male wiederholt hatte, wollte ich nicht mehr länger gewinnen und hielt auch inne. Das führte aber nur dazu, daß er nickte und sagte: Bitte schön.

Ich erklärte ihm, daß ich mich nutzlos herumtriebe, merkwürdige Bäume studierte und ab und zu ein wenig darüber schriebe, daß ich in einer Gamme wohnte, daß mir aber heute die Lebensmittel ausgegangen seien und ich in den Ort hätte gehen müssen. Als er das von der Gamme hörte, hielt er mit Kauen inne und saß gleichsam lauschend da, dann sagte er hastig:

Ja, diese Telegraphenstangen hier über das Gebirge kenne ich in einer Beziehung recht gut. Nicht gerade diese hier, aber andere. Ich war bis vor kurzem Streckenarbeiter.

So? sagte ich. Du bist wohl heute an meiner Gamme vorbeigegangen? fragte ich dann.

Da überlegte er ein wenig, da er aber merkte, daß ich ihm nicht ans Leben wollte, gestand er ein, daß er in der Gamme gewesen sei und gerastet hätte, und dort hätte er mein Flachbrot gefunden.

Es war schwer, da zu sitzen, ohne davon zu nehmen, sagte er.

Wir sprachen über verschiedene Dinge, er war so wohltuend wenig roh in seinen Ausdrücken und aß anständig. Ich war in einem Zustande der Halbgebildetheit und legte Wert auf sein gutes Benehmen.

Er erbot sich, als Dank für das Essen, mir ein Stück weit tragen zu helfen, und ich nahm sein Angebot an. So kam es, daß dieser Fremde bis zur Gamme mit mir zurückkehrte. Als ich eintrat, sah ich sofort einen Zettel auf dem Tisch liegen, es war eine Art Dank für das Flachbrot, ein fürchterlich ungebildeter Zettel mit schweinischen Ausdrücken. Als Solem sah, was ich las, fing er an mit seinem Eisengesicht zu lächeln. Ich tat, als verstünde ich von der ganzen Sache nichts, und warf den Zettel auf den Tisch zurück, er nahm ihn und zerriß ihn.

Es tut mir wirklich leid, daß Sie dies zu Gesicht bekamen, sagte er. Wir Streckenarbeiter sind gewohnt, es so zu machen, ich vergaß, daß ich ihn hierher gelegt hatte.

Gleich darauf ging er hinaus.

Er blieb die Nacht über und den nächsten Tag, er verfiel darauf, mir etwas Wäsche zu waschen, und war mir nützlich, wo er nur konnte, der arme Kerl. Vor der Gamme lag noch von der Zeit der Lappen her ein großer Kessel, er war gesprungen und leckte stark, aber Solem dichtete ihn mit Speck ab und kochte meine Wäsche darin. Dies war sehr drollig anzusehen, das aufsteigende Fett schöpfte er einfach ab.

Er schien dableiben zu wollen, bis uns wieder die Lebensmittel ausgingen, um dann mit mir in den Ort hinunter zu wandern; als er aber hörte, daß ich vorhatte, nach einer anderen Seite zu gehen, zum Berghof, drüben unterhalb der Torezinnen, wohin Sommergäste kamen und wo viele Reisende vorbeizogen, wollte er auch dorthin mitgehen. Er war eben ein freier Vogel.

Dann darf ich wohl als Träger mitgehen? fragte er mich. Ich bin auch Feldarbeit gewohnt, vielleicht finde ich dort etwas zu tun.

 

8

Auf dem großen Hof herrschte schon Frühjahrsleben, Menschen und Tiere waren erwacht, der Stall war den ganzen Tag ein einziges Gebrüll, die Ziegen weideten seit langem im Freien.

Hier war es ziemlich weit bis zu den Nachbarn; ein oder zwei Häusler hatten sich im Wald ein Stück Erde gerodet und es später gekauft, sonst gehörte alles, was man sah, zum Hofe selbst. Viele neue Häuser waren aufgeführt worden, je mehr der Reiseverkehr über das Gebirge zugenommen hatte; Drachenköpfe glotzten norwegisch und heimisch von den Giebeln herab, und aus der Stube mit dem offenen Feuer klang das Klavier. Kennst du dich wieder aus? Du bist doch hier gewesen, die Leute auf dem Hof haben nach dir gefragt.

Gute Tage, wiederum gute Tage, ein angenehmer Übergang aus der Einsamkeit. Ich spreche mit den jungen Leuten, die jetzt den Hof besitzen, und mit dem alten Vater des Mannes und seiner jungen Schwester Josefine. Der Alte kommt aus seiner Stube heraus und schaut mich an. Er ist erschreckend alt, vielleicht neunzig Jahre, seine Augen sind verbraucht, gleichsam verrückt, er selbst ist zu einem Nichts zusammengeschrumpft, und so oft er mit beiden Händen arbeitet und sich in den Tag hinausschafft, ist es, als käme er wieder aus einem Mutterleib und finde eine neue Welt vor sich: Nein, hast du schon so etwas gesehen, da stehen ein paar Häuser auf dem Hof, denkt er und schaut sie an. Und wenn die Scheunentür offen ist, schaut er auch dorthin und denkt: Nein, hast du schon so etwas gesehen, das ist wie eine Türöffnung, was kann das sein? Es ist ganz wie eine Türöffnung …; Und er steht lange da und starrt hin.

Aber Josefine, seine Tochter aus letzter Ehe, sie ist jung und spielt mir auf dem Klavier vor. Josefine, ja! Wenn sie über den Hofplatz eilt, wirbeln ihre Füße unter dem Kleid, werden zu einem Gebüsch. Sie ist so freundlich gegen Fremde, ich glaube, daß sie Salem und mich schon von weitem entdeckte, als wir gegangen kamen, und sich daraufhin ans Klavier setzte. Sie hat so ärmliche und graue Jungmädchenhände, sie bestätigt meine alte Beobachtung, daß der Ausdruck der Hände etwas mit dem Geschlecht zu tun hat, daß er Keuschheit, Indifferenz oder Trieb erkennen läßt. Es ist lustig, Josefine eine Ziege melken zu sehen, rittlings über dem Tier. Diese Arbeit tut sie nur des Schmuckes halber, um den Fremden zu gefallen; für gewöhnlich läßt ihr die Arbeit im Hause keine Zeit für so etwas, Teufel nein, sie wartet bei Tisch auf und gießt die Blumen und unterhält sich mit mir darüber, wer im vorigen Jahr und im vorvorigen Jahr auf die Torezinnen gestiegen ist, Jungfrau Josefine.

Dann gehe ich frisch und ausgeruht umher, stehe eine Weile da und schaue dem Solem zu, der den Mist ausfährt, und schlendere dann durch den Wald zu den Häuslerbauern hinüber. Nette Häuser, bei jedem ein Stall für zwei Kühe und einige Ziegen, halbnackte Kinder mit selbstgefertigtem Spielzeug im Freien, Streit und Gelächter und Weinen. Die Männer auf beiden Höfen ziehen den Mist auf Schlitten hinaus, sie suchen sich ihren Weg, wo noch Schnee und Eis liegt, und es geht sehr gut. Ich steige nicht zu den Häusern hinab, sondern beobachte die Arbeit von meiner Höhe aus. Oh, ich kenne das Arbeitsleben gut und liebe es.

Es war kein kleines Stück, was diese Häuslerbauern gerodet hatten, die Anwesen sahen aus wie richtige kleine Höfe, und noch dazu ging ihre Grenzmark ein gutes Stück in den Wald hinein. Wenn einmal alles bis zum Zaun hin gerodet sein wird, können wohl fünf Kühe und ein Pferd auf jedem Hof gehalten werden. Glück zu!

Die Tage vergehen, die Fensterscheiben sind aufgetaut, der Schnee schmilzt, an den Sonnenhängen grünt es, der Wald belaubt sich. Ich halte an meinem ursprünglichen Vorsatz fest und gehe umher und bringe große Eisen in mir zum Glühen; aber ich bin unglaublich lächerlich, wenn ich meine, es sei dies eine leichte Arbeit. Und dabei weiß ich nicht sicher, ob noch Eisen in mir sind, auch weiß ich nicht, ob ich sie noch schmieden kann, selbst wenn ich sie habe. Seit diesem Winter hat mich das Leben einsam und klein gemacht, ich treibe mich umher und denke daran, daß es einmal anders gewesen ist. Das alles fange ich nun an einzusehen, jetzt, da ich wieder an den Tag und zu Menschen gekommen bin. Ich war einmal ein ganz anderer Draufgänger, die Welle hat ihren Federbusch, den hatte ich, der Wein hat seine Glut, die besaß ich. Und die Neurasthenie ist der Affe aller Krankheiten, sie begleitet mich.

Was weiter? Nein freilich, darum trauere ich auch nicht darüber. Trauern? Trauern, das ist Sache der Frauen. Das Leben ist eine Leihgabe, ich danke fürs Leihen. Bisweilen habe ich Gold und Silber und Kupfer und Eisen und andere kleine Metalle gehabt, und es war ziemlich lustig in der Welt, viel lustiger als ein abseits gelegenes Leben in der Ewigkeit; aber das Vergnügen kann nicht immer dauern. Ich kenne niemand, dem es nicht ebenso schlecht ergangen wäre wie mir; aber ich kenne niemand, der sich dazu bekennen möchte. Ach, wie es mit ihnen bergab ging! Aber selbst dann sagten sie: Schau nur, wie es noch aufwärts geht! Beim ersten Jubiläum verließen sie das Leben und gingen in die Vegetation ein; wenn man fünfzig Jahre alt ist, fangen die siebziger an. Und die Eisen waren nicht mehr rot, und es gab kein Eisen. Aber, Gott Vater im Himmel, wie die ganze Einfalt dastand und sagte, es seien Eisen da, und sagte, sie seien rot. Seht die Eisen! sagte die Einfalt, und seht, wie rot sie sind! sagte sie.

Als käme es darauf an, den Tod noch zwanzig Jahre lang von dem fern zu halten, was bereits im Kleinen angefangen hat zu vergehen! Ich begreife einen solchen Gedankengang nicht; aber du tust das wohl mit deiner fröhlichen Durchschnittlichkeit und deiner Schulweisheit. Ein einarmiger Mann kann noch gehen, ein einbeiniger kann noch liegen. Und was hast du doch vom Walde gelernt? Aber was habe ich lm Walde gelernt? Daß dort junge Bäume stehen.

Nun steht eine Jugend hinter mir, von aller Einfalt und allem Gesindel bis zur Schamlosigkeit, bis zur Barbarei unterschätzt, nur weil sie jung ist. Ich habe das viele Jahre gesehen. Ich weiß nichts Verächtlicheres als deine Schulweisheit und dein Urteil, das ihr entspricht. Entweder hast du einen Katechismus oder einen Zirkel, um dein Leben danach auszuschreiten, es kommt auf eins heraus; komm doch her, kleiner Freund, dann will ich dir einen Zirkel aus meinem letzten Eisen schenken.

 

9

Es kam ein Tourist zu uns, der erste Tourist. Und der Hofbesitzer selbst begleitete ihn über das Gebirge, und auch Solem ging mit, den Weg für spätere Touristen kennen zu lernen. Dick und klein und dünn behaart stand der Fremde auf dem Hof, ein älterer wohlhabender Mann, der um seiner Gesundheit und der letzten zwanzig Jahre willen hierherkam. Die gute arme Josefine machte ihr Gestrüpp unter dem Kleid und führte ihn in die Feuerstube, zum Klavier und den Perlenschüsseln. Als er ging, kam Kleingeld zum Vorschein, und Josefine nahm es mit ihren grauen Jungmädchenfingern in Empfang. Auf der anderen Seite des Gebirges erhielt Solem zwei Kronen für die Führung, und das war eine schöne Bezahlung. Alles ging so gut, auch der Hofbesitzer selbst war wohl zufrieden.

Jetzt fangen sie an zu kommen, sagte er. Wenn man uns jetzt nur in Frieden ließe, fügte er hinzu.

Bei diesem letzteren dachte er an die guten, sorgenfreien Tage, die er und sein Haus bis jetzt genossen hatten; aber in einigen Wochen würde im Nachbartal eine Automobilstraße eröffnet werden, und da kam es nun darauf an, ob nicht der Reiseverkehr dort hinein zöge. Seine Frau und Josefine hatten bereits ein wenig Angst davor; der Mann selbst aber war bis zuletzt anderer Meinung gewesen: sie hatten jedenfalls ihre festen Gäste, die Jahr für Jahr wiederkamen und niemals wechseln würden! Und im übrigen konnten die Touristen mit den Automobilen hinfahren, wohin sie wollten, sie hatten dort doch nicht die Torezinnen.

So sicher war der Mann seiner Sache gewesen, daß er bei der Scheunenwand jetzt wieder eine große Menge von Stämmen liegen hatte, bereit, neue Häuser zu bauen – sechs neue Gastzimmer, eine Halle mit Renntiergeweihen und den aus einem Stamm geschnitzten Kubbestühlen, ein Bad. Aber was ging heute mit dem Mann vor; war ihm ein Zweifel gekommen? Wenn man uns jetzt nur in Frieden läßt! sagte er. Eine Woche später kam Frau Brede mit den Kindern, sie erhielt ein kleines Gebäude für sich allein wie in früheren Jahren. Wahrscheinlich war sie reich und fein, diese Frau Brede, da sie ein Haus für sich allein bekam. Sie war eine liebenswürdige Dame, und ihre kleinen Mädchen waren große und schöne Kinder. Sie verneigten sich vor mir, und ich weiß nicht warum, aber es war, als erhielte ich dabei Blumen. Ein seltsames Gefühl.

Dann aber kamen Fräulein Torsen und Frau Molie, beide ständige Gäste, und dann kam Lehrer Staur, der eine Woche bleiben sollte. Später kamen die Lehrerinnen Johnson und Palm und noch später der Adjunkt Höy und einige andere, – Kaufleute, Telephonistinnen, Bergener, ein oder zwei Dänen. Wir wurden viele bei Tisch und hatten eine lebhafte Unterhaltung. Wenn Lehrer Staur mehr Suppe angeboten wurde, antwortete er: Nein, danke, ich möchte nicht mehr! – auf Landsmaal –, und dann warf er seine Blicke rings auf uns alle, als wolle er andeuten, daß man so sprechen müsse. Zwischen den Mahlzeiten taten wir uns zusammen, und die einen gingen dahin und die anderen dorthin auf die Berge und in den Wald. Aber Durchgangsreisende gab es nur wenige oder keine, und an ihnen sollte das Haus eigentlich verdienen, am Nachtlager, an der einzelnen Mahlzeit, am Kaffee. Josefine schien in letzter Zeit bekümmert, und ihre jungen Finger wurden gieriger, wenn sie das Silbergeld zählte.

Magere Blauforellen, Ziegenragout und Konserven. Einige der Gäste waren unzufriedene Menschen, die vom Fortgehen sprachen, andere lobten sowohl das Essen als auch die Gebirgsnatur. Die Lehrerin Torsen wollte abreisen. Sie war ziemlich groß und schön und trug einen roten Hut auf ihrem dunklen Haar; aber hier gab es keine jungen Herren, und es war auf die Dauer langweilig, seine Ferien so ganz fortzuwerfen. Kaufmann Batt, der in Afrika und Amerika gewesen war, war der einzige hier, denn sogar die Bergener waren nicht zu rechnen. Wo ist Fräulein Torsen? konnte Kaufmann Batt uns fragen. Hier, ich komme jetzt, antwortete das Fräulein. Sie stiegen nicht gern auf die Berge, gingen lieber in den Wald, wo sie sich hinlegten und lange Stunden miteinander sprachen. Ach, aber Kaufmann Batt war wohl auch nichts Besonderes, er war klein und sommersprossig und sprach nur von Geld, Verdienst. Im übrigen hatte er sicher nur eine kleine Bude in der Stadt, einen Handel mit Zigarren und Früchten. Er war freilich nichts Besonderes, nein.

Ich saß während einiger langer Regenstunden zusammen mit Fräulein Torsen und unterhielt mich mit ihr. Ein merkwürdiges Mädchen, für gewöhnlich stolz und still, mitunter aber mitteilsam, eifrig, auch ein wenig rücksichtslos. Wir saßen in der Feuerstube, und dort kamen und gingen beständig Leute, aber sie sprach deswegen durchaus nicht leise, sondern laut und klar: in ihrem Eifer verstrickte sie manchmal die Finger und riß sie wieder auseinander. Als wir eine Weile so gesessen hatten, kam auch Kaufmann Batt herein, er hörte ihr einen Augenblick zu, dann sagte er: Ich gehe jetzt, Fräulein Torsen, kommen Sie mit? Sie maß ihn nur einmal seiner ganzen Länge nach, wandte sich von ihm ab und sprach weiter. Sie sah dabei sehr stolz und bestimmt aus. Alles in allem war das wohl sehr tüchtig von ihr; sie sagte, sie sei siebenundzwanzig Jahre alt und ihres Lehrerinnenlebens herzlich müde.

Warum sie übrigens dieses Leben begonnen habe?

Ach, aus Mode, erwiderte sie, die Mädchen aus der Nachbarschaft sollten auch den Weg der Weisheit gehen und Sprachen lernen, wie es hieß, die Grammatik lernen, das war so schick. Wir wollten selbständig werden und viel Geld verdienen. Jawohl, ja freilich! Und wäre es heute das kleinste eigene Heim, so wäre es mir lieber! Und dann all die Plackerei die ganzen Schuljahre hindurch! Einige der Mädchen waren reich, wir armen aber hatten keine solchen Kleider wie die anderen und keine so schönen Hände wie sie. So kam es denn, daß wir um unserer Hände willen daheim alle Arbeit scheuten. Wir bemühten uns ja auch sehr um die Jungen in unserer Klasse. Sie waren Herren für uns; einer besaß ein Reitpferd, er war übrigens nur ein Gimpel, aber ein Millionärssohn und ungeheuer freundlich, er gab uns Geld, mir gab er es, und er küßte mich oft. Er hieß Flaten, sein Vater war Geschäftsmann. Wenn er nun so schön und freigebig war, wollten auch wir wieder nett gegen ihn sein, ich hätte alles tun können, was er verlangte, ich betete zu Gott für ihn. Sicher dachten mehrere so wie ich: sind wir fein? sind wir schön? So gingen die Tage dahin. Waschen und Kochen und Flicken fiel der Mutter und den Schwestern zu, wir Studenten sollten nur dasitzen und recht gelehrt werden und seraphische Hände bekommen. Wir waren ja verrückt, ja, das muß ich sagen. In jenen Jahren bekamen wir die verkehrten Vorstellungen, die wir später durch unser ganzes Leben mitschleppen mußten, wir wurden dumm vor lauter Schulweisheit, bleichsüchtig, ohne Gleichgewicht: manchmal entsetzlich traurig über unser Los, manchmal hysterisch froh und hochmütig über unser Examen und unsere Vornehmheit. Wir waren der Stolz der Familie. Und dann waren wir selbständig, ja! Wir fanden Anstellung in einem Kontor, vierzig Kronen im Monat. Denn wir waren gar nichts Rares mehr, wir Studentinnen, wir waren keine Seltenheit, es gab Hunderte von uns, darum bekamen wir nur vierzig Kronen. Davon gehörten dreißig den Eltern für den Unterhalt und zehn uns selbst. Das war nichts. Wir mußten im Geschäft schöne Kleider haben, wir waren auch jung und wollten gern ausgehen; aber das alles ging über unser Vermögen, wir machten Schulden, einige von uns verlobten sich mit so armen Kerlen, wie wir selbst waren. Dieses eingesperrte Schulleben in der Entwicklungszeit machte uns in mehr als einer Beziehung ungesund, wir wollten doch mutig sein und vor keiner Erfahrung zurückschrecken, so erging es einigen schlimm, mehrere verheirateten sich und wurden unter solchen Voraussetzungen natürlich prachtvoll untüchtig in ihrem Heim, andere verschwanden in Amerika. Aber sie alle sind sicher noch stolz und brüsten sich mit ihren Sprachkenntnissen und ihrem Examen. Das ist das Einzige, was sie noch haben – weder Freude noch Gesundheit noch Unschuld, aber das Maturum. – Herrgott!

Aber einige von ihnen wurden doch Lehrerinnen mit gutem Gehalt?

Mit gutem Gehalt? Im übrigen aber fing ja dann das Studieren erst recht wieder an. Als hätten Vater und Mutter und die Geschwister um unsertwillen nicht genug entsagt! Wiederum lange Zeiten des Büffelns, und dann fing das Leben im Schulzimmer an – um anderen die gleiche unnatürliche Erziehung zu geben, die wir selbst genossen hatten. Ach ja, wir hatten ein schönes Werk begonnen, das fanden alle, es war beinahe, als würde man Missionar. Jetzt aber will ich nicht länger an diesem schönen Werk arbeiten, wenn es mir möglich ist, zu entkommen. Lieber irgend etwas anderes tun, was es auch sei.

Kaufmann Batt öffnet die Türe und sagt:

Kommen Sie, Fräulein Torsen? Es regnet nicht mehr.

Ach nein, lassen Sie mich in Ruhe! antwortete sie.

Kaufmann Batt zog sich zurück.

Weshalb weisen Sie ihn so ab? fragte ich.

Weil …; Es ist doch kein rechtes Wetter draußen, erwiderte sie und sah hinaus. Und übrigens ist er so dumm. Und dann ist er unverschämt.

Wie sicher sie aussah, und wie sehr sie recht zu haben glaubte!

Armes Fräulein Torsen! Wie dem nun auch sein mochte oder nicht, es sickerte in der Pension durch, daß Fräulein Torsen kürzlich ihres Lehrerpostens enthoben worden war, nachdem man lange Zeit mit ihrer exzentrischen Art des Unterrichts Nachsicht gehabt hatte.

Na, so war das.

Aber das, was sie mir erzählt hatte, war trotzdem sicherlich ebenso wahr.

 

10

Es zeigt sich, daß der Besitzer dieses Hofes hier große Schulden hat, und daß die Häuslerbauern um des baren Geldes willen mehrere Stücke guten Landes zu kaufen bekommen hatten. Ich werde jetzt in so vielen Dingen Mitwisser. Frau Brede geht mit ihrem sanften und schönen Gesicht hier umher und weiß von allem etwas, ihr alljährliches Hiersein während des Sommers hat sie klug gemacht. Wenn sie sich dann über die Verhältnisse äußert, braucht sie nicht nach Worten zu suchen.

Ja, der Mann hat schwere Schulden.

Kein Mensch möchte glauben, daß es hier nicht ganz so gut stünde; die vielen neuen Gebäude und die Fahnenstangen und die Vorhänge an den Fenstern und der rotgestrichene Brunnen – alles macht den Eindruck von großem Wohlstand. Auch drinnen in den Stuben wird man nicht enttäuscht, ich will nicht vom Klavier reden, aber an den Wänden sind Bilder und Photographien vom Hofe, von allen Seiten gesehen, es werden viele Zeitungen gehalten, und eine Auswahl von Romanen liegt auf den Tischen verstreut umher, von denen die Gäste bisweilen welche stehlen, ohne daß sie vermißt werden. Allein das: man bekommt seine Rechnung auf einem stattlichen gedruckten Formular mit der Abbildung des Hofes, die Torezinnen im Hintergrund. Im großen und ganzen ist man nicht im Zweifel darüber, daß hier Vermögen vorhanden ist. Und man denkt: das kann ja auch sehr wohl sein, da der Hof seit zwanzig Jahren als Hotel für Reisende und Erholungsbedürftige besteht.

In Wahrheit aber kosten freilich alle diese Bauten und die ganze äußere und innere Ausstattung mehr, als der Betrieb tragen kann. Auch der Großhändler Brede hat Geld in dem Unternehmen stecken, darum kommt Frau Brede jedes Jahr mit ihren Kindern hierher und verzehrt die Zinsen.

Kein Wunder denn, daß sie ein Haus für sich allein bekommt, es ist ja ihr eigenes Haus.

Nein, in früheren Zeiten war der Hof gut, sagt Frau Brede, da kamen die Reisenden und aßen und hatten ein Dach über dem Kopf, da kostete der Betrieb nichts. Aber der Verkehr brachte es mit sich, daß man verbessern und erweitern mußte, man mußte mit der Entwicklung Schritt halten, auf der Höhe mit andern ähnlichen Orten bleiben und mit allen wetteifern. Auch ist der Besitzer wohl nicht der rechte Mann, solch ein freies und launenhaftes Geschäft zu betreiben, er hat soviel Geschmack daran gefunden, ungebunden umher zu gehen und den Hofbetrieb sich selbst zu überlassen. Aber seine beiden Häuslerbauern, das sind tüchtige Kerle. Es sind seine Geschwisterkinder, sie kaufen Stück für Stück des Hofes und bebauen es. Mein Mann sagt oft, es wird noch damit enden, daß die Häusler oder ihre Kinder den ganzen Hof aufkaufen. Wie können es die Häusler so weit bringen?

Sie arbeiten, sie sind Bauern. Sie fingen hier im Walde an, jeder mit drei, vier Ziegen, einer nach dem anderen, sie gingen unten im Ort zur Arbeit und kamen mit Eßwaren und Geld heim, und die ganze Zeit rodeten sie ihren Platz. Es kamen mehr Ziegen, es kam eine Kuh; sie konnten sich mehr Land kaufen und schafften sich noch mehr Tiere an. Sie säen Korn und legen Kartoffeln und ziehen Gemüse, die Leute hier auf dem Hof kaufen das Gemüse von ihren Häuslerbauern, sie haben nicht die Zeit dazu, sich selbst mit so etwas zu befassen, denn es hängt zu viel Arbeit daran. Nein, hier auf dem Hofe säen sie jetzt nur etwas Grünfutter für das Vieh, mehr lohnt sich nicht, sagt Paal. Und in einer Beziehung hat er recht. Er hat versucht, sich genug Dienstleute einzustellen und auch seinen Hof zu betreiben, aber es kommt nicht so recht in Schwung. Gerade zur Frühjahrsbestellzeit treffen die Reisenden ein, und es geht oft so, daß alles, was auf dem Hofe Knecht heißt, die ganze Arbeit wegwirft und die Touristen über das Gebirge führt oder dies und jenes für die Gäste tun muß. Und so bleibt es dann die ganzen kurzen Sommerwochen hindurch, es hat schon Jahre gegeben, wo sie nicht einmal den ganzen Mist auf die Felder hinaus gebracht haben. Am schlimmsten aber ist es eigentlich im Herbst, wenn alle Reisenden stürmisch heimdrängen, da ist dann keine Rede mehr davon, daß man irgendeine Herbstarbeit in Ruhe tun könnte. Es ist hier beinahe zu einem Gewohnheitsrecht geworden, sagt mein Mann, daß die Häuslerbauern die abgelegeneren Wiesen des Hofes zur Hälfte selbst abernten.

Als ich mich darüber wunderte, daß Frau Brede im landwirtschaftlichen Betrieb so gut Bescheid wußte, gestand sie kopfschüttelnd ein, daß sie selbst durchaus nicht viel davon verstehe, sondern alles von ihrem Mann habe. Denn, sagte sie, so oft diese Häuslerbauern hier ein neues Stück Land von Paal zu kaufen bekämen, müßte ihr Mann sein Einverständnis zu dem Geschäft erklären. Wegen der Hypothek. Auf diese Weise seien sie in die Dinge eingeweiht. Großhändler Brede möchte übrigens am liebsten diese Verbindung abschütteln, aber das sei nicht so leicht; nun sähe er mit großer Furcht den neuen Automobilverkehr entstehen. –

Frau Brede war die mütterliche, milde und gute Dame, die mit ihren kleinen Mädchen spielte und in einem ungestörten Gleichgewicht zu sein schien. Was sagt man dazu: eines Tages kam eine der Ziegen mit einem gebrochenen Hinterfuß heim, alle Gäste eilten hinaus und brachten Kognak und Lanolin und Tücher für die Wunde; Frau Brede aber blieb sitzen, reich an Erfahrung, weise, ein wenig erstaunt auch über all den Eifer. Mit so einer Ziege kann man meistens nichts weiter tun, als sie schlachten, sagte sie.

Frau Brede muß sich früh verheiratet haben, dachte ich mir, ihre beiden Kinder waren zwölf und zehn Jahre alt, der Mann machte sicher große Geschäfte, war einen großen Teil des Jahres auf Island und überhaupt viel auf Reisen. Aber seine Frau trug auch das mit Ruhe. Und dennoch war sie noch jung und sah gut aus, vielleicht ein wenig zu voll für ihre Größe, aber sie hatte eine schöne Haut und keine Falten. Sie war ganz anders als Fräulein Torsen, die andere schöne Dame bei uns, die groß und dunkel war.

Aber Frau Brede war wohl nicht stets so ruhig, wie sie wirkte. Als sie eines Abends in die Knechtekammer trat und Solem um einen Gefallen bat, sah ich ein fremdes Gesicht in Glut. Ob Solem kommen und einen Vorhang, der bei ihr heruntergefallen sei, wieder befestigen könne? – Es war spät am Abend, sie sah aus, als habe sie schon im Bett gelegen, sei aber wieder aufgestanden, und Solem machte keinen sehr bereitwilligen Eindruck. Da, auf einmal, glitten ihre Blicke ineinander, sie klebten für einen Augenblick aneinander fest. Jaha, jawohl, er würde kommen …;

Dieser Bursche aus Eisen, dieser Satanskerl von einem Solem!

Frau Brede ging.

Aber noch keine zwei Minuten waren verstrichen, als sie mit der Absage zurückkam: Danke, sie wolle den Vorhang selbst in Ordnung bringen.

 

11

Dann und wann kamen und gingen Reisende. Salem brachte sie über das Gebirge, und fort waren sie. Aber wo blieben dieses Jahr alle Ausländer? Nicht ein einziger. Bennetts und Cooks Karawanen, die Scharen, die die Berggipfel in Norwegen should make, wo blieben sie?

Dann endlich kamen zwei armselige Engländer. Sie waren nicht mehr jung, unrasiert und überhaupt ungepflegt, zwei Ingenieure oder so etwas, aber stumm und unhöflich wie die Vornehmsten der reisenden englischen Narren. Führer? Führer? riefen sie nur, Sie Führer, ja? Nichts an ihnen war anders, als man es von früher her gewohnt war, die beiden reisten dumm und ernsthaft den Berggipfeln nach, sie hatten Eile, sie hatten ein Ziel, es war, als reisten sie zum Arzt. Solem begleitete sie auf die Gipfel und auf der andern Seite wieder hinunter, sie boten ihm ein Fünfundzwanzigörestück. Solem streckte die flache Hand aus, erzählte er mir später, er glaubte, sie wollten mehr aufzählen, aber es wurde nichts daraus. Da erhob er Einspruch, – oh, der Bursche Solem war von dem Nichtstuerleben unter den Touristen schon hübsch demoralisiert und frech geworden! Mehr, more, sagte er. – Nein, das wollten sie nicht. – Solem warf das Geldstück zu Boden und klatschte ein paar mal in die Hände. Das half, es kam eine Krone zum Vorschein. Als aber Solem den Lord um die Schultern packte und ihn ein wenig lüpfte, bekam er zwei Kronen. So ein schundiger Kerl! sagte Solem. –

Dann kam endlich eine Karawane. Gemischte Sprachen, beiderlei Geschlecht, Jäger, Fischer, Hunde, Gipfelbesteiger, Träger. Es gab einen ungeheuren Lärm bei uns, die Flagge wurde an der Stange hochgezogen, Paal stand zusammengekrümmt unter all den Befehlen, und Josefine lief, lief auf jeden Wink. Frau Brede mußte ihr Häuschen drei Ladies überlassen, und wir andern wurden so eng wie möglich zusammengepfercht. Ich für meinen Teil sollte meinem gesetzteren Alter zuliebe mein Bett behalten dürfen: aber ich sagte nein, auf keinen Fall, gebt diesem englischen Rechtsanwalt oder was er ist, mein Bett, was tut mir das für eine Nacht! Dann ging ich hinaus.

Man kann in einem Sanatorium im Lauf des Tages allerhand beobachten, wenn man nicht mit blinden Augen umhergeht. Und man kann während der Nacht allerhand beobachten. Woher kommt wohl der Lärm im Ziegenstall? Warum schlafen die Tiere noch nicht? Die Tür ist zu, keiner von den fremden Hunden ist hineingeraten. Ist keiner von den fremden Hunden hineingeraten? Die Laster gehen im Kreislauf, genau so gut wie die Tugend, fange ich plötzlich zu denken an, nichts ist neu, es kehrt nur alles immer wieder zurück und wiederholt sich. Die Römer herrschten über die Welt, jawohl. Oh, sie waren so mächtige Römer, so unüberwindliche, sie gestatteten sich ein oder zwei Laster, sie konnten sich allerhand leisten, sie bereiteten sich Freuden mit Jünglingen und Tieren. Dann begann eines Tages die Vergeltung auf sie herabzukommen, ihre Kindeskinder verloren da eine Schlacht und dort eine Schlacht, deren Kindeskinder wiederum saßen nur da und blickten zurück. Der Ring war geschlossen, niemand herrschte weniger über die Welt als die Römer.

Mich scheuten sie nicht, die beiden Engländer im Ziegenstall, ich war nur einer der Eingeborenen, ein Norweger, ich hatte den mächtigen Reisenden gegenüber nur zu schweigen. Sie selbst aber gehörten der Nation von Weltläufern, Wagenlenkern und Lastern an, die das gesunde Schicksal aus Deutschland eines Tages zu Tode züchtigen wird …;

Die Unruhe auf dem Hof hielt die ganze Nacht an, zeitig, frühzeitig schon begannen die Jagdhunde, die Karawane erwachte, es war sechs Uhr, auf dem ganzen Hof wurden Türen auf und zu geschlagen. Sie hakten Eile, die Reisenden, sie gingen mit der Uhr in der Hand. Das Frühstück nahmen sie in zwei Abteilungen, und obwohl die Leute des Hauses sich tief verbeugten und das Beste hergaben, was sie besaßen, waren nicht alle zufrieden. Hätten wir nur etwas früher von Ihnen gewußt, sagte Paal. Aber sie murmelten nur zurück: Wartet nur, bald gibt es an gewissen anderen Orten Automobile! Da sagte Paal, der Hofbauer, der Mann unter den Torezinnen:

Ja, aber ich werde noch bauen; sehen Sie nicht alle die Balken da draußen? Und dann denke ich auch daran, ein Telephon …;

Die Karawane beglich recht und schlecht ihre kleine Rechnung und reiste weiter; der Bauer und Solem gingen beide mit und trugen die Koffer.

Dann wurde es wieder still bei uns.

Auch Lehrer Staur reiste ab. Er war durch das Sammeln von Pflanzen rings um die Torezinnen aufgehalten worden, bei Tisch sprach er auch von seinen Pflanzen und war gelehrt, gab ihnen lateinische Namen, wies auf ihre Eigentümlichkeiten hin; oh, er hatte auf dem Seminar so viel gelernt. Hier sehen Sie Artemis cotula, sagte er.

Fräulein Torsen, die sich auch viel Wissen angeeignet hatte, erinnerte sich daran und bemerkte:

Ja, das ist richtig, nehmen Sie sich tüchtig davon mit.

Wieso?

Das ist ein Insektenpulver.

Das war Lehrer Staur nicht bekannt, es entstand ein kleiner Aufruhr darüber, und Adjunkt Höy mußte sich einmischen. Nein, das war Lehrer Staur nicht bekannt. Aber er konnte die Pflanzen klassifizieren und ihre Namen auswendig lernen. Das fand er so lustig. Die Bauernkinder in seiner Gegend kannten diese Klassen und Namen nicht, und da konnte er sie sie lehren. Das war so lustig.

Und der Geist in Wald und Flur, war der sein Freund? Die Pflanze wird abgeschnitten, wird in diesem Jahr vollkommen abgeschnitten und wächst im nächsten Jahr wieder hervor; machte ihn dieses Wunder fromm und still? Und die Steine und das Heidekraut, die Baumwurzeln, das Gras, der Wald, der Wind und der große Himmel über der ganzen Welt, waren die seine Freunde? Artemis cotula …;

 

12

Wenn ich des Adjunkten Höy und der Damen müde werde …; Ich denke manchmal an Frau Molie. Sie sitzt da und näht, und der Adjunkt ist ihr ernster Gesellschafter, sie sprechen von ihren Dienstmädchen daheim, daß sie nur immer nachts ausgehen wollten. Frau Molie ist eine flachbrüstige, magere Dame, aber sie ist wohl nicht immer so unscheinbar anzusehen gewesen; ihre bläulichen Zähne sehen aus, als seien sie kalt, als seien sie von Eis, aber vor einigen Jahren war ihr voller Mund und der dunkle Flaum in ihren Mundwinkeln wohl das Schönste, was ihr Mann kannte. Ihr Mann, ja. Ja, er ist Seemann, Schiffer, nur ab und zu daheim, um die Familie zu vermehren, im übrigen ist er in Australien, in China, Mexiko. Es ist immer nur ein Begrüßen und ein Abschiednehmen. Und nun ist die Frau um ihrer Gesundheit willen hier. Möchte wissen, ob sie nur um ihrer Gesundheit willen hier ist, oder ob nicht der Adjunkt und sie im geheimen aus der gleichen Kleinstadt sind?

Wenn ich des Adjunkten Höy und der Damen müde werde, verlasse ich sie und gehe hinaus. Und dann bin ich den ganzen Tag draußen, und niemand weiß, wo ich mich aufhalte. Für einen gesetzten Mann gehört es sich, anders zu sein als der Adjunkt, er ist lange nicht so gesetzt wie ich. Ja, dann gehe ich hinaus. Es ist ein heller Tag und eine angenehme Wärme, es riecht nach Pflanzen in meinen Sommerwäldern. Ich raste oft, nicht weil ich es nötig habe, sondern weil der Boden so einladend ist. Ich gehe so weit, daß niemand mich finden kann, und da bin ich gerettet. Kein Laut vom Hof und von den Menschen, niemand zu sehen, nur dieser überwucherte kleine Ziegenweg, der an den Seiten ein wenig grün und so schön ist. Nur ein kleines Stück Ziegenweg, er sieht aus, als sei er hier im Wald eingeschlafen, er ist so dünn und vereinzelt, und da liegt er nun.

Du, der dieses hier liest, fühlst wohl nichts dabei, aber ich, der hier sitzt und es aufschreibt, empfinde noch bei der Erinnerung an einen Pfad im Wald eine Art Süßigkeit. Es war, als begegnete ich einem Kinde.

Die Hände unter dem Nacken und die Nase in der Luft, so ließ ich meine Augen über den Himmel schweifen. Hoch oben über den Torezinnen stehen lange Zeit einige Nebelfetzen, sie stießen leicht ineinander und lösen sich leicht voneinander, sie verschwenden sich und versuchen sich aufs neue zu gebären. Als ich aber aufstehe und weitergehe, sind sie immer noch nicht fertig.

Ich begegne einem Ameisenstrom, einem Zug von Ameisen, von geschäftigen Reisenden. Sie tun nichts und tragen nichts, sondern wandern nur. Ich gehe einige Schritte zurück, um die ersten sehen zu können, den Anführer, aber das ist nutzlos, ich gehe immer weiter zurück, ich fange zu laufen an, aber der Zug ist vor mir und hinter mir bereits endlos geworden. Sie hatten vielleicht vor einer Woche zu wandern angefangen. Da gehe ich meiner Wege und gehen die anderen Ameisen ihrer Wege, und so wandern wir dahin.

Nein, aber dieser Ort, wo ich jetzt bin, ist ja eigentlich kein Berghang, sondern ein Busen, ein Schoß, so weich ist er. Ich schreite langsam aufwärts und trample nicht, gehe nicht schwer; ich wundere mich über ihn: ein großer Hang, so voll von Zärtlichkeit und Hilflosigkeit, wie eine Mutter läßt er alles mit sich geschehen, auch daß eine Ameise auf ihm umherläuft. Liegt da und dort ein halb überwachsener Stein, so ist er nicht etwa dorthin gefallen, sondern er hält sich hier auf und hat seit langem hier gewohnt. Es ist wunderbar.

Es ist hoher Tag, als ich oben anlange und zurückblicke. In weiter Ferne, an einem anderen Hang, grast eine von den Kühen der Häuslerbauern, eine kleine seltsame Kuh mit rot- und weißgefleckter Seite, da geht sie nun. Auf einem hohen Felsen sitzt ein Rabe und spricht zu mir herunter, es ist, als kratze man mit einem eisernen Löffel an dem Felsen. In mir wogt es leise, und ich empfinde jetzt, wie früher schon so oft im Freien, daß der Ort soeben erst verlassen wurde, daß jemand vor kurzem hier gewesen und nur zur Seite getreten ist. In diesem Augenblick stehe ich mit noch jemand hier, und kurz darauf sehe ich einen Rücken im Walde verschwinden. Das ist Gott, denke ich. Da stehe ich, ich spreche nicht, ich singe nicht, ich schaue nur. Ich fühle, daß mein ganzes Gesicht von der Erscheinung erfüllt ist. Das war Gott, denke ich.

Eine Vision, sagst du. Nein, eine kleine Einsicht in die Dinge, entgegne ich. Mache ich einen Gott aus der Natur? Was tust du? Haben nicht die Mohammedaner ihren Gott, die Juden den ihren, die Inder den ihren? Niemand kennt Gott, kleiner Freund, der Mensch kennt nur Götter. Manchmal ist es mir, als begegnete ich dem meinen.

Wenn ich nun heimwärts gehe, schlage ich eine andere Richtung ein und mache einen großen Bogen. Die Sonne ist jetzt wärmer, und die Gegend hier unwegsamer, ich komme zu einer großen Geröllhalde, der Ruine einer Lawine, und hier tue ich des Spaßes halber so, als wäre ich müde und würfe mich hin, ganz, als schaute mir jemand zu und sähe, wie erschöpft ich bin. Ich tue das nur zum Spaß, und nur weil mein Gehirn solange müßig gewesen ist, verfalle ich auf solche Dinge. Der Himmel ist überall rein, die Nebelfetzen über den Torezinnen sind fort, Gott weiß wohin, aber sie haben sich weggestohlen. Doch an ihrer Stelle schwebt ein Aar in weiten Kreisen über dem Tal. Groß und dunkel, unerreichbar formt er Kreis auf Kreis, wie einer Bahn dort oben folgend, er frißt sich langsam durch die Luft, ein dicknackiger Hahn, ein Adlerhengst, der unterwegs ist und herrscht. Ah, es ist wie eine Melodie, ihn anzusehen. Dann endlich verschwindet er hinter den Zinnen.

Und ich und die Geröllhalde und die kleinen Wacholderbüsche bleiben zurück. Wie seltsam ist alles! Diese Steine hier in der Ruine bergen vielleicht einen Sinn, sie liegen hier seit Jahrtausenden, aber sie wandern vielleicht auch, machen eine unsagbare Reise. Die Gletscher wandern, Länder heben sich, Länder versinken, es eilt nicht, es geschieht nur. Da aber mein Bewußtsein mit einer solchen Vorstellung nichts verbindet, wird es blind vor Heftigkeit und stellt sich ihr auf den Zehen entgegen: Es gibt kein Wandern der Geröllhalde, das ist nur Geschwätz, nur Scherz. Jawohl, die Geröllhalde ist eine Stadt, und über die Erde verstreut liegen da und dort Ortschaften aus Stein. Es ist eine ruhige Gemeinde, keine Sensation, kein Selbstmord, und in jedem dieser Steine mag eine wohlgeschaffene Seele hausen. Aber Gott bewahre mich trotzdem vor den Bewohnern solcher Städte, hehe: rollende Steine können nicht bellen, sie sind auch nichts für Taschendiebe, sie sind nur eine Last. Stilles Betragen, jawohl, dagegen erhebe ich den Einwand, daß sie keine feurigen Gebärden zeigen, es würde sie kleiden, wenn sie ein wenig rollten; aber sie liegen nur da, man kennt nicht einmal genau ihr Geschlecht. Hast du dagegen den Adler gesehen? Schweig nur stille …;

Ein leiser Wind steht auf, hier wogen Farnkräuter, Blumen, Halme; aber die Halme zittern nur, sie können nicht wogen. Dann mache ich meinen großen Bogen und komme zu dem ersten Häuslerbauern hinunter.

Es wird wohl noch damit enden, daß Ihr hier auch ein Hotel baut, sage ich im Laufe des Gespräches zu ihm.

Ach nein, so weit bringen wir es doch nicht, antwortet er schlau. Aber im Innersten möchte er es wahrscheinlich auch nicht, er hat gesehen, wohin das führt.

Ich konnte ihn nicht leiden, seine Augen waren heuchlerisch, und sein Blick haftete an der Erde. Ihm steckte nur die Erde im Kopf, er war landgierig geworden, ein Tier, das aus seiner Einhegung hinaus wollte. Der andere Häusler hatte ein etwas größeres Stück Land gekauft als er, ein Moor, das noch eine Kuh ernähren konnte; er selbst aber hatte nur dieses Stück Land hier bekommen. Aber das wird schon auch noch etwas, wenn man nur gesund ist und arbeiten kann!

Er griff wieder zum Spaten.

 

13

Bei Tisch wurde von Solem gesprochen, ich weiß nicht, wer anfing, aber eine der Damen fand ihn schön, und sie nickten und sagten: ja, er sei von der rechten Art!

Was heißt das, von der rechten Art? fragt der Adjunkt Höy und blickt von seinem Teller auf.

Niemand antwortet.

Da muß der Adjunkt ganz offen lächeln, und dann sagt er: Wirklich! Ich muß mir den Solem einmal bei Gelegenheit ansehen, ich habe ihn früher wahrhaftig nie beachtet.

Adjunkt Höy konnte Solem gern anschauen, der eine wurde nicht größer und der andere nicht kleiner davon. Aber der gute Adjunkt war gereizt, das war die Sache. Es wirkt ansteckend, wenn eine Dame findet, ein Mann sei von der rechten Art, die andern Damen werden neugierig, sie strecken den Schnabel vor: soso, ist er das? Und nach wenigen Tagen ist die ganze Schar der gleichen Ansicht: jawohl, er ist von der rechten Art!

O weh, ihr unbeteiligten Adjunkten alle!

Armer Adjunkt Höy, wahrlich, da saß auch Frau Molie und nickte beifällig zu Solem. Offen gesagt, sie sah nicht so aus, als verstünde sie viel davon, aber sie wollte doch nicht geringer sein als die anderen. Auch Frau Molie nickt! sagte der Adjunkt und lächelte wieder. Ach, er war so gereizt. Da wurde Frau Molie schön und rot.

Bei der nächsten Mahlzeit konnte Adjunkt Höy nicht länger an sich halten, er sagte:

Meine Damen, jetzt haben meine Augen Herrn Solem geschaut.

Na?

Einbrecher.

Nein, pfui!

Sie müssen doch zugeben, daß er nahezu ein freches Gesicht hat. Bartlos. Blaues Kinn, ein Pferdekinn …;

Das schadet nichts, sagte Frau Molie.

Du wirst sehen, diese Frau Molie gehört durchaus noch nicht so ganz zum alten Eisen, denke ich. Sicherlich trug sie auch seit letzter Zeit ein hübsches kleines Kissen auf der Brust, so daß sie nicht mehr so stark vornüber gebeugt ging; auch hat sie gut gegessen und gut geschlafen, sie hat sich hier im Sanatorium erholt. Ja, Frau Molie hat schon noch Funken in sich. Dies zeigte sich auch einige Tage später. Ach, und der arme Adjunkt! Denn jetzt war ein Draufgänger von einem Rechtsanwalt auf den Hof gekommen, und er sprach mehr mit Frau Molie als mit irgend jemand anderem. War etwas zwischen sie und den Adjunkten getreten? Er war keine sonderliche Erscheinung, aber das war sie auch nicht.

Ja, der Rechtsanwalt war ein junger Sportsmann und ein Draufgänger und in den Umgangsformen sehr bewandert; er war auch in der Schweiz gewesen und hatte das Wesen der Volksabstimmung studiert. Ursprünglich habe er einige Jahre in einem Baubureau gesessen, sagte er, sei aber dann zur Rechtswissenschaft übergegangen, die ihn wiederum zu den sozialen Fragen geführt habe. Er war offenbar ein reicher und sich aufopfernder Mann, wenn er so die Stellung wechselte und Reisen machte. Schweiz! sagte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Keiner von uns begriff seine große Verzückung.

Ja, das muß ein merkwürdiges Land sein, sagte dann Frau Molie.

Der Adjunkt sah aus, als wollte er bersten, er konnte sich nicht beherrschen:

Übrigens, Salem, sagte er plötzlich, ich habe in den letzten Tagen meine Meinung über ihn geändert. Er ist zehnmal besser als mancher andere.

Da sieht man es!

Ja, das ist er. Und er gibt sich nicht für mehr aus, als er ist. Und das, was er ist, ist er ganz. Ich sah, wie er die verunglückte Ziege schlachtete.

Haben Sie dabei gestanden und zugesehen?

Ich kam eben dazu. Es war geschehen, ehe man bis drei gezählt hatte. Und später sah ich ihn im Holzschuppen. Er versteht seine Arbeit, dieser Bursche. Und ich kann es gut begreifen, daß die Damen etwas in ihm sehen.

Wie er zappelt, der Adjunkt! Es endet damit, daß er von Schifferfrauen, deren Männer in China sind, noch verlangt, sie sollen ihren Chinesen richtig treu sein.

Sein Sie nun still, dann erzählt uns der Rechtsanwalt ein wenig von der Schweiz, sagte Frau Molie.

Eine solche Hexe, wollte sie ihren Mitmenschen, den Adjunkten, noch heute nacht über den höchsten Gipfel der Torezinnen hinaustreiben!

Aber nun erhob Frau Brede Einspruch. Sicherlich ahnte sie die Qualen des Adjunkten und wollte ihm helfen. Hatte nicht dieser selbe Adjunkt sich soeben wohlwollend über Solem geäußert, und war nicht Solem der Bursche, dessentwegen sie eines schönen Abends ihren Vorhang heruntergerissen hatte? Es ist in allem ein Zusammenhang.

Schweiz, sagte Frau Brede in ihrer weichen Art, und dann wurde sie rot und lachte ein wenig, ich weiß nichts über die Schweiz; aber ich habe einmal einen Kleiderstoff von dort bekommen, das war der schlimmste Betrug, den ich je erlebt habe.

Der Rechtsanwalt lächelte nur dazu.

Die Lehrerin Johnsen sprach von dem, was sie gelernt hatte, von den Uhrenfabriken und den Alpen und Calvin –

Ja, das sind aber auch die drei einzigen Dinge in tausend Jahren, sagte der Adjunkt, bleich vor Ingrimm, völlig verändert im Gesicht.

Nein, sind Sie denn verrückt, Adjunkt! rief die Lehrerin Palm lachend aus.

Der Rechtsanwalt aber zog die Bewunderung auf sich, indem er von der Schweiz erzählte, diesem wunderbaren Lande, dem Muster für alle kleinen Staaten der Welt. Diese Gesellschaftsordnung, diese Volksabstimmung, welch eine Planmäßigkeit in der Ausnützung der Herrlichkeiten des Landes; dort gab es Hotels, dort verstand man die Kunst, Reisende zu behandeln! Kolossal!

Ja, und dieser Schweizerkäse, sagte der Adjunkt. Er riecht nach Touristenzehen.

Stille. Jaso, Adjunkt Höy schreckte vor nichts zurück.

Naja, aber der norwegische Gammelost Norwegischer Käse. (Anmerk. d. Übers.)? meinte eine dänische Stimme in aller Freundlichkeit.

Ja, das ist auch eine verfluchte Schweinerei, erwiderte der Adjunkt. Das ist etwas für Lehrer Staur, wenn er auf seinem Kubbestuhl sitzt.

Gelächter.

Aber nun war ja alles ein wenig ausgeglichen, und der Rechtsanwalt konnte ohne Gefahr weiter erzählen:

Wenn wir nur hier daheim einen solchen Schweizerkäse machen könnten, sagte er. Dann wären wir nicht so arm. Überhaupt habe ich bei meinen kleinen Beobachtungen rings im Lande herausgefunden, daß sie uns dort in jeder Beziehung voran sind. Sie können uns alles lehren, ihre Sparsamkeit, den Fleiß, die Abendarbeit, die kleine Hausindustrie –

Und so weiter! unterbricht Adjunkt Höy, die Kleinlichkeiten, die Nichtigkeiten, das Negative! Ein Land, das nur durch die Gnade der Nachbarn besteht, dürfte denn doch kein Vorbild für irgendein anderes Land auf der Erde sein. Wir müssen versuchen, uns über diese Jammergedanken zu erheben, wir werden nur kläglich davon. Die großen Länder und die großen Dinge sind es, die uns Vorbild sein sollen. Alles wächst nämlich, selbst das Kleine, wenn es nicht zu einem Liliputdasein geboren ist. Freilich kann ein Kind von andern Kindern lernen, das Vorbild aber ist der erwachsene Mensch. Das Kind soll ja selbst einmal erwachsen werden, und was sollte dann sein, wenn es die ganze Zeit ein ewiges Kind, eine geborne Pygmäe, zum Vorbild gehabt hätte? Das ist es, was ihr mit eurem Geschwätz von der Schweiz wollt. Was soll das, warum sollen wir gerade von den kleinsten und allerkärglichsten Ländern lernen? Es ist bei uns sowieso schon klein genug. Die Schweiz ist der Häusler von Europa. Hört man etwa davon, daß die jungen südamerikanischen Länder von gleicher Größe wie Norwegen ihre Ehre dareinsetzen, genau so wie die Schweiz zu werden? Das ist es, was Schweden jetzt so wunderbar vorwärts bringt, dort blickt man nicht nach der Schweiz, dort sieht man nicht nach Norwegen, dort sieht man auf Deutschland. Dafür gebührt Schweden Ehre! Aber wir? Wir sollen nicht nur ein kleines Scheißvolk in unseren Alpen oben sein, das in tausend Jahren nur Friedensverhandlungen, Skiläufergeist und Ibsen hervorbringt, wir haben in uns die Größe für zehntausendmal mehr –

Der Rechtsanwalt hatte schon lange die Hand aufgehoben, um zu erkennen zu geben, daß er antworten wolle, nun rief er laut:

Ein einziges Wort!

Der Adjunkt hielt inne.

Nur eine ganz kleine Frage, eine winzige Frage, sagte er und bereitete sich gut vor: Haben Sie jemals Ihren Fuß in das Land gesetzt, von dem Sie sprechen?

O ja, das habe ich auch, antwortete der Adjunkt.

Nun also! Der Rechtsanwalt bekam nichts für seine winzige Frage. Und nun kam es an den Tag, welch ein abscheuliches Ding diese Frau Molie eigentlich war: die ganze Zeit hatte sie dagesessen und gewußt, daß der Adjunkt auf einer Stipendienreise in der Schweiz gewesen war, und hatte nicht dergleichen getan. Ah, welch eine Schlange! Im Gegenteil, sie hatte den Rechtsanwalt und keinen anderen dazu aufgefordert, von dort zu erzählen.

Ja freilich, Adjunkt Höy ist auch in der Schweiz gewesen, sagte sie, um es wieder gut zu machen.

In diesem Falle haben der Adjunkt und ich das Land mit verschiedenen Augen angesehen, das ist das Ganze, sagte der Rechtsanwalt und wollte damit aufhören.

Sie haben dort nicht einmal ein einziges Märchen, fuhr der Adjunkt fort, dem es schwer fiel, aufzuhören. Da sitzen sie Geschlecht auf Geschlecht und feilen Uhrenräder und führen die Engländer auf ihre Gipfel; aber es ist ein Land, das aller Volkslieder und Märchen bar ist. Und nun sollten wir fest arbeiten, damit Norwegen auch in diesem Punkt wie die Schweiz werde, nicht wahr?

Wilhelm Tell? erwähnte Fräulein Johnsen fragend.

Mehrere Damen nickten, jedenfalls nickte Fräulein Palm.

Da sagte Frau Molie, aber sie wandte den Kopf ab und sah zum Fenster hinaus:

Sie haben doch früher wirklich anders über die Schweiz gedacht, Adjunkt.

Das traf. Er wollte antworten, wollte sie abtun, besann sich aber und schwieg.

Erinnern Sie sich nicht? fragte sie und reizte ihn noch mehr.

Nein, erwiderte er. Da haben Sie mich mißverstanden, gnädige Frau. Ich begreife das übrigens nicht, ich bin doch sicher ziemlich gut zu verstehen, ich bin es ja sogar gewohnt, vor Kindern zu sprechen.

Das traf auch, Frau Molie trieb es nicht weiter, sondern lächelte geradezu sanftmütig.

Ich kann nur sagen, daß meine Meinung der Ihren vollkommen entgegengesetzt ist, sagte der Rechtsanwalt noch einmal. Aber ich glaubte, fuhr er fort, ich glaubte, hier handle es sich um etwas, in das ich mich ein wenig eingelebt hätte, nun –

Frau Molie erhob sich und ging hinaus, gesenkten Kopfes, als sei sie dem Weinen nahe. Der Adjunkt blieb einen Augenblick sitzen, dann ging er nach. Aber er pfiff und tat munter, als sei ihm durchaus nicht übel zumute.

Was meinen nun Sie? fragte Frau Brede den ältesten der Gesellschaft, und das war ich.

Und wie es sich für den gesetzten Mann schickte, erwiderte ich:

Es ist vielleicht auf beiden Seiten ein wenig übertrieben worden.

Darin stimmten sie dann alle überein. Aber der Teufel mochte vermitteln, ich fand, daß der Adjunkt recht hatte. Man meint so viel betrüblich Jugendliches, solange man noch so am Anfang der siebziger Jahre steht.

Der Rechtsanwalt schloß mit folgenden Worten:

Alles in allem gerechnet, haben wir es nun doch auch der Schweiz zu verdanken, daß wir hier in diesem komfortablen Berghotel wohnen und daß es uns gut geht. Wir machen es ganz nach Schweizer Muster, bringen die Reisenden ins Land, verdienen Geld und zahlen unsere Schulden. Fragen Sie den Mann hier, ob er die Weisheit aus der Schweiz entbehren möchte …;

Am Abend fragte Frau Brede:

Warum brachten Sie den Adjunkten heute so in Harnisch, Frau Molie?

Ich? sagte Frau Molie unschuldig. Nein, ich dächte doch –!

Es sah übrigens auch so aus, als sei Frau Molie unschuldig gewesen, denn schon am nächsten Morgen gingen sie und der Adjunkt sehr vergnügt zusammen in die Berge und blieben bis Mittag fort. Hatten sie wirklich eine Auseinandersetzung gehabt, so hatte Frau Molie wahrscheinlich zu ihrem erprobten Freund gesagt: Du begreifst doch, daß ich mir nichts aus dem Rechtsanwalt mache, bist du denn toll! Ich habe doch nur einige Worte zu ihm gesagt, um dich zu veranlassen, ihn ordentlich herunter zu reißen, begreifst du das nicht? Nein, du bist doch der Dümmste und Süßeste und – komm her, laß dich küssen …;

 

14

Nach der großen Karawane kommt keine mehr. Einige von uns verstehen das nicht, andere wittern gewissermaßen, wie das zusammenhängt; aber alle gehen wir umher und warten: die Reisenden müssen doch wohl kommen, wir sind es, die die Torezinnen haben!

Aber es kommt niemand.

Die Frauen des Hofes verrichten ihre tägliche Arbeit für uns Gäste und klagen nicht, aber sie sind nicht froh. Paal trägt es immer noch mit Ruhe, er schläft viel in seiner Kammer hinter der Küche; ein paarmal aber habe ich ihn in der Nacht vom Hof fortwandern und in tiefen Gedanken in den Wald gehen sehen.

Aus dem Nachbartal drang das Gerücht, daß die Automobile dort jetzt in Betrieb gesetzt seien. Das war die Erklärung für das tote Leben bei uns! Und eines Tages kam ein Däne vom Gebirge zu uns herunter, er hatte die Torezinnen von der anderen Seite bestiegen, was alle bis jetzt für unmöglich gehalten hatten. Ja, er hatte einfach das Automobil bis zum Fuß der Berge genommen und sie dann überschritten!

So besaßen wir also auch keine Torezinnen mehr.

Ob Paal nicht doch versuchen sollte, auf seinem langen Acker dort beim Fluß Grünfutter zu säen? Das war ja auch ursprünglich seine Absicht gewesen; aber dann war die große Karawane und hatte ihn nachlässig gemacht. Jetzt ist das Jahr freilich zu weit vorgeschritten, um zu säen, aber so wie der Acker jetzt daliegt, wächst nur allerlei Unkraut darauf. Wenn er nun gepflügt und besät würde? Wie wäre es, wenn Paal an so etwas dächte, statt nachts in den Wald zu gehen?

Aber Paal hat viele Gedanken. Sein Landwirtgehirn hat sich noch in jungen Jahren auf den Fremdenverkehr eingestellt, und dabei bleibt es nun. Er hört, daß unser Rechtsanwalt, der Draufgänger, auch ein Architekt ist, und bittet ihn um eine Zeichnung für das neue große Haus, die sechs Zimmer, die Halle, das Bad; Paal hatte bereits die Kubbestühle und die Renntiergeweihe für die Halle bestellt.

Wenn Sie hier nicht so allein stünden, sollten Sie sich auch einige Automobile anschaffen, sagte der Rechtsanwalt.

Ich habe daran gedacht, antwortete Paal. Es ist nicht unmöglich, daß mir in dieser Beziehung noch etwas einfällt. Aber erst muß ich das Haus haben. Und dann muß ich einen Weg haben.

Der Rechtsanwalt versprach, das Haus zu zeichnen und ging mit und besah sich den Bauplatz. Das Haus würde soundso viel kosten; aber darüber war Paal schon im reinen mit sich, drei, vier gute Touristensommer würden es bezahlen. Paal sah keine Gefahr. Als wir so umhergingen und den Bauplatz untersuchten, merkte ich, daß er nach Branntwein roch.

Dann kam eine kleine Gesellschaft von Norwegern und Ausländern, Wanderer, die um des Gehens willen gingen, um nicht mit dem Automobil zu fahren. Als sie ankamen, stieg auf dem Hof sofort der Mut, die Fremden blieben ein paar Tage und Nächte, und Solem brachte sie über das Gebirge und verdiente gut. Paal selbst war sichtlich aufgeheitert, er zog Sonntagskleider an und trieb sich auf dem Hof umher. Wegen des zukünftigen Hauses hatte er mancherlei mit dem Rechtsanwalt zu beraten:

Es wäre vielleicht am besten, wir würden jetzt einiges besprechen, wenn es noch etwas zu besprechen gibt, sagte er. Denn ich bleibe nun ein paar Tage fort.

Dann einigten sie sich über etliche Kleinigkeiten am Hause.

Wollen Sie in die Stadt? fragte der Rechtsanwalt.

Paal antwortete:

Nein, nur in die Ortschaft hinunter. Ich will sehen, ob ich nicht ein paar Leute finde, die bei einigen alten Plänen von mir mittun: Telephon und Automobilstraße und derlei.

Viel Glück! sagte der Rechtsanwalt.

So saß denn der Rechtsanwalt da und entwarf das Haus, und wir anderen beschäftigten uns mit unseren Angelegenheiten. Josefine ging zu Solem und sagte:

Geh doch einmal und bebaue den Acker am Fluß.

Hat Paal das gesagt? fragte er.

Ja, antwortete sie.

Solem ging sehr ungern. Als er gerade beim Eggen war, kam Josefine und sagte:

Egge noch einmal darüber.

Dieses kleine flinke Ding, sie war umsichtiger als die Männer. Sie war so schön in ihrer Geschäftigkeit; oft sah ich sie mit ungekämmtem Haar, aber das tat nichts. Und wenn sie sich den Anschein gab, als seien es nur die Mägde, die die Ziegen melkten und die Feldarbeit verrichteten, so dachte sie sich das um des Hauses willen, des Ansehens wegen aus. Aus dem gleichen Grunde hatte sie sicher auch gelernt, auf dem Klavier zu klimpern. Sie hatte eine gute Stütze in der Frau auf dem Hofe; die Frauen waren tüchtig und aufmerksam, aber Josefine war es, die man überall sah, denn sie war leicht wie eine Feder. Und dann ihre keuschen kleinen Hände! Ich sagte einmal zu ihr und war dabei sehr witzig: Dein Name soll sein Josefin; denn du bist aus Josefs Geschlecht!

 

15

Fräulein Torsen, unsere dunkle Schönheit, wollte nun Ernst machen und abreisen. Sie war schon vorher gesund genug gewesen, brauchte also aus diesem Grunde keinen Aufenthalt im Gebirge, und wenn sie sich hier doch nur langweilte, warum sollte sie da nicht reisen?

Aber ein kleines Ereignis veranlaßte sie, hier zu bleiben.

In ihrem ungeheuren Müßiggang gaben sich die Damen der Pension mit Solem ab. Sie waren so satt und gesund geworden, sie mußten sich mit etwas beschäftigen, brauchten etwas zum Gernhaben. Und da war nur der Bursche Solem. Mehr als einmal konnte eine der Damen hereinkommen und den anderen mitteilen, was Solem gesagt und was Solem gemeint habe. Und alle hörten mit Interesse zu. Der Bursche Solem war kühn geworden und trieb einige Scherze mit den Damen, er nannte sich selbst einen Kerl, dem man alles zutrauen könne, und einmal hatte er sehr unmanierlich geprahlt und gesagt: Ja, denn hier können Sie einen sündigen Strolch sehen!

Wißt ihr, was Solem jetzt eben sagte? fragt Fräulein Palm. Er hackt Holz und hat ein Stück Stoff um den Finger gewickelt, und der Stoff verhängt sich am Holz und belästigt ihn; der arme Kerl. Da sagte Solem: Wenn ich nur einmal Zeit hätte, diesen verdammten Finger abzuhacken! sagte er.

So ein Naturbursche! sagten die anderen Damen. Er ist imstande und tut das!

Eine Weile später ging ich an dem Schuppen vorbei und sah Frau Brede dort stehen und einen neuen Verband um Solems Finger herumlegen …; Arme Dame, sie war keusch, aber jung.

Es ist jetzt lange Zeit tagsüber grausam warm gewesen, die Hitze kam strichweise über das Gebirge herunter und machte uns so schwach; aber abends erstarkten wir wieder ein wenig und wurden wieder leistungsfähiger: einige von uns schrieben Briefe oder spielten draußen auf dem Hof Pfänderspiele, andere wurden so frisch, daß sie einen Spaziergang »in die Natur hinaus« machten.

Am Sonntag abend stand ich bei Solems Kammer und sprach mit ihm. Er hatte noch das Feiertagsgewand an und schien noch nicht schlafen gehen zu wollen.

Fräulein Torsen kommt gegangen, sie bleibt stehen und sagt zu Solem:

Ich höre, du sollst Frau Brede auf einem Spaziergang begleiten?

Solem grüßt sie leicht, und um seine Stirn war noch ein roter Ring von seiner Mütze zu sehen.

Wer, ich? sagt er. Ach ja, sie sprach davon. Ich solle ihr einen Weg zeigen, sagte sie.

Oh, wie war Fräulein Torsen jetzt von Tollheit erfüllt, schön, verzweifelt; sie trippelte hin und her, es schossen Sterne aus ihr. Der kleine rote Filzhut hing ihr an einer Nadel im Nacken und war vorn hoch aufgeschlagen. Sie trug den Hals bloß und war in einem dünnen Kleid und in niedrigen Schuhen.

Ganz wunderbar, wie sie sich betrug; sie öffnete ihrem Geheimnis ein Fenster. Was kümmerte sie sich um Kaufmann Batt! Und hatte sie sich nicht ihre ganze Jugend hindurch geplagt und Schulweisheiten aufgenommen, aber keinen Inhalt! Armes Fräulein Torsen, der Bursche Solem sollte heute abend keiner anderen Dame den Weg zeigen!

Da es zu nichts weiterem kam und Solem sich entfernen wollte, räusperte sich Fräulein Torsen. Sie bewegt die Lippen, formt sie zu einem Lächeln, und da sitzt es, gefriert fest.

Geh lieber mit mir! sagt sie.

Solem sieht sich hastig um und antwortet ja.

Da verließ ich sie, ich pfiff und war übertrieben gleichgültig, als ich fortschlenderte, ja, als ginge mich nichts mehr in der Welt etwas an.

Geh lieber mit mir! sagte sie. Und sie gingen. Jetzt sind sie schon hinter den Nebengebäuden, jetzt hinter den beiden großen Eibischbäumen, sie beeilen sich, damit Frau Brede sie nicht sehen kann, – jetzt sind sie fort.

Eine Tür, weit offen, aber wo führte sie hin? Ich sah keine Süßigkeit an ihr, nur Erregtheit. Sie hatte Grammatik gelernt, aber keinen Inhalt, ihre Natur war unterernährt. Ein rechtes Mädchen sollte sich verheiraten, sollte die Frau eines Mannes werden, sollte Mutter werden, sollte sich selbst zum Segen werden. Was nützt es, eine Freude an sich zu raffen, nur damit ein anderer sie nicht bekommen soll, – sie, die so groß und schön ist!

Ein Hund steht da und bewacht einen Knochen. Er wartet, bis ein anderer Hund nahe gekommen ist. Plötzlich bekommt er einen Anfall von Freßgier, er erfaßt den Knochen und zermalmt ihn. Nur weil der andere kam.

*

Es war gleichsam, als hätte es dieses kleinen Ereignisses bedurft, um mein Gemüt für die Nacht vorzubereiten. Ich erwachte im Dunkeln und fühlte jene Kinderreime in mir, mit denen ich mich so lange gequält hatte, vier trällernde Strophen über den Wacholderbusch.

Hoch auf den Felsengraten
Wächst der Wacholderbaum,
Kein andrer kommt so nahe
Dem blauen Himmelssaum.
Die Föhre wohnt nur halb so hoch
Und steht und friert im Wind,
Und etwas höher niest und schnupft
Das Silberbirkenkind.
Er aber krabbelt höher,
Der Knirps, denn ihm ist gar nicht bang,
Und steht bald bei den Wolken.
Ist nur 'ne Elle lang!
Und steht so da, als halte
Er einen Viererzug im Zaum,
Hui, heißa, welch ein Kutscher
Ist der Wacholderbaum!

Im Tal gibt's Wetterleuchten
Und Kränze und Sankt Hans
Und Sang und Kinderspiele
Und zwischendurch auch Tanz.
Hier oben beim Wacholderbaum
Gibt's nichts als kahle Steine,
Na, zwischendurch kommt wohl ein Troll
Und steht auf einem Beine.
Und dann der Wind! Und der macht hui
Und zaust an seinen Zweigen.
Und unten liegt die kleine Welt
So nackt und muß doch schweigen.
Hier aber gibt es frische Luft,
Hier singt der Sturm im Wolkenschaum!
Und keiner wohnt so hoch und frei
Wie der Wacholderbaum!

Jetzt hält auf allen Höhen
Der Sommer süße Ruh'.
Doch eh' du's ahnest, heult schon
Der Winter hututu!
Hier steht nun der Wacholderbaum,
Hat ewiggrüne Nadeln an,
Und wunderlich, was dieser Knirps
Nicht alles gar ertragen kann!
Und ist dabei so zäh und fest
Wie Knorpel, kann man sagen,
Und trägt gleichwohl noch reiche Frucht!
Wer könnt hier Wurzel schlagen?
Und jede Frucht ist fein verziert
Mit einem Kreuz, du glaubst es kaum.
So weißt du nun auch dieses noch
Von dem Wacholderbaum!

Doch dann und wann, so steht er da
Und singt dann so: »O schau,
Wie schön ist heute doch die Welt!
Wie ist der Himmel blau!«
Und dann und wann, so ruft er gar
Zu andern Holderbäumen:
»Was kümmert uns der Troll! Fürwahr,
Der kann ja nichts als träumen!«
… Und kommt das Winterdunkel
Dann über Fels und Holderkraut
Mit seinem Lichtgefunkel,
Wohin auch nur das Auge schaut,
So nickt wohl der Wacholderbaum
Noch einmal leis, so leis und sacht,
So sacht, – und lallt schon halb im Traum:
»Gut' Nacht auch, gute Nacht Übertragen von Niels Hoyer

Ich richtete mich auf und schrieb diese Reime ab und sandte sie an ein bestimmtes kleines Mädchen, mit dem ich viel im Freien gewandert war, und sie lernte sie sofort. Später sagte ich sie Frau Bredes Kindern vor, und sie standen genau wie zwei Glockenblumen da und hörten zu. Dann entrissen sie mir das Blatt und liefen damit zu ihrer Mutter. Sie liebten ihre Mutter so sehr und wurden von ihr ebenso wieder geliebt; des Abends, zur Schlafenszeit, machten sie immer den fröhlichsten Lärm.

Die tapfere Frau Brede mit ihren Kindern! Sie hätte Tollheiten begehen können, aber dazu hatte sie das Herz nicht. Wurde das auch anerkannt? Von wem? Vom Manne?

Ein Mann soll seine Frau mit nach Island nehmen. Oder die Folgen tragen, wenn sie daheim wieder endlos lang allein gelassen wird.

 

16

Fräulein Torsen spricht nicht mehr vom Abreisen. Sie sah zwar trotz ihrem Hierbleiben auch nicht besonders froh aus; aber Fräulein Torsen war eben überhaupt zu unruhig und zu eigen, um mit irgend etwas zufrieden zu sein.

Natürlich hat sie sich an jenem Abend mit Solem im Wald erkältet, so daß sie am nächsten Tage mit Kopfschmerzen im Bett liegen mußte; als sie aber wieder aufstand, fehlte ihr nichts mehr.

Nichts? Warum war Fräulein Torsen unter dem Kinn so blau wie von einem Griff?

Sie sah jetzt nicht mehr dorthin, wo Solem war, und tat so, als sei er nicht da. Hatte es im Walde vielleicht einen Kampf gegeben, bei dem sie unter dem Kinn blau geworden war, und waren sie seitdem verfeindet? Es sah ihr gleich, nichts zu wollen, nur Sensation, nur den Sieg; aber Solem hatte das nicht verstanden, sondern war toll geworden. Verhielt es sich so?

Ja, Solem war sicherlich betrogen worden. Er war offenherziger und weniger klug, er machte Andeutungen, sagte etwa das: Dieses Fräulein Torsen, ja, das ist eine –, ich möchte wetten, sie ist so stark wie ein Bursche! Und dann lachte er, aber er lachte ingrimmig. Er verfolgte sie mit derben Blicken, wo sie ging, und um sich bemerkbar zu machen und gleichgültig zu scheinen, legte er los und sang ein Lied vom Leben eines Streckenarbeiters, wenn sie in der Nähe war. Ach, aber er hätte sich alle Faxen sparen können. Fräulein Torsen war stocktaub für seinen Gesang.

Und nun sah es aus, als wolle sie, rein aus Trotz, bei uns bleiben. Wir boten ihr zwar jetzt auch nicht mehr Vergnügen denn zuvor, sie aber fing nun an, sich's mit dem Rechtsanwalt behaglich zu machen, und setzte sich an seinen Tisch in der Feuerstube, wenn er an dem Entwurf für das Haus arbeitete. Es herrscht so ein perverser Müßiggang in den Gebirgspensionen.

*

Ja, so vergehen die Tage, sie haben nun nichts Neues mehr für mich, und ich fange an ihrer müde zu werden. Dann und wann kommt ein Fremder und will über das Gebirge, aber es ist nicht mehr wie in früheren Jahren, lasse ich mir sagen, da kamen die Gäste in Scharen. Und es wird wohl nicht besser bei uns, bis wir nicht auch Straßen und Automobile haben.

Es lag mir nichts daran, eher davon zu sprechen, aber das Tal neben dem unseren heißt Großtal, das unsere aber heißt nur Reisa, nach unserem Fluß, und die ganze Reisa-Ortschaft ist nicht mehr als ein Annex. Alle Vorteile haben sie drüben im Großtal, selbst der Name ist großartig. Aber Paal, unser Wirt, er nennt das Nachbartal das Kleintal, denn es wohnen so unangenehme und habsüchtige Leute dort, sagt Paal.

Armer Paal! Nun kam er von seiner Reise ins Dorf ebenso hoffnungslos zurück wie er ausgezogen war, und war noch dazu unmäßig betrunken. Er lag mehr als vierundzwanzig Stunden in seiner Kammer und kam nicht mehr zum Vorschein. Als er sich endlich wieder zeigte, tat er groß und war obenauf und gebärdete sich, als hätte er sehr viel auf seiner Reise erreicht: es würde sich schon noch etwas machen lassen; mit den Automobilen, da hätte er keine Angst! Aber am Nachmittag, als er wieder getrunken hatte, wurde er auf andere Art großsprecherisch: nein, diese armen Seelen da unten im Ort hätten doch für nichts Sinn und hätten nichts von einer Straße zu seinem Hof wissen wollen. Er war der einzige, der einen guten Kopf hatte. Würde dieses kurze Wegstück nicht zum Segen für den ganzen Annex werden? Denn dann würden doch die Karawanen kommen und dem ganzen Tal entlang ihr Geld regnen lassen. Aber diese Leute sahen nichts ein!

Früher oder später muß doch eine Straße hierher kommen, sagte der Rechtsanwalt.

Das ist doch klar! antwortete Paal entschieden.

Dann ging er in seine Kammer hinein und legte sich wieder hin.

Eines Tages aber kam noch einmal eine kleine Schar Fremder, und sie hatten sich in dieser Sonnenhitze selbst mit ihrem Gepäck abgemüht und es getragen, nun wollten sie, daß man ihnen behilflich sei. Solem war sofort bereit, aber er konnte unmöglich alle Bündel und Koffer bewältigen, und Paal lag in der Kammer. In der Nacht hatte ich Paal wieder in den Wald hinausgehen sehen, und da hatte er laut geredet und mit den Armen gefuchtelt, als wäre er in Gesellschaft.

Da standen nun die Fremden.

Die Frau und Josefine kamen heraus und schickten Solem zu Einar, dem nächsten Häuslerbauern, hinüber, um ihn zum Helfen und Tragen zu holen. Indessen wurden die Reisenden ungeduldig und sahen andauernd auf ihre Uhren, wenn sie nicht zur rechten Zeit über das Toregebirge kämen, müßten sie im Freien übernachten. Einer von ihnen behauptete zu den anderen, diese Verzögerung sei vielleicht berechnet, die Leute hier wollten wohl, daß sie übernachteten; sie murmelten zusammen und schließlich fragten sie:

Ja, aber wo ist denn der Mann des Hofes, der Wirt?

Er ist krank, antwortete Josefine.

Solem kam zurück und sagte:

Einar habe keine Zeit, er jäte seine Kartoffeln.

Pause.

Da sagte Josefine:

Ich hätte eigentlich auch auf der anderen Seite des Gebirges etwas zu tun, – wartet ein wenig!

Sie entfernte sich für einen Augenblick und kam wieder, lud Säcke und Koffer auf ihren kleinen Rücken und machte sich auf. Die anderen folgten.

Ich ging Josefine nach und nahm ihr die Bürde ab. Doch ich erlaubte ihr nicht umzukehren, dieser kleine Ausflug fort von der Pension tat ihr recht gut. Unterwegs gingen wir miteinander und schwätzten viel: es war im Grunde nicht so schlimm um sie bestellt, sie hatte sich nicht wenig Geld erspart, diese Josefine.

Als wir aber auf die Hochfläche gekommen waren, wollte Josefine wieder umkehren. Sie fand es so unnütz, nur so neben mir herzugehen und nichts zu arbeiten.

Sie hatten doch auf der andern Seite des Gebirges etwas zu tun? sagte ich.

Und da war sie nun zu klug, um zu leugnen. Denn dann wäre die Tochter des alten Gasthauses an den Torezinnen nur mitgegangen, das Gepäck der Reisenden zu tragen. Sie antwortete:

Ja, aber das hat keine Eile. Ich soll jemand aufsuchen, das hat auch bis zum Winter Zeit.

Wir verhandelten darüber hin und her, und ich wurde so aufgebracht, daß ich das Gepäck wieder über den Berg hinunterwerfen wollte, dann sollte sie sehen! Dann nehme ich es eben und trage es selbst, und dann sollen Sie sehen! antwortete Josefine.

Nun holten unsere Begleiter uns wieder ein. Ehe ich wußte, wie mir geschah, kam einer der Fremden und nahm mir die Bürde ab und zog die Mütze und nannte mit vielen Faxen seinen und auch der anderen Namen. Ich solle entschuldigen, ich solle wirklich verzeihen, das sei zu arg, er sei so unachtsam gewesen …;

Hätte er nur gewußt, daß ich ihn noch leicht zu den Säcken hätte aufladen können. Nicht die Kräfte sind es, die mir fehlen; allein ich trage Tag und Nacht den Affen aller Krankheiten mit mir herum, und der ist bleischwer. Na, mancher andere stöhnt unter der Last der Dummheit, das ist nicht besser. Jeder hat das Seine …;

Dann kehrten Josefine und ich wieder heim.

*

Jawohl, es wird mir nun eine ungeheure Höflichkeit erwiesen, das kommt von meinem Alter. Die Leute haben Nachsicht damit, daß ich andere plage, Eigenheiten habe, lockere Schrauben, man verzeiht mir, weil ich so grau geworden bin. Du mit deinem Zirkel wirst ja sagen, daß man mich um der Schreiberarbeit willen verehre, die ich so lange Zeit betrieben habe; in diesem Falle aber hätte ich die Anerkennung in jenen jüngeren Jahren haben sollen, als ich sie verdiente, nicht jetzt, da ich sie jedenfalls nicht so sehr verdiene. Von niemand – von gar niemand – kann man erwarten, daß er nach dem fünfzigsten Jahr annähernd so gut schreibt wie vorher, nur die Einfältigen oder die Eigennützigen können von einer Steigerung nach diesem Alter sprechen.

Nun verhält es sich so, daß ich eine eigenartige Schreibarbeit betrieben habe, und eine bessere als die Mehrzahl; das weiß ich sehr wohl. Aber das ist eigentlich nicht so sehr mein Verdienst, denn ich wurde mit den Fähigkeiten dazu geboren. So ist es.

Ich habe die Gegenprobe darauf gemacht und weiß also, daß es Stich hält. Ich habe bei mir selbst gedacht: Das sollte nur ein anderer gesagt haben! Na, andere haben das mitunter wohl auch gesagt, ohne daß es mir etwas gemacht hat. Aber ich bin weiter gegangen, ich habe mich absichtlich geradezu einer literarischen Verkleinerung von anderen ausgesetzt, ohne daß es mir geschadet hat. Ich bin also meiner Sache sicher. Dagegen hat meine Lebensführung einen bedeutungsvollen Inhalt in mir abgesetzt, und für diesen Inhalt kann ich allerdings Achtung fordern, daran habe ich selbst einiges Verdienst. Nicht ohne Fälschung macht man mich zu einem geringen Menschen. Aber selbst diese Fälschung kann man ertragen, wenn man Inhalt hat.

Du kannst Carlyle gegen mich anführen – oh, wie die Schriftsteller mißhandelt werden: Considering what bookwriters do in the world, and what the world does with book-writers, I should say, it is the most anomalous thing the world at present has to show. Du kannst noch viele andere zitieren, die behaupten werden, daß man jetzt viel Wesens von mir mache, sowohl um der Schriftstellerei willen, als um der angeborenen Fähigkeiten und meines Eifers willen, diese Fähigkeiten mir dienstbar zu machen. Und ich behaupte nur, was recht und wahr ist, die ganze Herrlichkeit verdanke ich hauptsächlich dem Umstand, daß ich jetzt in ein ehrwürdiges Alter komme.

Und das, finde ich, ist so verkehrt; mit dieser Anschauung ist es ja nicht schwer, die Jungen unverschämt und talentfeindlich hinter den Alten nieder zu halten. Das Alter soll nicht um seiner selbst willen geehrt werden; es hemmt und hindert nur den Schritt der Menschheit; auch die Naturvölker verachten das Alter und befreien sich ohne weiteres von ihm und seiner Hemmung. Früher, da verdiente ich diese Herrlichkeit in größerem Maße und legte Wert darauf; jetzt bin ich in mehr denn in einem Sinne besser daran und kann sie entbehren.

Nun aber habe ich sie. Trete ich in ein Zimmer, wird es respektvoll still. Wie alt er geworden ist! denken die Anwesenden. Und man schweigt, damit ich denkwürdig rede.

Dieser kuriose Unsinn! Der Lärm soll haushoch toben, wenn ich eintrete, und willkommen alter Bursche und Kamerad, soll es heißen, und sage nur ja keine Denkwürdigkeiten zu uns, das hättest du früher tun sollen, als du bessere Voraussetzungen dafür hattest. Laß dich nieder, alternder Mann, und leiste mir Gesellschaft. Aber beschatte uns nicht mit deinem Alter und hindere uns nicht; du hast deine Zeit gehabt, jetzt haben wir die unsere …;

Sieh, das ist wahre Rede.

Bei den Bauern hat man noch den richtigen Instinkt: eine Mutter wird ihre Tochter und ein Vater seinen Sohn mit der groben, einfältigen Arbeit verschonen. Eine rechte Mutter wird ihre Tochter nähen lassen, während sie selbst in den Stall geht. Und die Tochter wiederum wird es mit ihrer Tochter ebenso machen. Das ist Instinkt.

 

17

Nein, hier unter den Menschen wird es immer langweiliger, und ich sehe nichts, was ich nicht schon früher gewußt hätte. So sinke ich herab und beobachte Solems steigende Leidenschaft für Fräulein Torsen. Aber auch das ist bekannt und langweilig.

Solem ist von all der Aufmerksamkeit, die die Damen ihm geschenkt haben, größenwahnsinnig geworden. Er kauft sich von seinem Verdienst Kleider und eine vergoldete Uhrkette, und Sonntags trägt er eine weiße wollene Sportweste, obwohl es sehr warm ist; um den Hals hat er einen teuren Seidenschlips auf seemännische Art geknotet, der ihm breit auf der Brust liegt. Niemand ist so flott wie er, das weiß er auch, er singt, wenn er über den Hof geht und hält niemand mehr für zu gut für sich. – Josefine hat sich sein lautes Singen verbeten; aber der Bursche Solem ist so unentbehrlich auf dem Hof, er gehorcht nicht mehr jedem Befehl. Er hat jetzt in gar vielem seinen eigenen Willen, ja, es kommt sogar vor, daß Paal selbst ein Glas mit ihm zusammen trinkt.

Fräulein Torsen scheint nun zur Ruhe gekommen zu sein. Sie ist sehr stark mit dem Rechtsanwalt verbunden und setzt sich zu ihm und läßt sich jeden Winkel erklären, den er in seinem Entwurf macht. Darin hat das Fräulein vollkommen recht, der Rechtsanwalt ist unzweifelhaft der richtige Mann für sie, ein Draufgänger und Sportsmann, vermögend, ein wenig einfältig, sehr gesund. Frau Molie schien sich anfangs nicht darein finden zu wollen, daß dieses Paar so viel in der Feuerstube zusammen saß, sie machte sich beständig etwas darin zu schaffen; aber ach, wo wollte denn Frau Molie mit ihrem eisblauen Gebiß hin!

Dann endlich war der Rechtsanwalt mit dem Entwurf fertig und konnte ihn abliefern. Er sprach nun wieder wie vorher schon mehrere Male von einem gewissen Gipfel auf den Torezinnen, den noch niemand erklettert hatte, und der also dastand und auf ihn wartete. Fräulein Torsen war gegen diesen Plan, und als sie nun mit dem Rechtsanwalt besser bekannt wurde, bat sie ihn flehentlich, nicht diese wahnsinnige Besteigung zu versuchen. Und er versprach ihr lächelnd, gehorsam zu sein. Sie waren so zärtlich einig.

Aber der blaue Gipfel steckte dem Rechtsanwalt dennoch im Kopf, er zeigte ihn dem Fräulein vom Hof aus und schmatzte dabei, und seine Augen schwammen wieder.

Gott, ich stürze ab, wenn ich ihn nur anschaue! sagte sie.

Da stützte sie der Rechtsanwalt mit seinem Arm.

Dieser Anblick wühlte den Burschen Solem auf; und überhaupt starrte er sich die Augen schier aus dem Kopfe nach diesem Paar. Eines Tages, als wir vom Mittagessen herauskamen, ging er gerade auf Fräulein Torsen zu und fragte: Ich weiß einen anderen Weg, soll ich Ihnen den heute abend zeigen?

Es entstand eine Verwirrung, das Fräulein wurde ein wenig verlegen, dann antwortete sie:

Einen Weg? Nein, danke! – Sie wandte sich an den Rechtsanwalt und sagte, indem sie gingen: Hat man so etwas je gehört!

Was geht mit ihm vor? sagte der Rechtsanwalt.

Solem entfernte sich und bläkte lachend seine Zähne.

Am Abend wiederholte Solem den Auftritt, er trat wieder zu Fräulein Torsen und sagte:

Was ist mit dem Weg, – wollen wir jetzt gehen?

Schon als das Fräulein ihn auf sich zukommen sah, drehte sie sich rasch um und wollte sich entfernen. Doch Solem scheute sich vor nichts, er ging ihr nach.

Ich will dir jetzt nur eines sagen, antwortete sie ihm und blieb stehen, du darfst nicht mehr unverschämt gegen mich sein, denn sonst wirst du von hier fortgejagt …;

Aber es war nicht so einfach, Solem fortzujagen. Er war ja Führer und Träger für die Fremden und dazu der einzige feste Arbeiter auf dem Hofe. Nun sollte auch die Ernte anfangen, und er mußte die Tagelöhner beaufsichtigen. Nein, Golem konnte nicht weggejagt werden. Außerdem hielten sicher die anderen Damen zu ihm; allein die mächtige Frau Brede konnte Solem ja mit einem einzigen Worte retten. Sie hatte die Pension »Torezinnen« in der Tasche.

Es kam denn auch zu keinem Abschied, Solem hielt sich von nun an im Zaume und wurde höflicher. Wer er war sicher ebenso gequält wie zuvor. Einmal, zur Mittagszeit, stand er allein im Schuppen und schnitt sich mit der Axt eine Kerbe in den Nagel seines Daumens.

Was treibst du denn da? fragte ich.

Ich mache mir nur ein Zeichen, erwiderte er und lachte scheel. Wenn diese Kerbe verwachsen ist, dann –

Er hielt inne.

Was dann?

Ach, dann bin ich wohl fort von hier, sagte er.

Da ich aber den Eindruck hatte, daß es etwas anderes gewesen sei, was er hatte sagen wollen, versuchte ich ein wenig mehr zu erfahren.

Laß deinen Finger sehen. Die Kerbe geht nicht tief, du willst nicht mehr lange hier bleiben, verstehe ich.

Er murmelte:

Ein Nagel wächst langsam.

Dann schlenderte er pfeifend fort und ich machte mich ans Holzhacken.

Kurz darauf sah ich Solem, ein schreiendes Huhn unter dem Arm, über den Holzplatz zurückkommen. Er ging ans Küchenfenster und fragte hinein:

Soll ich von diesen Hühnern nehmen?

Ja, wurde drin geantwortet.

Solem kam zum Schuppen und bat um die Axt, er müsse einigen Hühnern die Köpfe abschlagen. Na, da konnte man sehen, alles mußte er tun, er war Topf und Pfanne im Haus und unentbehrlich.

Er drückte das Huhn auf den Holzblock und zielte, aber das war nicht so leicht, das Huhn wand den Hals wie eine Schlange nach oben und wollte den Kopf nicht ruhig liegen lassen. Jetzt hatte es aufgehört zu schreien.

Ich fühle, wie das Herz jetzt laut in ihm schlägt, sagte Solem.

Plötzlich ersah er seinen Vorteil und hieb zu. Da lag der Kopf; Solem hielt noch den Körper, der in seiner Hand zitterte. Die Sache ging so rasch vor sich, daß für mich die beiden Teile des Vogels noch in einem Stück waren, ich verband nichts mit einer so unwahrscheinlichen, so verrückten Trennung. Das währte ein oder zwei Sekunden, dann erst erfaßte mein Auge das Ereignis. Das Entsetzen im Gesicht dieses abgehackten Kopfes war augenscheinlich, es sah aus, als glaubte er das Ganze noch nicht, er hob sich ein wenig, wie um zu zeigen, daß durchaus nichts vorgefallen sei. Dann ließ Solem das Huhn los. Es lag einen Augenblick da, schlug dann mit den Füßen um sich, richtete sich auf und fing zu flattern an, der kopflose Körper taumelte mit der einen Schwinge an der Wand entlang und verspritzte rings um sich Blut, bis er liegen blieb.

Ich habe es doch zu früh losgelassen, sagte Solem.

Dann ging er ein anderes Huhn holen.

 

18

Ich komme auf den verrückten Einfall zurück, Solem zu verabschieden. Es würde damit zwar eine gewisse Katastrophe hier in der Pension abgewendet werden, allerdings; wer aber hätte dann Topf und Pfanne bei uns sein sollen? Paal? Der aber lag in seiner Kammer, erzählte ich doch schon, lag immer häufiger dort und ließ sich vor uns Gästen nicht sehen, es sei denn durch ein mißglücktes Manöver von seiner Seite. Eines Abends kommt er über den Hof geschritten. Sicher glaubte er in seiner Verwirrung des Zeitbegriffes, daß wir Gäste schon schlafen gegangen seien, aber wir saßen draußen, denn es war dunkel und mild. Als Paal das merkte, straffte er sich empor und grüßte im Vorübergehen, er rief Solem zu sich und sagte:

Du darfst nicht mehr solche Führungen über das Gebirge machen, ohne mir etwas davon zu sagen. Ich war doch in der Kammer und schrieb. Josefine Gepäck tragen zu lassen, das ist unerhört!

Paal schritt weiter. Aber er hatte sich noch nicht mächtig genug gezeigt, er wandte sich um und fragte:

Warum ließest du nicht einen meiner Häuslerbauern zum Tragen mitgehen?

Sie wollten nicht, erwiderte Solem, sie jäteten ihre Kartoffeln.

Sie wollten nicht?

Einar sagte nein.

Paal dachte darüber nach.

Sind das solche Kerle geworden? Sie sollen nicht zu weit gehen, sonst jage ich sie von ihren Höfen.

Da stand im Rechtsanwalt der Jurist auf, er fragte:

Haben sie nicht ihre Höfe gekauft?

Ja, antwortete Paal. Aber noch wohne ich hier auf dem Hofe. Das hat wohl auch etwas zu sagen, hehehe. Damit hat es noch nicht aufgehört, daß ich hier oben in Reisa etwas zu sagen habe, hehehe …; Dann wurde er ernst und wandte sich kurz und bündig zu Salem: Du sagst es mir das nächste Mal.

Dann stapfte er wieder in den Wald.

Er fängt nun an, feucht zu werden, der gute Paal, äußerte der Rechtsanwalt.

Niemand entgegnete etwas darauf.

So sollte in der Schweiz ein Wirt herumgehen! sagte der Rechtsanwalt wieder.

Da antwortete Frau Brede still:

Es ist schade. Er hat früher nie getrunken.

Und sogleich war der Rechtsanwalt wieder gutmütig:

Ich werde ihn mir wirklich vornehmen und mit ihm reden.

*

Doch nun trat ein Zeitpunkt ein, da Paal vom Morgen bis zum Abend nüchtern war: Herr Großhändler Brede kam zu uns. Es war geflaggt, großer Aufruhr, Josefines Füße sagten brr unter dem Kleid. Dann kam der Großhändler mit einem Träger, seine Frau und die Kinder trafen ihn schon unterwegs, auch die Leute des Hauses gingen ihm entgegen.

Guten Tag! begrüßte er uns Gäste mit einem tiefen Schwung seines Hutes und gewann uns alle.

Groß und freundlich war er, dick, heiter, mit jener breiten Heiterkeit, die einem ein Vermögen verleiht. Er war sofort unser guter Freund.

Wie lange bleibst du, Papa? fragten seine kleinen Mädchen und hängten sich an ihn.

Drei Tage.

Nicht länger! sagte seine Frau.

Nicht länger? antwortete er und lachte. Das ist nicht so wenig, mein Schatz, drei Tage sind viel für mich.

Aber nicht für mich und die Kinder, meinte sie.

Also drei ganze Tage, sagte er wieder. Du darfst mir glauben: ich bin sehr aktiv gewesen, um einigermaßen passiv sein zu können, hahaha.

Hinein ging es, der Großhändler war schon früher hier gewesen und wußte den Weg zum Hause seiner Frau. Er ließ sich sofort Selterswasser bringen.

Am Abend, als die Kinder schlafen gegangen waren, kamen der Großhändler und seine Frau zu uns in die Feuerstube, er hatte Whisky für uns Herren da und ließ Selterswasser bringen; für die Damen hatte er Wein. Es wurde ein kleines Fest; der Großhändler leitete die Geselligkeit mit großer Gewandtheit; wir waren alle zufrieden. Dieser rundliche Mann wurde still und sanft, als Fräulein Palm auf dem Klavier Volkslieder spielte, er saß auch nicht da und dachte nur an sich selbst und war träge, mitten drunter ging er hinaus und holte die Flagge von der Stange herunter. Eine Flagge soll bei Sonnenuntergang heruntergenommen werden, sagte er. Ein paar Mal war er auch drüben bei den Kindern und sah nach, ob sie schliefen. Überhaupt waren die Kinder ihm lieb, er als Fabrikbesitzer und Sanatoriumsbesitzer und Besitzer von so vielerlei sah aus, als sei er am stolzesten darauf, im Besitze von Kindern zu sein.

Ein Bergener schlug an sein Glas und ergriff das Wort.

Bisher waren diese Bergener so still gewesen und hatten ihre R's wirklich mit aller Zurückhaltung ausgesprochen; aber dies war eine allzu gute Gelegenheit, Reden zu halten. War hier nicht ein Mann aus dem Leben und aus der Welt gekommen, der Wein und Freude und Festlichkeit mit sich brachte? Seltene Dinge hier oben in dieser blauen Felsenwelt …; Und so weiter.

Er sprach fünf Minuten lang und wurde immer behender.

Der Großhändler erzählte ein wenig von Island – einem neutralen Land, das der Adjunkt und der Rechtsanwalt nicht besucht hatten, und worüber sie deshalb nicht uneinig werden konnten. Einer der Dänen war dort gewesen und konnte den richtigen Eindruck des Großhändlers nur bestätigen.

Er erzählte übrigens fast lauter drollige Sachen:

Ich habe einen Diener, einen Burschen, eines Tages, als ich zornig war, sagte er zu mir: Du kannst aber schon großartig auf Isländisch fluchen! Hahaha, er erkannte mich an: Du kannst aber schon großartig auf Isländisch fluchen, sagte er.

Alle lachten, seine Frau fragte:

Was sagtest du darauf?

Was ich sagte! Ich war entwaffnet, hahaha.

Dann ergriff ein anderer Bergener das Wort: Haben wir nicht die Familie des Mannes aus dem Leben und aus der Welt hier, die gnädige Frau, »unsere unvergleichliche Frau Brede, die Liebenswürdigkeit rings um sich her verbreitet«, und die Kinder, die hüpfenden Schmetterlinge? …; nach mehreren Minuten »ein stolzes Hoch«!

Er spielte einen Tusch auf dem Klavier.

Der Großhändler stieß mit seiner Frau an. Na also! sagte er nur.

Frau Molie saß in einem Winkel und sprach immer lauter und lauter mit dem Dänen, der von der falschen Seite über die Torezinnen gekommen war, es schien, als spreche sie mit Absicht laut. Der Großhändler wurde aufmerksam, er bat um näheren Bescheid wegen der Automobile im Nachbartal, wieviele es gäbe, wie rasch sie führen; der Däne gab Bescheid. Aber über das Gebirge hierher zu kommen! sagte Frau Molie. Das hat noch keiner getan.

Auf die Frage des Großhändlers erzählte der Däne auch ihm von dieser abenteuerlichen Tour.

Dort oben in den Zinnen soll irgendwo ein blauer Gipfel sein, sagte Frau Molie, das ist wohl der nächste? Wo werden Sie enden?

Ja, der Däne hatte große Lust, den Gipfel zu besteigen, aber auch er meinte, daß er wohl nicht zu machen sein werde.

Den Gipfel hätte ich schon lange geentert, wenn nicht Sie, Fräulein Torsen, es mir verboten hätten, sagte der Rechtsanwalt.

Das hätten Sie sicher nicht fertiggebracht, bemerkte Frau Molie gleichgültig. Das war wohl ihre Rache. Sie wandte sich wieder dem Dänen zu, als erwarte sie sich alles von ihm. Ich werde es allen und jedem verbieten, an den Gipfel zu denken, sagte da Fräulein Torsen. Er ist kahl wie ein Mast. Wenn ich es versuchte, Gerda? fragte der Großhändler und sah seine Frau lächelnd an. Ich bin doch ein alter Seemann.

Ach du! antwortete sie und lachte ein wenig.

Ich war doch heuer im Frühjahr auf einem Großsegler bis zur Spitze des Mastes.

Wo war das?

Auf der Fahrt nach Island.

Warum das?

Übrigens, ich weiß doch nicht – solche Gipfelbesteigungen begreife ich nicht, sagte der Großhändler.

Nein, also wie? Warum warst du denn da auf der Mastspitze? wiederholte seine Frau nervös.

Der Großhändler lachte:

Nein, das weibliche Geschlecht ist doch das neugierigste Geschlecht auf der Welt!

Wie kannst du so etwas tun? Und die Kinder und ich, wenn du –

Sie sagte nichts mehr. Ihr Mann wurde ernst und ergriff ihre Hand:

Es war schweres Wetter, mein Kind, die Segel schlugen, es galt das Leben. Aber es ist dumm, daß ich davon gesprochen habe. Na – jetzt wollen wir uns für heute abend verabschieden, Gerda.

Der Großhändler und seine Frau erhoben sich.

Da ergriff der erste Bergener wieder das Wort.

*

Der Großhändler blieb die drei Tage bei uns und war dann wieder reisefertig. Er war die ganze Zeit unverändert, zufrieden und lustig. Jeden Abend wurde ihm ein Selterswasser gebracht, nicht mehr, und zur Schlafengehenszeit machten er und die Kinder immer den größten Lärm. Nachts aber drang ein gewaltiges Schnarchen aus seinem Haus. Die kleinen Mädchen, die sich früher ziemlich viel an mich gehalten hatten – jetzt war ich nicht mehr für sie da, so sehr waren sie von ihrem Vater erfüllt. Er machte ihnen eine Schaukel zwischen den beiden Eibischbäumen dort beim Feld, und umwickelte die Äste dick mit Lappen, damit das Tau die Äste nicht beschädige.

Er hatte auch mit Paal ein Gespräch; es ging ein Gerücht, daß der Großhändler der Pension »Torezinnen« sein Geld kündigen würde. Paal trug jetzt den Kopf ein wenig gesenkt, am meisten aber schien es ihn zu kränken, daß der Großhändler auch zu den Häuslerbauern hinüber ging und nachsah, wie es ihnen ginge. Ist er dorthin gegangen? sagte er. Dann kann er auch gleich drüben bleiben!

Der Großhändler scherzte bis zum letzten Augenblick. Vielleicht fiel ihm der Abschied ein wenig schwer, auch ihm, aber er mußte die anderen im Zaum halten. Seine Frau stand da und hielt seinen Arm mit ihren beiden Armen fest, und die Kinder hingen an seinem andern Arm. So stand die Familie da.

Ich kann nicht grüßen, sagte der Großhändler und lachte, ich kann nicht Lebewohl sagen.

Die Kinder jubelten sogleich darüber und riefen, nein, er bekäme seinen Arm nicht frei; halte du nur auch fest, Mutter! Still! sagte der Vater. Ich gehe nach Schottland, nur für kurze Zeit, versteht ihr. Und wenn ihr vom Gebirge herunter kommt, dann werde ich auch heimkommen.

Schottland? Was mußt du jetzt wieder in Schottland tun? fragten die Kinder.

Der Großhändler drehte sich um und nickte uns zu.

Hört diese Frauen, nur Neugierde!

Aber niemand von den Seinen lachte.

Da sagte der Großhändler weiter zu uns:

Ich habe übrigens meiner Frau neulich auch von einem neugierigen Mann erzählt: er erschoß sich, nur um zu erfahren, was nach dem Tode kommt. Hahaha. Das, finde ich, ist der Gipfel der Neugierde, wie? Sich nur zu erschießen, um zu erfahren, was es nach dem Tode gibt!

Aber auch jetzt löste er bei den Seinen keine Lustigkeit aus. Seine Frau stand still da und ihr Kopf war so schön.

Reis' du jetzt! sagte sie nur.

Da kam der Träger des Großhändlers mit dem Gepäck; er war während dieser Tage hier gewesen und hatte gewartet. Nun verließ der Großhändler den Hof, von Frau und Kindern über die Wiese begleitet.

*

Ich weiß nicht, – dieser Mann mit seinem Humor und seiner Gutmütigkeit und dem Vermögen und allem, lieb mit den Kindern, alles für seine Frau –

War er nun auch alles für die Frau?

Am ersten Abend warf er die Zeit fort für ein Fest, jede Nacht verbrachte er schnarchend. So vergingen drei Tage …;

 

19

Während der Heuernte ist es bei uns viel lustiger. Sensen werden gewetzt – dort in den Wiesen –, Männer und Frauen sind bei der Arbeit, leicht gekleidet und barhäuptig, sie rufen einander zu und lachen; manchmal trinken sie aus dem Krug saure Milch, und dann packen sie die Arbeit wieder an. Und dort ist der richtige Heuduft, er dringt mir durch die Sinne wie ein Ton aus der Heimat, er lockt mich heim, heim, obwohl ich nicht im Ausland bin. Ich bin offenbar doch im Ausland und fern meiner eigentlichen Scholle, denke ich. Warum bleibe ich auch noch länger hier, in einer Pension mit Lehrerinnen und mit einem Wirt, der nie mehr nüchtern ist? Es geht nichts mit mir vor, ich tue hier nichts. Die andern gehen hinaus und legen sich auf den Rücken, ich schleiche mich weg und denke über mich nach und höre innerlich Verse in der Nacht – es kann ja gleich sein. Die Welt braucht keine Verse, sie braucht nur Verse, die noch nicht gesungen worden sind.

Und Norwegen braucht die großen rotglühenden Eisen nicht, jetzt schmieden die Dorfschmiede für den Bedarf der Schimmelnden und zur Ehre des Landes.

*

Es kamen keine Reisenden, der Strom ging durch das Großtal und ließ unser kleines Reisatal öde liegen. Jetzt fehlte nur, daß die Nordlandsbahn einmal käme und die Karawanen von Bennett und Cook ins Reisatal brächten – dann läge das Großtal öde. Jaja, die Häuslerbauern, die die Landwirtschaft betreiben wollen, können in Zukunft gern die Hälfte der Ernte von den Höfen haben. Dafür bestehen gute Aussichten. Es sei denn, daß unsere Nachkommen klüger sind als wir und sich nicht mehr von der Demoralisation des Reiseverkehrs anstecken lassen.

Jetzt darfst du mir nicht mehr glauben, kleiner Freund, hier mußt du den Kopf schütteln. Es streunt ein Professor im Land herum, eine geborene Mittelmäßigkeit mit einigen historischen Schulkenntnissen, den mußt du fragen. Er wird dir gerade jene allgemeinen Aufklärungen geben, die dein Blick fassen und dein Verstand ertragen kann, kleiner Freund.

*

Kaum war der Großhändler Brede abgereist, als Paal wieder das unordentlichste Leben begann. Wahrscheinlich verschlossen sich ihm immer mehr alle Möglichkeiten, er sah keinen Ausweg und wollte sich deshalb die Augen verbinden, dann hätte er doch eine Entschuldigung dafür, daß er nicht sah. Nun verließen uns sieben unserer dauernden Gäste auf einmal: die Telephonistinnen, Kaufmann Batt, die Lehrerinnen Johnsen und Palm, zwei Handelsleute, ich weiß nicht genau, was sie waren. Diese ganze Schar zog über das Gebirge, um mit dem Automobil durchs Großtal fahren zu können.

Es kamen Kisten mit verschiedenen Eßwaren für Paal, sie wurden uns eines Abends von einem Mann aus der Gemeinde heraufgefahren. Er hatte den Rahmen von seinem Karren abheben und so eine Kiste nach der anderen über die schlechtesten Stellen wegfahren müssen, so war der Weg. Josefine nahm alle Waren in Empfang, und dabei traf sie auf eine Kiste, in der es gluckste, und – die sei irrtümlich hierher gesandt, sagte sie. Josefine schrieb eine neue Adresse darauf und gab sie dem Mann wieder mit; es sei Saft, der zu spät käme, sagte sie, jetzt habe sie von wo anders her Saft bekommen.

Spät am Abend hörten wir aus der Küche, daß von der Kiste die Rede war, der Saft sei nicht zu spät gekommen, sagte Paal und wurde heftig. Und nimm diese Zeitungen weg, habe ich gesagt! rief er; dann hörten wir, wie Papiere und Gläser zu Boden gefegt wurden.

Ach, es war auch für Paal nicht leicht; leer und langweilig flossen die Tage, und er hatte keine Kinder, durch die er manchmal auf einen freundlichen Gedanken gekommen wäre. Und er, der mehrere Häuser bauen wollte, brauchte nicht die Hälfte von denen, die er bereits besaß. Da wohnten Frau Brede und die Kinder allein in einem Haus, und seit die sieben Gäste abgereist waren, bewohnte auch Fräulein Torsen das ganze Südgebäude vollkommen allein. Paal wollte eine Straße bauen, wollte der Entwicklung des Reiseverkehrs bis zu seinem letzten Atemzug folgen und mit Automobilen anfangen! Da er selbst aber dazu nicht mächtig genug war und keine Hilfe bekam, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich zu beugen. Und jetzt hatte der Großhändler Brede sein Geld gekündigt …;

Paal streckte sein vergrämtes Gesicht zur Küchentür heraus. Er wollte wohl sehen, ob es auf dem Hof draußen geheuer sei, aber das war es nicht, der Rechtsanwalt grüßte laut: Guten Abend, Paal! und zog ihn damit heraus.

Die beiden gingen in der Dämmerung über die Wiesen.

Es nützt ja nichts, mit einem Mann darüber zu »sprechen«, daß er weniger Durst haben soll, hier handelt es sich um vitale Interessen. Aber Paal gab dem Rechtsanwalt gewiß in allem, was er sagte, recht und verließ ihn sicher mit einem guten Vorsatz.

Paal ging wieder in die Ortschaft hinunter. Er mußte auf die Post und das Geld, das die sieben Gäste hinterlassen hatten, nach allen Weltgegenden schicken. Es reichte nicht für alles, es reichte für gar nichts, nicht für Zinsen und Abzahlung, für Steuern, für die Instandhaltung der Gebäude, es reichte nur für einige Kisten Lebensmittel, die aus der Stadt gekommen waren. Ja, und dann ließ er noch die Kiste mit Saft aufhalten, so daß sie nicht zurückgesandt wurde.

Paal kam wieder, mit Augen, die er blind getrunken hatte, weil er nichts mehr sehen wollte. Es war wieder die alte Geschichte. Aber sein Gehirn arbeitete in seiner Art gewiß die ganze Zeit, um einen Ausweg zu finden; eines Tages fragte er den Rechtsanwalt:

Wie heißt man doch so eine Glaskiste, in der kleine Fische, Goldfische sind?

Meinen Sie ein Aquarium?

Vielleicht, sagte Paal. Ist das teuer?

Ich weiß nicht. Warum?

Ob ich mir wohl so etwas anschaffen sollte?

Was wollen Sie damit?

Glauben Sie nicht, daß das jemand anziehen würde? Ach nein, das würde es wohl kaum.

Und Paal zog sich zurück.

Er wurde immer mehr zum Narren. Manche sehen Fliegen, Paal sah Goldfische.

 

20

Der Rechtsanwalt ist häufig mit Fräulein Torsen zusammen, er schaukelt sie sogar auf der Kinderschaukel und umarmt sie und hält sie fest, wenn sie aufhören will. Das beobachtet der Bursche Solem von der Wiese aus, wo er mäht, und er fängt deshalb an, ein derbes Lied zu singen. Er fühlte sich von den beiden so ins Unrecht gesetzt, sollte er überhaupt je zur Selbstverteidigung etwas Ungehobeltes singen, so mußte das jetzt sein, darin würden ihm gewiß alle recht geben. Deshalb sang er so unbändig laut und heulte danach: Tjo!

Aber Fräulein Torsen, sie schaukelte und sie schaukelte, und der Rechtsanwalt umfaßte sie und hielt sie mehr denn einmal an …;

Es ist Samstagabend. Ich stehe draußen auf dem Hofplatz und spreche mit dem Rechtsanwalt, er fühlt sich nicht wohl, er will abreisen, aber Fräulein Torsen will nicht mitkommen, und allein ist es so langweilig. Er verheimlicht nicht, daß die Dame ihm nahe steht.

Solem kommt, er lüpft die Mütze und grüßt. Dann schaut er hastig um sich und beginnt mit dem Rechtsanwalt zu sprechen, höflich, nur in der Eigenschaft eines dienenden Geistes:

Dieser Däne will morgen auf den Gipfel. Ich soll mit einem Seil mitgehen.

Der Rechtsanwalt greift zu:

Soll –?

Es war merkwürdig, den Rechtsanwalt zu beobachten, er wurde leer. Sein kleines Sporthirn versagte. Das dauerte einen Augenblick.

Ja, morgen früh, sagte Solem. Und da wollte ich es sagen. Denn Sie haben doch zuerst davon gesprochen.

Ja, das ist wahr, sagte der Rechtsanwalt, doch, das habe ich wirklich. Aber jetzt kommt er mir zuvor.

Solem wußte dafür Rat:

Nein, ich habe nichts weiter darauf geantwortet, entgegnete er. Ich sagte, ich hätte vorgehabt, in die Ortschaft hinunterzugehen.

Ja, aber wir können ihn doch auch nicht zum Narren halten. Das will ich nicht.

Das ist nun aber auch ärgerlich, meinte Solem. Alle sagen sie, daß es in die Zeitungen käme, wer zuerst den blauen Gipfel besteige.

Er wird wahrscheinlich sehr beleidigt sein, murmelte der Rechtsanwalt und dachte nach.

Aber Solem trieb weiter:

Das kann ich nicht glauben. Und außerdem haben Sie zuerst davon gesprochen.

Alle hier werden es erfahren, man wird es mir nicht einmal erlauben, sagte der Rechtsanwalt.

Wir brechen bei Tagesgrauen auf, entgegnete Solem.

Endlich wurden sie einig.

Ja, Sie sagen wohl nichts davon weiter? wandte sich der Rechtsanwalt an mich.

*

Im Laufe des Vormittags wurde nach dem Rechtsanwalt gefragt, er war nicht in seinem Zimmer, er war nicht auf dem Hof. Vielleicht kann der dänische Gipfelbesteiger Bescheid geben, meinte ich. Es stellte sich jedoch heraus, daß der Däne gar nicht mit Solem über den blauen Gipfel gesprochen hatte. Ihm war von dem Unternehmen nichts bekannt.

Das wunderte mich sehr.

Ich sah auf die Uhr, elf Uhr. Ich hatte den Gipfel im Auge behalten, seit ich aufgestanden war. Mit dem Fernglas hatte ich nichts entdecken können. Jetzt waren wohl fünf Stunden vergangen, seit die beiden den Aufstieg begonnen hatten …; Um halb zwölf Uhr kam Solem heimgelaufen, er war tropfnaß von Schweiß und hatte sich nicht geschont.

Kommt und helft uns! rief er rücksichtslos mitten in unsere Gruppe hinein.

Was gibt es? wurde gefragt.

Er ist abgestürzt.

Wie Solem keuchte und wie triefend naß er war! Aber womit konnten wir helfen? Auch hinauflaufen und uns das Unglück ansehen?

Kann er nicht gehen? fragten einige.

Nein, er ist tot, sagte Solem. Und dabei blickte er von einem zum andern, um zu sehen, ob seine Botschaft glaubwürdig wirkte. Er ist abgestürzt, er wollte nicht, daß ich ihm helfe.

Noch einige Fragen und Antworten – dann war Josefine bereits über den Weg hinunter, sie wollte in den Ort und nach dem Arzt telephonieren.

Wir müssen versuchen, ihn heimzubringen, sagte der dänische Gipfelbesteiger.

Dann machten er und ich uns daran, eine Bahre zusammenzunageln; Solem wurden Kognak und Tücher mitgegeben und er ging wieder auf den Berg zurück, begleitet von den Bergenern, dem Adjunkten, Fräulein Torsen und Frau Molie. Ich fragte den Dänen:

Haben Sie wirklich nicht mit Solem davon gesprochen, heute den Gipfel zu besteigen?

Und er antwortete:

Nein. Ich habe kein Wort mit ihm darüber gesprochen. Ich hätte überhaupt keine Begleitung mitgenommen …;

Gegen Ende des Nachmittags kamen wir mit dem Rechtsanwalt auf der Bahre heim. Solem erklärte uns auf dem ganzen Wege, wie das Unglück geschehen sei, wiederholte, was er gesagt und was der Rechtsanwalt geantwortet hätte, deutete am Wege hin und her: als sei der Stein da der Rechtsanwalt und als sei dort der wilde Abgrund …; Solem hielt noch das Seil in der Hand, für das er keine Verwendung gehabt hatte. Fräulein Torsen fragte nicht mehr als die anderen und sagte nur Allgemeines: Ich riet ihm ab, ich bat ihn so sehr, es sein zu lassen …;

Aber was wir auch redeten, der Rechtsanwalt blieb doch ebenso leblos. Es war so merkwürdig, seine Uhr ging, aber er selbst war tot. Der Doktor hatte hier nichts zu tun, er ging sofort wieder in den Ort zurück.

Das wurde ein schwermütiger Abend. Solem trug das Telegramm an die Familie des Rechtsanwalts in der Stadt fort, und wir andern taten das, wovon wir glaubten, daß es am schönsten sei, wir saßen, jeder mit seinem Buch, in der Feuerstube. Dann und wann wurde eine Andeutung auf das Unglück gemacht, da könne man nun sehen, was wir Menschen seien! Und der Adjunkt, der kein Bergsteiger war, fürchtete sehr, daß diese Katastrophe auch der Pension schaden und es für Paal noch schwerer machen würde: die Leute würden wohl einen solchen Ort scheuen, wo sie sich zu Tode stürzen könnten.

Nein, der Adjunkt war kein Bergsteiger, er kannte die Angelsachsen nicht.

Paal selbst hatte wohl das Gefühl, daß diese Katastrophe ihm vielleicht keinen Schaden bereiten würde, er kam und stellte uns eine Flasche Kognak auf den Tisch, mit der wir uns an diesem traurigen Abend trösten sollten.

Und da wir diese Aufmerksamkeit einem Todesfall zu verdanken hatten, ergriff einer der Bergener das Wort.

 

21

Das Unglück wurde weit und breit bekannt. Zeitungsleute kamen aus der Stadt. Solem mußte mit ihnen auf den Berg und ihnen den Vorgang beschreiben. Wäre die Leiche nicht sogleich fortgebracht worden, hätten sie auch über diese geschrieben.

Kinder und oberflächliche Menschen mochten es vielleicht für falsch halten, daß man Solem von der Heuarbeit und allem, was auf Wiese und Acker stand, wegholte; aber mußte nicht das Geschäft, die Pension allem vorangehen? Solem, es sind Touristen da! wurde vom Hof gerufen. Und Solem verließ die Arbeit. Eine Schar Zeitungsmänner umringte ihn, stellte ihm Fragen, schleppte ihn auf den Berg hinauf zur Unfallstelle; es wurde zum Sprichwort auf dem Hof, so oft Solem nicht zu finden war: Solem ist beim Tode.

Aber Solem war keineswegs beim Tode, er war jetzt sogar sehr beim Leben, es ging ihm gut, er florierte. Wiederum war er eine wichtige Persönlichkeit, der die Fremden zuhörten und die sie ausfragten. Es waren nicht nur Damen, nein freilich, es war etwas Neues, eine Abwechslung, kluge, eifrige Herren aus der Stadt.

Zu mir sagte Solem: Ist es nicht sonderbar, daß das Unglück gerade da geschehen mußte, als der Ritz an meinem Finger geheilt war? Er zeigte mir an seinem Daumen, daß nichts mehr zu sehen war.

Und die Zeitungsmänner telegraphierten und schrieben, nicht nur von dem blauen Gipfel und dem wilden Tod, sondern von dem ganzen Ort, von dem Sanatorium »Torezinnen«, einem Garten für den Müden, von den prächtigen Gebäuden, wie Juwelen in Gebirgseinfassung. Welche Überraschung, hierher zu kommen, Drachenköpfe, Feuerstube, Klavier, auf den Tischen die neueste Literatur, draußen Balken für neue Juwelen in Gebirgseinfassung, alles in allem ein prachtvolles Bild von Norwegens moderner Landwirtschaft. Ja, die Zeitungsleute, die verstanden das. Und die machten ihre Reklame.

Die Angelsachsen kamen.

Wo ist Solem? sagten sie, und wo ist der Blaugipfel? sagten sie.

Sie sollen doch auch das Heu einbringen, meinte Josefine und meinte die Frau auf dem Hof; es gibt Regen, und draußen stehen fünfzig Fuhren! Das ist schön und gut; aber wo ist Solem? fragten die Angelsachsen. Und Solem mußte vor. Die beiden Taglöhner fingen nun an Heu zu fahren. Aber nun hatten die Frauen weniger Hilfe beim Zusammenrechen, und der Wirrwarr wurde vollständig. Und alle rannten dahin und dorthin, denn sie hatten niemand über sich, der ihnen befahl.

Das Wetter hielt auch noch die Nacht hindurch an, es war ein langmütiges Wetter. Wenn jetzt nur kein Tau mehr fiele, dann käme mehr Heu herein, vielleicht das ganze Heu. Ah, vielleicht ging alles gut!

Es kamen viele Angelsachsen, und: Solem, der Blaugipfel? sagten sie. Das reizte sie und arbeitete in ihren perversen Sportgehirnen; vorsichtig hatten sie sich an allen Herbergen auf ihrem Weg vorbeigeschlichen und waren bis hierher gelangt, ohne festgehalten zu werden. Da steht nun der blaue Gipfel, dieser in den Himmel ragende Mast. Oh! Sie zogen los, Solem konnte ihnen kaum folgen, sie wären vor Scham in die Erde gesunken, wenn sie nicht auf dieser ausgezeichneten Unglücksstelle hätten stehen können, an diesem vortrefflichen Abgrund. Einige wollten den Blaugipfel machen oder nie mehr einen frohen Tag im Leben haben, andere wollten sich nur an dem Todesschritt des Rechtsanwaltes angeilen, wollten hinunterschreien und einer Antwort entgegenstarren, wollten auf der äußersten Kante stehen, so daß sie ihre Zehen auf den Tod setzten. Oh, spute dich, Solem!

Wer nichts ist so schlimm, daß es nicht auch für etwas gut wäre, jetzt verdiente das Sanatorium willkommenes Geld. Paal lebte wieder auf, und die Furchen in seinem Gesicht glätteten sich. Ein Mann, der etwas taugt, wird gut und fleißig in guten Zeiten, in schlechten trotzt er nur. Der Mann, der in schlechten Zeiten nicht trotzt, taugt nichts, mag er untergehen! Paal trank nicht mehr, er interessierte sich sogar für die Heuernte und kam nun an Solems Stelle aufs Feld hinaus. Wäre er nur früher draußen gewesen, als das Wetter langmütig war! Jedenfalls aber fing Paal am rechten Ende an, jetzt bereute er es, daß er die schlechteren Wiesen den Häuslerbauern überlassen hatte, die gewohnt waren, sie für den halben Anteil abzuernten; dieses Jahr hätte er sie gern selbst gehabt. Aber er hatte sein Wort bereits gegeben, daran war nichts mehr zu ändern.

Und im übrigen regnete es jetzt. Die Heueinfuhr hatte ein Ende, selbst mit dem Aufheinzen mußte aufgehört werden. Draußen lag und stand noch das Winterfutter für drei Kühe.

*

Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis sich der Reiz der Neuheit des Sanatoriums »Torezinnen« wieder verlor. Die Zeitungsleute telegraphierten und schrieben von anderen herrlichen Unglücken, und der Tod auf dem Blaugipfel war nichts mehr. Es war ein Rausch gewesen, und jetzt kam der Tag danach.

Der dänische Gipfelbesteiger gab einfach nach. Er schnürte seinen Rucksack und ging wie alle Leute über das Gebirge, ohne sich mit dem Blaugipfel abzumühen. Nein, diese ganze Tollheit, die er nun in der letzten Woche erlebt hatte, hatte ihn Vernunft gelehrt.

Und die Touristen strömten an andere Orte.

Was habe ich ihnen getan, dachte Paal da wohl, weil sie jetzt wieder fortbleiben? War ich zu viel auf dem Felde und zu wenig zu Hause bei ihnen? Aber ich grüßte doch demütig und ließ meinen Knecht von der Arbeit fort, ihnen zulieb …;

Dann kamen zwei Jünglinge, es waren Sportsmänner bis in die Fingerspitzen und sie sprachen nur vom Segeln, Radfahren, Fußball, es waren norwegische Sprößlinge, sie wollten Ingenieure werden – das junge Norwegen. Auch sie wollten, so gut es ging, auf den Blaugipfel, sie mußten doch mit dem Fortschritt gehen. Ach, aber sie waren so jung, sie bekamen Angst, als sie unterhalb des Gipfels standen und hinaufblickten. Aber Solem, der Bursche, er hatte in der Gesellschaft der Touristen mehr als einen Kniff gelernt: er zog sie herrlich hinauf, die beiden Sprößlinge und bekam Geld dafür, daß er ihre Untüchtigkeit nicht ausplauderte. Dann war alles gut, die Sprößlinge kamen wieder herunter zu uns und brüsteten sich und zeigten, daß sie Sportsgeist in sich hätten; der eine brachte einen blutigen Fetzen vom Berg mit herunter und sagte, indem er ihn wegschleuderte:

Das ist der Rest von eurem abgestürzten Rechtsanwalt.

Hahahaha – i! lachte der andere Sprößling.

Ja, sie waren in Sportskreisen schon fabelhaft schneidig geworden.

*

Es regnete drei Wochen lang, dann setzte es zwei Tage aus, und dann regnete es wieder zwei Wochen lang. Die Sonne war nicht zu sehen, der Himmel war unsichtbar, auch alle Bergspitzen waren fort, wir sahen nur Regen. Und auf dem Torezinnen-Hof leckten schon mehrere Dächer.

Das Heu, das immer noch auf den Wiesen ausgebreitet lag, war schwarz und verfault und jenes, das auf Heinzen stand, war heiß geworden und verdorben.

Die Häuslerbauern hatten ihr Heu während des langmütigen Wetters unter Dach gebracht. Sie hatten es auf ihrem Rücken getragen, Mann, Weib und Kinder.

Die Bergener und Frau Brede mit den Kindern sind abgereist. Die kleinen Mädchen verneigten sich und dankten mir, weil ich sie in den Bergen herumgeführt und ihnen ein wenig erzählt hatte. Dann fuhren sie ab. Hier im Sanatorium ist es jetzt leer. Der Adjunkt Höy und Frau Molie waren die letzten, die uns vorige Woche verließen, sie reisten jedes seinen eigenen Weg, obwohl sie in dieselbe Kleinstadt sollten, er ging durch die Ortschaft und machte einen langen Umweg, sie wanderte über das Gebirge. Es ist jetzt recht still bei uns, aber Fräulein Torsen ist noch da.

Warum reise ich nicht ab? Ich weiß nicht. Weshalb fragen? Hier bin ich nun einmal. Hast du jemand fragen hören: Wieviel ist ein Nordlicht? Schweig stille.

Und wohin sollte ich, wenn ich abreiste? Du glaubst vielleicht, ich will wieder in die Stadt? Oder du glaubst, ich sehne mich nach meiner Gamme und dem Winter und nach Madame zurück? Ich sehne mich nach keinem bestimmten Ort, ich sehne mich einfach nur.

Natürlich müßte ich jetzt alt genug sein, um zu begreifen, was alle gescheiten Norweger begreifen, daß in unserem Land jetzt alles den richtigen Weg geht. Sieh, die Zeitungen schreiben ja von dem glänzenden Aufschwung, den das Großtal genommen hat, seit der Automobilverkehr eröffnet ist. – Sollte ich denn nicht dorthin reisen und vergnügt sein?

Aus alter Gewohnheit bleibe ich noch hier und interessiere mich für die wenigen Zurückgebliebenen von uns; Fräulein Torsen ist hier.

Fräulein Torsen, was ist weiter mit ihr? Nichts, allerdings, aber sie reist nicht ab, sie bleibt hier und vollendet das Bild des Typus Torsen, des Kindes aus dem Mittelstande, das während seines ganzen Heranwachsens Schulbücher gelesen hat, das über Artemis cotula gelernt, aber seine Natur unterernährt hat. Das tut sie hier.

Ich erinnere mich, vor einigen Wochen, in den Tagen der Angelsachsen hier, da kam ein Sprößling mit einem blutigen Leinwandfetzen vom Gebirge herunter, er warf ihn zur Erde und sagte: Das ist der Rest von eurem abgestürzten Rechtsanwalt! Fräulein Torsen hörte das, aber sie verzog keine Miene. Nein, das Unglück mit dem Rechtsanwalt nahm sie nicht einen Augenblick schwer, im Gegenteil, sie schrieb sofort an einen anderen Freund. Als er ankam, zeigte es sich, daß er ein flotter Wildfang war, eine »freistehende Figur«, wie er sich im Fremdenbuch nannte. Ich habe ihn noch nicht erwähnt, denn er war unbedeutender als sie, ja, unbedeutender als wir alle. Er war bartlos und ging mit bloßem Hals. Gott weiß, ob er nicht bei einem Theater oder beim Film war. Fräulein Torsen ging ihm entgegen, als er ankam, und bot ihm Willkommen und dankte ihm dafür, daß er gekommen war. Also hatte sie ihm sicher geschrieben. Aber warum reiste Fräulein Torsen nicht ab? Warum wuchs sie hier fest und veranlaßte sogar andere, jetzt hierher zu kommen? Und sie, die erste, die uns im Sommer hatte verlassen wollen! Da steckte etwas dahinter.

 

22

Ich denke darüber nach und ahne, daß es mit Fräulein Torsens Liebesleben zusammenhängt, wenn sie nicht abreist, der Grund ist, daß der Bursche Solem noch hier ist. Wie mystisch war das, wie war dieses schöne Mädchen verpfuscht! Ich sah sie nun in letzter Zeit, groß und stolz, aufrecht, unberührt, wie sie sich absichtlich Solem näherte und seinen Gruß nicht erwiderte. Hatte sie ihn im Verdacht der Mitschuld am Tode des Rechtsanwalts und scheute sie ihn deshalb? Keine Spur, sie scheute ihn weniger als zuvor, ließ ihn sogar ihre Briefe zur Post mitnehmen, was sie früher nicht getan hatte. Nein, aber sie war ohne Gleichgewicht, das war sie, ein armes Menschenkind, auf Abwege geführt. Wenn sich die Gelegenheit dazu bot, sudelte sie heimlich mit Teer, mit Mist auf der Wiese, sie roch an Verfaultem und ekelte sich nicht.

Eines Tages, als Solem wegen des Pferdes, das nicht still stehen wollte, unnötig derb fluchte, warf sie ihm einen Blick zu, zitterte und wurde blutrot. Wer sie beherrschte sich sofort und fragte Josefine:

Soll dieser Mann nicht bald fortkommen?

Doch, antwortete Josefine, in ein paar Tagen.

Obwohl das Fräulein diese gute Gelegenheit dazu benutzt hatte, um so gleichgültig zu fragen, war es sicher eine wichtige Frage für sie. Sie entfernte sich schweigend.

Fräulein Torsen reiste nicht ab, nein, sie war erotisch an Solem gebunden. Solems Verzweiflung, Solems große Leidenschaft, die sie selbst angefacht hatte, seine Roheit, der Mann in ihm, seine zugreifenden Hände, seine Blicke, – sie witterte an all diesem und verspürte dabei innerlich eine Erregung. Sie war so irre geführt und war so unnatürlich zugerichtet, es befriedigte ihren Liebestrieb schon, diesen Menschen in der Nähe zu haben. Der Typus Torsen lag sicher abends in seinem einsamen Haus und labte sich daran, daß in einem ganz anderen Haus ein Mann lag und sich in Sehnsucht nach ihr wand.

Und der Freund, der Komödiant? Er glich dem anderen in keiner Weise. In ihm war kein Auerochse, keine Tatkraft, nur Theaterflottheit …;

*

Jawohl, ich bin immer noch hier und werde kleinlich und klein vom Leben, und ich frage Solem nach dem alten Unglück aus. Wir sind zu zweit im Schuppen.

Warum er gelogen und gesagt hätte, daß der Däne an jenem Unglückssonntag auf den Berggipfel wolle?

Solem sah mich an und verstand nichts.

Ich wiederholte es.

Solem leugnete es, ein Wort darüber gesagt zu haben.

Ich stand dabei und habe es gehört, sagte ich.

Nein, das ist nicht wahr, erwiderte er.

Pause.

Dann kollerte er durch den Schuppen, zusammengerollt, ohne Gestalt, nur noch eine Art Umfang, und es dauerte eine Weile, bis er wieder auf den Beinen war. Als er sich aufgerichtet hatte, blickten wir einander an, während er dastand und seine Kleider ordnete. Da mochte ich nicht mehr mit ihm sprechen, sondern ließ ihn stehen. Er kam ja doch bald fort.

Nachdem das erledigt war, war alles langweilig und wieder leer, und um mich selbst zu verspotten, gehe ich abseits und schreie: Ziegelsteine für das Schloß! Das Kalb ist heute viel frischer! Als das erledigt war, trieb ich andere unnütze Dinge, und als mein Geld allmählich zu Ende ging, schrieb ich einen Brief an meinen Verleger und machte ihm weis, daß ich ihm jetzt bald ein unglaublich merkwürdiges Manuskript senden würde. Kurz und gut, ich benahm mich wie ein Verliebter. Es waren alle Symptome da.

Und um den Stier bei den Hörnern zu packen: du hast mich sicher im Verdacht, daß ich aus eigenem Interesse bei Fräulein Torsen verweile? In diesem Fall, finde ich, hätte ich es in diesen Blättern gut verheimlicht, daß ich jemals etwas anderes als ein Objekt, ein Thema in ihr sah; blättere du nur zurück und sieh nach! Man verliebt sich in meinem Alter nicht, ohne grotesk zu werden, ohne die Pharaonen zum Lachen zu bringen.

Fertig damit!

Aber mit etwas werde ich nicht fertig: mich zurückzuziehen und einsam in meinem Zimmer zu sitzen und es gut und dunkel rings um mich zu haben. Das ist trotz allem erst die letzte Freude.

*

Ein Intermezzo.

Fräulein Torsen und ihr Komödiant kommen gegangen, ich höre ihre Schritte und höre sie sprechen; da es aber jetzt am Abend dunkel ist, kann ich sie hier, wo ich sitze, nicht sehen. Sie bleiben vor meinem offenen Fenster stehen, sie lehnen sich daran, und der Komödiant spricht, bittet sie um etwas, was sie nicht will, versucht sie mitzuziehen, sie aber wehrt sich.

Da wird er heftig:

Zum Teufel, warum hast du mir dann geschrieben? fragt er böse.

Und sie fängt zu weinen an und sagt:

So bist du also nur darum gekommen, huhu. Aber ich bin gar nicht so, du kannst mich stehen lassen, ich tue dir nichts.

Ich ein Frauenkenner? Nur Einbildung. Prahlerei. Ich griff jetzt ein, weil ihr Weinen so schmerzlich war; um mich bemerkbar zu machen, rückte ich meinen Stuhl und räusperte mich.

Er wurde sofort aufmerksam, gab ein Zeichen zum Schweigen und wollte horchen; aber sie sagte:

Nein, es war nichts …;

Doch, freilich war es etwas, und sie wußte, was es war. Aber nicht zum erstenmal wandte Fräulein Torsen diesen Trick mir gegenüber an, sie hatte schon früher so getan, als sei sie außer Hörweite, und hatte dann delikate Szenen aufgeführt. Und jedesmal hatte ich mir gelobt, nicht einzugreifen; aber früher hatte sie nie geweint, jetzt aber weinte sie.

Warum machte sie diese Kunststücke? Um sich in meinen Augen rein zu waschen, in meinen Augen, den Augen eines gesetzten Mannes, um zu beweisen, daß sie so gut war, daß sie so sittsam war. Aber liebes Kind, das wußte ich vorher, ich habe es deinen Händen angesehen! Du bist so voller Unnatur, daß du in deinem siebenundzwanzigsten Jahr unverheiratet hier umhergehst und unfruchtbar und unerschlossen bist!

Das Paar entfernte sich.

*

Und mit einer anderen Sache werde ich nie fertig: mich zurückzuziehen und in der Einsamkeit im Wald zu sitzen und es schön und dunkel um mich herum zu haben. Das ist die letzte Freude.

Das Hohe, das Religiöse an der Einsamkeit und an der Dunkelheit macht, daß man sie braucht. Nicht aber, weil man nur noch sich selbst ertragen kann, geht man von den andern fort, nein, nein. Das jedoch ist das Mystische daran, daß alles einem von ferne entgegenbraust und doch alles nahe ist. Man sitzt in der Mitte einer Allgegenwart. Das ist wohl Gott. Das ist man wohl selbst, als Glied von allem.

Was will mein Herz, was sucht mein Fuß?
Soll ich den Wald nicht mehr sehen?
Es war mein Heim, das ich eben verließ,
Ich wandere durch die Nacht zur Stadt
Und bleibe plötzlich stehen.

Eine schlafende Welt seh ich vor mir,
Sie klingt schweigend in meinem Ohre nun,
Diese steinerne Welt ist groß und grau
Und jeden drängt es zu ihr hin,
Und ich, was soll ich tun?

Lul, lul? Läuten Glocken im Berge?

Da kehr' ich zurück zum tiefen Wald
In später Mitternachtszeit.
Weiß wo eine Hecke und ihren Duft,
Dort lege ich den Kopf ins Gras
Und schlafe im Walde weit.

Lul, lul! läuten die Glocken im Berge.

Romantik? Ja. Nur Sentimentalität und Stimmung und Verse und Nichts? Ja.

Das ist die letzte Freude.

 

23

Jetzt kommt die Sonne. Sie kommt nicht dunkelglühend und königlich, sie kommt kaiserlich, denn sie blendet. Das begreifst du nicht, kleiner Freund, es ist dasselbe, was dir jetzt gegenwärtig von der Sprache zusammengebraut wird. Jetzt aber steht eine kaiserliche Sonne am Himmel.

Es ist ein schöner Tag, um in den Wald zu gehen; jetzt wachsen die Pilze, und da stehen nun diese gelben Schöpfungen und sind plötzlich da. Noch vor kurzer Zeit waren sie nicht hier, oder ich sah sie nicht, oder sie hatten die Farbe des Bodens. Es ist etwas Ungebornes an ihnen, sie gleichen einem Fötus in frühem Stadium; drehe ich sie aber um, so sind sie Wunder der Vollkommenheit.

Hier sind Reizker, Champignons, Kuhschwämme. Hier sind Fliegenschwämme, mein Gott, wie sie dastehen und zu der lieben Familie der Champignons gehören und nicht dergleichen tun – und sind so gefährlich! Hast du je solch einen ungeheuren Verstand gesehen! Ein Unkraut, ein Verbrecher, die Lasterhaftigkeit in Person, aber krankhaft prächtig, schimmernd, der Kardinal der Schwämme. Ich breche einen Bissen davon ab und kaue ihn, er schmeckt gut und weich auf der Zunge, aber da ich feige bin, spucke ich ihn wieder aus. War es nicht der Fliegenschwamm, der Berserker machte? In der Morgenröte unserer Zeit aber sterben wir an einem Haar im Halse.

Die Sonne geht schon unter. Auf den Höhen, in weiter Ferne, weidet die Herde, aber jetzt kommt sie heim, ich höre es an den Glocken, daß sie auf dem Wege ist. Helle Glocken und tiefe Glocken, manchmal klingen sie zusammen, so daß es einen Wohllaut gibt, eine Klangfigur, das ist schön.

Und ebenso schön ist es, alle Gräser und kleinen Blumen und Pflanzen anzusehen. Dort, wo ich liege, steht eine kleine Hülsenpflanze, sie ist so merkwürdig zart, ein klein wenig Samen guckt heraus, – oh, Herr du mein Gott, da steht sie und wird Mutter. Ein trockener Zweig hat sich in ihr verfangen, und ich befreie sie davon. Das Leben durchströmt sie, die Sonne hat sie endlich heute erwärmt und sie zu ihrer Bestimmung geführt. Seht, dieses kleine gewaltige Wunder!

Jetzt ist Sonnenuntergang, süß und schwer streicht ein Rauschen durch den Wald und beugt ihn nieder; es ist Abend.

Ich liege noch ein oder zwei Stunden hier, die Vögel sind seit langer Zeit zur Ruhe gegangen, eine dichte und weiche Dunkelheit senkt sich herab …; Als ich heimgehe, tasten sich meine Füße vorwärts, und ich halte die Hände vor mich hin, bis ich auf freies Land hinaus komme, dann wird es ein wenig heller. Ich gehe durch das ausgebreitete Heu, es ist zäh und schwarz, ich gleite darin aus, es ist schon verfault. Als ich mich den Häusern nähere, begegnen mir Fledermäuse, sie stiegen so lautlos wie mit Flügeln aus Schaum; so oft sie an mir vorbeikommen, überläuft es mich kalt.

Dann bleibe ich plötzlich stehen.

Dort geht ein Mann. Ich sehe ihn sich von dem neuen Gebäude abheben. Er geht in einem Mantel, ähnlich dem Regenmantel des Komödianten, aber es ist nicht der kleine Komödiant selbst. Er geht dort hinein, nanu, geradeaus hinein. Es ist Solem.

Dort schläft doch sie, denke ich, jawohl, na. Allein in diesem großen Gebäude, im Südgebäude, Fräulein Torsen, jawohl. Und jetzt ist Solem hineingegangen.

Ich bleibe stehen, wo ich stehe, um zur Hand zu sein, um zu Hilfe zu eilen, ich bin ein Mensch, kein Unmensch. So vergeht eine Weile. Er ist nicht einmal sehr leise, ich höre ihn den Türschlüssel drinnen umdrehen. Aber jetzt müßte man einen Ruf hören, wie? Aber ich höre nichts, nichts; ein Stuhl scharrt ein wenig auf dem Boden, aber kein Lärm, na.

Aber, großer Gott, wer weiß, worauf er verfällt, dieser Solem? Er kann etwas wollen, ja, ihr irgend etwas antun, sie mit Gewalt überfallen? Soll ich nicht ans Fenster klopfen? Ich – warum? Aber beim ersten Schrei bin ich zur Stelle, meine Hand darauf!

Kein Schrei.

Die Stunden vergehen, ich habe mich niedergesetzt, ich wache. Selbstverständlich will ich nicht meines Weges gehen und eine Hilflose im Stich lassen; aber die Stunden verrinnen und verrinnen. Eine gründliche Geschichte da drinnen, keine Kleinigkeit, nein; jetzt kommt schon bald das Morgengrauen. Es fällt mir ein, daß er sie tötet, daß er sie vielleicht schon getötet hat, ich werde ängstlich und will soeben aufstehen, da dreht sich drinnen wieder knackend der Schlüssel, und Solem kommt heraus. Er läuft nicht, er geht den Weg, den er gekommen ist, wieder zurück, er geht hinunter bis zu meinem eigenen Vorraum, dort nimmt er den Mantel des Komödianten ab und hängt ihn wieder hin, wo er vorher gehangen hatte, und kommt dann heraus. Aber jetzt ist er nackt. Er war unter dem Mantel unbekleidet gewesen. War das möglich? Naja, keine Hindernisse, keine Hemmungen, gewaltig unbekleidet; Solem hatte alles bedacht. Jetzt geht er splitternackt die wenigen Schritte zu seiner Kammer.

Nein, dieser Solem!

Ich sitze da und denke und sammle mich und komme zu Kräften. Was war jetzt geschehen? Es ist immer noch still im Südbau, aber tot ist sie nicht, das Fräulein, das merke ich daran, daß Solem ohne Furcht in seine Kammer geht, Licht anzündet und sich schlafen legt.

Es erleichtert mich, daß sie am Leben ist, erfrischt mich, ich werde unnötig mutig dadurch; hat er sich unterstanden, sie zu töten, so denke ich, dann zeige ich ihn an. Dann schone ich ihn nicht. Und dann klage ich ihn sowohl ihres Todes als auch des Todes des Rechtsanwalts an. Ja, ich gehe noch weiter, ich zeige auch andere an, ich zeige den Dieb vom Winter her an, ihn, der einem Handelsmann Speckseiten stahl und mir aus seinem Sack Tabackrollen verkaufte. Denn dann schweige ich überhaupt nicht, nein …;

 

24

Am Morgen kam Solem in die Küche, erhielt sein Essen, und Paal und die Frauenzimmer rechneten mit ihm ab, dann ging er in seine Kammer zurück. Er übereilte sich nicht, es war nicht mehr früh am Tage, aber er schnürte seine Sachen sorgfältig zusammen, ehe er ging. Zögernd sah er im Vorbeigehen durch die Fenster des Südbaus.

Dann war Solem fort.

Bald darauf kam Fräulein Torsen zum Frühstück herein. Sie fragt sofort nach Solem. Warum war das Fräulein wohl so auf Solem versessen? Sie hatte sich sicher mit Absicht in ihrem Zimmer verspätet, um ihm Zeit zum Fortgehen zu lassen, sie hätte schon lange da sein können, wenn sie etwas von ihm gewollt hätte. Aber war es nicht am sichersten, wenn sie ein wenig aufgeregt hereinkam? Denn ich Nachtvogel konnte ja nachts etwas gesehen haben.

Wo ist Solem? fragte sie entrüstet.

Ja, Solem ist schon fort, antwortete Josefine.

Na, das ist sein Glück!

Wieso? fragte Josefine.

Ach, er war ein entsetzlicher Bursche!

So empört war sie. Aber sie wurde im Laufe des Tages ruhiger, die Wut verrauchte, es gab weder Weinen noch Klagen, nur ihren stolzen Gang hatte sie nicht, sie saß am liebsten still da.

Doch auch das ging vorüber, sie erholte sich rasch und gut nach Solems Abschied, nach ein paar Tagen war sie wie zuvor. Sie machte Ausflüge, sprach mit uns und lachte, ließ sich vom Komödianten wie in den Zeiten des Rechtsanwaltes auf der Schaukel schaukeln …;

Ich ging am Abend aus, es war schönes Wetter und dunkel dazu, und kein Mond, keine Sterne. Der kleine Reisafluß rauschte leise im Wald, das war alles, was ich hörte, und über allen Gipfeln war Gott und Goethe und Ruhe an diesem Abend. Als ich wieder heimkam, trat ich, meiner Stimmung entsprechend, auf den Fußspitzen auf und zog mich auch im Dunkeln aus.

Da kommen sie wieder an mein Fenster, diese verrückten Menschen, das Fräulein und der Komödiant. Was nun? Diesen Platz aber hatte nicht er gewählt, das war sicher, den hatte sie gewählt und war dabei davon ausgegangen, daß ich wieder drin sei. Jetzt kam etwas, was ich hören sollte.

Warum sollte ich hören, daß er sie immer noch bat?

Jetzt will ich der Sache ein Ende machen, sagte er, ich reise morgen ab.

Jaja, erwiderte sie …; Nein, nicht heute abend, sagte sie plötzlich, mein Freund, lieber ein ander Mal. Willst du? Ein anderes Mal also? Wir wollen morgen darüber reden. Gute Nacht.

Da wird es mir zum erstenmal klar: sie will mich gesetzten Mann aufreizen. Mich, der hier liegt, damit ich ebenso verrückt werde wie die andern! Das ist es! Und jetzt denke ich zurück an damals, als der Rechtsanwalt und als der Kaufmann Batt die ersten Tage hier waren, ich erinnere mich, daß sie mir ein gutes Wort oder einen Blick schenkte, über die Grenze des Schicklichen hinaus, nicht auffallender, als ihr Stolz es gerade zuließ. Nein, sie hatte nichts dagegen, auch das Alter zappeln zu sehen. Und hör nun zu: früher war es ihr darum zu tun gewesen, ein ehrbares Neutrum zu sein, das war jetzt vorbei; stand sie denn nicht in diesem Augenblick da und leistete nur schwachen Widerstand, stellte eine Möglichkeit in Aussicht? Nicht heute abend, aber ein anderes Mal! sagte sie. Jawohl, eine geschmeidige Weigerung, ein kleiner Aufschub, und ich sollte das hören. Sie war ganz verwildert, aber sie war schlau, wie ein Geisteskranker schlau ist. Aber sie war so verwildert.

Liebes Kind, Pharao lacht vor der Pyramide, da steht er und lacht. Er würde auch über mich lachen.

*

Tags darauf sitzen wir drei Pensionäre in der Feuerstube. Das Fräulein und der Komödiant lesen in einem Buche, ich in einem andern.

Willst du, sagt sie zu ihm, willst du mir einen großen Gefallen tun?

Sehr gern!

Und auf das Feld gehen, wo wir heute saßen, und meine Gummischuhe holen?

Da ging er, ihr einen großen Gefallen zu tun. Er sang den neuesten Schlager, während er über den Hofplatz ging, und war auf seine Art vergnügt.

Sie wandte sich an mich:

Sie sind so still?

Ja?

Ja, Sie sind so still.

Nun sollen Sie etwas hören, sage ich und fange an, aus meinem Buch vorzulesen. Ich las ein ziemlich langes Stück.

Sie hatte mich mehrere Male unterbrechen wollen, schließlich sagte sie ungeduldig:

Jaja, aber was sollte ich denn hören?

»Die Musketiere.« Sie müssen doch zugeben, daß das lustig ist.

Ich habe es schon früher gelesen, sagte sie. Auch jetzt verstrickte sie aufgeregt die Finger und riß sie wieder auseinander.

Dann sollen Sie etwas hören, was Sie noch nicht gelesen haben, sagte ich da und ging in mein Zimmer hinüber und holte einige Zeilen, die ich geschrieben hatte. Es waren nur ein paar Gedichte, ach ja, es war nichts Großartiges, sondern nur ein paar kleine Verse, kleine Gedichte. Nicht etwa weil – ich pflege so etwas nicht vorzulesen, aber ich griff in der Eile danach, weil ich verhindern wollte, daß sie sich erniedrigte und noch mehr mit mir sprach.

Und während ich ihr noch die Gedichte vorlas, kam der Komödiant zurück.

Es waren keine Gummischuhe dort, sagte er.

So! antwortete sie geistesabwesend.

Nein, ich habe wirklich überall gesucht, aber –

Da stand sie auf und ging.

Ein wenig erstaunt sah er ihr nach und saß einige Minuten still da. Dann fiel ihm etwas ein:

Ich glaube übrigens, sie muß ihre Gummischuhe in ihrem Gang haben, sagte er und eilte ihr nach.

Ich blieb zurück und dachte darüber nach. Es war etwas Süßes in ihr, als sie sagte: Ja, Sie sind so still. Durchschaute sie mich und mein Lesen? Natürlich. Sie war nicht dumm. Offenbar war ich dumm und sonst niemand, ein Sportsmann würde über mich verzweifeln. Manche betreiben Eroberersport und betreiben Liebessport, sie finden das unterhaltend; ich habe niemals irgendeinen Sport betrieben. Ich habe geliebt und gelitten und war töricht und stürmisch, wie mich meine Natur eben trieb, mehr habe ich nicht getan, ich bin ein altmodischer Mensch. Und jetzt sitze ich hier im Schatten des Abends, im Abend des Fünfzigjährigen. Fertig damit!

Da kam der Komödiant wieder in die Feuerstube, verzagt, verwirrt: sie hatte ihn fortgejagt, sie weinte.

Ich wunderte mich nicht darüber, das war die Ausdrucksweise dieses Typs.

Aber haben Sie schon so etwas gehört, sie befahl mir zu gehen! Ich reise morgen ab.

Haben Sie die Gummischuhe gefunden? fragte ich.

Natürlich! Sie standen ja in ihrem eigenen Gang. Da sind sie! sagte ich zu ihr. Jaja, antwortete sie. Sie stehen ja mitten vor deiner Nase, sagte ich. Jaja, geh deines Weges! erwiderte sie und weinte. Da ging ich.

Es wird schon vorübergehen.

Ja, glauben Sie das? Denn es muß doch wohl vorübergehen? Nein, niemand versteht sich auf eine Frau, das ist nun meine Ansicht. Aber es ist ein mächtiges Geschlecht, das Frauengeschlecht, der Teufel, ein mächtiges Geschlecht. Das ist es wahrhaftig.

Er hatte keine Ruhe, saß nur kurze Zeit da und ging dann wieder hinaus.

Am Abend war das Fräulein schon vor uns anderen im Speisezimmer, sie saß da, als wir kamen, und wir nickten uns alle ein wenig zu. Gegen den Komödianten war sie freundlich und machte ihre Heftigkeit vom Nachmittag wieder gut.

Er setzt sich zu Tisch und findet in seiner Serviette ein Stück Papier, einen Zettel, beschrieben und gefaltet, einfach in der Serviette. Er ist erstaunt und läßt alles fahren, was er in den Händen hält, um das Papier zu entfalten und zu lesen. Ein Ausruf und ein Lächeln, dann richtet er seine frohen blauen Augen auf das Fräulein, da sie aber mit gerunzelter Stirne niederblickt, steckt er den Zettel in die Westentasche.

Da wird es ihm wohl klar, daß er sie bloßgestellt hat, er muß das wieder gutmachen, irgend etwas tun:

Na, da steht ja das Essen! sagt er und tut so, als machte er sich mit allen Kräften daran.

Warum hatte sie geschrieben? Sie hätte doch mit ihm sprechen können. Er saß ja auf der Freitreppe, als sie aus ihrem Zimmer kam und vorbeiging. Hatte sie berechnet, daß der gute Komödiant sich nicht beherrschen könnte, sondern einen Dritten in das Geheimnis einweihen würde?

Aber warum weiter forschen und fragen? Der Komödiant aß nicht viel, aber er sah dennoch sehr glücklich aus. Wahrscheinlich stand ein Ja auf dem Zettel, ein Versprechen; sie würde ihn wohl nicht mehr fortjagen.

 

25

Ein paar Tage später wollen sie abreisen. Sie reisen zusammen, das ist das Ende.

Ich könnte sie beide beklagen, das Leben ist gut, aber das Leben ist streng. Jedenfalls war ein Resultat erzielt worden, sie hatte nicht umsonst nach ihm geschrieben, und er war nicht umsonst gekommen.

Dieser Akt war also aus. Aber es sind mehrere Akte, noch viele Akte.

Sie war gefallen: nachdem sie geraubt worden war, verschenkte sie sich, warum jetzt noch sparen! Und das ist das Schicksal dieses Typs, er wirft sich immer mehr und mehr fort und spart immer weniger und weniger, warum jetzt noch sparen! Das kann beim Äußersten enden: von einem halben Standpunkt geht es zu einem ganzen über. Der Typus ist bekannt, man findet ihn in Sanatorien, in Pensionen, dort hat er seinen Standpunkt, dort blüht er.

Da kommt nun die Dame mit ihren verschlissenen Jugendjahren, ihrem Examen und ihrer »Selbständigkeit«, sie kommt mehr oder weniger verquält vom Kontorstuhl oder vom Katheder und sieht sich plötzlich in ein süßes und ungeheures Nichtstun versetzt, mit unbegrenzten Mengen von Konserven zu den Mahlzeiten. Die Gesellschaft rings um sie wechselt beständig, Touristen kommen und gehen, sie überliefert sich von Hand zu Hand, zu Ausflügen und Gesprächen, der Ton ist »wie auf dem Lande« . Dieses Leben ist die reine Ungebundenheit, ist frei von jeder vernünftigen Ansicht. Sie findet nicht einmal genügend Schlaf, durch die dünne Holzwand hört sie jeden Laut ihres Nachbarn im Nebenzimmer und nachts schlagen kommende und abreisende Angelsachsen die Türen auf und zu. In kurzer Zeit ist sie abnorm, der Menschen überdrüssig, voll Widerwillen gegen sich selbst und gegen den Ort; käme nur ein ordentlicher Draufgänger her, dann zöge sie mit ihm los! So gibt sie sich mit dem Nächstbesten ab, mit dem Fremdenführer des Platzes, umschwärmt ihn und wickelt Lappen um seine Finger, schließlich gibt sie sich mit einem gewissen Irgendjemand ab, der heute auf den Hof kam.

Das ist der Typus Torsen.

Und jetzt in diesem Augenblick geht sie nun in ihr Zimmer und sammelt die Reste ihrer selbst und macht sich bereit, den Ort zu verlassen – nach beendetem Sommer. Ach ja, sie braucht lange Zeit dazu, es sind so viele Reste da, in jedem Winkel einer. Unterdessen aber tröstet sie sich vielleicht damit, daß sie »den Genitiv von mensa« weiß.

Mit dem Komödianten ist es nicht so schlimm, er hat nichts zugesetzt, er ist so lose und frei; er verliert nichts, und es ist nichts an ihm verloren. Er reist so ab, wie er gekommen ist, vergnügt, leer und freundlich. Noch dazu hat er sich ein wenig besser herausgemacht, da er nun wirklich eine Eroberung hinter sich hat. Nun fragt es sich, ob er mit dem Typus Torsen nur frohe Stunden erleben wird!

Augenblicklich treibt er sich auf dem Hof umher und wartet, während sie sich fertigmacht. Als sie einmal in der Tür sichtbar wurde, rief er ihr zu:

Nun, kommst du nicht bald? Wir wollen doch über das Gebirge gehen?

Sie gab zurück:

Ich kann doch nicht barhaupt gehen.

Er wurde ärgerlich:

Nein, freilich, du mußt den Hut aufsetzen, und das kostet Zeit. Ach!

Da maß sie ihn mit einem schiefen Blick und sagte: Du bist so – vertraulich.

Hätte er nun mit gleicher Münze heimgezahlt, so hätte es wieder Tränen und Erbitterung gegeben und geheißen: Geh, geh allein! Und mit Versöhnen und Umarmen hätte man sich um eine Stunde verspätet. Der Komödiant jedoch änderte den Ton und antwortete seiner Natur entsprechend nachgiebig:

Vertraulich? Naja, vielleicht. Entschuldige!

Dann trieb er sich wieder auf dem Hof umher, summte dazwischen und schwang seinen Stock. Ich bemerke seine merkwürdig weiblichen Knie, seine ungewöhnlich dicken Schenkel, es war etwas Unnatürliches an dieser Dicke, als passe sie nicht zu seinem Geschlecht. Er trat auch seine Stiefel schief nach innen. Na, und mit bloßem Hals ging er, und der Regenmantel hing fürstlich über seinen Schultern und flatterte, obwohl es nicht regnete. Dieser stolze Anblick war sehr komisch. Warum aber schlecht über diesen Regenmantel sprechen! Es war ja nicht er, der Besitzer selbst, der ihn mißbraucht hatte, nein, nein, über seinen Schultern hing er ja so unschuldig wie ein Christusmantel.

Warum über irgend etwas schlecht reden! Das Leben ist sehr gut, aber das Leben ist sehr streng. Ich denke: Wenn sie jetzt herauskommt, kann folgendes geschehen: Ich stehe da und warte nur auf diesen Abschied. Dann gibt sie mir die Hand und sagt Lebwohl. Warum sagen Sie nichts? fragt sie dann, zum Spaß und um flott zu sein. Um Sie nicht in Ihrer großen Verirrung zu unterstützen, antworte ich. Hahaha, lacht sie allzu laut und gezwungen, große Verirrung, danke! Und zorniger und zorniger wird sie, während ich gesetzt und väterlich bin und auf dem Boden des Rechtes stehe. Und dann sage ich noch folgende Denkwürdigkeit: Werfen Sie sich nicht mehr fort, Fräulein! Da hebt sie den Kopf, ja, da hebt der Typus Torsen den Kopf und antwortet bleich und gekränkt: Fortwerfen – ich verstehe Sie nicht? Jetzt aber könnte es ja sein, daß Fräulein Torsen, dieses im Grunde tüchtige und stolze Mädchen, einen klaren Augenblick hätte und überwältigt würde: Warum nicht, warum soll ich mich nicht fortwerfen, was ist jetzt noch zu sparen? Ich bin fortgeworfen, ich bin seit der Schulzeit fortgeworfen, und jetzt bin ich siebenundzwanzig Jahre alt …;

Meine eigenen Gedanken gehen mit mir durch, wie ich so dastehe, und ich wünsche mich fort. Vielleicht geht auch sie jetzt in ihrem Zimmer umher und wünscht mich fort.

Leben Sie wohl, sage ich zu dem Komödianten. Grüßen Sie bitte Fräulein Torsen, ich muß gehen.

Leben Sie wohl, sagt er und ergreift meine Hand etwas erstaunt. Können Sie nicht noch etwas warten? Ja, ich werde Fräulein Torsen grüßen. Leben Sie wohl.

Ich gehe den kürzesten Weg, um außer Sicht zu kommen, da ich aber jeden Winkel kenne, biege ich oberhalb des Hofes bald ab und suche mir eine gute Stelle aus. Von hier will ich die beiden fortgehen sehen. Sie mußte sich noch auf dem Hof verabschieden.

Ich muß daran denken, daß ich gestern zum letztenmal mit ihr gesprochen habe, daß wir nur einige Kleinigkeiten sagten, deren ich mich nicht erinnere, und heute nun habe ich nicht mit ihr gesprochen …;

Da kommen sie.

Seltsam – es lag schon etwas Zusammengehöriges über ihnen, sie gingen eins hinter dem andern den Gebirgspfad hinan, aber sie gehörten zueinander. Sie sprachen nicht zusammen; die notwendigsten Worte hatten sie wohl bereits gewechselt, das Leben war alltäglich für sie geworden, nun galt es, für einander brauchbar zu sein. Er ging voran, sie viele Schritte hinterher, das nahm sich gegen die steinige Berghalde so einsam aus. Was war auch aus ihrer hohen Gestalt geworden? Sie war jetzt gleichsam kleiner dadurch, daß sie den Rock hochgebunden hatte und einen Rucksack trug. Jedes von den beiden trug einen Rucksack, aber sie trug den seinen und er den ihren, wahrscheinlich hatte sie mehr Kleider mit und einen schwereren Rucksack. So hatten sie die Bürde ausgetauscht – wie würden sie später tauschen? Sie war ja keine Lehrerin mehr, und er war vielleicht nicht mehr bei einem Theater oder einem Film.

Die beiden wanderten den steinigen Berghang hinauf, auf nacktem Boden, kein Baum, nur Wacholder; am Hang, weit weg, rauscht der kleine Reisabach. Die beiden hatten ihre Siebensachen zusammengetan, und nun gingen sie und gingen; in der nächsten Karriolstation werden sie Mann und Frau sein und der Unkosten wegen nur ein Zimmer nehmen. Plötzlich richte ich mich auf und will – ich will also aus menschlichem Mitgefühl, ja aus Pflicht will ich ihr nachlaufen und sagen – irgend etwas erfinden, ein zufälliges Wort, will sagen: Gehen Sie nicht weiter! Das wäre in ein oder zwei Minuten getan, eine gute Tat also. Pflicht …; Da verschwinden sie hinter den Felsen.

Ingeborg hieß sie.

 

26

Ja, nun heißt es auch für mich wieder wandern, ich bin der letzte Gast im Sanatorium »Torezinnen«; die Zeit ist vergangen, heute morgen schneite es zum erstenmal, nassen, traurigen Schnee.

Auf dem Hof herrscht jetzt große Ruhe, und Josefine hätte wieder auf dem Klavier spielen und nett gegen den letzten Gast sein können; aber jetzt muß auch ich abreisen. Josefine hat übrigens keinen Grund, zu spielen und lustig zu sein, es ist in diesem Jahr nicht recht gut gegangen und wird im nächsten Jahr vielleicht noch schlimmer werden. Das sind keine hellen Aussichten. Aber es wird sich schon ein Rat finden lassen, sagt Josefine. Sie selbst trifft es nicht so sehr, sie hat Geld auf der Bank, Josefine, und dann ist es außer Zweifel, daß sie auf der andern Seite des Gebirges einen Liebsten hat.

Ja, Josefine wird immer durchkommen, sie sorgt für sich. Wie jetzt, als Fräulein Torsen und ihr Freund abreisten. Der Freund konnte seine Rechnung nicht bezahlen und sagte nur, er habe Geld erwartet, es sei aber nicht gekommen, und nun könne er seine Geschäfte nicht mehr länger hinausziehen. Jaja, aber wann würde dann die Rechnung bezahlt werden? Von der Stadt aus, ho, sofort natürlich, dort läge das Geld!

Aber es ist durchaus nicht sicher, daß wir das Geld bekommen – von ihm jedenfalls, meinte Josefine. Denn wir haben schon früher solch unsichere Kantonisten hier gehabt. Und da ärgerte es mich nun, daß er so gleichgültig draußen im Hof umherging und seinen Stock in die Luft warf und wieder auffing. Als nun Fräulein Torsen hereinkam und sich verabschiedete, sagte ich es ihr und fragte, ob nicht sie es für ihn auslegen könne? Da erschrak Fräulein Torsen gleich sehr und sagte, ob er selbst nicht bezahlt habe? Nein, antwortete ich, das hat er nicht, und dieses Jahr brauchen wir eben jeden Schilling, sagte ich, denn im Verhältnis zu den andern Jahren ist es heuer sehr schlecht gegangen. Ja, da sagte Fräulein Torsen dann, daß wir das Geld bekommen sollten, und wieviel es sei? Und ich sagte es ihr, da meinte sie, sie könne es jetzt nicht für ihn auslegen, aber sie wolle dafür sorgen, daß das Geld geschickt würde, darauf könnten wir uns verlassen. Und das glaube ich bestimmt, wir bekommen das Geld schon, wenn auch nicht von ihm. Denn Fräulein Torsen schickt es sicher …;

Dann geht Josefine und richtet Mundvorrat für mich her. Paal ist gegenwärtig auch auf den Beinen, er geht nicht immer gleich sicher auf ihnen, aber er geht doch stets auf den Sohlen. Allein er hat kein Leben und keine Lust und bastelt nur so herum und füttert die Pferde und hackt Holz, mehr bringt er nicht mehr zuwege. Freilich sollte jetzt im Herbst ein Teil Dünger aus dem Sommerstall hinauskommen, aber Paal verschiebt es und verschiebt es, und so kommt es wohl nicht mehr dazu. Solange es geht, geht es. Aber heute morgen fiel ja der erste Schnee und legte sich auf das draußen gebliebene Heu und die vernachlässigten Felder. Da bleibt er nun bis zum nächsten Frühjahr liegen. Armer Paal, auch er! Er ist im Grunde ein gutmütiger Mensch, aber er stampft und stampft in einem Wirbelwind; manchmal lächelt er geradezu, so sinnlos ist es, weiterzustampfen – ein verzerrtes Lächeln.

Sein Vater, der Alte in der Stube drüben, steht manchmal wie früher auf seiner Türschwelle und denkt. Er steht da und denkt sicher an frühere Zeiten, denn er hat neunzig Jahre hinter sich. Die Häuser auf dem Hof sind ihm ein wenig durcheinander geraten, und auf jeden Fall sind zu große Dächer darauf, die können herunterstürzen und ihn mitreißen. Er fragte Josefine, ob es einen Sinn habe, daß seine Hände und Finger ihm jeden Tag davonliefen, auf die Felder hinaus. Da bekam er Fäustlinge, aber die mochte er bald nicht mehr kauen, überhaupt aß er fast alles, was er bekam, und hatte keine Schmerzen. Man mußte ja also froh sein, daß er gesund sei und nicht bettlägerig würde, sagte Josefine.

*

Ich ging nicht über das Gebirge, wie alle die andern, ich ging den Weg zurück, den ich im Frühling gekommen war, zu den Wäldern und dem großen See hinunter. Es gehört sich so, daß ich zurückgehe, zurück, nie mehr vorwärts.

Ich kam an der Gamme vorbei, wo Solem und ich zusammen gewohnt hatten, und dann zu dem Lappenzeug, den beiden Alten und Olga, dieser Mischung von Mensch und Zwergbirke. Dort an der Torfwand standen die Kochgeschirre, und von der Decke hing eine Petroleumlampe in diesem Heim aus der Steinzeit. Olga war im großen ganzen sehr gut gegen mich, aber sie war so jämmerlich und klein wie ein Huhn, nur allein sie gebückt umhergehen und -huschen zu sehen, um für mich ein paar Renntierkäse zu suchen, widerte mich an.

Dann kam ich zu meiner eigenen Gamme vom Winter her, wo ich viele Monate hindurch mein einsames Dasein geführt hatte. Ich ging nicht hinein.

Doch, ich ging hinein und ich mußte dort übernachten; aber das überspringe ich, deshalb sage ich der Kürze halber, ich sei nicht hineingegangen. Nun habe ich heute bereits etwas Lustiges über Madame gesagt, über die Maus, die ich im Frühling hier zurückließ; aber ich streiche das heute abend wieder aus, weil ich nicht mehr in der gleichen Stimmung bin, und weil es keinen Zweck hat. Es hätte dir vielleicht Spaß gemacht, es zu lesen, kleiner Freund; aber du sollst dich jetzt nicht belustigen, du sollst jetzt niedergestimmt sein und mir zuhören, es gibt nicht mehr so viel zu hören.

Moralisiere ich? Ich erkläre. Nein, ich moralisiere nicht, ich erkläre. Aber, wenn moralisieren bedeutet, daß ich das Rechte sehe und es dir sage, dann moralisiere ich. Läßt sich das vermeiden? Ich sehe intuitiv in die Ferne, das tust du nicht, das lernt sich nicht aus den kleinen Schulbüchern, das kann nicht gelernt werden. Hasse mich nicht deshalb, ich werde lustig und nett gegen dich sein, später, sowie meine Saiten sich darauf eingestimmt haben. Das aber steht nicht in meiner Macht. Jetzt bin ich auf einen Choral eingestimmt …;

*

Im Morgendämmern und bei schönem Mondschein verlasse ich die Gamme und schreite kräftig aus, um die Ortschaft beizeiten zu erreichen. Aber ich muß zu früh fortgegangen und zu stark ausgeschritten sein, auf diese Weise erreiche ich die Ortschaft ja schon um die Mittagzeit; wem jage ich nach? Vielleicht kommt es daher, daß ich die Nähe des Meeres fühle und darum solche Eile habe. Und als ich auf dem letzten hohen Waldrücken stehen bleibe und das Rauschen vernehme und die See unter mir erblicke, durchschauert es mich süß, wie ein Gruß aus einer andern Welt. Thalatta! sage ich. Ich stehe da und trockne meine Brille und fühle ein inneres Beben, das Rauschen von dort unten ist schlaflos wild, im Wüstenton, zur Leidenschaft aufgepeitscht, verwandt mit der Litanei. Wie in einem Traum gehe ich den Hang hinab und komme an das erste Haus.

Niemand ist auf dem Hof zu sehen, und von den Fenstern verschwinden plötzlich ein paar Kindergesichter. Hier war es so ärmlich, so klein, aber das Haus war aus Balken gebaut, nur der Kuhstall war eine Torfgamme; alles in allem ein Fischerheim. Als ich in die Stube trat, war es dort ebenso ärmlich wie draußen, aber der Boden war rein und mit Tannenzweigen bestreut. Es waren viele Kinder da; die Mutter ging umher und kochte etwas auf dem Herd.

Man bot mir einen Stuhl an, und ich setzte mich und unterhielt mich ein wenig mit ein oder zwei kleinen Buben. Da ich keine Eile hatte und nichts wollte, fragte die Frau:

Ja, Ihr wollt wohl mit dem Boot übergesetzt werden?

Mit dem Boot? frage auch ich. Denn ich hatte auf der Herreise nicht den Seeweg genommen, sondern war vom äußersten Meer viele Meilen über Berge und Täler gegangen. Ja, übrigens vielleicht doch, sage ich; aber wo komme ich da hin?

Ich glaubte, Ihr wolltet Euch zum Handelsmann übersetzen lassen, antwortet sie, denn dort hält der Dampfer. Wir haben im Sommer so viele hinübergerudert.

Große Veränderungen seit dem letztenmal, die Automobile im Großtal haben scheinbar den ganzen Verkehr hier seit meinem letzten Hiersein vor zehn Monaten verändert.

Wo kann ich ein oder zwei Tage bleiben? frage ich.

Beim Handelsmann, draußen vor den Holmen, die Ihr seht. Ja, und dann ist auch noch der Eilert da und der Olaus, die sind hier auf unserer Seite, und dort könnt Ihr auch bleiben, die haben jeder ein großes Haus.

Ich lasse mir die beiden Plätze auf dieser Seite des Fjordes zeigen und gehe dorthin, sie liegen fast unten am Strande.

 

27

Ein ziemlich großes Haus mit einem ganz neuen Oberstockwerk aus Holz; an dem Haus war ein neues Schild: Unterkunft für Reisende. Auch hier war der Stall eine Gamme. Ich weiß nicht, wer Eilert und wer Olaus sind, und wie ich so dastehe und überlege, welchen von den beiden Wegen ich einschlagen soll, kommt ein Mann rasch auf mich zu. Na, die Welt ist doch klein, wir Menschen und Freunde stolpern übereinander – ich treffe einen Bekannten, den Dieb vom Winter her, den Speckdieb, he, welch ein Glück und ein Vergnügen!

Und es war Eilert. Er besaß jetzt eine Herberge für Reisende. Zu Anfang tat er ja so, als kennte er mich nicht, auf die Dauer jedoch konnte das nicht so bleiben, er mußte nachgeben. Aber er war auch der Mann dazu, das fertig zu bringen: Ja, was sehe ich da! sagte er, nein, das ist nett! Ja, seid nun willkommen unter meinem geringen Dach und nehmt vorlieb!

Aber mir gelang es nicht so gut wie ihm, und ich blieb stehen und sammelte mich. Auf meine Fragen erklärte er mir, daß seit dem Automobilverkehr durch das Großtal so viele Reisende hierherkämen. Und manche von ihnen wollten bei ihm übernachten, ehe sie sich zum Dampfer rudern ließen. Denn die Sache war die, sie kamen stets am Abend von dort oben heruntergefahren, und manchmal war gutes Wetter, manchmal aber auch schlechtes Wetter, und es war nachts oft unangenehm, über den Fjord zu fahren. Und, wie es eben so geht, da hätte er einen Ausweg schaffen müssen, um die Ankommenden zu beherbergen, sie könnten nicht im Freien übernachten.

Ach so, du bist also Hotelbesitzer geworden, sage ich.

Ihr spottet, gibt er mir zurück, aber das solltet Ihr nicht! Denn ich beherberge die ankommenden Leute, und das ist das ganze Hotel. Und etwas anderes kann der Olaus, mein Nachbar, auch nicht tun, und wenn er noch so groß baut. Da könnt Ihr sehen, wie er ein Haus baut und aufstellt, ein Nebengebäude, kann ich wohl sagen, und er hat drei erwachsene Männer angestellt, es wird bis zum nächsten Sommer fertig sein. Aber was das betrifft, so wird es doch nicht viel größer als bei mir, und ich weiß gar nicht, ob feine und vornehme Leute gerade sehr gern noch den langen Weg bis zum Olaus hintergehen, wenn mein Haus gleich hier bei der Automobilhaltestelle steht. Und außerdem war doch ich es, der zuerst damit anfing; und steckte ich in Olaus Haut, so hätte ich nicht alles nachgeäfft, genau wie ein anderer Affe, und damit angefangen, Leute zu beherbergen, was er doch gar nicht konnte. Aber er machte sich da gar nichts daraus und kleidete seine Scheune mit alten Segeln und Teppichen und dickem Papier aus und ging hin und ließ die Leute dort schlafen. Aber ich hätte niemals vornehme Gäste und Reisende bitten mögen, in einer Scheune zu schlafen, in einer solchen Futterscheune und Heuhütte für stumme Kreaturen, wenn ich aufrichtig sein darf. Aber so ist es eben, wenn man kein Ehrgefühl im Leibe hat und früher nie herumgekommen ist, dann –

Es ist nur gut, daß ich dich getroffen habe, sage ich, und nicht zu einem solchen Mann gegangen bin. Wir gehen hinunter, er redet und erklärt die ganze Zeit. Aber immer wieder war Olaus ein schlechter Kerl, der ihm alles nachgemacht hätte.

Hätte ich gewußt, was meiner wartete, wäre ich trotzdem an Eilers Haus vorübergegangen, aber ich wußte nichts, ich war unschuldig, obwohl es nicht so aussah. Da ist nun nichts zu machen.

Wenn nur in meinem besten Zimmer nicht schon jemand wohnte! sagte Eilert. Aber dort sind irgendwelche feine Leute aus der Stadt. – Sie sind zu Fuß vom Großtal heruntergekommen, denn die Automobile haben für dieses Jahr aufgehört zu fahren, und jetzt sind sie schon seit vielen Tagen bei mir und werden sicher noch eine Zeitlang bleiben; sie waren so erschöpft. Aber nun trifft es sich ungeschickt mit meinem besten Zimmer da oben.

Ich blickte auf, am Fenster zeigte sich ein Gesicht, eine Erregung erfaßte mich – nein, natürlich keine Erregung, weit entfernt, aber es war doch jedenfalls eine neue Überraschung. Welch ein seltsames Zusammentreffen, was gibt es doch alles! Und als wir zur Türe hinein wollen, steht richtig der Komödiant auch da und sieht mich an, der Komödiant von der Pension »Torezinnen«, wie? Die Knie, der Mantel, der Stock. Mir war es doch schon so gewesen, als hätte ich sein Gesicht oben am Fenster erkannt. Ja, die Welt ist klein.

Wir begrüßen einander und kommen ins Gespräch. Wirklich nett, mich wieder zu sehen! Und der gute Paal auf »Torezinnen«, der Ärmste, der ginge wohl noch umher und feuchtete sich an wie früher? Gott, welch seltsame Formen alles annehmen könne, er glaubte wohl, daß sein ganzer Hof ein Aquarium sei und wir Gäste die Goldfische! Hahaha, Goldfische, wollte Gott, es wäre so, so sage ich für mein Teil! – Na, Eilert, denken Sie an den frischen Schellfisch für heute Abend? Gut! – Ja, hier ist es recht gemütlich, sind schon seit mehreren Tagen hier und wollen noch länger bleiben, um gut auszuruhen.

Während wir beieinander stehen, kommt ein dickes Mädchen vom Speicher herunter und wendet sich an den Komödianten:

Ihre Frau läßt Sie bitten, gleich hinauf zu kommen.

So? Jawohl, augenblicklich …; Jaja, adieu einstweilen, wir treffen uns später. Sie wollen also hier wohnen?

Er eilte die Treppe hinauf.

Eilert und ich folgten ihm nach zu meinem Zimmer.

*

Übrigens ging ich mit Eilert sofort wieder hinaus, er hatte mir so viel zu erklären und zu zeigen, und es war mir nicht unwillkommen, ihm jetzt zuzuhören. Eilert war nicht der Schlimmste, und er war jedenfalls ein prächtiger Lümmel, vier zerlumpte, nette Kinder mit der ersten Frau, die vor zwei Jahren gestorben war, aber wieder jung verheiratet, und schon wieder ein Kind. Als er mir das erzählt, muß er vergessen haben, was er mir im Winter von der kranken Frau und den kränklichen Kindern vorgelogen hatte. Das Mädchen, das vom Speicher heruntergekommen war und den Wunsch der Frau ausgerichtet hatte, war keineswegs ein Dienstmädchen, sondern Eilerts junge Frau. Und sie war auch nicht übel, kräftig und gut, tüchtig im Stall und wieder schwanger. Ich finde alles vortrefflich, Eilert, die Frau und alles, was ich sonst höre.

Im übrigen wird kein Mensch verstehen, weshalb ich augenblicklich so merkwürdig zufrieden sein konnte, aber in mir dämmerte eine dunkle Freude, als ich in dieses Haus kam. Es war wohl nur ein Zufall, aber dennoch war es ein ebenso schöner Zustand für mich, und ich freute mich über alles und fand alles lustig. Dort vor der Gamme gingen ein paar Schafe und waren so zutraulich, denn die Kinder hatten mit ihnen gespielt und sie geküßt und auf ihnen geritten, von klein auf; dort auf dem Dach ging natürlich eine Ziege spazieren und stand so am äußersten Rande, es war ein Wunder, daß sie nicht schwindlig wurde. Hoch über allen Ackern flogen Möwen und riefen einander zu und waren Freund und Feind, wie es sich eben gab, und gleich hier an der Flußmündung, gerade gegen Sonnenuntergang, fing der große Weg an, der durch den Wald und das Tal hinaufführte. Eine solche Wegmündung, die von einem Wald herunter kommt, kann oft die Freundlichkeit eines lebendigen Geschöpfes haben.

Dann mußte Eilert zum Schellfischfang hinaus, und ich ging mit. Eigentlich hatte er keine Zeit dazu, denn er hätte Fleisch für uns besorgen müssen; aber er hatte es den Herrschaften aus der Stadt versprochen, und außerdem war ja Fisch auch eine Gabe Gottes. Käme er mit Fleisch in Verlegenheit, so könnte er ja auch ein Schaf schlachten.

Es war etwas windig; aber das soll es gerade sein, wenn es nur nicht zuviel wird, sagt Eilert. Im übrigen aber traue er dem Abend nicht recht, meint er dann und betrachtet den Himmel; zunehmender Wind. Ich werde richtig frech und sitze so auf der Ruderbank da und merke mir Eilerts französische Brocken: prekevieren, travali, sutinieren, Mankement und viele andere; sie haben einen langen Wanderweg gehabt, sind durch uralte Verbindungen mit Bergen hierhergekommen und aller Leute Eigentum geworden.

Dann kümmere ich mich nicht mehr um die französischen Wörter, denn es wird mir sehr übel zu Mute, der Wind wird auch zu stark, und wir fangen keinen Schellfisch. Das ist nun Pech, daß er so schnell gekommen ist, sagt Eilert, machen wir doch einen Schlag, um dort unter Land zu kommen.

Aber auch dort erwischten wir nichts, und der Wind nimmt zu, und die Wellen wachsen. Wir müssen heimrudern, sagt Eilert.

Nein, die See war so schön gekräuselt, merkwürdig, es war eigentlich gerade recht, aber jetzt war es zuviel. Zum Teufel, warum wurde mir so übel? Eine innere Erschöpfung, eine Gemütserregung hätte das erklärt; aber ich hatte gar keine Gemütserregung gehabt.

Wir rudern durch Schaum, wir rudern durch nickende Federbüschel. Donnerwetter, wie schnell doch die Wellen groß werden! sagt Eilert und rudert drauf los.

Da wird mir so elend zu Mute, daß Eilert sagt, ich solle die Ruder einziehen, er könne schon allein rudern. Aber mitten in meiner Jämmerlichkeit denke ich daran, daß man mich vom Land aus sehen könnte, und ich ziehe die Ruder nicht ein, Eilerts Frau könnte mich sehen und auslachen.

Ach, wie ekelhaft ist doch die Seekrankheit, die mich zwingt, mich über Bord zu lehnen und zu kotzen! Und dann fühle ich einen Augenblick der Erleichterung, aber es fängt gleich wieder an, und nun wird es reizend! Es ist, als sollte ich gebären, den falschen Weg natürlich, durch den Hals herauf, aber doch gebären. Jetzt kommt ein Stück herauf, dann bleibt es an einem Haken hängen, kommt und bleibt hängen, kommt und bleibt hängen. Dieser Haken ist aus Eisen – Eisen, sage ich? Stahl; ich habe noch niemals so etwas gehabt und bin nicht damit geboren. Es bringt die ganze Maschinerie in mir zum Stillstand. Ich nehme mir einen festen Anlauf von tief unten und heule ganz seltsam dazu; aber ein Heulen – mag es noch so wohl geglückt sein – kann einen Stahlhaken nicht zerbrechen. Die Wehen halten an. Der Mund füllt sich mit Galle. Gott sei Dank, jetzt muß bald ein Loch in meiner Brust sein. Oh …;

Dann kommen wir hinter die Holme, und ich bin erlöst.

Ich bin auf einmal wieder gesund und mache jetzt einige kleine Kunststücke und ahme mich dann selbst da draußen nach, nur um die an Land irre zu führen. Und ich versichere auch Eilert, daß dies das erstemal gewesen sei, damit er verstehe, daß dann nichts weiter darüber zu reden wäre. Er habe ja keine Ahnung, auf welchen Meeresmassen ich schon gewesen sei, ohne das geringste Unbehagen davon zu spüren; einmal vierundzwanzig Tage auf dem Ozean, die meisten lagen da und waren unbrauchbar, der Kapitän erbrach sich wie eine Dame; aber ich?

Ja, ich werde selbst manchmal von der Seekrankheit geplagt, sagt Eilert.

Am Abend war ich allein in der Stube zum Essen. Nein, wenn es keinen Schellfisch gebe, wollten die Fremden oben nicht herunterkommen. Dann wollten sie sich nur ein wenig Brot und Butter und Milch bringen lassen, sagt Eilerts Frau.

 

28

Am nächsten Morgen waren sie abgereist.

Jawohl, gegen vier Uhr, bei Tagesgrauen, ich hörte es sehr gut, denn ich schlief so nahe bei der Treppe. Da kam er, mit den dicken Schenkeln, und setzte die Füße so schwer auf, sie bedeutete ihn, leise zu sein, es hörte sich an, als sei sie heftig. Auch Eilert war soeben aufgestanden, und sie blieben eine Weile draußen stehen und verhandelten mit ihm wegen eines Bootes, sogleich, augenblicklich wollten sie es haben, denn sie hätten jetzt ihre Absicht geändert und wollten fort. Dann gingen sie zum Boot hinunter, mit Eilert, ich sah sie, sie waren verfroren und ungeduldig miteinander. Es hatte über Nacht gefroren, die Wasserlachen waren mit Eis überzogen, und es ging sich schlecht auf dem harten Boden. Die Ärmsten, nichts zu essen, keinen Kaffee; ein windiger Morgen, noch ein wenig Seegang von der Nacht her. Da gehen sie mit den Rucksäcken, und sie trägt ihren roten Hut.

Na, ich hatte nichts damit zu tun und legte mich wieder hin und nahm mir vor, bis Mittag oder so ungefähr zu schlafen. Denn ich hatte mit niemand etwas zu tun, nur mit mir selbst. Da ich das Boot vom Bett aus nicht sehen konnte, stand ich des Spaßes halber wieder auf und schaute, wie weit sie gekommen wären. Noch nicht sehr weit, obwohl beide Männer ruderten. Eine Weile später stand ich wieder auf und schaute, naja, sie kamen vorwärts. Ich faßte Posten am Fenster, es war doch ganz lustig, dem Boot zuzusehen, es wurde kleiner und kleiner, ich öffnete das Fenster und nahm das Fernglas. Da es noch nicht ganz hell war, konnte ich nichts deutlich erkennen, aber ich sah den roten Hut. Dann verschwand das Boot hinter den Holmen.

Ich kleidete mich an und ging hinunter, alle Kinder schliefen in der Stube; aber die Frau war auf, Regine. Wie nahm doch die gute Regine alles ruhig und natürlich!

Weißt du, was aus deinem Mann geworden ist? frage ich. Ja, habt Ihr schon so etwas gesehen! antwortet sie. Ich sah sie erst, als sie fortgingen, zum Meer. Wo wollten sie wohl hin, auf den Schellfischfang?

Vielleicht, sage ich nur. Aber bei mir selbst dachte ich: O nein, die sind ihres Weges gereist, denn sie hatten ja die Rucksäcke mit.

Das ist mir noch nie vorgekommen, sagte Regine immer noch, nichts zu essen und keinen Kaffee, gar nichts! Und die Frau, die auch gestern abend nichts gegessen hat!

Ich schüttelte nur den Kopf und ging. Regine rief mir nach, der Kaffee sei gleich fertig; wenn ich mit einer Tasse vorliebnehmen wolle –

Natürlich konnte ich nur den Kopf schütteln und gehen, wenn ich von der Dummheit aller Welt hörte! Und auf dem Boden des einzig richtigen Rechtes stehen. Und Herrschaften, die sich so betrugen, weder verstehen noch begreifen. Aber ich, der Unterzeichnete, ich hätte gestern zu Olaus gehen sollen, statt zum Fischfang auszuziehen. Dann hätte ich auf noch richtigerem Grunde gestanden. Was wollte ich hier an diesem Ort? Es könnte ja sein, daß ihr der Boden zu heiß geworden wäre, ihr, die Frau genannt wurde, daß sie deshalb gestern abend nichts essen und heute nicht hier bleiben konnte. Da zog sie sich zurück, samt Freund und Rucksack.

Jaja, man kann wenig haben, womit man sich zurückzieht, das macht vielleicht nicht soviel aus. Wenn man nur etwas hat, weshalb man sich zurückzieht.

*

Im Laufe des Vormittags kam Eilert wieder heim. Er brachte zwar die Gäste nicht mit zurück, trug aber den einen ihrer Rucksäcke vom Strand herauf. Den größeren Rucksack. Er war böse und ärgerlich und sagte, es solle sich keiner trauen, nein, sie sollten sich nur nicht trauen –

Natürlich war es wieder die Rechnung.

Sie wird in dieser Beziehung noch viel durchmachen müssen, denke ich; aber sie wird wohl bald abgestumpft werden und es so natürlich nehmen, wie man so etwas nehmen muß. Das ist nicht das schlimmste.

Aber auf jeden Fall war ich es, der sie jetzt beunruhigt und von ihren Kleidern fortgejagt hatte, vielleicht hätten sie hier wirklich auf Geld gewartet, was wußten wir anderen!

Ich nahm mir Eilert vor. Wie groß die Rechnung wäre, der Betrag? Also nichts, gar nichts, bitte! Und nun rudere mit den Kleidern stracks wieder zum Handelsplatz!

Aber es stellte sich heraus, daß das keinen Sinn hatte, die Fremden hatten sofort das Schiff genommen, sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen und befanden sich in diesem Augenblick an Bord.

Kein Ausweg.

Aber hier ist die Adresse, sagt Eilert, und die Kleider können wir nächsten Donnerstag absenden, wenn der Dampfer wieder südwärts geht.

Ich nahm die Adresse und war ungnädig gegen Eilert. Warum er sich gerade dieses Rucksackes bemächtigt hätte, warum nicht des andern?

Da antwortet er, daß der Herr ihm allerdings den andern Rucksack angeboten habe, aber dem habe Eilert von außen angesehen, daß er nichts wert war. Und ich möchte bedenken, daß das Geld, das die Frau ihm gegeben habe, gerade nur die Bezahlung für eines von ihnen gewesen sei. Es sei also in der Ordnung, daß er den volleren Rucksack genommen habe. Er, Eilert sei überhaupt sehr anständig aufgetreten, das könne man nicht anders sagen. Denn als die Frau ihm Schweigen geboten und ihm den größeren Rucksack überlassen und ihre Adresse aufgeschrieben habe, habe er ja seinerseits ganz still geschwiegen und nichts mehr gesagt. Im übrigen aber solle keiner kommen und es mit ihm aufnehmen! Das solle keiner!

Eilert streckte einen langen Arm mit geballter Faust in die Höhe.

Als er aber Kaffee und zu essen bekommen hatte und ausgeruht war, war er nicht mehr so gereizt und wollte wieder so mitteilsam sein wie gestern: Er grüble und spekuliere nun schon den ganzen Sommer, seit die Automobile angefangen hätten, und was nun ich davon hielte, wenn er sich vielleicht auch drei erwachsene Männer anstellte und ein noch viel größeres Haus baute als der Olaus?

Ach Gott, er litt auch schon an der Krankheit, an der modernen norwegischen Seuche!

Aber da lag nun der Rucksack wieder in dem Zimmer der Herrschaften, jawohl, es waren ihre Kleider, ich kannte vom Sommer her ihre Blusen wieder, ihre Röcke und Schuhe. Ich sah sie kaum an, sondern nahm sie nur heraus und legte sie ordentlich zusammen und packte sie wieder ein; denn Eilert hatte sicher darin gewühlt. Nur deswegen hatte ich überhaupt den Rucksack geöffnet.

 

29

Dann sollte ich wahrhastig noch einmal eine Gesellschaft von Engländern erleben, die letzte für dieses Jahr.

Sie waren am Morgen mit dem Schiff gekommen und hatten sich am Handelsplatz aufgehalten, von dort aus hatten sie eine Stafette ins Tal hinauf nach einem Automobil gesandt. Großtal, Großtal! hatten sie gesagt. Offenbar war das Großtal noch ein unbekanntes Tal für sie; – was sie nicht länger auf sich sitzen lassen konnten.

Und welches Aufsehen sie erregten!

Sie kamen mit einem Fährboot vom Handelsplatz herüber, wir hörten sie schon von weitem, eine alte Stimme übertönte alle andern. Eilert ließ alles los, was er in den Händen hatte und lief zum Landungsplatz hinunter, um der erste zu sein; aber auch von Olaus' Haus kamen ein Mann und ein paar Halbwüchsige herunter, ja, von allen Häusern rings herum kamen eilfertige und dienstbereite Leute. Es waren viele Zuschauer am Landungsplatz, der alte Mann mit der lauten Stimme konnte sich deshalb in voller Höhe im Boot aufrichten und sein Englisch an Land rufen – ja, als wäre seine Sprache natürlich auch die Sprache dieses Landes: Wo ist das Automobil? Her mit dem Automobil!

Und Olaus, der klug war und ahnte, worum es sich handelte, schickte sofort seine Halbwüchsigen ins Tal hinauf, um die Ankunft des Automobils zu beschleunigen. Denn jetzt waren die Engländer da!

Sie gingen an Land und hatten große Eile, sie konnten nicht begreifen, daß das Automobil nicht dastand – warum nicht? Sie seien zu viert, Großtal! sagten sie. Als sie zu Eilerts Haus kamen, schauten sie auf ihre Uhren und fluchten über die verlorenen Minuten. Zur Hölle, wo ist das Automobil? Und alle Leute folgten ihnen und blickten mit Ehrfurcht zu den maskierten Idioten auf.

Ich erinnere mich an ein paar von ihnen: ein alter Mann, der mit der Stimme, er hatte an jedem Schenkel einen Pluderrock hängen, und seine Jacke aus grünem Segeltuch hatte Verschnürungen und Spangen und Riemen und eine Unzahl von Taschen. Ah, aber welch ein Mann, welche Kraft! Sein Bart war weiß und grün, er flog wie ein Nordlicht aus seiner Nase heraus; und er fluchte wie ein Verrückter. Ein anderer aus der Gesellschaft war lang und gebeugt, eine junge Stange, unerhört, mit abfallenden Schultern, mit einer winzigen Mütze über den hochgewölbten Augenbrauen, er glich einem aufrechten römischen Sturmwidder, er war ein Mensch an einem Stiel. Ich messe mit den Augen ein Ungefähr von ihm ab und es bleibt immer noch genug übrig. Aber er war gebeugt und gebrochen, ein Greis noch vor der Zeit, vollkommen kahl; und doch, er ging immer noch mit zusammengekniffenem Tigermund umher und war von einer Tollheit besessen, die ihn aufrecht hielt. Großtal! sagte er.

England muß sicher bald Altersheime für seine Kinder errichten. Es verbraucht sein Volk für Sport und fixe Ideen: hätte nicht Deutschland es jetzt in ewiger Unruhe gehalten, würde es in ein paar Generationen zur Päderastie übergehen …;

Da tutet das Automobil oben im Wald, und alle jagen, rennen ihm entgegen.

Nun aber waren die beiden jungen Burschen von Olaus dem Automobil ehrlich und redlich weit entgegen gelaufen und hatten es zur Eile angetrieben; sollten sie dafür nichts bekommen? Allerdings hatten sie nun auf dem Rückweg darin sitzen dürfen und hatten eine sehr schöne Fahrt gehabt; aber die Bezahlung! Sie haben sich im Sommer eine ziemliche Frechheit angeeignet, so daß sie jetzt nicht nachgeben werden, sie gehen zu dem Alten mit der Stimme, strecken die Hand aus und sagen: Bezahlung! Nein, das wollte der Alte nicht, und er richtet sich nur auf und treibt die andern zur Eile an. Und der Wagenführer, der an sein eigenes Trinkgeld denkt, glaubt den Reisenden am besten dadurch zu dienen, daß er sofort losfährt. Also weiter! Ein Druck auf die Hupe, eine rauschende Ballade, Tararaboomdeay.

Dann kehren die Zuschauer heim, sie sprechen alle von den hohen Reisenden. Das Ausland, das Ausland – o nein, die Kinder des Landes können sich freilich nicht mit ihnen messen! Hast du gesehen, wie lang der eine Lord war? Und sahst du den anderen, den mit den Hosen und dem Nordlicht?

Aber einige unter den heimkehrenden Gaffern hatten ernstere Dinge im Kopf, das war die Familie Olaus. Erst jetzt begriff der Vater, was er so manches liebe Mal in den Zeitungen gelesen hatte, daß man in Norwegen noch immer eine erbärmliche Volksschule habe, die Kinder lernten dort nicht Englisch. Das war nun sicher, den Jungen war ein schöner Verdienst entgangen, nur weil sie dem Nordlicht keinen verständlichen Fluch hatten zurückgeben können. Und die Burschen selbst dachten wohl auch ihr Teil: der Wagenführer, dieser Spitzbube, dieser Südländer. Aber warte nur! Sie hatten schon gehört, daß halbversteckte Glasscherben auf dem Wege so gut für die Gummireifen seien …;

*

Ich gehe wieder zu ihrem Rucksack und ihren Kleidern hinauf, und der Grund, warum ich das tue, ist, daß man Eilert so wenig trauen kann. Ich will die Kleidungsstücke zählen, damit nichts davon fortkommen kann; es war ein Fehler von mir, daß ich das heute nicht sofort getan hatte.

Es konnte zwar so aussehen, als ginge ich immer und immer wieder zu diesen Kleidern und dächte an sie; aber warum sollte ich das tun? Allein es zeigte sich nun, daß ich mit meinem Mißtrauen gegen Eilert recht hatte, denn ich hatte ihn die Treppe hinaufgehen hören, und als ich eintrat, stand er bei den Kleidern und durchsuchte sie. Wie? sagte ich nur. Zuerst meinte er, er könne sich mir gegenüber aufs hohe Roß setzen: ich hätte hier nichts zu suchen! Aber es kam mir so wunderbar zugut, daß ich etwas über ihn wußte, er bedachte sich und hörte bald auf, mit den Kinnladen zu kauen. Ah, wie sehr tat ich ihm aber im Grunde unrecht, wie saugte ich ihn aus:

Ihr habt die Kleider durchaus nicht gekauft, sagte er; ich hätte vielleicht viel mehr dafür bekommen können.

Er hatte seine Bezahlung erhalten, allein er wollte mehr haben, er war wie der Magen, der nach dem Tode noch weiter verdaut. So war Eilert. Aber dennoch war er nicht so übel, er war nie besser gewesen und war auch nicht schlechter geworden in seinem neuen Gewerbe.

Möchte doch nur keiner in seinem neuen Gewerbe schlechter werden! …;

Dann nahm ich den Rucksack und die Kleider in mein eigenes Zimmer, um besser darauf aufpassen zu können. Und es wurde eine lange Arbeit, alles zum zweitenmal wieder zurecht zu legen; aber das mußte getan werden. Später, am Abend, wollte ich von hier fortgehen und den Rucksack mitnehmen, ich war fertig mit dem Ort, und in den Nächten gab es jetzt Mondschein.

Und jetzt genug von diesen Kleidern.

 

30

Sieh da, man ist wieder in dem Alter, in dem man im Mondschein umhergeht. Vor dreißig Jahren wanderte man auch im Mondschein umher, ging auf verschneiten Wegen, die knirschten, über gefrorene Felder, rings um unverschlossene Heuschuppen, man ging auf die Jagd nach Liebe. Jawohl. Und ob ich mich erinnere! Aber solch einen Mondschein gibt es nicht mehr, Herrgott, ich sah ja genug, um den Brief zu lesen, den sie mir zusteckte. Und solche Briefe gibt es nicht mehr.

Alles hat sich geändert, das Abenteuer ist vorbei, heute abend gehe ich fort und folge nur meinem Verstand: ich will zum Handelsplatz hinüber und mit dem Schiff einen Sack befördern lassen, und dann gehe ich weiter und weiter. Ja, und dazu brauche ich nichts als einen ganz gewöhnlichen Gehverstand und ein wenig Mondschein, um mich zurecht zu finden. Aber in alten Tagen, in jungen Tagen, da studierten wir im Herbst bereits den Kalender, ob am Heiligdreikönigstage Mondschein sein würde. Denn wir brauchten ihn so notwendig.

Alles hat sich geändert, ich habe mich geändert. Das Abenteuer steckt im Abenteurer.

Man sagt, mit dem Alter sollten andere Freuden kommen, die man früher nicht gehabt habe, es kämen tiefere Freuden, bleibendere Freuden. Das ist Lüge. Ja, du liest richtig: das ist Lüge. Nur das Alter selbst sagt das, der für sich selbst Interessierte, der mit seinen Resten großtut. Er erinnert sich nicht mehr daran, wie er auf dem Gipfel stand, er selbst, sein eigener alias, rot und weiß, und wie er in die goldene Posaune blies. Jetzt steht er nicht – nein, denn er hat sich gesetzt – ja, denn es ist leichter, zu sitzen. Und da kommt nun zu ihm, leise und schleichend, dick und dumm, die Ehre des Alters. Was soll ein sitzender Mann mit Ehre tun? Ein stehender Mann kann sie gebrauchen, ein sitzender Mann kann sie nur haben. Aber die Ehre ist dazu da, daß man sie gebraucht, nicht, daß man sich damit hinsetzt.

Gebt einem sitzenden Mann warme Strümpfe!

*

Aber hast du schon so einen Zufall gesehen: wiederum ein unverschlossener Heuschuppen auf meinem Weg, genau wie in den Tagen der goldenen Posaunen! Er winkt mit Unmengen von Heu und einem Unterschlupf für die Nacht; aber wo ist das Mädchen, das mir den Brief gab? Ob ich daran denke, wie gut ihr Atem war, und ob ich fühle, daß sich ihr Mund ein wenig öffnete? Sie wird schon kommen, warten wir nur, wir haben Zeit, zwanzig Jahre noch, sie kommt sicher …;

Ich muß auf der Hut sein, um das nicht für etwas anderes als für Spott zu nehmen. Denn ich stehe nun am Anfang der ehrenvollen Jahre, ich bin schwach geworden, es ist mir zuzutrauen, daß ich einen schönen Heuschuppen für ein Entgegenkommen von oben ansehe: du verdienstvolles Alter, hier ist ein Heuschuppen!

Aber nein, danke, ich bin erst in den Siebzigern.

Dann gehe ich, meinem Verstand folgend, an dem Heuschuppen vorüber.

Gegen Morgen finde ich unter einem Felsen eine geschützte Stelle. Es gehört sich so, daß ich von nun an unter Felsvorsprüngen wohne, da liege ich und schare mich um mich selbst und krieche zusammen und bin klein und unsichtbar. Alles andere, alles andere, nur nicht mit seinen eigenen Interessen und Resten großtun!

Es geht mir jetzt gut, ich lege den fremden Rucksack mit den getragenen Kleidern unter den Kopf, nur weil er gerade die richtige Größe hat. Aber zum Schlaf kommt es nicht, nur zu Gedanken und Träumen und Verszeilen und Gefühlsduselei. Da der Sack einen Geruch von Menschen ausströmt, werfe ich ihn fort und lege den Kopf auf den Arm. Der riecht nach Holz und nicht einmal nach Holz.

Aber den Zettel mit der Adresse – ich habe ihn doch wohl? Und ich streiche ein Zündholz an und lese sie, um sie bis zum Morgen zu wissen. Nur ein paar Worte mit Bleistift geschrieben. Nichts; aber es war vielleicht etwas Weiches an den Buchstaben, etwas Weibliches, nein, ich weiß nicht. Es ist ja gleichgültig.

Ich richte es so ein, daß ich im Laufe des Tages zum Handelsplatz komme; alle Leute sind schon aufgestanden, die Post ist offen. Ich erhalte ein großes Stück Papier und Bindfaden und Siegellack, packe ein, versiegle und adressiere. Hier bitte.

Na – da habe ich vergessen, den Zettel mit der Adresse mit hineinzulegen; hast du so etwas gesehen! Aber sonst habe ich alles erledigt. Als ich meines Weges weiter gehe, fühle ich mich merkwürdig leer und verlassen; das kommt nur daher, daß der Sack doch ziemlich schwer war und ich ihn jetzt los bin. Die letzte Freude! muß ich denken. Ohne jeden Zusammenhang mit irgend etwas gehe ich dahin und denke: Das letzte Land, die letzte Insel, die letzte Freude …;

 

31

Was nun?

Ich wußte nicht, womit anfangen. Der Winter stand vor mir, mein Sommer lag hinter mir, keine Aufgabe, kein Verlangen, kein Ehrgeiz! Da es gleichgültig war, wo ich mich aufhielt, dachte ich an eine mir bekannte Stadt, in die ich reisen könnte – warum nicht? Ein Mann kann nicht in alle Ewigkeit am Meere sitzen, und entschließt er sich, von dort fortzureisen, braucht das nicht mißdeutet zu werden. Er unterbricht also seine Einsamkeit, das haben andere vor ihm getan, er will aus einer kleinen Neugierde heraus alle Schiffe und alle Pferde und die kleinen gefrorenen Gärten in einer bestimmten Stadt sehen. Und wenn er dahin gekommen ist, kann er in seinem Nichtstun darüber nachstudieren, ob er in dieser Stadt, in dieser fürchterlich großen Stadt, nicht einen Menschen kennen sollte. Es ist jetzt schöner Mondschein, es macht ihm Spaß, sich selbst eine bestimmte Adresse zu nennen, um Abend für Abend dort hinzugehen und Posten zu fassen, als gelte es irgend etwas. Er wird ja auch nirgends anders erwartet und hat also Zeit dazu. Eines Abends kann es dann sein, daß eine Frau ihn bei einer Gaslaterne lesend findet, sie hält sofort inne und bleibt stehen, dann macht sie ein paar Schritte auf ihn zu, vorgebeugt, forschend. Ist das nicht –? Ach nein, entschuldigen Sie, mir war –

Doch. Guten Abend, Fräulein Torsen.

Ach, guten Abend. Ja, mir war es doch so. Guten Abend. Ja, danke gut. Und vielen Dank für den Sack; ich begriff plötzlich – ich verstehe gut, daß –

Wohnen Sie hier? Das ist doch ein merkwürdiger Zufall.

Ja, ich wohne hier, dort sehen Sie die Fenster. Ich darf Sie wohl nicht bitten, mit hinaufzukommen? Ach nein, wohl nicht.

Aber ich weiß einige Bänke hier unten an der Brücke? Wenn Sie nicht frieren? schlage ich vor.

Nein, ich friere nicht. Danke, das will ich gern.

Wir gingen zu den Bänken, und es war, als ginge ein Vater mit seiner Tochter. Es war nichts Auffallendes an uns, und wir saßen den ganzen Abend friedlich beieinander. Später saßen wir auch an anderen Abenden friedlich zusammen, kurze freundliche Abende, einen ganzen kalten Herbstmonat hindurch.

Dann erzählte sie erst ihr kleines Heimreisekapitel, manches nur halb angedeutet, manches ganz, bisweilen mit tief gesenktem Kopf, bisweilen, wenn ich fragte, mit kurzen Antworten oder einem Kopfschütteln. Ich schreibe es aus dem Gedächtnis auf, es wurde von Bedeutung für sie, es wurde für mehrere von Bedeutung.

Übrigens – in hundert Jahren ist alles vergessen. Worum kämpfen wir? In hundert Jahren liest man davon in Memoiren und Briefen und denkt: wie sie kämpfte, wie sie sich plagte, hehe! Über andere wird gar nichts geschrieben und gelesen, das Leben hat sich mit dem Grab über ihnen geschlossen. Eines ist wie das andere …;

Was für Sorgen sie hatte, ach, welche Sorgen! Damals, als sie zu wenig Geld besaß, um die Rechnung zu bezahlen, war sie ja der Mittelpunkt der Welt, alles starrte sie an und ihr Kopf schwirrte vor Ratlosigkeit. Dann hörte sie draußen auf dem Hof einen Mann fragen: Hat denn Blakka Pferdename der Falbe. (Anmerk. des Übers.) heute noch kein Wasser bekommen? Das war nun seine Sorge. Also war sie nicht der Mittelpunkt der Welt.

Dann verließen sie und der Kamerad das Haus, dann wanderten sie. Mittelpunkt? Keine Spur. Tag für Tag über einen Berg, Tag für Tag durch ein Tal, die Mahlzeiten in Hütten, an denen man zufällig vorüberkam, Wasser aus den Bächen. Wenn sie Wanderern begegneten, grüßten sie oder grüßten nicht, keiner war weniger Mittelpunkt als sie und keiner mehr. Der Kamerad wanderte in seiner leeren Sorglosigkeit und pfiff.

Bei einer Karriolstation bekamen sie zu essen.

Leg einstweilen für mich aus.

Sie zögerte und antwortete kurz und bündig, sie könne nicht auf dem ganzen Weg für ihn auslegen.

Nein, wirklich nicht, durchaus nicht, sagte er. Aber zunächst noch; weiter unten im Tal können wir vielleicht eine Anleihe machen.

Ich nehme nichts zu leihen.

Ingeborg! sagte er und seufzte im Scherz.

Was heißt das?

Nichts. Ich kann wohl meine eigene Frau Ingeborg nennen?

Ich bin durchaus nicht deine eigene Frau, antwortete sie und erhob sich.

Brr! Wir waren doch heute nacht Mann und Frau. So steht es im Fremdenbuch.

Sie schwieg dazu. Jawohl, diese Nacht waren sie Mann und Frau gewesen, um ein Zimmer zu ersparen und vernünftig zu reisen. Aber es war sehr dumm, daß sie darauf eingegangen war.

Fräulein Torsen? sagte er weinerlich.

Und um diesem Spiel ein Ende zu machen, bezahlte sie für sie beide und nahm den Rucksack.

Sie wandelten weiter. Bei der nächsten Karriolstation bezahlte sie wortlos für sie beide, Abendessen, Bett und Frühstück. Es wurde allmählich zur Gewohnheit. Dann gingen sie wieder weiter. Sie kamen an das Ende des Tales und standen am Meer, hier erhob sie wieder Einspruch:

Nein, geh – geh deines Weges, ich will dich nicht mehr in meinem Zimmer haben!

Die alten Gründe wirkten jetzt nicht. Als er wiederholte, daß sie dadurch Geld sparten, erwiderte sie, sie für ihr Teil brauche nur ein Zimmer, und das könne sie bezahlen. Er machte wieder Spaß, jammerte: Ingeborg! und ging von ihr fort. Er war hilflos, sein Rücken war gebeugt.

Sie speiste allein zu Abend.

Kommt Ihr Mann nicht? fragte die Frau im Hause.

Er will scheinbar nichts essen, antwortete sie.

Dort stand er vor dem kleinen Stall und tat so, als sei er mit dem Dach, mit der Bauart beschäftigt, er ging rund herum und schaute, spitzte den Mund und pfiff. Sie aber sah vom Fenster aus sehr gut, daß sein Gesicht bleich und traurig war. Als sie gegessen hatte, ging sie ans Meer hinunter und rief ihm unterwegs zu:

Geh hinein zum Essen!

Aber so schlecht war er doch auch nicht, er ging nicht zum Essen hinein und war diese Nacht auch nicht zu Hause. Doch es ging, so, wie so etwas zu gehen pflegt: als sie ihn am Morgen traf und Reue sie erfaßte und sein Aussehen sie erschütterte, kam alles wieder in Ordnung.

Während sie einige Tage hier blieben und noch auf das Postschiff warteten, kam eines Abends ein älterer Mann zum Haus. Sie kannte ihn, und er kannte das Paar, sie geriet in die größte Aufregung, wollte sofort ausreißen, weinte und schlug sich an die Brust, wollte heim, fort, sogleich. Es ging, wie so etwas zu gehen pflegt: als sie ruhiger wurde, legte sie sich schlafen. Sie war nicht der Mittelpunkt der Welt; der alte Bekannte, der auf den Hof gekommen war, schien sie ja auch nicht immer anzustarren. Dennoch setzte sie am nächsten Morgen in aller Frühe bei Dämmerung eine Art Flucht durch, noch ehe die anderen Leute aufgestanden waren. Das tat sie.

Als sie an Bord des Postschiffes kamen, trafen sie keine Bekannten, und sie fand Ruhe, um alles ordentlich zu überlegen. Jetzt brach sie ernstlich mit ihrem Kameraden. Es gab wieder eine kleine Meinungsverschiedenheit mit ihm, er hatte keine Fahrkarte, ein Wort gab das andere. Ja, sie mit ihrer Rückfahrkarte in der Tasche tue sich leicht, sagte er. Im übrigen sei er doch durch einen Brief von ihr im Sommer in alle diese Widerwärtigkeiten hineingeraten, ob sie sich nicht schäme? Nie hätte er seinen Fuß aus der Stadt gesetzt, ohne diesen Brief von ihr. Da gab sie ihm den Geldbeutel, alle ihre Schillinge, und bat ihn, zu gehen. Zu einer Fahrkarte für ihn würde es wohl noch reichen, jetzt war sie quitt mit ihm. Selbstredend dürfte ich das nicht annehmen, aber es geht nicht anders, sagte er und ging.

Sie starrte weit über das Meer hinaus und dachte nach. Es ging ihr jetzt sehr schlecht, so ganz anders, als sie einmal gedacht hatte, oh, welche Schande, in welch wilde Sinnlosigkeit war sie hineingeraten! Sie grübelte sich müde, sie fing an zu lauschen, worüber die Menschen rings um sie sprachen. Dort saßen ein paar Burschen, jeder auf seiner Kiste, und drückten sich zusammen zum Schutz gegen den Wind. Sie hörte, daß der eine sagte, er sei Lehrer, und der andere, er sei Handwerker. Der Lehrer blieb nicht lange sitzen, sondern schwänzelte auf sie zu; stumm ging sie an ihm vorbei und nahm seinen Platz auf der Kiste ein.

Es war Herbst und rauhes Wetter, da tat es gut, geschützt zu sitzen. Der Handwerker dachte wahrscheinlich, die große, gutgekleidete Dame reise in der Kajüte, als sie aber kam und sich hinsetzte, rückte er auf seiner Kiste zurück. Er war gerade im Begriff, seine Pfeife in Brand zu setzen, hielt aber inne.

Rauchen Sie nur, sagte sie.

Da zündete er an, doch er drehte sich weg und blies ihr den Rauch nicht ins Gesicht.

Er war noch sehr jung, einige zwanzig Jahre, mit dickem rötlichem Haar unter der Mütze und weißlichen Augenbrauen hoch oben an der Stirne. Seine Brust war breit und flach, aber sein Rücken war rund, und er hatte große Hände. Mein Gott, welch ein Pferd.

Man brachte ihm Essen, belegte Brote und Kaffee, worauf er wohl gewartet hatte, er bezahlte, rauchte jedoch weiter und ließ das Essen stehen.

Essen Sie doch, sagte sie. Es stört Sie wohl nicht, daß ich hier sitze.

O nein, antwortete er; dann klopfte er die Pfeife aus, sehr gemächlich, und setzte sich wieder. Ich brauche auch noch nichts zu essen, sagte er.

Sind Sie noch nicht weit gefahren?

Ach nein, erst diese Nacht. Wo ist die Dame her?

Aus der Stadt. Ich hatte Ferien.

Dacht ich mir, sagte er und nickte.

Ich habe in den »Torezinnen« gewohnt, fügte sie hinzu.

In den »Torezinnen«? So.

Sind Sie dort bekannt?

Nein. Ich kenn nur einige von den Leuten. Pause. Josefine ist dort.

Ja. Kennen Sie sie?

O nein.

Sie kamen nun ein wenig mehr ins Gespräch, das Schiff fuhr dahin, sie saßen da und hatten nichts anderes zu tun. Sie fragte, woher er sei und was für eine Art Handwerk er treibe, und er war nichts Besonderes, nur ein armseliger Schreiner, im übrigen habe seine Mutter einen kleinen Hof. Ob die Dame nicht eine einfache Tasse Kaffee wolle?

Ja danke, sie könne ein wenig von ihm nehmen, ein bißchen in die Schale.

Sie nahm die Schale zu sich und bat auch um einen Bissen zu essen. Nie hatte ihr etwas besser geschmeckt, und als sie fertig war, bedankte sie sich auch entsprechend.

Sie haben wohl eine Kajütenfahrkarte? fragte er.

Ja, aber ich will hier sitzen bleiben, erwiderte sie. Wenn ich hinuntergehe, werde ich krank.

Dacht' ich mir. Nein, ich denke wirklich –? Damit erhob er sich und entfernte sich schwerfällig und langsam. Sie sah seinen Rücken im Eingang zum Zwischendeck verschwinden.

Sie wartete lange auf ihn, sie fürchtete, daß jemand seinen Platz nehmen könnte. Der Kaffee aus der Untertasse, das gute Butterbrot in Gesellschaft des Schreiners, keine Unnatur und keine Kunststücke, das war wie ein kleiner Stützpunkt für sie, hier in diesem Winkel.

Da kam er zurück, mit noch mehr Essen und Kaffee, mit einem ganzen Brett in den großen Händen. Gutmütig lachte er sich selber aus, weil er so vorsichtig ging.

Sie schlug die Hände zusammen und übertrieb ein wenig:

Du meine Güte! Nein, Sie sind doch zu freundlich.

Ich dachte, wenn die Dame doch schon hier sitzt –

Sie aßen beide, sie wurde warm und schläfrig, lehnte sich zurück und dämmerte vor sich hin. So oft sie die Augen aufschlug, saß der Schreiner da und zündete sich die Pfeife an. Er nahm zwei und drei Zündhölzer auf einmal und strich sie an, da er sich aber nicht übereilte, verbrannte das Holz bis zur Hälfte, ehe er die Pfeife zum Mund führte und daran zog. Der Lehrer rief ihm etwas zu, machte ihn auf etwas weit drinnen im Lande aufmerksam, allein der Schreiner nickte nur und antwortete nicht. Vielleicht fürchtete er sich, mich zu wecken? dachte sie.

An einer Haltestelle tauchte ihr Reisekamerad wieder auf, er kam aus der Kajüte.

Kommst du nicht hinunter, Ingeborg, fragte er.

Sie antwortete nicht.

Der Schreiner sah die beiden abwechselnd an.

Fräulein Torsen! jammerte der Reisekamerad wieder und scherzte. Er blieb ein wenig stehen und wartete, dann ging er seines Weges.

Ingeborg, dachte der Schreiner wohl. Fräulein Torsen, dachte er wohl.

Wie lange bleiben Sie in der Stadt? fragte sie und richtete sich ganz auf.

Ich denke, einige Zeit.

Was wollen Sie dort tun?

Er wurde ein wenig verlegen, und da er eine so helle Haut hatte, sah man es sofort, wenn er errötete. Er beugte sich vor und stutzte die Ellbogen auf die Knie, ehe er antwortete:

Ich wollte etwas mehr in meinem Handwerk lernen, in die Lehre gehen. Aber es kommt nun noch darauf an.

Jaso, jaha.

Was meinen Sie dazu? fragte er.

Ja doch, das ist sicher gut.

Na, meinen Sie?

Sie blieben fast den ganzen Tag an Deck, und am Nachmittag wurde es richtig hundekalt, es stürmte. Wenn sie sich steif gesessen hatte, stand sie auf und stampfte mit den Füßen; hatte sie sich müde gestanden, setzte sie sich wieder auf die Kiste. Als sie einmal ein Stück weit entfernt stand, legte der Tischler ein Paket auf die Kiste, wie um ihren Platz für sie zu belegen.

Der Reisekamerad streckte den Kopf zur Türe heraus, der Wind wehte ihm das Haar über die Stirne, er rief:

Nein, komm doch herunter, Ingeborg!

Ah! stöhnte sie. Auf einmal übermannte sie der Zorn, sie ging auf ihn zu, das Schiff legte sich und führte sie mit sich, sie machte ein paar Sprünge, dann sagte sie scharf:

Ich will kein Wort mehr von dir hören. Verstehst du? Bei Gott im Himmel!

Jösses! antwortete er und verschwand.

Gegen drei Uhr brachte der Tischler wieder Kaffee und Brote.

Nein, jetzt dürfen Sie mir wirklich nichts mehr geben, sagte sie.

Er lachte auch jetzt nur gutmütig: Hier bitte, wenn Sie es nicht verschmähen.

Jetzt sind wir bald da, sagte sie, während sie aßen. Haben Sie jemand, zu dem Sie reisen?

O ja, das auch. Eine Schwester.

Schwerfällig und langsam nahm er ein neues Butterbrot, drehte es herum und schaute es in Gedanken an, dann biß er ab. Als er mit einem Mundvoll fertig war, nahm er einen neuen. Als er auch mit diesem fertig war, sagte er:

Ja, ich dachte, wenn ich nun den Winter über hier in der Stadt bin, kann ich doch etwas lernen und mit dem Hof so nebenbei –

Jaha.

Ja, glauben Sie das auch?

Jaja. Doch, das glaube ich.

Warum erzählte er ihr von seinen Angelegenheiten? Sie hatte ihre eigenen Angelegenheiten. Sie dankte für das Essen und erhob sich.

Als das Boot an der Brücke anlegte, reichte er ihr die Hand und sagte:

Ich heiße Nikolai mit Namen.

So, jaja.

Ich dachte, ob wir uns vielleicht wieder treffen könnten – Nikolai Palm – aber die Stadt ist wohl zu groß –

Ach ja, das ist sie wohl. Ja, nun haben Sie also recht schönen Dank für alles Gute. Leben Sie wohl.

 

32

Ich frage Fräulein Torsen:

Haben Sie den Schreiner seitdem getroffen?

Was für einen Schreiner? Nein doch. Ich habe das von ihm nur erzählt, weil er eine Art Bekannter war.

Ein Bekannter?

Von Ihnen sowohl als auch von mir. Ja, natürlich nur in einer Weise. Er ist nämlich ein Bruder der Lehrerin Palm, mit der wir im Sommer zusammen in der Pension »Torezinnen« waren.

Ja, die Welt ist klein. Wir sind alle aus einer Familie.

Und darum erzählte ich das alles von ihm.

Aber auf dem Schiff erfuhren Sie noch nichts von dieser Verwandtschaft, sagte ich, also haben Sie ihn seitdem wieder getroffen?

Ja, nein, das heißt, ich habe ihn ein paarmal gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Wir sagten nur guten Tag und wie geht es? oder so etwas. Dabei erzählte er, daß er ihr Bruder sei.

Hehe.

Im Vorübergehen also, ganz zufällig.

Hier bietet sich eine gute Gelegenheit für mich, zu sagen:

Was ist nicht zufällig! Es war ein Zufall, daß ich unter der Gaslaterne stehen blieb, um etwas zu suchen, ein paar Zeilen zu lesen. Und nun wohnen Sie hier.

Ja, so ist es.

Es wird vielleicht noch ein Paar aus Ihnen und dem Schreiner, sage ich.

Haha. O nein, ich heirate nicht.

Nicht?

Man muß sehr vertrauensselig sein, um zu heiraten.

Ich weiß nicht, es schadet vielleicht nichts, wenn man ein wenig vertrauensselig ist. Wenn man nicht ganz so tüchtig ist. Wohin führt die Tüchtigkeit? Man kommt nur zu kurz dadurch. Keiner ist nämlich tüchtig genug.

Aber die Tüchtigkeit sollte uns doch helfen, daß wir so selten wie möglich zu kurz kommen? Wozu ist sie sonst da.

Ja, wozu ist sie sonst da? Aber das Unglück ist, daß wir zu sehr auf unsere Tüchtigkeit vertrauen, und dann kommen wir zu kurz. Oder wir lassen alles ganz ruhig mit uns geschehen, bitte schön, wir haben ja unsere Tüchtigkeit, auf die wir zurückgreifen können!

Dann ist es also hoffnungslos?

Ja, auf dieser Linie. Das war im Sommer auch Ihre eigene Meinung.

Ja, ich erinnere mich. Ich glaubte – nein, ich weiß nicht. Aber dann kam ich wieder in die Stadt hierher, und dann war es gleichsam –

Pause.

Ich bin ratlos, sagte sie.

Und ich bin alt und weise. Sehen Sie, Fräulein Torsen, früher gab es nicht so viel Tüchtigkeit und Mittelschule und Stimmrecht in jedes Menschen Kopf, man lebte sein Leben auf einer anderen Linie, man war vertrauensvoll. Ich möchte wissen, ob diese Wand nicht ebensogut ist, um sich daran anzulehnen. Man kam auch da zu kurz, aber es war nicht so schmerzlich, man trug es mit größeren Tierkräften. Wir haben unsere gesunde Fähigkeit, zu ertragen, geschwächt.

Nun wird es kühl, sagte sie, wollen wir nicht heimgehen? Ja, natürlich ist das alles richtig, aber wir leben in der Gegenwart. Wir können nichts ändern, mir bleibt auf jeden Fall nichts anderes übrig, als der Zeit zu folgen.

Das steht im »Morgenblatt«, ja. Weil es vorher in der »Neuen Freien Presse« gestanden hat. Aber ein Mensch, der etwas taugt, geht bis zu einem gewissen Grad seinen eigenen Weg, wenn die Allgemeinheit den ihren geht.

Ja, jetzt will ich Ihnen wirklich etwas erzählen, sagte sie und blieb stehen: ich gehe zur Zeit in eine vernünftige Schule.

Wirklich?

Aber diesmal lerne ich Haushaltung, ist das nicht gut?

Sie lernen, sich Ihre eigenen Butterbrote abzuschneiden?

Haha.

Ja, denn Sie wollen sich doch nicht verheiraten?

Doch, das weiß ich nicht.

Gut. Sie heiraten, Sie lassen sich in seinem Tal nieder. Aber zuerst wollen Sie noch Haushaltung lernen, um einen Pfannkuchen oder einen Pudding für einen Reisenden oder Engländer, der vielleicht vorüberkommt, machen zu können.

Sein Tal? Was für ein Tal?

Fahren Sie lieber heim zu seiner Mutter und lernen Sie von ihr den Haushalt, den Sie brauchen.

Nein, hören Sie, sagt sie lachend und geht wieder weiter, Sie sind auf einer ganz falschen Spur. Der ist es nicht, es ist niemand.

Das ist schade für Sie. Es sollte jemand sein.

Ja, aber wenn es nun nicht der ist, den ich will?

Ach doch, es ist schon der, den Sie wollen. So groß und schön und tüchtig, wie Sie sind.

Ja, danke, aber – Jaja, schönen Dank für heute abend. Gute Nacht …;

Warum brach sie so unvermittelt ab und entfernte sich mit hastigen Schritten, beinahe laufend? Weinte sie? Ich hatte mehr sagen wollen, hatte weise und langweilig sein wollen und ihr nützliche Anweisungen geben, nun stand ich da mit einem flauen Erstaunen.

*

Dann geschah etwas.

Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen, sagte sie, als wir uns das nächstemal trafen. Es ist so nett, Sie zu treffen. Gehen Sie ein kleines Stück mit? Ich muß –

Mit einem Brief, sehe ich.

Ja, mit einem Brief. Es ist nur – nein, nichts –

Wir gingen mit dem Brief zu einem Zeitungsbureau. Es war sicher ein Angebot, sie suchte vielleicht eine Stellung.

Als sie das Bureau verläßt, grüßt ein Herr. Sie wurde puterrot. Sie blieb auf der Treppe oben ein wenig stehen, es führten zwei Steinstufen herunter, sie senkte den Kopf ganz auf die Brust, als sähe sie sich wegen dieser Stufen beim Heruntertreten sehr vor. Sie grüßten noch einmal, der Fremde reichte ihr die Hand, sie begannen ein Gespräch.

Es war ein Mann in ihrem Alter, er sah gut aus, mit hellem weichem Vollbart und dunkeln Augenbrauen, die er vielleicht schwärzte. Er trug einen Zylinder und hatte in seinem Überzieher, den er offen ließ, Seidenfutter.

Ich hörte sie von einem Abend in der vergangenen Woche sprechen, sie waren lustig gewesen, hatten ein wenig über die Schnur gehauen, viele miteinander, eine Wagenfahrt, ein Abendessen, sie tauschten ihre Erinnerungen aus. Fräulein Torsen sagte nicht viel, sie stand versunken da, lächelnd, schön. Ich betrachtete illustrierte Blätter im Schaufenster, aber auf einmal dachte ich: Herrgott, sie ist ja verliebt!

Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag, sagt er. Sie verabredeten etwas, einigten sich über etwas, sie nickte. Dann ging er.

Langsam und schweigend kommt sie auf mich zu, ich mache sie auf eines der Bilder im Schaufenster aufmerksam. Ja, sagt sie, nein, denken Sie! Sie starrt vor sich hin, sieht aber nichts. Schweigend setzen wir uns in Bewegung, ein paar Minuten lang sprechen wir nichts.

Hans Flaten ist doch immer der gleiche, sagt sie.

Naja, was war das für ein Herr? frage ich.

Er heißt Flaten.

Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie im Sommer seinen Namen nannten. Was ist er?

Sein Vater ist Großhändler.

Aber er selbst?

Sein Vater hat das große Geschäft in der Almesstraße, Sie wissen.

Na, aber er selber, was tut er?

Ich weiß nicht, ob er etwas Bestimmtes tut, er ist Student. Sein Vater ist ja so reich.

Ich erinnerte mich; das Geschäft des alten Flaten in der Almesstraße war ein solides Bauerngeschäft, vormittags standen immer mehrere Pferde in seinem Hofraum, während die Besitzer im Laden waren und handelten.

Er ist immer so sehr flott, fuhr sie fort, Gott, wie ruhig er das Geld, die Scheine auf den Tisch legt. Wenn er ausgeht, flüstert man rings um ihn: das ist Flaten.

Ich wollte ein wenig witzig sein und sagte:

Er kleidet sich, als hieße er Platen.

So, sagte sie verletzt. Jawohl, er zieht sich gut an, das hat er schon immer getan.

Ist es der, den Sie haben wollen? fragte ich scherzend.

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie mit einem bestimmten Nicken:

Ja.

Was – den?

Ist das so sonderbar? Wir sind alte Bekannte, Abiturkameraden, wir sind oft zusammengewesen. Das ruht auf einer guten Grundlage. Er ist der einzige, den ich in meinem Leben gern gehabt habe. Das hat viele Jahre gedauert. Bisweilen freilich vergesse ich ihn, aber sobald ich ihn wiedersehe, bin ich gleich heftig verliebt. Ich habe ihm das gesagt, und wir lachen beide darüber, aber es wird nicht anders. Es ist so sonderbar mit mir.

Wahrscheinlich ist er zu reich, um sie zu heiraten, dachte ich und fragte nicht mehr.

Dagegen fragte ich, als wir uns trennten:

Wo arbeitet der Schreiner Nikolai?

Ich weiß nicht, antwortete sie. Doch, halt, ich weiß es. Wir sind auf dem Weg zu ihm, kommen Sie ein Stück mit, dann will ich es Ihnen zeigen. Was wollen Sie mit ihm?

Nichts. Ich dachte nur, ob er einen guten Platz, einen tüchtigen Meister gefunden hat.

*

Nein, was wollte ich mit dem Schreiner Nikolai, mit dem Handwerker! Und dennoch bin ich jetzt bei ihm gewesen und mit ihm bekannt geworden. Ein wahres Pferd, stark und häßlich, schweigsam, daß es ein Greuel war. Samstag Abend waren wir zusammen in der Stadt, ich weiß nicht weshalb, aber ich hatte es so gewollt.

Ich schloß mich um meiner selbst willen, um meiner Einsamkeit willen an den Schreiner an, denn ich ging nicht mehr zu den Bänken auf der Brücke, das Wetter war kalt geworden. Fräulein Torsen interessierte mich jetzt wenig, sie hatte sich so sehr verändert, seit sie in die Stadt zurückgekommen war. Nicht nur in einem Punkt, sondern in allen war sie ein durchschnittliches Mädchen geworden. Sie dachte nur an Tand und Unsinn und schien ihre bitteren und gesunden Ansichten über ihr Dasein im Sommer ganz vergessen zu haben. Jetzt war sie wieder in einer Schule gelandet, in der freien Zeit traf sie einen Herrn namens Flaten, das beschäftigte sie. Entweder war sie eine Natur ohne Tiefe, oder sie war in den grundlegenden Jugendjahren verpfuscht worden.

Was soll ich tun? sagte sie. Freilich gehe ich wieder in eine Schule, das habe ich getan, seit ich klein war. Ich tauge zu nichts anderem, ich tauge nur dazu, in die Lehre zu gehen, das bin ich gewohnt. Ich kann nicht viel auf eigene Faust denken und handeln, das ist auch nicht lustig. Was soll ich sonst tun?

Allerdings, was sollte sie sonst tun! –

Der Schreiner Nikolai bekam einen Zirkus zu sehen, es war dort nur wenig, was ihn in Erstaunen setzte, oder er tat so, als sei es nichts Besonderes, was geboten wurde. Der Sprung auf das Pferd – ja natürlich, aber! Der Tiger – ich glaubte, ein Tiger sei viel größer! Übrigens schien sein schwerer und kräftiger Kopf mit einem anderen Gedanken zu arbeiten; als die Reiterinnen ihre Kunststücke machten, folgte er nicht mehr recht mit.

Auf dem Heimweg sagte er:

Es ist wohl unverschämt, Sie zu bitten, aber wollen Sie mich morgen Abend in die »Krone« begleiten?

Die »Krone«, was ist das?

Dort wird getanzt.

Ein Tanzsaal also, wo ist er? Haben Sie solche Lust zum Tanzen bekommen?

Das gerade nicht, aber –

Sie wollen sehen, was es dort alles gibt?

Ja.

Ich werde mitgehen.

*

Es war Sonntag Abend, der Abend aller Burschen und Mädchen, der Schreiner und ich gingen zum Tanz.

Er hatte sich mit gestärkter Wäsche und einer schweren Uhrkette ausstaffiert, – ach, aber er war so jung, und wenn man jung ist, sieht man trotz allem gut aus. Er hatte so ungewöhnliche Kräfte, er brauchte nicht nachzugeben, das hatte ihn sicher und schwerfällig gemacht. Sprach man mit ihm, wartete er mit der Antwort, schlug man ihm auf die Schulter, drehte er sich langsam um und schaute, wer es war. Er war gut und sanftmütig im Verkehr.

Wir gingen an den Schalter, niemand da, der Schalter war geschlossen.

Dagegen stand auf einem Plakat, daß das Lokal für die ersten zwei Stunden des Abends an eine Gesellschaft vermietet sei.

Während wir dastanden, kamen mehrere junge Leute, sie lasen das Plakat und gingen wieder. Der Schreiner wollte nicht gehen, er sah sich um und ging tiefer ins Tor hinein, um jemand zu suchen.

Da ist nichts zu machen, rief ich ihm nach.

Nein, sagte er. Aber ich möchte doch wissen –? Damit ging er ganz in den Hof hinein und blickte zu allen Fenstern hinauf.

Ein Mann kam die Treppe herunter.

Was wünschen Sie? fragte er.

Er möchte sicher eine Eintrittskarte haben, antwortete ich; der Schreiner wurde ja nie fertig.

Der Mann kam zu mir her, es stellte sich heraus, daß er der Wirt war. Er erklärte das gleiche wie das Plakat: eine Gesellschaft hatte den Saal für die ersten zwei Stunden gemietet.

Da ist also nichts zu machen, rief ich meinem Kameraden zu. Aber er übereilte sich nicht mit dem Kommen, und ich begann mit dem Wirt ein Gespräch, während ich wartete.

Ja, eine bessere Gesellschaft. Es sollten nur acht Paare sein, aber trotzdem die ganze Musik, reiche Leute also. Ja, bisweilen kamen feine Herrschaften, die den Saal für ein paar Stunden mieteten, sie brachten Erfrischungen mit, und es gab reichlich Champagner. Dann tanzten sie auf Leben und Tod. Wozu sie das taten? Jugend, feine und reiche Leute, der Sonntagabend daheim ist langweilig, sie wollten sich den Müßiggang der Woche in diesen paar Stunden herausarbeiten, da tanzten sie. Ja, das war wirklich nicht so seltsam. Und ich verdiene ja an den kurzen Stunden auch mehr als sonst am ganzen Abend, sagte der Wirt. Mächtige Leute, die schauen das Geld nicht an. Und dann wird auch der Boden nicht abgenützt, solche Leute tanzen ja nicht mit den Absätzen.

Der Schreiner stand ein wenig entfernt und hörte zu.

Ja, aber was sind das in der Regel für Leute? frage ich. Sind es Kaufleute oder Militärs oder –?

Nein, Sie müssen entschuldigen, das sage ich nicht, antwortete der Wirt. Geschlossene Gesellschaft, das ist alles, was ich sage. Heute abend zum Beispiel, weiß ich es nicht einmal, es war ein Dienstmann, der das Geld brachte.

Das ist Flaten, sagte der Schreiner.

Flaten – so? fragte der Wirt, als wüßte er es nicht. Herr Flaten ist schon früher hier gewesen, ein feiner Herr, immer gute Gesellschaft. Soso? Ja, entschuldigen Sie mich, ich möchte gern noch einmal nachsehen im Saal –

Der Wirt entfernte sich.

Aber der Schreiner ging ihm nach und sagte:

Können wir nicht zuschauen?

Wie, beim Tanz? Nein.

In einem Winkel oder irgendwo?

Nein. Ich erlaube es nicht einmal meiner Frau und meinen Töchtern, niemand, keiner Seele. Das wollen solche Gesellschaften nie.

Kommen Sie jetzt, oder –? rief ich gleichsam zum letztenmal.

Ja, antwortete der Schreiner und kam.

Ich fragte:

Sie wußten also von dieser Gesellschaft?

Ja, sagte er. Sie sprach am Freitag davon.

Wer sprach davon? Fräulein Torsen?

Ja. Sie sagte, ich könne auf die Galerie kommen.

Wir wanderten weiter durch die Straßen, jeder mit seinen Gedanken – ja, oder mit denselben Gedanken, ich aber war jedenfalls wütend.

Nein, mein guter Nikolai, ich glaube nicht, daß wir eine Karte lösen, um Herrn Flaten und seine Damen tanzen zu sehen.

Nein.

Es war ein merkwürdiger Einfall von Fräulein Torsen, diesen Mann als Zuschauer zu ihrem Tanz einzuladen. Es war ein Streich; aber der Streich sah ihr ähnlich; wollte sie nicht auch im Sommer in Hörweite eines Dritten sein, wenn sie mit vollem Wind dahinsegelte? Mir fällt etwas ein, und ich frage den Schreiner so ruhig wie nur möglich:

Wollte das Fräulein auch mich gerne auf der Galerie haben, sagte sie das?

Nein, entgegnet er.

Sagte sie nichts von mir?

Nein.

Du lügst sicher, dachte ich, und wahrscheinlich hat sie dich auch gebeten, zu lügen! Ich war auf das Äußerste erbittert, konnte aber aus dem Schreiner die Wahrheit nicht herauspressen.

Hinter uns rumpeln Wagen und halten vor der »Krone«. Nikolai drehte sich um und wollte zurückgehen, als er aber sah, daß ich einfach weiterging, blieb er einen Augenblick stehen und kam dann nach. Ich hörte ihn einmal tief und schwer seufzen.

Wir trieben uns ungefähr eine Stunde herum, mein Zorn legte sich etwas, und ich war wieder umgänglich mit meinem Kameraden. Wir traten irgendwo ein und tranken Bier, wir gingen in einen Kinematographen, dann besuchten wir eine Schießbude. Schließlich gingen wir auf eine Kegelbahn, und so verfloß die Zeit. Nikolai war der erste, der aufhören wollte, er sah auf seine Uhr, bekam es auf einmal eilig, er wollte die Partie kaum beenden.

Wir mußten wieder an der »Krone« vorüber – die Wagen waren fort. Dacht ich mir! sagte der Schreiner, er sah niedergeschlagen aus, sicher hatte er dabei sein wollen, wie die Gesellschaft die Wagen bestieg. Aufmerksam blickte er die Straße, wo die Wagen gestanden hatten, auf und nieder und wiederholte: Dacht ich mir! Jetzt wollte er heim.

Nein, jetzt gehen wir hinein, sagte ich.

*

Es war ein großer und schöner Saal, eine Musiktribüne, ein Gewimmel von Menschen auf der großen Bodenfläche. Wir saßen auf der Galerie und schauten zu.

Es waren alle möglichen Leute da, Handwerker, Seeleute, Hoteldiener, Angestellte, Tagelöhner, die Damen waren wohl je nach Umständen Näherinnen, Dienstmädchen, Ladenmädchen und lose Vögel ohne Beschäftigung bei hellem Tageslicht. Es wurde kräftig getanzt. Außer einem Polizisten, der eingreifen sollte, wenn es nötig wurde, war noch ein Aufseher des Vergnügungslokals selbst da, der mit einem Stock im Saal umherging und die Tanzenden beobachtete: so oft ein Tanz zu Ende war, mußten die Herren zur Musiktribüne vor und zehn Öre bezahlen. Schien jemand sich drücken zu wollen, so klopfte ihm der Aufseher mit seinem Stock freundlich auf den Arm; ein Herr, dem man wiederholt auf den Arm klopfen mußte, wurde für verdächtig angesehen und im Notfall ausgewiesen. Es herrschte eine ausgezeichnete Ordnung.

Walzer, Mazurka, Schottisch, Rheinländer, Walzer –

Ich wurde auf einen Herrn aufmerksam, der die ganze Zeit tanzte und tanzte, er war groß und sah arabisch aus, war sehr geschickt, ein Teufelskerl, die Damen folgten ihm gern. Ist das Solem, der da unten dominiert? denke ich.

Wollen Sie nicht tanzen? frage ich den Tischler Nikolai.

O nein, antwortet er lächelnd.

Dann können wir gehen, wenn Sie wollen.

Na, jaja, antwortet er und bleibt sitzen.

Sie denken sicher an andere Dinge?

Lange Pause.

Ich denke daran, daß ich auf meinem Hof kein Pferd habe. Ich ziehe selbst allen Dünger und alles Holz.

Darum sind Sie so stark geworden.

Ich muß wahrscheinlich in einigen Tagen nach Hause und für das Winterholz sorgen.

Ja, das müssen Sie wohl.

Was ich sagen wollte, fuhr er mit großer Umständlichkeit fort – und schwieg.

Was gibts?

Ach nein, es ist nichts. Es wäre sehr nett, wenn Sie im Winter mit mir heimkommen könnten, aber – Ich habe zwar nur eine elende Kammer.

Ich? Warum? Ja, das wäre nicht so dumm.

O nein, wahrhaftig nicht! sagte der Schreiner.

Aber jetzt höre ich den Namen Solem unten im Saal. Jawohl, dort steht er, er brüstet sich, es ist der Solem von den »Torezinnen«. Er steht allein, er ist gereizt, er redet und sagt, er sei Solem, der Bursche Solem. Er scheint keine bestimmte Dame zu haben, ich hatte ihn beim Tanzen aufs Geratewohl wählen sehen. Dann aber hatte er sich vor der falschen verbeugt, ihr Kavalier hatte den Kopf geschüttelt und nein gesagt. Brr! Solem merkte sich das. Er ließ das Paar den nächsten Tanz tanzen; als er zu Ende war, näherte er sich wieder und verbeugte sich. Und er bekam abermals ein Nein.

Es war auch eine ungewöhnliche Dame – raffiniert oder unschuldig, das weiß Gott allein. Das Haar dunkelblond, groß, griechisch, in schwarzem Kleid ohne Putz. Ah, wie still und schüchtern sie war! Ja, sicher war sie eine Dirne, aber so demütig wie eine Nonne des Lasters, ihr Antlitz war so rein, es sah aus wie das eines begnadigten Sünders. Diese unvergleichliche Pflanze!

Das war eine Dame für Solem.

Als er von dem Herrn auch zum zweitenmal ein Nein bekommen hatte, fing er davon zu reden an, daß er hier im Saale der Bursche Solem sei! Aber sein Gerede war so langweilig: jetzt würde man etwas erleben, hier stünde ein sündiger Kerl! Das machte keinen Eindruck, es war für diese Leute bekanntes Geschwätz. Der Aufseher ging zu ihm hin und bat um Ruhe, gleichzeitig deutete er zur Türe, dort säße der Polizist und gäbe acht. Das beruhigte den Sturm, Solem sagte selbst: Ja, still, wir wollen keinen Lärm machen! Aber er verlor die Griechin und ihren Kavalier nicht aus den Augen.

Er ließ wieder ein paar Tänze vergehen, engagierte selbst und nahm teil. Es waren jetzt zu viele Leute, alle Nachzügler waren gekommen, viele, die keinen Platz zum Tanzen fanden, mußten stehenbleiben, worauf sie sich das nächstemal beeilten, um die ersten zu sein.

Dann geschah etwas.

Ein Paar fiel hin. Es war Solem. Beim Aufstehen riß er ein anderes Paar um, die Griechin und ihren Herrn, sie blieben liegen. Und so merkwürdig ungeschickt war Solem beim Aufstehen, daß seine langen Arme und Beine noch ein zweites Paar umrissen. Jetzt entstand ein Knäuel auf dem Boden, Geschrei und Flüche ertönten, man wurde erbittert und stieß einander mit den Füßen, Solem leitete die Katastrophe mit Sicherheit, in aufrichtiger und wohlgemeinter Bosheit, Paar für Paar stolperte über den Knäuel. Der Aufseher stocherte mit dem Stock darin herum und bat die Leute, aufzustehen, selbst der Schutzmann kam dazu, die Musik schwieg. Unterdessen hatte Solem sich mit kluger Feigheit durch die Türe verzogen und war verschwunden.

Nach und nach erhoben sich die Gefallenen, rieben sich die Glieder, klopften die Kleider ab, einige lachten, andere fluchten, der Kavalier der Griechin hatte sich eine Wunde an der Schläfe zugezogen, er blutete und griff sich verwirrt an den Kopf. Es entstand die Frage nach dem – wie hieß er? – der lange Kerl, der so aufbegehrt hatte. Solem, sagten einige Damen. Es wurden Drohungen gegen Solem ausgestoßen, ja freilich war er es, geht und sucht ihn, er soll nicht ungestraft davonkommen! Ja, aber er konnte wohl nichts dafür, sagten die Damen.

Oh, Solem und die Damen!

Aber die Griechin, sie erhob sich aus dem Staub wie aus einem Bad. Der ganze Sand auf dem Boden hatte sich an ihrem schwarzen Kleid festgesetzt, sie war wie mit Sternen übersät. Sie schämte sich, weil sie zu unterst am Boden gelegen hatte, verstrickt in die Gliedmaßen der andern, sie lächelte, als man ihr zeigte, daß der Haarkamm über ihrem griechischen Knoten zerbrochen war.

 

33

Heute, den ersten Oktober vor vierzig Jahren fuhren wir daheim mit dem Schneepflug. Leider erinnerte ich mich an die Zeit vor vierzig Jahren.

Noch entgeht mir nichts, aber alles geht an meiner Nase vorbei. Ich sitze auf einer Galerie und schaue zu. Wäre der Schreiner Nikolai ein Beobachter gewesen, hätte er gesehen, wie ich mit den Händen fingerte, meine Lächerlichkeit durch Geziertheit, durch Gesichterschneiden vergrößerte; glücklicherweise war er ein Kind. Dann verließ ich das alles, ging heim und nahm meinen Platz ein. Meine Adresse heißt der Ofenwinkel.

Jetzt wird es wieder Winter, Schnee über dem Norden, angelsächsisches Theater. Und das wird meine öde Zeit, meine Räder bleiben stehen, mein Haar wächst nicht, meine Nägel wachsen nicht, nichts wächst, ausgenommen meine Tage. Und es ist gut, daß meine Tage wachsen, von nun an ist es gut. Im Lauf des Winters kommt nichts weiter vor – doch, Nikolai hat zum erstenmal einen Überzieher bekommen. Er brauchte ihn nicht, er kaufte ihn zum Schmuck, sagt er; und teuer war er, zwanzig Kronen, aber er bekam ihn für achtzehn! Nikolai ist mit seinem Überzieher sicher zufriedener als Flaten mit dem seinen.

Übrigens, daß ich Flaten nicht vergesse, mit ihm ist etwas geschehen: seine Freunde haben ihm ein Abschiedsfest gegeben und ihn aus dem Junggesellenstand hinausgetrunken, er wird heiraten. Fräulein Torsen hat mir das erzählt, ich traf sie zufällig wieder bei ihrer Laterne, und da erzählte sie es.

Und Sie sind nicht traurig? fragte ich.

O nein, antwortete sie lächelnd. Das ist etwas, was ich wirklich schon lange gewußt habe. Und im übrigen bin ich vielleicht auch nicht sehr beständig, ich weiß nicht.

Ich glaube, da haben Sie es getroffen.

Sie stutzte:

Wieso?

Ich finde, Sie haben sich seit dem Sommer so verändert. Sie waren munter und tüchtig, Sie sahen klar, wußten, was Sie wollten. Wo ist Ihre kleine Bitterkeit? Oder haben Sie keinen Grund mehr, bitter zu sein?

Das war zu gewichtig gesagt, aber ich war wie ein Vater und meinte es gut.

Sie fing zu gehen an, mit gesenktem Kopf, nachdenklich. Dann sagte sie etwas wirklich Verständiges:

Im Sommer war ich soeben brotlos geworden. Ich erzähle es so, wie es ist. Mir war meine Stellung gekündigt worden, und das war ja sehr ernst. Da wurde ich einige Zeit nachdenklich, so ist es. Aber ich weiß nicht – ich bin alt, aber doch wohl nicht alt genug. Ich habe zwei Schwestern, die sind beständig, sie sind verheiratet und tüchtig, obwohl sie jünger sind. Ich weiß nicht, wie es um mich bestellt ist.

Wollen Sie mit mir ins Konzert gehen? frage ich.

Jetzt? Nein danke, ich bin nicht dazu angezogen. Pause. Aber wie freundlich von Ihnen, daß Sie das wollten! sagte sie plötzlich erfreut; es wäre sehr nett gewesen, aber – Nein, jetzt muß ich Ihnen von diesem Mittagessen, diesem Fest erzählen; du meine Güte, was den Leuten doch alles einfiel! Sie hatte recht, diese lustige Jugend hatte viele Tollheiten begangen, manches war kindisch und dumm, anderes war besser. Zuerst tranken sie Wein von 1812. Nein, zuerst wurde Flaten natürlich eine Einladung geschickt, und die war gemalt, eine gewagte Malerei in einem Rahmen. Darauf war nur Zeit und Ort geschrieben, und dann stand dort: Ballade, Bacchiade, Offenbachiade, Bacchanale. Dann wurden Reden gehalten auf ihn, der sie nun verlasse, und überhaupt war ein ohrenbetäubendes Gerede über die Gläser weg gewesen. Und dann gab es Musik, einige spielten die ganze Zeit. Als es aber auf den Abend zuging, machte das keinen Eindruck mehr, es kamen maskierte Mädchen herein und tanzten eine Weile, da es aber sehr viel Champagner gegeben hatte, artete das aus, und die Mädchen mußten gehen. Jetzt stellten sich die Herren unten vor das Hoteltor, um nach »Gelegenheiten« auszuspähen. Jaha – eine junge Frau kommt vorüber, sie trägt ein Kind und ein Kleiderbündel, und da es mit großen nassen Flocken schneit, beschützt sie das Kind, indem sie sich beim Gehen ganz darüber beugt. Brrr! sagen die Herren und fangen sie ein, ist das dein Kind? Ja, das sei es. Ist es ein Junge? Ja. Sie sprechen mehr mit ihr, sie war mager und jung, sicher ein Dienstmädchen, sie betrachten alle auch den Jungen, und Helgesen und Lind, die kurzsichtig waren, putzten ihre Brillen und schauten. Willst du den Jungen ertränken? sagt einer. Nein! antwortet das Mädchen verwirrt. Das war aber häßlich gefragt, sagen die anderen, und das erkannte der erste auch an, da holte er seinen Regenmantel und legte ihn dem Mädchen um. Dann spielte er mit dem Knaben und brachte ihn zum Lächeln – ein Wunder von einem Kind, Mensch und Lumpen und Schmutz in einer Rolle. Armes, uneheliches Kind, sagte er, von einer Jungfrau geboren! Das war schöner! sagten die anderen. Jetzt tun wir etwas, sagten sie, und wo wohnst du? wandten sie sich an das Mädchen. Ich habe da und da gewohnt, antwortet sie. Habe gewohnt, also machen wir folgendes, sagt einer und zieht die Brieftasche heraus. Die anderen tun desgleichen, und es kommt eine Menge Geld zusammen, das in die Hand des Mädchens wandert. Wart ein wenig, halt, das ist nicht genug für mich, weil ich so häßlich gefragt habe, sagt einer. Von mir auch nicht, sagen die anderen, denn wir dachten ebenso wie du, jetzt setzen wir etwas Geld aus für den Sohn der Jungfrau! Es wird eingesammelt, Helgesen ist Kassier. Dann ruft Bengt nach einer Droschke, fordert das Mädchen auf, sich hineinzusetzen und steigt selbst hinter ihr ein. Einen Augenblick, ich will nur in die Langestraße! ruft er. Bengt ist mit dem Kind zu seiner Mutter gefahren, sagen die anderen. Danach wurde es etwas still. Du hast so lächerlich nasse Augen, Bolt; wie du nur dem Geld nachweinen kannst! Und du, antwortet Bolt, du bist gerührt wie ein altes Weib! Die Lustigkeit kam wieder auf, es gab noch mehr »Gelegenheiten«. Ein Bauer kam mit einer Kuh durch die Straße, er wollte zum Schlächter. Was verlangst du dafür, daß unser Gast eine Zeitlang auf deiner Kuh reiten darf? fragte der junge Rolandsen. Der Bauer lächelte und schüttelte den Kopf. Dann kauften sie die Kuh und bezahlten sie; aber wart ein wenig! sagten sie zu dem Bauern. Sie befestigten einen Zettel an der Kuh und schrieben etwas darauf, an eine ihnen bekannte Dame. Geh jetzt zu dieser Dame, sagten sie zu dem Bauern. Als sie damit fertig waren, kam Bengt zurück. Wo bist du gewesen? fragten sie erstaunt. Die Alte sagte ja! erwiderte er nur. Hurra! schrien sie alle, laß uns auf den Jungen trinken! Sieh her, wir gehen ins Café. Hat sie wirklich ja gesagt? Hurra! auch für die Alte. Wozu stehen wir hier; wir gehen ins Café! Gehen? höhnen einige. Nein freilich, wir fahren, hahaha, Kellner, Automobile! Der Kellner rennt hinein und telephoniert. Es dauert eine gute Weile, es wird spät, aber die Herren warten. Schon ist Polizeistunde, die Leute strömen aus den Caféhäusern heraus. Endlich kommen die Automobile, zehn Stück, eines für jeden; die Herren steigen ein. Wohin? fragen die Führer. Zur nächsten Tür, sagten sie. Da fuhren die zehn Automobile zur nächsten Tür im gleichen Haus, das war das Café, dort stiegen die Herren aus und bezahlten die Fahrt mit Grabesernst. Das Café war geschlossen. Sollen wir die Tür einschlagen? sagten sie. Natürlich! Da rannten sie, alle Mann auf einmal los, und Bomp! tat es, die Türe brach auf. Der Nachtwächter kam gelaufen, er schrie, sie nahmen ihn zwischen sich, tätschelten ihn, umarmten ihn, griffen in die Schränke und holten Flaschen für ihn und sich selbst heraus und tranken und riefen Hurra für den Jungen, für Bengts Mutter, für die Mutter des Jungen, den Nachtwächter, die Liebe und das Leben. Als das geschehen war, legten sie dem Nachtwächter einige Geldscheine auf den Mund und banden ein Taschentuch darum. Dann gingen sie wieder in den Saal hinauf. Das Souper kam. Flatens Teller war ein roter Seidenpantoffel mit Glasfutter. Sie aßen und tranken und lumpten, so lange sie vermochten; die Zeit verstrich, es ging auf den Morgen zu, und Flaten fing jetzt an, Andenken an sie alle auszuteilen. Einer bekam die Uhr, ein anderer die Brieftasche, aber die war leer, ein dritter die Krawattennadel. Dann mußte er bei den Stiefeln anfangen, und da bekamen zwei je einen, dann schenkte er die Hosen dem und das Hemd jenem, schließlich saß Flaten nackt da. Jetzt holten sie Decken aus den Zimmern oben im Hotel, rote Seidendecken, in die sie ihn einhüllten. Nun schlief Flaten ein, und die neun anderen hielten Wache. Er schlief eine Stunde, es war Morgen, sie weckten ihn, er fuhr aus den Decken auf, war nackt und sandte einen Boten heim um andere Kleider. Und dann fing der Bummel wieder an …;

Wir sprachen nachher über Fräulein Torsens Bericht, das eine und andere hatte sie auch vergessen und fügte es nun hinzu. Dann schloß sie mit den Worten:

Auf jeden Fall war es gut für das Mädchen mit dem Kind. Und für das Kind, sagte ich.

Ach ja. Aber haben Sie schon von so einem Einfall gehört? Die arme alte Dame, die es bekam.

Darüber werden Sie vielleicht einmal anders denken.

So? Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wenn ich all das Geld bekommen hätte.

Darüber werden Sie auch anders denken.

Wie? Wann?

Wenn Sie selbst einmal einen Jungen haben, der lächelt.

Uf, wie können Sie so etwas sagen.

Sie verstand mich wohl falsch. Sie war kindisch beleidigt. Um sie wieder zu versöhnen, fragte ich aufs Geratewohl:

Und was gab es bei dem Fest zu essen?

Ich weiß nicht, antwortete sie.

Sie wissen es nicht?

Nein, mein Gott, ich war doch nicht dabei, sagte sie höchst erstaunt.

Nein, natürlich nicht. Aber ich glaubte nur –

Na also, Sie glaubten, Sie! sagte sie noch gekränkter. Und wie damals im Sommer verstrickte sie die Finger und zerrte sie wieder auseinander.

Nein, ich versichere Ihnen, hören Sie. Aber ich glaubte nur, Sie hätten an solchen Sachen ein wenig hausfrauliches Interesse. Sie lernen doch zurzeit das Kochen.

Na, da sitzen Sie also da und machen Konversation mit mir, Sie passen Ihre Rede meinem Horizont an?

Pause.

Ja, vielleicht haben Sie übrigens recht, ich hätte nach dem Essen fragen sollen, aber das vergaß ich.

Sie mußte an diesem Abend sehr reizbar sein. Ob sie sich nicht doch für Flaten interessierte? Ich sagte etwas ängstlich:

Aber Sie haben mir nicht erzählt, mit wem Flaten sich verheiratet?

Sie ist gar nicht hübsch, antwortete sie plötzlich. Warum wollen Sie das wissen? Sie kennen sie nicht.

Nun soll Flaten wohl in das Geschäft des Vaters eintreten? fuhr ich fort.

Ach, der gute Flaten! Sie kümmern sich sicher mehr um ihn als ich. Ob Flaten und Flaten und Flaten in das Geschäft seines Vaters eintreten wird, weiß ich nicht.

Ich glaubte, da er sich nun verheiratet hat –

Aber sie ist doch auch reich. Nein, er braucht sicher nicht in das Geschäft seines Vaters einzutreten. Er sagte einmal, daß er eine Zeitung herausgeben wolle. Was gibts da zu lachen?

Ich lache nicht.

Doch, Sie lachen. Flaten will also eine Zeitung herausgeben. Und seit Lind eine Hundezeitung herausgibt, will Flaten eine Menschenzeitung herausgeben, sagte er.

Eine Menschenzeitung?

Ja. Und die sollten Sie sich halten, sagte sie mir plötzlich gerade ins Gesicht. Natürlich war sie jetzt in einem erregten Zustand, den ich nicht begriff, und ich antwortete nicht. Ich sagte nur: Sollte ich? Ja vielleicht. Dann fing sie zu weinen an.

Liebes Kind, weinen Sie doch nicht, ich will Sie nicht mehr quälen.

Sie quälen mich nicht.

Doch, indem ich dummes Zeug sagte, ich finde das Richtige nicht.

Doch, reden Sie weiter – das ist es nicht – ich weiß nicht –

Wovon sollte ich jetzt reden? Da trotz allem nichts so sehr interessiert wie die Frage nach einem selbst, so sagte ich:

Sie sind aus irgendeinem Grunde nervös, das vergeht schon wieder. Wahrscheinlich hat – wenn auch nicht so mit einemmal, aber, wahrscheinlich hat es trotzdem Eindruck auf sie gemacht, daß – ja, daß er nun seiner Wege geht. Aber denken Sie daran –

Sie irren sich, sagte sie und schüttelte den Kopf, das hat mich eigentlich nicht berührt, ich war nur einmal ein bißchen verliebt in ihn.

Sie erwähnten doch auch, daß er der einzige war?

Oh – Sie wissen, das kann bisweilen so den Anschein haben. Aber ich war doch auch von anderen eingenommen, das leugne ich nicht. Nein, Flaten war nur nett und nahm mich manchmal zu einem Spaziergang oder zum Tanzen oder so etwas mit. Und dann war ich doch stolz darauf, daß er mich kennen mochte, obwohl mir gekündigt worden war. Ich hätte sicher im Geschäft seines Vaters eine Stellung bekommen können, aber – Ich suche jetzt einen Posten.

Wirklich? Wenn Sie nur einen guten bekommen!

Das ist es ja eben. Aber ich finde nichts. Das heißt, ich finde schon, aber – In den Laden des alten Flaten zum Beispiel passe ich nicht.

Wohl auch schlechtes Gehalt?

Sicher. Und dann – ich weiß nicht, ich kann gleichsam zuviel dafür. Dieses elende Studentenexamen gereicht mir nur zum Schaden. Ja, jetzt wollen wir nicht mehr von mir reden, es ist sicher spät, ich muß gehen.

Ich begleitete sie zur Türe, sagte gute Nacht und ging heim. Ich dachte und dachte, es war Winterwetter, die Straßen naß, der Himmel verhangen. Nein, auch zum Heiraten taugt sie nicht; keinem Mann ist mit einer Frau gedient, die nur Studentin ist. Daß keiner im Lande darauf aufmerksam wird, was der weiblichen Jugend fehlt! Fräulein Torsens Bericht von dem Zechgelage zeigte wiederum, wie sehr sie darauf eingestellt war, dazusitzen und zu lernen und es dann herzuleiern. Sie hatte es wirklich gut gemacht und nicht viel vergessen, aber es waren doch meistens Dummheiten, auf die sie Gewicht legte. Ein erwachsenes, ein ewiges Schulmädchen hatte mich unterhalten, eine, die sich das Leben wegstudiert hatte.

Als ich an meine Tür kam, war Fräulein Torsen auch dort, sie war mir den ganzen Weg dicht auf den Fersen gefolgt, das merkte ich daran, daß sie beim Sprechen nicht im geringsten atemlos war.

Ich vergaß Sie um Entschuldigung zu bitten, sagte sie.

Aber liebes –?

Doch, für das, was ich sagte. Sie sollen nicht abonnieren. Ich bereue es so. Bitte entschuldigen Sie.

Sie nahm meine Hand und schüttelte sie.

In meiner Verwirrung schwätzte ich Unsinn: Das war witzig gesagt, Menschenzeitung, haha. Aber Sie werden frieren, ziehen Sie die Handschuhe wieder an. Wollen Sie gehen?

Ja. Gute Nacht. Verzeihen Sie mir den ganzen heutigen Abend.

Lassen Sie mich Sie begleiten, warten Sie ein wenig –

Nein, danke.

Als sie meine Hand fest gedrückt hatte, ging sie von mir fort.

Sie wollte wohl meine alten Knochen schonen, der Teufel hole sie! Aber ich schlich nun doch hinter ihr her und sah, daß sie gut heimkam.

*

Da geschieht es, daß Josefine in die Stadt kommt, sie, die die Arbeit auf »Torezinnen« verkörperte. Auch sie traf ich, sie kam zu mir, sie hatte mich erfragt und ich trieb wieder Spaß mit ihr und nannte sie Josefin.

Wie ging es auf »Torezinnen«? Ja, es ging allen gut, aber für Paal hatte sie ein Kopfschütteln. Er trank jetzt zwar nicht mehr so viel, aber er tat auch sonst nichts, seine ganze Arbeitslust war endgültig gebrochen. Jetzt wollte er verkaufen. Er wollte es mit Pferd- und Lastfuhrwerk im Großtal versuchen. Ich frage, ob er Käufer habe? Ja, Einar, der eine der Häuslerbauern, habe große Lust auf den Hof. Es komme jetzt auf den Großhändler Brede an, der eine so große Hypothek auf den Hof habe.

Ich erinnere mich ihres Vaters, des Greises aus der anderen Welt, der mit den Handschuhen, der mit Mus gefüttert werden mußte, weil er neunzig Jahr alt war – ich meine also den, der so stank, diesen unkrepierten Leichnam, an ihn denke ich und ich frage Josefine:

Ja, dein alter Vater drüben in der Stube, er ist jetzt wohl gestorben?

Nein, Gott sei Dank, antwortet sie, es geht ihm besser, als zu erwarten war. Wir müssen froh sein, so lange er auf ist.

Ich zeige Josefine den Kinematographen und den Zirkus, und das alles war ganz herrlich. Aber es war doch zu arg, daß die Damen so nackt ritten! Dann wollte sie in eine der großen Kirchen, und die fand sie allein. Sie blieb einige Tage in der Stadt und kaufte verschiedenes, nie sah ich sie wegen irgend etwas gedankenvoll oder niedergeschlagen, und eines Tages nahm sie Abschied, sie müsse nun am nächsten Tage wieder heimfahren.

Soso, sie wolle jetzt abreisen?

Ja, sie hatte erledigt, was sie sollte. Sie war jetzt auch bei Fräulein Torsen gewesen und hatte das Geld für den Komödianten erhalten, ja, denn er hatte ja nichts geschickt. Das arme Fräulein Torsen war ganz entsetzt, daß das noch nicht geschehen war, und ganz beschämt und rot wurde sie auch. Es sah auch nicht so aus, als wäre es so leicht für sie, sie bat mich bis zum nächsten Tag zu warten, aber da bekam ich es. So hatte Josefine also nichts mehr in der Stadt zu tun. Eben jetzt kam sie von Fräulein Palm, die sie besucht hatte, aber den Bruder, Nikolai, der bei einem Schreiner in die Lehre ging, hatte sie nicht treffen können. Und das sei auch gleichgültig, meinte Josefine, denn als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, sei gar nichts dabei herausgekommen. Na also. Denn sie bettelte nicht, sie hatte sowohl Kleingeld als auch etliche Stück Vieh. Und schließlich hatte sie auch einige Pfund Wolle – und zwei vollständige Betten, konnte sie wohl sagen – und sie selber war auch nicht nackt, sondern hatte genug, um außen und innen oft zu wechseln. Und außerdem wollte sie auch noch weben.

Erstaunt fragte ich, ob sie verlobt gewesen sei? Ich hatte nichts gehört.

Nein, aber – Nein, durchaus nicht verlobt, wenn man an Ring oder Aufgebot dachte. Aber es war doch wohl einmal die Absicht gewesen. Denn warum sollte sonst diese Lehrerin, diese Sofie Palm, seine Schwester, zwei Jahre lang umsonst bei ihnen auf »Torezinnen« wohnen und genau wie eine andere Dame leben? Aber o nein, danke schön, das soll jetzt ein Ende haben. Aber wie gesagt, sie, Josefine, hatte es eben einmal gedacht, doch es war wohl Gottes Wille, denn es wäre doch nichts als lauter Elend geworden, und so war es gut so.

Plötzlich fiel Josefine etwas ein:

Na – nein, liebe Zeit, ich darf nicht vergessen Indigo zu kaufen für die Leinwand. Gut, daß es mir eingefallen ist. Ja, vielen Dank jetzt für alles Gute!

 

34

Es ist nach den Weihnachtstagen, ich habe Nikolai nach Hause begleitet. Er hat sich jetzt freigemacht, da die Werkstätte in der Stadt doch still steht, um heimzufahren und das Haus mit Brennholz zu versorgen.

Hier ist ein großes Wohnhaus, schon Nikolais Vater hat auf das alte Haus aufgebaut, und jetzt hat Nikolai selbst das Dach erhöht, so daß das Haus zwei Stockwerke bekommen hat. Er hat reichlich Platz für mich, ich wohne in einer Kammer.

Seine Mutter ist tüchtig und munter, sie hat einige Kühe zu versorgen, sie wäscht oft das eine oder andere, ja, und wenn es nur gebrauchte Säcke sind. Dann kocht sie das Essen auf dem Herd und hält Tassen und Schüsseln blank. Sie ist sehr reinlich, so zum Beispiel seiht sie die Milch durch einen Seiher mit einem Haarsieb und wäscht dieses Haarsieb danach in zwei Wassern. Aber die Speisereste zwischen den Gabelzinken stochert sie mit einer Haarnadel heraus.

An den Wänden der Stube hängen ein Spiegel und Bilder der deutschen Kaiserfamilie und ein Christus am Kreuz, außerdem sind zwei Regale da mit verschiedenen Gegenständen darauf, unter anderem ein Psalmenbuch und eine Postille. Man ist noch unverändert und orthodox in diesen Gegenden. Alles andere in der Stube, Stühle und Tisch und Piedestal und einen kunstfertigen Schrein, hat Nikolai selbst gemacht.

Nikolai ist hier ebenso wie in der Stadt schwerfällig und wortkarg, am Tag nach unserer Ankunft ging er in den Wald, ohne der Mutter etwas davon zu sagen. Als ich nach ihm fragte, antwortete sie: Ich sah ihn, wie er sich am Schlitten zu schaffen machte, da wird er wohl in den Wald gegangen sein.

Die Mutter heißt Petra, ich glaube nicht, daß sie schon viel über vierzig Jahre alt ist, so sieht sie aus – ein wenig rötlich im Gesicht und derb gebaut auch sie, mit heller Haut, dickem, ergrautem Haar, der reine Flachs. Sie hatte ein paar Augen, die zu diesem Haar paßten, dunkle Augen, jetzt etwas schwach, aber immer noch tauglich, um weit und klug damit über den Fjord zu blicken. Auch sie ist wortkarg wie alle Bauern hier, am liebsten hält sie ihren großen Mund geschlossen.

Ich frage sie, wie lange sie Witwe gewesen ist, und das war sie nun seit bald einem Menschenalter gewesen – nein, daß ich doch nicht lüge, sagt sie, aber Sofie in der Stadt ist nun vierundzwanzig, und ein Jahr nach ihrer Geburt starb der Mann. Sie waren nur zwei Jahre verheiratet gewesen. Nikolai ist jetzt sechsundzwanzig.

Ich sitze da und denke über diese Rechnung nach, da ich aber alt und untüchtig bin, komme ich nicht zurecht damit.

Petra war sehr stolz auf ihre Kinder, besonders auf Sofie, die zur Schule gegangen war und das Examen gemacht hatte und jetzt eine so verantwortungsvolle Stellung hatte. Jaja, freilich war ihr ganzes Erbe dabei draufgegangen, aber dafür hatte sie die Bildung. Und die konnte ihr keiner nehmen. Sofie ist ein großes schönes Mädchen, hier ist das Porträt.

Ich sagte, daß ich sie von »Torezinnen« her kenne.

So? Von »Torezinnen«? Ja, sie war dort im Sommer, um mit ihresgleichen zusammen zu sein, dagegen war nichts einzuwenden. Aber sie kam auch heim, jedes Jahr, so gewiß wie das Jahr anbrach. Soso, auf »Torezinnen«?

Bisweilen begleite ich Nikolai, wenn er Holz heimholt, und helfe ihm ein wenig. Er war stark wie ein Gaul und dabei unempfindlich bis zur Gefühllosigkeit, ein Riß, ein blaues Auge – nichts. Nun zeigt es sich, daß auch sein Kopf heftig arbeitet: Er wollte ein Pferd haben, ja, aber ein Pferd konnte er nicht halten, bevor er mehr Futter hätte. Aber neues Land urbar machen konnte er nicht, ehe er Geld dazu hätte. Jetzt war er in der Stadt und verbesserte sich in seinem Handwerk, dann wollte er zurückkehren und Geld verdienen. Dann kam das Pferd.

Ich besuchte auch die Nachbarn ringsum; die Höfe waren klein, aber die Leute ernteten, was sie brauchten, und Armut gab es nicht. Hier standen keine Blumentöpfe am Fenster und hingen keine Bilder an der Wand wie bei Petra; aber hier hingen dicke gute Schaffelle und gewebte Decken draußen im Hofplatz, und die Kinder sahen kräftig und satt aus. Die Nachbarn wußten sehr wohl, daß ich bei Petra wohnte, jeder, der kam, wohnte ja dort, das war so gewesen, so lange sie sich erinnern konnten. Ich verspürte keine Feindlichkeit gegen Petra bei diesen schweigsamen Menschen; der alte Schullehrer jedoch sprach mehr und brachte es über sich, sie schlecht zu machen. Er war Junggeselle, dieser Mann, aber er besaß sein eigenes Haus und versorgte sich selbst. Möchte wissen, ob der gute Mann nicht manchmal Sehnsucht nach der Witwe Petra gehabt hatte?

Der Schullehrer schwätzt:

Es war schon immer so gewesen, auch bei Petras Eltern: die Reisenden wohnten dort. Es gab da eine Kammer und einen Speicher, dort wohnte der Ingenieur, der die große Straße absteckte, dort wohnten die Prädikanten, die umherreisten, und dort wohnten vor allem alle Hausierer, die das ganze Jahr hier umherzogen. So war das schon viele Jahre lang; die Kinder wuchsen auf, Petra wurde groß und erwachsen. Da kam Palm, er war Schwede, ein großer Händler, ein Großhändler für seine Zeit, konnte man sagen, er hatte ein eigenes Boot und sogar einen Knecht, der die Waren trug. Ja, nun kamen wieder Glasscheiben in die Fenster bei Petras Eltern, und dann gab es Fleisch an den Sonntagen, denn Palm tat sehr groß und er schenkte Petra Kleiderstoffe und gute Sachen. So vergingen die Monate, und Palm reiste in seinen Geschäften an andere Orte. Aber glücklicherweise bekam Petra einen Jungen, und als Palm zurückkehrte und den Knaben sah, blieb er gleich da und reiste nicht mehr fort. Sie heirateten, Palm baute zwei Zimmer an das Haus an, denn es war sicher seine Absicht, hier einen Handel anzufangen; als er aber schön und gut gebaut hatte, starb er. Da saß die Witwe mit den zwei Kleinen, aber sie hatte ja genügend Mittel, denn Palm war reich gewesen. Warum heiratete Petra dann nicht wieder? Sie hätte schon jemand bekommen können, obwohl die Kinder klein waren und ein Hindernis bildeten, denn Petra selbst war ja noch ein junges Mädchen. Aber sie hatte von Kindesbeinen an ein eigenartiges Verlangen in sich, sagte der Schullehrer, so daß sie wieder diese reisenden Kerle und Schweden und Hausierer aufnahm und sich preisgab. Manche wohnten wochenlang dort und aßen und tranken und handelten nicht und gingen nicht wieder fort, es sei eine Schmach, es zu erzählen. Und ihre Eltern – so lange die am Leben waren – die sahen nichts Schlimmes darin, denn sie waren daran gewöhnt, und schließlich brachte es ein paar Schillinge ein, und so vergingen die Jahre. Als nun die Kinder erwachsen waren und Sofie fort war, hätte sie sich doch wenigstens da verheiraten können, denn noch besaß sie die Hälfte des Vermögens und war jetzt kinderlos, es war also nicht zu spät. Aber nein, Petra wollte nicht, und es sei jetzt zu spät, sagte sie, und jetzt sollten die Kinder heiraten, fand sie.

Jaja, sie ist jetzt wohl auch ziemlich alt? sage ich.

Ja, die Zeit vergeht, antwortet der Lehrer. Ich weiß nicht, ob es heuer jemand versucht hat, aber im vorigen Jahr war jemand – war einer da – so sagt man, dem Hörensagen nach. Aber Petra wollte nicht. Wenn ich nur fassen und begreifen könnte, worauf sie wartet.

Sie wartet wohl überhaupt nicht.

Ja, mir kann es gleich sein, sagt der Lehrer. Aber sie hat doch alle diese umherreisenden Geschäftsleute und hält zum Ärgernis der Gemeinde mit ihrem ganzen Herzen daran fest …;

Als ich aber vom Schullehrer heimging, hatte ich ein wenig besseren Einblick in die Rechnung bekommen, die Petra mir gegeben hatte.

*

Nikolai ist wieder zu seiner Arbeit in der Stadt gefahren, ich aber bin zurückgeblieben. Es ist gleichgültig, wo ich bin, der Winter macht mich ja doch tot.

Um mich mit etwas zu beschäftigen, messe ich genau das Stück Land aus, das Nikolai roden will, wenn er zu Geld kommt; ich rechne aus, was es kosten wird, mit Grabenziehen und allem – ganze zweihundert Kronen. Dann kann er ein Pferd füttern. Es war doch Pflicht, ihm dieses Geld zu geben, wenn die Mutter es nicht tun konnte. Dann gab es ein Stück Wiese mehr im Lande.

Hören Sie, Petra, Sie könnten Nikolai die zweihundert Kronen geben, dann hätte er Futter für ein Pferd.

Und dann vierhundert für das Pferd, murmelt sie.

Das macht sechs.

Ich habe nicht so viele sechshundert Kronen.

Aber kann er das Pferd füttern?

Pause.

Er soll das Land selbst urbar machen.

Es war nichts Fremdes für mich in diesem Gedankengang, jeder hat mit dem Seinen zu kämpfen, auch Petra. Aber das Merkwürdige ist, daß jeder kämpft, als hätte er noch hundert Jahre zu leben.

Ich kannte zwei Brüder Martinsen, die besaßen einen großen Hof und verkauften die Erträgnisse dieses Hofes. Beide waren reiche Junggesellen und hatten keine nahen Erben. Und beide waren sie lungenkrank, der Jüngere noch mehr als der Ältere. Da, im Frühjahr, wurde dieser Jüngere bettlägerig, und das bedeutete das Ende. Aber er interessierte sich für alles auf dem Hof. Er hört in der Küche eine fremde Stimme und ruft den Bruder herein. Was gibt es? fragt er. – Nur jemand, der Eier kaufen will. – Was wird jetzt für die Mandel gegeben? – Das und das. – Gib ihm die kleinsten, sagte er. – Einige Tage später war er tot. Der Bruder blieb am Leben, wurde siebenundsechzig Jahre alt und war lungenkrank. Kam jemand zu ihm und wollte Eier kaufen, so erhielt er die kleinsten …;

Aber, sage ich weiter zu Petra, es wird sich für Nikolai nicht lohnen, den Acker selbst urbar zu machen? Er kann bei seinem Handwerk mehr verdienen.

Man bezahlt hier nichts für Schreinerarbeit, antwortet Petra, die Leute kaufen jetzt Stühle und Tische beim Handelsmann, das ist billiger.

Warum geht Nikolai dann jetzt in die Lehre?

Das habe ich auch gefragt, erwidert sie. Nikolai will nur Schreinerarbeit machen, aber dabei kommt nichts heraus. Aber mag er es halten, wie er will.

Was sollte er denn sonst lieber tun?

Pause. Petras großer Mund ist geschlossen. Endlich sagt sie: Hier ist jetzt großer Verkehr, und im Sommer kommen viele fremde Reisende von »Torezinnen« sowohl als auch von unten, von der Landspitze. Einmal kamen zwei Dänen, die hier wohnten, sie waren zu Fuß gegangen. Du hättest ein Pferd haben und uns hierher fahren sollen, sagten sie zu mir.

Richtig, denke ich, jetzt fängt es an!

Du hast ein großes Haus und vier Räume, sagten die Dänen, hier sind hohe Berge und große Wälder, sagten sie, Fische im Fjord und Fische im Fluß, hier gibt es viele Dinge, hier ist ein breiter Weg, sagten sie. Ja, Nikolai stand sogar dabei und hörte zu. Nun sind wir hergekommen, aber wir kommen nicht mehr fort von hier, sagten sie, wir müssen gehen.

Um etwas zu sagen, frage ich:

Vier Räume – gibt es hier mehr als drei?

Ja, die Werkstätte könnte auch eingerichtet werden, antwortet der große Mund.

Ja, nicht wahr! dachte ich. Und dann sage ich gleich darauf: Aber wenn Nikolai die Touristen fahren soll, dann muß er doch ein Pferd haben?

Dafür wäre schon Rat geworden, antwortet Petra.

Vierhundert Kronen.

Ja, erwidert sie, und der Wagen anderthalb hundert.

Aber er kann doch kein Pferd füttern?

Womit füttern die andern ihr Pferd? fragt sie. Auf der Landspitze kaufen sie einen Sack Hafer.

Das sind achtzehn Kronen.

Nein, siebzehn. Das bringen sie auf der ersten Fahrt wieder herein.

Oh, Petra hatte alles ausgerechnet, sie war die geborene Wirtin, in einer Herberge aufgewachsen. Sie kann sogar kochen, legt sie doch zwei italienische Makkaronidärme in die Buchweizensuppe ein. Das Geld für den Kaffee, für das Bett, für die Waffeln am Morgen war ihr so wertvoll geworden, sie versteckte es, sah, wie es zunahm, wurde reich daran. Sie sorgte nicht für landwirtschaftliche Erzeugnisse wie die andern Bauernfrauen, nein, das nicht, niemand kann alles auf einmal tun, Petra war eine Schmarotzerin. Sie wollte nicht davon leben, daß sie etwas verdiente, sie wollte davon leben, daß die Reisenden etwas verdienten und es sich leisten konnten, zu kommen.

Ach ja, hierher kommen auch noch Herrlichkeit und Angelsachsen, in diese Gegend. Wenn alles gut geht. Und das tut es sicher.

*

Es ist Februar. Mir kommt ein Gedanke, ein herrenloser Gedanke, der mir zustiegt, und ich greife ihn auf: ich warte nun darauf, bis hartgefrorener Boden und wenig Schnee ist, um über die Berge nach Schweden hinüberzuwandern. Das tu ich.

Aber bis das geschehen kann, muß ich noch auf meine Wäsche warten, und Petra, die reinlich ist, wäscht in vielen Wassern. So vertreibe ich mir die Zeit in Nikolais Werkstätte, wo es vielerlei Hobel und Sägen und Bohrer und eine Drehbank gibt, und dort mache ich seltsame Dinge. Für die Buben im Nachbarhof mache ich eine Luftmühle, die vom Wind angetrieben wird. Die rasselt wunderschön und surrt; ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß diese Einrichtung mit einem Onomatopoetikon Windschnurre genannt wurde.

Im übrigen wandere ich auch manchmal umher und gebrauche meinen Winterkopf, so gut ich kann. Es nützt nichts. Ich gebe deshalb nicht dem Winter die Schuld, ich gebe niemand die Schuld, aber es werden keine roten Eisen und keine Jugend und Allmacht daraus, ach Gott, nein! Stundenlang kann ich auf einem Waldpfad gehen, die Hände auf dem Rücken, und alt sein, eine Erinnerung kann mich für eine Weile innerlich vergolden, ich bleibe stehen, ziehe die Augenbrauen hoch und schaue erstaunt vor mich hin. Sollte das ein Eisen werden? Es wird nichts, es verdampft, ich bleibe in wehmütiger Ruhe zurück.

Aber um so zu sein wie in jungen Tagen, tue ich so, als erfasse mich ein gesegneter Trieb, ho, die Situation ist keineswegs verloren, es entstehen Bilder daraus, das Bruchstück eines Liedes:

Wir kamen vom Freien
Und weichem Gras
Und guten Freunden
Und tu lulu lu.

Ein Stern, der sah es,
Mund traf auf Mund,
So gut war niemand,
So gut wie du.

Die jungen Tage,
Die frohen Tage,
Nichts gleichet ihnen;
Doch seht nun mich!

Da schwärmten Bienen,
Da zog der Schwan,
Und jetzt zieht keines.
Doch tu lulu lu!

Ich höre auf, ich stecke den Bleistift in die Tasche, während in mir noch ein Ton nachklingt. So habe ich wenigstens selbst noch einen kleinen Geschmack davon.

*

Es ist ein Brief für mich da – na, wer findet mich sogar hier? Der Brief lautet:

Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen schreibe, ich möchte gern mit Ihnen über ein Geschehnis sprechen: Wenn Sie in die Stadt zurückkommen, möchte ich um ein Zusammentreffen mit Ihnen bitten. Es ist nichts Schlimmes. Bitte sagen Sie nicht nein.

Ihre Ingeborg Torsen

 

Ich lese es viele Male. Ein Geschehnis? Aber ich will nach Schweden, will mich überhaupt ein wenig rühren und nicht nur in anderer Leute Angelegenheiten aufgehen. Glaubt man, ich sei der alte Onkel der Menschheit geworden, den man dahin und dorthin rufen könne, damit er seinen Rat gebe! Entschuldigen Sie, denke ich und mache mich kostbar und richte mich auf, jetzt sind eben gute Wegverhältnisse, ich habe eine große Reise geplant, eine Geschäftsreise kann ich wohl sagen, es gilt viel für mich, manches steht auf dem Spiele …; Wie sonderbar ist doch das menschliche Gemüt zusammengesetzt: Während ich dasitze und mit mir selbst Unsinn rede und sogar dann und wann laut ein ärgerliches Wort sage, so daß Petra es hören muß, bin ich doch keineswegs unzufrieden damit, diesen Brief erhalten zu haben, im Stillen freue ich mich so, daß ich mich schäme. Das kommt davon, daß ich die Stadt wieder sehen soll, die gefrorenen Häfen, die Schiffe.

Aber was kann das Ganze bedeuten? Und ist sie bei meiner Wirtin gewesen und hat dort die Adresse bekommen? Oder hat sie Nikolai getroffen?

Ich reiste sofort ab.

 

35

Meine Wirtin ist überrascht:

Ja, guten Abend! Wie frisch und vergnügt Sie aussehen! Und da liegt Ihre ganze Post.

Ja, lassen Sie sie liegen. Aber, Madam Henriksen, Sie sind eine Perle.

Hahaha.

Doch, das sind Sie. Und Sie sind ein guter Mensch. Aber Sie haben jemand meine Adresse gegeben.

Nein, das weiß Gott, das habe ich nicht.

Na, dann waren nicht Sie es, der das getan hat. Ja, Sie haben recht, ich bin vergnügt, und morgen will ich zeitig aufstehen und an den Hafen hinuntergehen.

Dagegen aber habe ich jetzt eben einen Boten fortgeschickt, sagt meine Wirtin, das war vielleicht falsch? Zu einer Dame, sie wollte sofort erfahren, wann Sie angekommen sind.

So, eine Dame? Sie haben jetzt einen Boten fortgeschickt?

Vorhin, als Sie kamen. Aber es war eine junge schöne Dame, das dürfen Sie glauben, sie könnte Ihre Tochter sein.

Danke.

Ja, das sage ich ganz offen. Und sie wollte sofort kommen, sagte sie, denn sie müsse mit Ihnen sprechen.

Die Wirtin geht.

Fräulein Torsen wollte also an diesem Abend kommen, da mußte etwas vorliegen. Sie war noch nie bei mir gewesen, ich schaute mich um, ja, hier war es schön und fein. Ich wasche mich und mache mich fertig, den Stuhl dort soll sie haben; ich zünde auch die andere Lampe an. Jetzt paßt es gerade schön, wenn ich mich hinsetze, um die Post zu lesen, das sieht gut aus, und wenn ich nun die Briefe mit kleiner weiblicher Schrift zu oberst legte, so würde sie das vielleicht auch noch etwas eifersüchtig machen, hehe. Ach Gott, noch vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man solche Kunststücke machen, jetzt ist es zu spät …;

Dann klopfte sie an und kam herein.

Ich streckte die Hand nicht aus, und auch sie tat das nicht, aber ich bot ihr den Stuhl an.

Entschuldigen Sie, daß ich so schnell komme, sagte sie. Ich bat Madame Henriksen, mir Nachricht zu geben; aber es ist nichts Ernstliches, und jetzt ist es mir unangenehm, aber –

Ich sah, daß es etwas Ernstliches war, und mein Herz klopfte stark. Warum klopfte es so?

Es ist das erstemal, daß Sie in meiner Bude sind, sage ich, wartend und abwehrend.

Ja, Sie haben es so schön, antwortet sie, ohne sich umzusehen. Sie begann die Finger zu verschränken und sie wieder auseinander zu zerren, so daß die Handschuhspitzen weit vorgezogen wurden, sie war sehr unruhig.

Jetzt habe ich doch wohl etwas getan, womit Sie zufrieden sind? sagt sie und reißt den Handschuh herunter.

Sie trug einen Ring an der Hand.

Gut. Das berührte mich nicht sofort, erst später wurde es mir klarer, ich fragte:

Sind Sie verlobt?

Ja, antwortete sie. Und sie sah mich lächelnd an, doch ihr Mund bebte.

Auch ich sah sie an und sagte sicherlich etwas wie: Naja, sehen Sie! Ich nickte väterlich, verbeugte mich: Meinen Glückwunsch!

Ja, dazu ist es nun gekommen, sagt sie, ich glaube, das war das beste. Sie finden es vielleicht ein wenig unbeständig von mir oder leichtsinnig oder – ja, finden Sie das nicht?

Nein, ich weiß nicht –

Aber es war unbedingt das beste. Und nun wollte ich Ihnen das nur erzählen.

Ich erhob mich, sie zuckte sogleich zusammen, so bebend nervös war sie. Aber ich erhob mich nur, um die Lampe hinter ihr zu richten, die zu rauchen angefangen hatte.

Pause. Wenn sie nichts mehr sagte, was sollte dann ich sagen? Als die Pause aber zu lang wurde und ich sah, wie gequält sie war, sagte ich dennoch:

Ja, warum wollten Sie mir das eigentlich erzählen?

Ja, warum –

Sie glaubten wohl einen Augenblick lang wieder der Mittelpunkt der Welt zu sein, aber –

Ja, so ist es wohl.

Sie blickte mit großen, unsicheren Augen um sich, dann stand sie auf, sie hatte die ganze Zeit wie auf dem Sprung gesessen. Auch ich stand auf. Ein unglücklicher Mensch, das sah ich freilich, aber Herrgott, was konnte ich tun? Sie kam und erzählte mir, daß sie verlobt sei, und dann schien sie sehr unglücklich, war das eine Art und Weise! Aber als sie jetzt stand, sah ich ihr besser unter den Hut – das Haar – es wurde jetzt wie Seide und Silber an den Schläfen, das war so schön. Sie war groß und schön, ihre Brust hebt und senkt sich, sie hat eine üppige Brust, oh, einen üppigen Busen, er hebt und senkt sich, sieh doch. Und das Gesicht ist braun, der Mund offen, er ist leicht geöffnet, er ist trocken, fiebertrocken –

Fräulein Ingeborg, sage ich zum erstenmal. Und ich strecke die Hand ein wenig aus, will sie vielleicht anfassen, will sie streicheln, nein, ich weiß nicht –

Aber sie hat sich jetzt besonnen, sie steht aufrecht da, brillant. Sie hat kalte Augen bekommen, die schauen mich an, weisen mich auf meinen Platz zurück, gleichzeitig geht sie zur Türe.

Mir entschlüpft ein: Nein –?

Was ist? fragt sie.

Gehen Sie nicht, noch nicht, nicht sogleich, setzen Sie sich wieder und erzählen Sie mir mehr.

Nein, Sie haben vollkommen recht, sagt sie, ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt. Da komme ich zu Ihnen mit meinen kleinen Angelegenheiten, und Sie, der – schauen Sie doch nur all Ihre Post an.

Nein, hören Sie jetzt, setzen Sie sich wieder, ich werde die Post nicht einmal lesen, es ist nichts, zwei, drei Briefe vielleicht, und die vermutlich von ganz unbekannten Leuten. Setzen Sie sich jetzt hin, sagen Sie mir alles, das sind Sie mir schuldig. Sehen Sie her, ich werde meine Post nicht einmal lesen.

Damit raffte ich alle Briefe zusammen und schob sie in den Kachelofen.

Nein, aber –? Nein, was tun Sie! ruft sie aus und läuft zum Ofen, um sie zu retten.

Lassen Sie nur, sage ich. Ich erwarte keine Freuden von der Post, und Sorgen suche ich nicht auf.

Jetzt, als sie mir so nahe stand, hätte ich sie beinahe wieder berührt, einen Augenblick ihren Arm berührt; aber ich ertappte mich dabei und hielt inne. Ich war wohl vorher schon zu weit gegangen, und deshalb sagte ich jetzt gut und mitfühlend, sie tat mir so leid:

Liebes Kind, Sie dürfen jetzt nicht unglücklich sein, es wird sicher noch alles gut, Sie werden sehen. Setzen Sie sich jetzt – so danke, das war recht.

Sie war wahrscheinlich so erstaunt über meine Heftigkeit, daß sie scheinbar gedankenlos wieder in den Stuhl sank. Sie sagte:

Ich bin nicht unglücklich.

Nicht? Gut! Und jetzt rede ich drauf los, aber ich versuche mich zurückzuhalten und nur wie ein Onkel für sie zu sein. Ich spreche, um sie zu zerstreuen, um uns zu zerstreuen, ich lasse es laufen, ich höre es dröhnen. Was konnte ich sagen? Großes und Kleines, eine Unmenge:

Soso, Kind. Und wer wird es jetzt sein – wer wird Sie also bekommen – wer denn? Das war schön von Ihnen, daß Sie zuerst zu mir gekommen sind, das wird mir jetzt klar, vielen Dank dafür. Sehen Sie, ich bin eben heimgekehrt und habe unterwegs nicht viel geschlafen, ich war gespannt darauf – nein, gespannt? Aber jedenfalls war ich – Sie wissen, auf so einem Heimweg, viele Leute, Gangspillgerassel, brr, ich schlief nicht viel. Dann kam ich heim, und dann kamen Sie und dafür danke ich Ihnen, Fräulein Ingeborg – ich bin ein Vater und Sie sind ein junges Kind, deshalb sage ich Ingeborg. Aber als Sie mir alles erzählten – ich hatte nicht geschlafen, war nicht im Gleichgewicht, um einen guten Rat zu geben, meine ich, ich besaß keine Übersicht. Aber jetzt können Sie beruhigt sein, ich möchte doch gern mehr wissen. Ist er alt? Ist er jung? Natürlich jung. Ich denke darüber nach, wie es Ihnen jetzt gehen wird, Fräulein Ingeborg, in den fremden Verhältnissen, meine ich, es wird wohl ganz verschieden sein von dem, was Sie vielleicht von früher her gewohnt sind, aber Gott segne Sie, wie gut geht jetzt doch alles, dessen bin ich sicher.

Nein, Sie wissen doch nicht, wer es ist? unterrichtet sie. Und jetzt sieht sie mich wieder ängstlich an.

Nein, das weiß ich nicht, und ich brauche es auch jetzt nicht zu wissen, wenn Sie lieber damit warten wollen. Wer es ist? Ein kleiner feiner Mann, das sehe ich am Ring, ein Lehrer vielleicht, ein junger tüchtiger Lehrer –

Sie schüttelte den Kopf.

Dann ein großer gutmütiger Mann, der mit Ihnen tanzen wird –

Ja, vielleicht, sagt sie leise,

Sehen Sie, ich habe es getroffen. Ein Bär, er wird Sie auf den Tatzen tragen. Zu Ihrem Geburtstag – wissen Sie, was er Ihnen zum Geburtstag geben wird?

Aber nun werde ich wohl zu kindisch und langweilig für sie, sie blickte zum erstenmal weg auf ein Bild an der Wand, und von dort zu einem anderen Bild. Aber es war nicht so leicht, inne zu halten, für mich, der viele Wochen lang fast nichts geredet hatte und jetzt noch dazu aufgeregt war, Gott weiß, warum.

Wie ist es Ihnen auf dem Land ergangen? fragt sie plötzlich. Und da ich nicht weiß, wo sie damit hin will, und sie nur anschaue, fährt sie fort: Sie waren doch bei Nikolais Mutter?

Ja.

Wie war sie?

Interessieren Sie sich für sie?

Ach nein, vielleicht nicht. O Gott! sagt sie müde.

Soso, ist das ein Ton für eine Neuverlobte! Wie es auf dem Land war – nein, es war ein Schullehrer da, wissen Sie, ein alter Junggeselle, durchtrieben, herrlich. Er sagte, daß er mich kenne, und strich sich am ersten Tage mächtig heraus; ich meinerseits antwortete darauf, daß ich ausschließlich gekommen sei, um ihn zu sehen. Das ist ganz unmöglich! sagte er. Warum? meinte ich, vierzig Jahre Schullehrer, ein geachteter Mann, unentwegter Kirchengänger, Gemeindevorsteher, Topf und Pfanne. Ja, dann hörte ich beim Unterricht zu. Prachtvoll; der Lehrer sprach die ganze Zeit, er hatte heute einen Zuhörer, das war eine Art Visitation: Du Peder! hm. Es kamen ein Pferd und ein Mann, der eine ritt auf dem Rücken des anderen, wer ritt, Peder? Der Mann! antwortet Peder. Pause. Du hast ganz recht, Peder, es war der Mann, der ritt. Und genau so ist es mit der Sünde, es ist der Satan, der uns reitet …;

Jetzt aber blickte sie wieder zur Wand hinüber und ging mir gleichsam abermals verloren. Ich machte einen schiefen Sprung:

Es ist begreiflich, Sie wollen lieber von bekannten Personen hören, von »Torezinnen« zum Beispiel. Josefine ist hier gewesen.

Ja, sagte sie und nickte.

Erinnern Sie sich des Greises auf »Torezinnen«? Ich glaube, ich werde ihn nie vergessen. In so und so vielen Jahren bin ich so wie er, in nicht sehr viel Jahren. Dann bin ich wieder ein Kind vor lauter Alter. Er war einmal herausgekommen, auf den Acker, ich sah ihn, er hatte Fäustlinge an. Sie wissen, er aß alles Mögliche, damals lag er da und aß Heu.

Sie starrte mich idiotisch an.

Na, er sah allerdings dabei aus, als hätte er noch nie Heu gegessen. Es konnte zwar auch daher kommen, daß es verdorben war. Es war von dem Heu, das liegen geblieben war, Sie wissen, jenes, das bis zum nächsten Jahr verfaulte, bis zum nächsten Touristenjahr.

Sie glauben sicher, Sie müßten mich aufmuntern, sagte sie lächelnd, glauben, ich sei höchst unglücklich? Im Gegenteil. Er ist vielleicht zu gut für mich; seine Schwester muß jedenfalls der Ansicht sein, da sie so gegen mich gearbeitet hat. Aber es soll mir ein Vergnügen sein, diese Schwester zu übersehen. Na, aber ich bin nicht unglücklich, darum bin ich nicht gekommen. Ich will doch wirklich lieber ihn haben als jemand anderes – wenn ich schon nicht den bekomme, den ich will.

Kind, das haben Sie schon einmal gesagt – ja, im Winter sagten Sie das. Aber der, den Sie haben wollen, ist ja seiner Wege gegangen. Nicht wahr. Und Sie fanden sicher auch selbst, daß Sie nicht für ihn paßten, das heißt, daß er nicht paßte – ich meine –

Passen? Ich passe doch nirgends hin? Glauben Sie, ich passe dorthin, wo ich hinkommen werde? Leider bin ich nicht so geworden, daß ich für irgend jemand passe, ich weiß nicht, wer das sein sollte, im ganzen Land. Aber die Frage ist, ob es mir gelingt, – ob er es mit mir aushalten kann. Aber ich werde den besten Willen zeigen, das habe ich mir selbst gelobt.

Ja, wer ist es denn, kenne ich ihn? Sie sollten nicht für ihn passen? Das ist seltsam. Er wird Sie doch gern haben und verliebt in Sie sein, und Sie werden ihn wieder lieben. Hören Sie nun, Fräulein Ingeborg, es wird Ihnen mit Glanz gelingen, Sie sind tüchtig und verständig –

Naja! sagte sie kurz und erhob sich. Jetzt aber zauderte sie, nahm einen Anlauf zum Sprechen, bedachte sich. Endlich ging sie zur Türe und fragte von dort aus, abgewendet, an ihren Handschuhen zerrend:

Sie finden also, daß ich es tun soll?

Ich wunderte mich sehr über diese Frage und sagte:

Es tun? Haben Sie es nicht getan?

Doch, schon, das heißt – doch, ich habe es getan, ich bin verlobt. Und Sie haben mir die ganze Zeit gesagt, daß ich damit recht getan habe.

Nein, das weiß ich nicht, das kann ich unmöglich wissen, antwortete ich und ging zu ihr hin. Wer ist es denn?

Ach, nein, Gott, lassen Sie es jetzt sein, ich kann nicht mehr. Gute Nacht.

Sie streckte tastend die Hand aus, da sie aber zu Boden blickte, fand ihre Hand die meine nicht, unsere Hände glitten stets aneinander vorbei, sie öffnete die Tür und verschwand. Ich rief ihr nach, bat sie, zu warten, dann ergriff ich meinen Hut und eilte ihr nach. Die Treppe war leer. Ich ging ganz hinunter und öffnete das Haustor – die Straße war leer. Sie mußte gelaufen sein.

Ich will versuchen, sie morgen zu treffen, dachte ich.

*

Ein Tag, zwei Tage, ich traf sie nicht, obwohl ich auf ihren Wegen ging. Noch ein Tag – nein. Dann wollte ich in ihre Wohnung hinaufgehen und fragen. Anfangs dachte ich nicht, daß etwas Auffallendes daran sein könnte, als es aber so weit war, überlegte ich es mir: Ein wenig verliert man ja, wenn man sich lächerlich macht. Aber war ich nicht Onkel? Nein – doch, natürlich, aber –

So vergehen eine Woche, zwei Wochen, drei – das Mädchen ist vollkommen unauffindbar, es ist doch wohl kein Unglück geschehen? Ich gehe die Treppe hinauf und läute an ihrer Wohnung.

Sie ist schon abgereist, gleich nach der Hochzeit, vergangene Woche. Sie hat Nikolai geheiratet, den Schreiner Nikolai.

*

März – welch ein Monat: der Winter ist vorüber, aber wie lange er noch dauern kann, das weiß man im März noch nicht. Dazu ist der März da.

Ich habe einen neuen Winter durchlebt und die seligen Negervergnügungen im Theater der Angelsachsen gesehen. Du warst doch auch dort oben, mein kleiner Freund, du sahst, wie geschickt wir waren im Kunststückchen machen, ja, du nahmst ja daran teil, hast sogar noch eine kleine liebe Erinnerung: die Rippe, die du dir brachst. Ich erlebte das in kleiner Entfernung mit, zwei Meilen entfernt, kein Mensch in der Nähe, dafür aber sieben Himmel über mir.

Jetzt lese ich bald, was die Amtmänner von der Jahresernte in unserem Land berichten, das heißt von den Einnahmen im Theater Norwegen – ho, Dollars, Sterling.

Und der lustige Professor wird sich in seinem Element tummeln. Da kommt er, sicher und selbstzufrieden. Herr Durchschnitt in seiner Majestät. Im nächsten Jahr wird er noch andere hellsichtige Leute mitbringen und Norwegen noch mehr herausputzen, Norwegen noch auffallender für die Angelsachsen machen. Mehr Dollars, mehr Sterling, ho.

Was weiter, murrt jemand darüber?

Die Schweiz.

Dann müssen wir uns die Schweiz zum Mittagessen mitnehmen und eine Rede darauf halten: Kollega, unser großes Ziel ist, dir zu gleichen; wer kann so viel aus seinen Alpen herauswirtschaften, wer kann solche Uhrenräder feilen wie du? Schweiz, tue so, als seist du daheim, wir wollen dich nicht stehlen, hier sind keine Taschendiebe am Tisch. Dein Wohl!

Aber wenn das nichts hilft, dann müssen wir uns fest zusammennehmen und kämpfen, noch gibt es Norweger im alten Norwegen, wir konkurrieren mit – der Schweiz.

*

Madam Henriksen stellt mir Palmkätzchen in einem Glas herein.

Was, ist es Frühling?

Jaja, jetzt geht's bald an.

Dann verreise ich. Ja, sehen Sie, Madam Henriksen, ich würde so gern bleiben, denn eigentlich gehöre ich hierher; aber was soll ich hier noch tun? Ich arbeite nicht, ich lebe nur so dahin. Können Sie so etwas verstehen? Ich gräme mich die ganze Zeit, mein Herz ist voller Falten. Mein geistreichstes Spiel ist jetzt Kopf oder Wappen: ich werfe eine Münze in die Luft und warte. Als ich im Herbst zu Ihnen kam, war ich nicht so niedergeschlagen, durchaus nicht, ich war zwar nur ein halbes Jahr jünger, aber ich war zehn Jahre jünger. Was ist jetzt mit mir geschehen? Nichts. Es ist nur das, ich bin nicht mehr der gleiche wie im Herbst.

Aber Sie sind doch den ganzen Winter so frisch gewesen? Und als sie vor drei Wochen vom Land heimkamen, waren Sie so vergnügt?

So? Daran erinnere ich mich nicht. Nein, so schnell geht es ja nun doch nicht, und es ist mir nichts widerfahren in diesen drei Wochen. Na, genug davon, aber jetzt reise ich also. Wenn der Frühling kommt, dann reise ich, das tat ich auch früher immer, und ich will noch die gleiche Rolle spielen wie früher. Setzen Sie sich, Madam Henriksen.

Nein, danke, ich habe keine Zeit.

Sie haben keine Zeit, nein, Sie arbeiten, Sie sind nicht zehn Jahre älter; ich habe bemerkt, daß es Ihnen sogar am Sonntag schwer fällt, auszuruhen. Liebe Madam Henriksen! Sie und Ihre kleine Tochter stricken Strümpfe für die ganze Familie, Sie vermieten Ihre Stube, Sie halten die Familie zusammen wie eine rechte Mutter. Nun wollen Sie die kleine Luise nicht zwölf Jahre auf der Schulbank sitzen lassen. Nein, denn da sehen Sie das Kind fast nie während der ganzen grundlegenden Jugend, und dann eifert sie Ihnen nicht nach und lernt nicht von Ihnen. Freilich kann sie einmal lernen, Kinder zu bekommen, aber sie lernt nicht Mutter zu sein, und wenn sie dann selbst Heim und Familie zusammenhalten soll, kann sie es nicht. Sie kann nur »Sprachen« und Mathematik und Rolf Blaubart, aber das ist keine Nahrung für ihr Frauenleben, das bedeutet zwölf Jahre lang ununterbrochenes Hungerfutter für ihre Natur.

Entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber wo reisen Sie jetzt hin?

Das weiß ich nicht, aber ich reise. Ja, wo soll ich hin? Ich gehe auf ein Dampfschiff und fahre, und wenn ich lange genug gefahren bin, dann gehe ich an Land. Wenn ich mich dann an Land umsehe und finde, daß ich zu weit oder nicht weit genug gereist bin, dann gehe ich wieder an Bord eines Schiffes und fahre wieder. Einmal ging ich zu Fuß nach Schweden, ich kam nach Kalmar und dann hinüber nach Öland, da war ich zu weit gegangen und kehrte um. Niemand ist neugierig darauf, wo ich bin, ich selbst am allerwenigsten.

 

36

Man gewöhnt sich an alles, man gewöhnt sich daran, daß zwei weitere Jahre vergehen.

Und jetzt ist es wieder Frühling …;

In der Grenzstadt hier ist Markt. Mein Winkel wird zu unruhig, dort auf den Wiesen ist Musik, das Karussell dreht sich, Seiltänzer schwätzen vor ihrem Zelt, und alle möglichen Leute strömen in der Stadt hin und her. Hier ist ein großes Fest, auch verschiedene Norweger sind über das Gebirge gekommen, Pferde wiehern und schnauben, Kühe brüllen, der Handel blüht.

In das Fenster des Goldschmiedes, meinem Winkel gerade gegenüber, ist in diesen Tagen eine große silberne Kuh gestellt worden, oh, eine schöne Zuchtkuh, bei der die Bauern des Landes staunend stehen bleiben. Die ist zu fein für meine Berge, sagt einer und lacht. Was sie wohl kostet? meint ein anderer und lacht. Willst du sie kaufen? Nein, es gab heuer so wenig Futter.

Da kommt mit bedächtigen Schritten ein Mann daher, und auch er bleibt vor dem Fenster stehen. Ich sehe ihn von hinten, er hat einen so mächtigen Rücken. Lange steht er da, sicher überlegt er, denn manchmal kratzt er sich den Bart. Da wankt er, Gott helfe mir, in den Laden hinein; er will doch wohl nicht diese silberne Kuh kaufen!

Es dauert ewig, er kommt nicht wieder, was treibt er da drinnen? Da ich nun einmal angefangen habe, ihn auszukundschaften, so mache ich keine halbe Arbeit, ich nehme also meinen Hut und gehe auch zu dem Fenster des Goldschmieds hinüber. Da stehe ich zusammen mit anderen und bewache die Tür.

Dann kommt der Mann wieder heraus – ja, es ist Nikolai. Das war sein Rücken und das waren seine Hände, aber im übrigen hat er einen Bart bekommen und sieht prächtig aus. So etwas, Nikolai, der Schreiner, hier!

Wir begrüßen einander, und zäh und langsam gibt er mir die Hand. Wir schwätzen, es geht nicht leicht, aber es geht. Ja, versteht sich, er war gewissermaßen des Handels wegen hier. Sie haben doch wohl nicht die silberne Kuh gekauft? – Ho, nein, das nicht. Nein, was ich da drin tat, das war nichts. Es kam auch zu keinem Kauf …; Nach und nach erfahre ich, daß er des Pferdehandels wegen hier ist, er will jetzt ein Pferd haben. Und ich erfahre, daß er das Stück Land umgeackert hat und jetzt eine Wiese daraus macht, und ich erfahre, daß die Frau – ja, Dank für die Nachfrage, es geht ihr gesundheitlich gut in dieser Zeit.

Was ich sagen wollte, sind Sie über das Gebirge hierhergekommen? fragt er.

Ja, im Winter, im Dezember.

Wenn ich das gewußt hätte!

Ich erkläre ihm, daß ich damals keine Zeit gehabt hätte, bei ihm vorzusprechen, es eilte, ein kleines Geschäft –

So ist es wohl, sagte er.

Es kommt weiter zu keinem längeren Gespräch zwischen uns, Nikolai war derselbe schweigsame Mann wie früher. Er hatte hier auch noch einiges zu erledigen, denn da er nur kurze Zeit vom Hof weg kann, muß er schon morgen wieder heim. – Haben Sie ein Pferd gekauft? – Nein, das auch nicht. – Wird nichts daraus? – Ich weiß nicht. – Ich will die Hälfte von fünfundzwanzig Kronen herunterhandeln.

Im Laufe des Tages sehe ich Nikolai wieder in den Goldschmiedladen gehen. Das war aber ein Verkehr! Jetzt hätte ich Begleitung über das Gebirge, denke ich; es ist Frühling jetzt, und reise ich nicht immer im Frühling? Ich fange an, meinen Rucksack zu packen.

Nikolai kommt wieder heraus und sieht ebenso leer aus, als da er hinein ging. Ich öffne das Fenster und frage, ob er ein Pferd gekauft habe? – Nein, er will nicht nachgeben, der Mann. – Können denn Sie nicht nachgeben? – Doch, antwortet er zögernd. Aber ich bekomme wohl kaum so viel Geld. – Dann kann ja ich ein paar Schillinge für Sie auslegen? – Da lächelt Nikolai und schüttelt den Kopf, als wäre mein Anerbieten ganz märchenhaft. Vielen Dank übrigens! sagt er und setzt sich in Bewegung. – Ja, wohin gehen Sie jetzt? frage ich. – Ich will ein anderes Pferd anschauen. Es ist zwar alt und minderwertig, aber –

Interessierte ich mich zu sehr für Nikolais Pferd und drängte ich mich dem Mann auf? Ich? Warum? Ich begreife es nicht. Er war gekränkt, daß ich im Winter an seiner Tür vorübergegangen war, jetzt wollte ich ihn wieder versöhnen, das war alles. Aber damit ich mir selbst nichts vorzuwerfen hatte, packte ich nicht mehr an meinem Rucksack, und ich wollte Nikolai meine Begleitung nicht vorschlagen. Dagegen machte ich einen Gang in die Stadt; das konnte ich wohl tun, wie alle andern.

Ich treffe Nikolai mit einem jungen Pferd in der Straße, und dabei wurden ein paar Worte gewechselt: Haben Sie gekauft? – Ja, ich habe doch gekauft; der Mann gab schließlich nach, antwortet er lächelnd.

Nun gehen wir miteinander und führen das Pferd in den Stall, geben ihm zu fressen, klopfen es; es ist eine Stute, sie ist gelb, Mähne und Schweif fast weiß, eine kleine Dame. Aber am Abend kommt Nikolai von selbst in meinen Winkel herüber und sagt ein paar Worte über die Stute und den Weg über das Gebirge hinüber. Dann verabschiedet er sich und geht zur Türe. Was ich sagen wollte, fügte er hinzu, ich darf es Ihnen wohl nicht anbieten, aber jetzt könnten Sie Ihren Rucksack befördert bekommen? Übermorgen wären wir dort, fügte er hinzu.

Sollte ich ihn nun ein zweites Mal kränken?

*

Wir gingen einen Tag, übernachteten in der Berghütte an der Grenze und gingen wieder. Nikolai trägt den Rucksack auf dem ganzen Weg, außer seinen eigenen Sachen; als ich Vorschlag, die Last dem Pferd aufzulegen, antwortete er, es sei gar nicht schwer. Sieh da, Nikolai wollte offenbar die kleine gelbe Dame schonen.

Gegen Mittag sehen wir den Fjord unter uns, Nikolai bleibt stehen und streichelt die Stute noch einmal besonders liebevoll. Je tiefer wir hinunter kommen, desto mehr verspüre ich einen Druck, eine Beklemmung; das ist die Seeluft, Nikolai fragt, was los sei, aber es ist nichts los.

Wir kommen zu seinem Heim hinunter, der Hofplatz ist sauber gekehrt, wir sehen das Hinterteil einer weiblichen Figur, die in einer Türe kniet und den Boden fegt. Heute ist Samstag.

Brr! sagt Nikolai unnötig laut und bleibt stehen.

Die Frau in der Türe dreht sich um, sie ist grauhaarig, aber sie ist es, es ist Fräulein Ingeborg, Frau Ingeborg. Nein, Gott! sagt sie und wischt noch ein paarmal hastig über den Boden, um fertig zu werden.

Ja, hier wird viel gewaschen! sagt Nikolai scherzend; so mag sie es! sagt er.

Und ich hatte geglaubt, daß Nikolai nie scherzte. Ah, aber er war auf dem ganzen Weg so zufrieden gewesen, er war so stolz auf die Dame, mit der er heimkam, und selbst jetzt tätschelte er sie.

Frau Ingeborg steht auf, das Kleid ist schwarz und naß, ich finde das alles so seltsam, sie ist so grau, ich brauche ein wenig Zeit, einen Augenblick, ich will auch ihr Zeit lassen, darum wende ich mich ab.

Nein, was für ein schönes Pferd! höre ich sie sagen.

Nikolai klopft und klopft. Und dann habe ich einen Gast mitgebracht, sagt er.

Ich gehe zu ihr hin und bin wohl übertrieben ungezwungen, ich weiß nicht. Guten Tag, sage ich und nehme ihre nasse Hand, die sie sich schämt mir zu reichen. Ich möchte vor ihr ein wenig der Mann der Formen sein und lasse ihre Hand nicht los, sondern wiederhole Guten Tag, Guten Tag.

Guten Tag. Du meine Güte! antwortet sie.

Ich behalte immer noch den Ton bei:

Geben Sie Ihrem Mann die Schuld, er hat mich mit hergeschleppt.

Willkommen, antwortet sie. Wie gut, daß ich gerade mit dem Aufwaschen fertig bin.

Ein kurzes Schweigen; wir sehen einander an, zwei Jahre liegen zwischen dem letzten Male. Um etwas zu tun, fangen wir alle drei an, die Stute zu mustern, und Nikolai platzt fast vor Stolz. Dann hören wir durch die offene Stubentüre ein Kind sich melden, und die junge Mutter läuft davon. Ja, bitte, kommt herein! ruft sie zurück.

Sowie ich eintrete, merke ich, daß die Stube anders ist als das letzte Mal, hier ist viel Mittelstandsschmuck hereingekommen, weiße Vorhänge an den Fenstern, mehrere Bilder an den Wänden, eine Hängelampe an der Decke, ein runder Tisch mit Stühlen mitten im Zimmer, Nippsachen auf einem Gestell, ein mit Rosen bemalter Spinnrocken, ein Blumengestell, – die Stube war voll. All das waren wohl Dinge, an die Frau Ingeborg von daheim gewöhnt war und die sie fein fand, jawohl. Aber in Petras Tagen war es eine helle und geräumige Stube gewesen.

Und wo ist Ihre Mutter? frage ich Nikolai.

Er zaudert wie gewöhnlich. Seine Frau antwortet:

Ja, es geht ihr gut.

Aber wo ist sie denn? wollte ich fragen, hielt jedoch inne.

Schauen Sie einmal her – ich möchte Ihnen gern etwas zeigen, sagt Frau Ingeborg.

Es war das Kind, der Junge, groß und schön, vielleicht ein Jahr alt, ein richtig fester Bursche in seinem Fett. Als er mich sah, verzog er das Gesicht, aber nur einen Augenblick; sowie er auf dem Arm der Mutter saß, blickte er mich gleich furchtlos an.

Ach Gott, die junge Mutter war so glücklich und sie war so schön. Stellt euch vor, ihre Augen voll einer mystischen Güte, die sie früher nicht besessen hatte.

Ja, das ist ja ein Prachtkerl, sagte ich schmeichelnd.

He, das will ich meinen! erwiderte die Mutter.

*

Man gewöhnt sich an alles, die Seeluft beklemmt mich nicht mehr, ohne Atemnot kann ich mit ihr sprechen, mit ihr, die jetzt die Frau des Hauses ist. Und auch sie spricht gern. Ganz nervös überschüttet sie mich mit Worten, es schien, als sei es lange her, daß sie den Mund geöffnet hatte. Was wir sprachen? Wir fragten nicht, wieviel Grad ein Winkel habe, und dachten nicht an Shakespeares Grammatik.

Sie hatte wohl auch nicht gedacht, daß ihre Gymnasialbildung einmal hier im Stall und beim Samstagsreinemachen enden würde?

Ach die kleine Mißgeburt! Sie hatte sich in zwölf Fächern einige Kinderweisheit angeeignet, traf sie aber einen Menschen mit allgemeiner Bildung, dann stand sie da. Sie hatte jetzt an anderes zu denken, Heim und Familie und Kuhstall. Es ist klar: seit Nikolais Mutter die Hälfte an sich genommen hatte, gab es hier nicht mehr viel Vieh.

Ist Petra fortgereist?

Verheiratet. Der Schullehrer. Nein, Petra hatte nicht dableiben wollen, als die neue Frau kam. Eines Abends stand ein fremder Mann im Hofplatz, Petra hatte ihn beherbergen wollen, Frau Ingeborg nicht, nein, denn sie kannte ihn, sie verlangte, daß er gehen solle. So war es zu einer Uneinigkeit zwischen der alten und der jungen Frau gekommen. Außerdem fand Petra, daß die junge Frau sich im Stall dumm anstelle. Und das stimmte, sie war nicht sehr klug, aber sie lernte mehr und mehr, es war lustig, tüchtig zu sein. Sie fragte nicht viel, da sie merkte, daß das falsch sein würde, sie dachte selbst nach, und im übrigen ließ sie ihre Augen wandern, wenn sie auf den Nachbarhöfen war. Freilich, hier gab es Dinge, die sie niemals lernte, die waren ihr nicht angeboren. Die Beamtenfrauen auf dem Land sind oft aus kleinen Städten, sie haben das Leben auf dem Lande nicht gelernt, aber sie lernen es. Und doch lernen sie es nie. Sie können nur gerade soviel, als zum täglichen Leben gehört. Um weben zu können, muß man selbst mit dem Geräusch des Webstuhls aufgewachsen sein, um das Vieh richtig zu versorgen, muß man von Kind auf dabei gewesen sein und seiner Mutter geholfen haben. Man kann es von anderen lernen, aber es geht einem nicht in Fleisch und Blut über. Und nicht alle haben einen Nikolai, mit dem sie zusammenleben. Die junge Frau ist zu sehr von Nikolai eingenommen, diesem starken und gesunden Tier, das wiederum ganz in sie vernarrt ist. Und außerdem war Nikolai so nachsichtig, er fand seine Frau tüchtig, unvergleichlich. Natürlich gab sie sich auch Mühe, und das ging nicht spurlos an ihr vorüber, nicht umsonst war sie grau geworden. Jetzt hatte sie noch dazu einen Vorderzahn verloren, vor ein paar Monaten, ihn sich an einem Schneehuhn, in dem Schrotkörner waren, ausgebissen. Sie wagte nicht mehr in den Spiegel zu sehen, sie kannte sich nicht wieder. Aber das tat nichts, wenn nur Nikolai …; Seht nur, was er ihr gekauft hatte, diese Nadel, beim Goldschmied auf dem Markt, ist sie nicht schön? Oh, dieser Nikolai, ein verrückter Junge; aber dafür wollte sie auch alles tun, was er wollte. Denken Sie doch, er hat etwas von dem Geld für das Pferd genommen, um mir eine Brosche zu kaufen! Wo er jetzt wohl ist, wo ist er hingegangen? Ich möchte wetten, er ist wieder draußen und streichelt das Pferd, haha.

Nikolai! rief sie hinaus. Ja, antwortete er vom Stall her. Sie setzte sich wieder nieder und legte ein Bein über das andere. Sie war ein wenig rot geworden, vielleicht durch einen Gedanken, eine Erinnerung, das war schön, sie war erregt und hübsch. Auch das Kleid legte sich gut an ihren Körper an, ihre Gliedmaßen wurden so deutlich darunter, und nun fing sie an, sich über das Knie zu streichen.

Schläft der Junge? frage ich, um auch etwas zu sagen.

Er schläft. Ja, und dieser Junge! ruft sie aus. Können Sie sich so etwas Großartiges denken? Ja, entschuldigen Sie. Er ist ja erst ein Jahr alt! Ich habe nie gewußt, daß Kinder etwas so Schönes sind.

Da können Sie nun sehen.

Ja, ich war einmal anderer Ansicht, ich erinnere mich gut, und da widersprachen Sie mir. Natürlich war ich da wieder einmal dumm. Kinder? Das reine Wunder! Und wenn das Alter kommt – die einzige Freude, die letzte Freude. Ich möchte viele haben, viele, ach, lieber Freund, ich möchte gern Kinder haben, der Reihe nach, so, genau wie Orgelpfeifen, eines größer als das andere. So herrlich sind sie …; Aber ich muß sagen, es ist mir gar nicht recht, daß ich den Zahn verloren habe, jetzt habe ich da ein schwarzes Loch. Ja wirklich, ich bin traurig darüber, Nikolais wegen. Ich könnte einen neuen einsetzen lasten, aber das tu ich nicht in alle Ewigkeit; ich habe auch gehört, daß das so teuer ist. Und außerdem will ich nicht mehr viele Kunststückchen mit mir machen, hätte ich nur schon früher damit aufgehört, ich bin zu spät dahinter gekommen. Denken Sie, was ich alles dadurch verloren habe, die ganze Kindheit, die ganze Jugend. War ich nicht sogar als erwachsener Mensch im Sommer noch in Sanatorien? Ich hätte mich erholen sollen von der Schulzeit, hätte aufatmen sollen, da versank ich einfach in Faulheit und verbummelte jeden Tag. Ich könnte schreien vor Reue darüber. Ich könnte seit zehn Jahren verheiratet sein und ein Heim und viele Kinder besitzen und die ganze Zeit meinen Mann gehabt haben; jetzt bin ich schon alt, um zehn Jahre betrogen. Und habe graues Haar, ein Zahn ist weg – Nun hören Sie aber, Sie haben einen Zahn verloren, ich habe bald überhaupt nur noch einen.

Kaum aber hatte ich sie damit getröstet, so bereute ich es. Warum sollte ich mich schlechter machen, als ich war? Es war schon schlimm genug. Ah, wie ich mich jetzt grün und blau ärgerte, über mich lachte und grinste, um meine Zähne zu zeigen, sehen Sie her, so sehen Sie doch her! Ich glaube, sie hat leider gemerkt, wie ich Theater spielte; alles, was ich tat, war falsch.

Dann tröstete sie mich wieder, wie Leute es tun, die es sich leisten können:

Soso, sind Sie schon so hinfällig, haha?

Haben Sie den Schullehrer getroffen? fragte ich kurz.

Ja freilich. Erinnern Sie sich, was Sie über ihn erzählten: Es kamen ein Pferd und ein Mann des Wegs daher geritten …; Aber er ist klug und geldgierig, oh, so schlau, seit unsere Egge neu und gut ist, nimmt er sie von uns zu leihen. Sie haben ein Haus gebaut und beherbergen die Reisenden, die ins Tal hinauf wollen, ein großes Hotel, die Dienstmädchen in Nationaltracht. Jaja, Nikolai und ich waren auf ihrer Hochzeit dabei, Petra war wirklich schön und reizend. Sie dürfen nicht glauben, daß Petra und ich noch Feinde sind, sie erträgt mich jetzt besser, seit ich tüchtiger geworden bin, und im vorigen Sommer wurde ich öfters hinüber geholt, um bei Engländern den Dolmetscher zu machen oder ähnliches – ich weiß ja ungefähr, was Seife, Essen und Fuhrwerk und Trinkgeld auf »Sprache« heißen. Ach Gott …; Ich hatte mich mit Petra gar nicht so schlecht vertragen, aber da kam Sofie heim, Sie wissen, die Lehrerin in der Stadt. Sie hatte früher so viel an mir auszusetzen gehabt, daß ich sie nicht sehr liebte, das gestehe ich; jetzt aber kam sie heim und war noch genau so unangenehm und hochmütig gegen mich und wußte alles bester. Ich war damit beschäftigt, mich fürs Leben hier einzulernen, nun kam sie her und setzte mich zurück, sie sprach vom Siebenjährigen Krieg, sie wußte so viel vom Siebenjährigen Krieg, darin hatte sie das Examen gemacht. Und dann sprachen wir ihr nicht schön genug, und das war so schlimm. Aber Nikolai spricht ja richtig genug; was wollte denn diese Zierpuppe, die Schwester, was bildete sie sich denn ein? Und noch dazu kam sie heim – sie war verlobt gewesen, so daß sie jetzt ein halbes Jahr Urlaub hatte nehmen müssen. Das Kind ist bei Petra, bei der Großmutter, dem geht es also gut; es ist auch ein Junge, aber er hat fast keine Haare, meiner aber hat viel Haare. Na, in einer Weise war es ja schade um Sofie, denn sie hatte ihr Erbe verbraucht und ihre Jahre dahin gehen lassen, um Lehrerin zu werden, und nun kam sie so heim. Aber sie war ein unverträglicher Mensch und meinte, jedenfalls sei sie doch nicht verabschiedet worden, so wie ich. Da bat ich sie, zu gehen. Und da gingen Sofie und die Mutter weg. Aber wie gesagt, mit der Mutter kam ich gut aus. Obwohl Sie nicht glauben dürfen, daß wir von ihr einen Beitrag zu dem Pferd bekommen haben. Durchaus nicht. Wir haben das Geld von der Bank geliehen. Aber es wird schon gehen, denn das sind unsere einzigen Schulden. Und Nikolai hat alle Dinge hier drinnen selbst gemacht, den Tisch und die Wandgestelle und alles, was Sie sehen, das alles haben wir nicht gekauft. Auch den großen neuen Acker dort unten hat er selbst umgepflügt. Und wir bekommen noch mehrere Stück Vieh, Sie sollten nur unsere schöne Färse sehen …; Nein, und nicht einmal das Essen war Sofie recht; Konserven seien so einfach, sie sagte, wir sollten Konserven kaufen. Es war nicht auszuhalten. Ich hatte zu stricken angefangen, eine der Frauen von den Nachbarhöfen lehrte es mich richtig, und nun stricke ich Strümpfe für mich. Aber nein, Fräulein Sofie kaufte natürlich ihre Strümpfe in der Stadt. Ah, sie war süß, ja. Hinaus mit dir! sagte ich da. Ja, da zogen sie aus. Hahaha.

Nikolai kommt herein:

Hast du mir gerufen?

Nein – doch, könntest du vielleicht mit mir hinaufgehen, ich möchte eine Vorrichtung haben, um am Ofen etwas aufzuhängen, eine Schnur; komm her –

Ich blieb zurück und dachte:

Wenn das nur hält, wenn das nur hält! Sie ist so überspannt, sie zerrt an ihren Nerven. Und sie ist auch wieder in anderen Umständen. Aber welch prächtigen Willen sie zeigt, und wie sie in diesen zwei Jahren gereift ist. Aber was es sie auch gekostet hat!

Halt aus, Kind, halt aus!

Jedenfalls hatte sie nun diese Lehrerin Sofie besiegt, dieses Geschöpf, das ihr einmal bei Nikolai entgegengearbeitet hatte. Hinaus aus dem Haus! Ah, wie innig zufrieden Frau Ingeborg sicherlich war, es war köstlich, diesen kleinen Triumph zu erleben. So sehr hatte sich das Leben geändert, daß solche Dinge sie beschäftigten, sie war immer noch aufgeregt, wenn sie davon sprach, sie verstrickte dabei die Finger, eine Gewohnheit von der Schulzeit her. Und warum sollte sie nicht zufrieden sein? Ein kleiner Triumph hatte jetzt den gleichen Wert wie ein größerer in früheren Zeiten. Der Ausgangspunkt war ein anderer geworden, aber die Befriedigung war nicht geringer.

Horch – jetzt hat sie dort oben angefangen zu lesen, man hörte ein leises Murmeln. Jawohl, heute ist Sonntag, und da sie die kundigste in der Bibel ist, fällt es ihr zu, die Andacht zu lesen. Bravo, ausgezeichnet, auch das hat sie sich anerzogen, denn in dieser Gegend ist man immer noch orthodox. Schau, schau, man ist zwar nicht gläubig, nein, aber gar nichts ist man doch auch nicht, was ist man denn? Man liest die Andacht. Das war ein ganz feiner Einfall mit der Schnur.

Auch eine flinke Köchin ist sie geworden, auf Bauernart, die Suppe – herrlich, ohne Makkaroni, aber ganz wie es sein soll, mit Grütze, gelben Rüben und Thymian. Das hat sie kaum aus der Haushaltungsschule. Ich denke darüber nach, was sie alles gelernt hat, und es ist viel. Vielleicht lag etwas Überspanntheit in diesem Gedanken mit den Kindern wie Orgelpfeifen? Nein, ich weiß nicht, aber ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie das sagte, sie war wie eine Stute. Sie wußte wohl, wie unwillkommen Kinder in den Ehen des Mittelstandes waren, wie kurz die Liebe hier dauerte: tagsüber waren sie beieinander, damit die Leute nichts zu sagen fanden, die Nacht aber trennte sie. Sie wollte ihr Haus zu einem Haus der Empfängnis machen: sie und ihr Mann waren tagsüber meistens getrennt, jeder bei seiner Arbeit, aber jede Nacht vereinigte sie.

Bravo, Frau Ingeborg!

 

37

Eigentlich sollte ich jetzt abreisen, oder ich könnte zu Petra und dem Schullehrer hinüberziehen, die Reisende aufnehmen. Eigentlich sollte ich das …;

Nikolai hat seine gelbe Dame in Gebrauch genommen und sie vor einen hübschen Wagen gespannt, den er selbst gezimmert und mit Eisen beschlagen hat. Und jetzt fährt die Dame Dünger. Es gibt ja nicht übermäßig viel von dieser Ware auf dem kleinen Hof mit dem wenigen Vieh, so daß er bald ausgefahren ist. Dann geht die Dame vor dem Pflug, und denk dir, es ist, als ginge sie nur mit einer schweren Schleppe. Nikolai hat noch nie von einem solchen Pferd gehört, und seine Frau auch nicht.

Ich mache einen Spaziergang zu dem neuumgepflügten Acker und schaue ihn von allen Seiten an. Dann nehme ich Erde in die Hand und prüfe sie und nicke, ganz als verstünde ich mich auf Erdarten. Mergel, ganz wunderbar.

Dann gehe ich so weit, daß ich die Drachenköpfe an Petras Hotel sehe, – aber plötzlich verlasse ich den Weg und gehe in den Wald hinauf, an abgelegene Stellen, zu Palmkätzchen und Tu lulu lu. Hier ist die Luft still, hier wird es bald Frühling.

Und so vergeht der Tag.

Ich lebe wirklich gut und fühle mich jetzt sehr wohl; wenn ich doch hier bleiben könnte! Ich würde gut bezahlen und mich nützlich und beliebt machen, ich würde keiner Katze etwas zuleide tun. Aber am Abend deute ich Nikolai an, ich müsse jetzt sehen, wieder weiter zu kommen, es ginge doch nicht an …; Und er konnte es gern weitersagen.

Können Sie sich nicht ein wenig hier niederlassen? sagt er. Aber hier ist es wohl nicht so, daß –

Doch, Gott segne Sie, Nikolai, hier ist es so, aber – denn jetzt ist Frühling, und ich reise um die Zeit des Frühlings, ich müßte sehr hinfällig geworden sein, wenn ich das aufgeben wollte. Und außerdem seid ihr wohl auch meiner müde, auf jeden Fall Ihre Frau.

Sieh, auch das konnte er gern weitersagen.

Dann packe ich meinen Rucksack und warte. Nein – niemand kommt und nimmt ihn mir aus der Hand und verbietet mir, weiterzupacken. So hat Nikolai wohl nichts weitergesagt, der Mann machte doch auch nie seinen Mund auf. Aber da nehme ich den Rucksack und lege ihn auf einen Stuhl mitten im Zimmer, da steht er, gepackt und fertig, sichtbar für alle, und jetzt wollen wir reisen. Dann warte ich noch den Vormittag des nächsten Tages, und jetzt ist der Rucksack gesehen worden; aber nein. Da muß ich den Augenblick abwarten, wenn die Frau des Hauses zum Mittagessen ruft, und nun sage ich so und so und deute dabei auf den Stuhl mitten im Zimmer:

Es sieht so aus, als hätte ich im Sinn, heute von hier abzureisen.

Nein, warum denn? sagt sie darauf.

Warum? Ja, finden Sie nicht?

Doch, doch. Aber Sie hätten jetzt bleiben können, denn gerade jetzt kommen die Kühe auf die Weide, und da gibt es mehr Milch.

Mehr wurde nicht gesagt, dann ging sie.

Bravo, Frau Ingeborg. Der Teufel hole mich, Sie sind ein blanker Dukaten! Wie schon früher öfters, traf es mich auch jetzt wieder, daß zwischen ihr und Josefine auf »Torezinnen« nur noch wenig Unterschied war, sowohl im Gedankengang als auch in der Ausdrucksweise kamen sie einander sehr nahe. Die zwölfjährige Schulzeit hatte in diesem jungen Mädchen nichts aufgebaut, im Gegenteil, sie hat sicherlich viele feste Verhältnisse in ihm gelöst. Laß es sein, wie es will, aber halte jetzt aus!

*

Schließlich muß Nikolai zum Handelsplatz, und da er Mehl mit heimbringen soll, will er fahren. Ich weiß genau, daß ich jetzt mitkommen müßte, dann könnte ich das Postboot übermorgen nehmen; ich erkläre das Nikolai und bezahle für den Aufenthalt hier. Während er einspannt, packe und packe ich wieder. Ach, diese ewigen Reisen! Kaum ist man an einem Ort in Ordnung, ist man an einem anderen schon wieder in Unordnung, kein Heim, kein Wurzelfassen. Was höre ich da für Glocken? Nein – jetzt läßt Frau Ingeborg die Kühe hinaus! Sie sollen zum erstenmal auf die Weide kommen, dann gibt es mehr Milch …; Da kommt Nikolai und mahnt zum Aufbruch. Jawohl, hier ist der Rucksack …;

Hören Sie, Nikolai, ist es nicht zu früh, jetzt die Kühe hinauszulassen?

Doch ja. Aber sie geben im Stall keine Ruhe mehr.

Ich war gestern im Wald, ich wollte mich setzen, aber ich kann nicht im Schnee sitzen. Nein, das kann ich nicht, das konnte ich vor zehn Jahren. Ich muß warten, wirklich, bis es etwas gibt, worauf ich mich setzen kann. Ein Stein ist ja ganz schön, aber niemand kann im Mai lange auf einem Stein sitzen.

Nikolai blickt unruhig durchs Fenster zur Stube hinaus.

Ja, sehen wir zu, daß wir fortkommen …; Und auch kein Schmetterling war da. Wissen Sie, solche, die Flügel haben, genau wie Stiefmütterchen, davon gab es nicht einen. Und wenn die Freude im Wald wohnt, ich meine, wenn Gott selbst – er ist noch nicht dorthin gezogen, es ist zu früh.

Nikolai äußert kein Wort zu meinem Geschwätz. Es ist auch nur ein ungeordneter Ausdruck meiner Stimmung, einer kleinen schwachen Wehmut.

Wir gehen zur Tür hinaus.

Nikolai, ich reise nicht ab.

Er dreht sich herum und sieht mich an, dann lächeln seine Augen gutmütig.

Sehen Sie, Nikolai, ich glaube, ich habe eine Idee, es ist genau so, als glaubte ich, es käme eine Idee zu mir, aus der ein großes glühendes Eisen werden könnte. Und da darf ich mich nicht stören. Ich reise nicht.

Na, das ist wirklich schön, sagt Nikolai. Wenn es Ihnen hier nur taugt, dann …;

Und eine Viertelstunde später sehe ich Nikolai und die Stute den Weg hinunterfahren. Frau Ingeborg steht draußen auf dem Hof mit ihrem Jungen auf dem Arm und zeigt ihm die tanzenden Kühe.

Und hier stehe Ich. Jaja, ich bin ein feiner Greis.

*

Nikolai kommt mit Post für mich zurück, die sich jetzt seit einigen Wochen ziemlich angehäuft hat.

Sie pflegen doch Ihre Briefe nicht zu lesen? sagt Frau Ingeborg im Scherz. Nikolai sitzt da und hört zu.

Ich erwidere:

Nein, wenn Sie mir einen Wink geben, sie ungelesen zu verbrennen, dann –

Plötzlich erbleicht sie, sie legt im Spaß ihre Hand auf die Briefe, sie bedeckt auch ein Stück meiner Hand. Ich fühlte eine Wärme, so stark, einen Augenblick lang eine merkwürdige Blutwärme, mehr als Blutwärme, einen Augenblick, dann nimmt sie ihre Hand zurück und sagt:

Wir müssen sie wohl schonen.

Jetzt war sie sehr rot.

Ich sah einmal, wie er seine Post verbrannte, sagte sie zu Nikolai. Dann ging sie an den Herd und machte sich etwas zu schaffen; sie fragte den Mann nach der Fahrt aus, über den Weg, ob die Stute sich gut aufgeführt habe. Und das hatte sie.

Ein kleiner Zug ohne Bedeutung für irgend jemand. Ich hätte ihn wohl nicht anführen sollen.

*

Einige Tage später.

Die Luft ist warm geworden, mein Fenster ist offen, meine Stubentüre ist offen, alles ist still. Ich stehe an meinem Fenster und blicke hinaus.

Ein Mann mit einem unförmigen Bündel kommt auf den Hof herein. Da ich ihn nicht gut sah, glaubte ich, es sei Nikolai, der etwas brächte, und deshalb ging ich vom Fenster fort und setzte mich an den Tisch.

Bald darauf höre ich, wie in der Stube jemand Guten Tag sagt.

Frau Ingeborg antwortet nicht, aber ich höre sie laut und abweisend fragen:

Warum kommst du her?

Eine fremde Männerstimme antwortet:

Um Grüß Gott zu sagen.

Mein Mann ist nicht da, er ist draußen.

Das tut nichts.

Doch, das tut etwas, ruft sie, du sollst gehen!

Ich weiß nicht, wie ihr Gesicht in diesem Augenblick aussah, aber ihre Stimme war grau, grau vor Tränen und Erregung.

Im nächsten Augenblick war ich in der Stube.

Der Fremde war Solem.

Na, Solem hier? Er war überall. Unsere Augen trafen einander.

Man bat dich, zu gehen? sagte ich.

Nur langsam! antwortete er so halb und halb schwedisch. Ich betreibe einen Fellhandel, gehe in die Höfe und kaufe Felle. Gibt es hier etwas?

Nein! schreit die Frau; ihre Stimme überschlug sich. Sie war außer sich, sie fuhr plötzlich mit einem Schöpflöffel in eine Flüssigkeit, die auf dem Herd kochte, und hätte ihm vielleicht etwas davon –

Da kam Nikolai zur Türe herein.

Die Augen des schweren Mannes wurden mit einem Schlag lebhaft, er merkte gewiß, was es galt. Kannte er Solem und hatte er ihn auf den Hof kommen sehen? Er lachte ein wenig, hehe, sagte er, und er lachte weiter, lächelte, ließ das Lächeln stehen. Es wurde unheimlich, er war so weiß, und es sah aus, als sei sein Mund in einem Lachkrampf erstarrt. Ja, hier hatte Solem seinesgleichen getroffen, seinen Geschlechtskollegen gefunden, ein Pferd an Kräften und Widerspenstigkeit. Und immer noch lächelt er. Jaja, hier gibt es also keine Felle, sagt Solem und sucht die Türe. Nikolai folgt ihm lächelnd. Draußen auf dem Hof hilft er Solem das Bündel auf den Rücken nehmen. Oh danke! sagt Solem und fühlt sich nicht wohl dabei. Es ist ein ungeheures Bündel von Fellen, von Häuten, Nikolai hebt es auf und legt es auf Solems Rücken, merkwürdig schwer, überflüssig schwer, Solem bricht in die Knie und fällt vornüber. Man hörte ein Stöhnen, es tat weh, der Hofplatz war so steinhart. Einen Augenblick liegt Solem da, dann rafft er sich zusammen, er gleicht sich nicht mehr, sein Gesicht ist zerschunden, in seine Augen tritt Blut. Er versucht der schweren Last auf seinem Rücken einen Stoß zur Seite zu geben, aber sie bleibt schief hängen, da setzt er sich trotzdem in Bewegung, Nikolai hinterher, lächelnd. Sie gehen den Weg entlang, bis sie an den Wald kommen, einer hinter dem anderen, dann verschwinden sie für mich.

Na, sein wir menschlich, dieses zu Bodenstoßen war nicht gut. Und die schwere Last, die so schief an einer Achsel hing – das sah recht böse aus.

In der Stube höre ich ein Schluchzen, Frau Ingeborg ist auf einem Stuhl zusammengebrochen. In ihrem Zustand!

Na, es braucht seine Zeit, aber es wird besser, es vergeht, wir sprechen ein wenig, durch kleine Fragen bringe ich sie dazu, sich zu sammeln.

Der, dieser Mann – der Kerl – Sie wissen nicht, wie entsetzlich er ist, ich werde ihn umbringen. Er war der – er war der erste, oh, aber jetzt kriegt er's, jetzt kriegt er mehr als genug, Sie werden sehen. Er war der erste, ich war bis dahin anständig, aber dann war er der erste. Und das war auch gar nicht von so großer Bedeutung für mich, ich mache mich nicht besser, als ich bin, es war mir ziemlich gleichgültig; aber später wurde es mir klar. Und es zog so viel Schlechtes nach sich, ich kam so tief hinunter, bis auf die Knie. Das war seine Schuld. Und seitdem wurde mir auch alles klar. Bei Gott im Himmel, ich will jetzt Frieden haben vor diesem Mann, er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen. Finden Sie das zuviel verlangt? Aber Nikolai wird doch wohl kein Unglück anrichten? Da wird er gestraft. Nein, hören Sie, sehen Sie nach, laufen Sie, bitte schön! Er erschlägt ihn –

Nein doch. Er ist ein verständiger Mann. Er weiß doch wohl auch nicht, daß Solem Ihnen etwas angetan hat?

Da blickte sie zu mir auf:

Fragen Sie für sich selbst?

Wieso –?

Ob Sie für sich selbst fragen? Manchmal ist es so, als wollten Sie mich aushorchen. Nein, ich habe es meinem Mann nicht gesagt. Mögen Sie nun von meiner Ehrlichkeit glauben, was Sie wollen. Aber ich habe einiges gesagt, ein wenig – daß mich dieser Mann nicht in Frieden ließ. Er ist auch früher schon da gewesen, er war es, den Petra beherbergen wollte, und ich nicht. Ich sagte zu Nikolai: der Mann darf nicht hier bleiben! Und dann sagte ich noch ein wenig dazu. Aber ich erzählte Nikolai nichts von mir selbst; was denken Sie nun über meine Ehrlichkeit? Im übrigen werde ich auch jetzt nichts sagen, ich werde es nie sagen. Warum? Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Aber Sie können es gerne wissen, doch, lassen Sie es mich sagen, bitte! Sehen Sie, wenn ich es Nikolai sagte, so würde ich mich nicht vor seiner Wut fürchten, sondern ich würde mich vor seiner Verzeihung fürchten und davor, daß wir dann weiterleben sollten, als sei nichts geschehen. Er würde mich sicher entschuldigen, das ist seine Natur, lieb hat er mich auch, und Bauer ist er auch, oh, der Bauer nimmt so etwas nicht so genau. Aber er müßte ein schlechter Kerl sein, wenn er mich entschuldigte, und ich will nicht, daß er schlecht ist, Gott weiß, daß ich das nicht will, lieber will ich es sein. Wir haben vielleicht beide einander das eine oder andere nachzusehen, aber an dem, was wir haben, müssen wir festhalten, wir wollen keine Tiere sein, wir wollen Menschen sein, ich denke an die Zukunft und an unsere Kinder …; Im übrigen sollten Sie aber nicht dastehen und mich zum Sprechen bringen. Warum haben Sie danach gefragt?

Ich meinte nur, wenn Nikolai nichts weiß, hat er ja auch keinen Grund, den Mann totzuschlagen, wie Sie befürchteten. Ich wollte Sie beruhigen.

Ja, Sie sind immer so geschickt, Sie kehren mein Innerstes nach außen. Ich bereue, daß ich etwas gesagt habe, daß Sie es erfahren haben, ich wollte es bis zum Tode bei mir bewahren. Jetzt werden Sie nur denken, daß ich so tief unehrlich bin.

Im Gegenteil.

Wie? Bin ich das nicht?

Im Gegenteil. Es war so vollkommen richtig, was Sie sagten, so bis ins Letzte richtig. Und es war außerdem so schön.

Gott segne Sie! sagte sie und schluchzte wieder.

Nein, jetzt dürfen wir nicht weinen. Sehen Sie, da kommt Nikolai so gut und ruhig wie immer den Weg heraufgewandert.

Wirklich? Ah, das ist gut. Sehen Sie, ich habe ihm nichts nachzusehen, das war übereilt gesagt. Nein, selbst wenn ich nachdächte, fände ich nichts. Natürlich sagt er manchmal etwas – ich meine, sagt er einige Worte anders; aber das war nur sie, die Schwester, die damit anfing. Jetzt will ich hinaus und ihm entgegengehen.

Dann begann sie etwas zu suchen, was sie umhängen könnte, das erforderte Zeit, sie war noch so aufgeschreckt; als sie fertig war, kam Nikolai auf den Hofplatz herein.

Bist du schon da! Du hast doch wohl nichts Dummes gemacht?

Nikolai hat noch etwas Starres in den Zügen, er antwortet:

Ich habe ihn nur zu seinem Sohn hinüberbegleitet.

Hat Solem hier einen Sohn? frage ich.

Niemand antwortet. Nikolai geht seines Weges und nimmt seine Arbeit wieder auf, seine Frau begleitet ihn zum Acker hinaus.

Da wird es mir plötzlich klar: es ist Sofies Kind.

Und ich entsinne mich ja so gut eines Tages auf »Torezinnen«, als die Lehrerin Sofie hereinkam und die letzte Neuigkeit von Solem meldete: das Stück Stoff um seinen Finger, und der Finger, den abzuhacken er nie Zeit hatte, dieser Naturbursche! Sie lernten einander kennen in diesen Tagen, seitdem hatten sie sich wohl in der Stadt getroffen, Solem war überall.

Na, aber die Damen im Touristenheim »Torezinnen« – Solem war kein Engel, und er wurde nicht besser durch sie. Dann traf er dieses kleine Geschöpf, das nichts weiter gelernt hatte, als Lehrerin zu sein …;

*

Ich hätte es eher begreifen müssen, ich begreife nichts mehr.

Nun ist mir etwas widerfahren.

Durch einen Zufall kommt mir endlich eine Ahnung, daß sie mich wohl hauptsächlich des Geldes wegen gern hier haben, mein Verpflegungsgeld soll das Pferd bezahlen. So ist es sicher.

Ich hätte es früher ahnen sollen, aber ich bin alt. Außerdem darf ich wohl hinzufügen, ohne mißverstanden zu werden, daß das Gehirn noch vor dem Herzen verwelkt. Das sieht man bei allen Großeltern.

Anfangs sagte ich Bravo zu meiner Entdeckung und sagte: Bravo, Frau Ingeborg, Sie sind wiederum ein Dukaten! Aber so ist die menschliche Natur: schließlich kränkte es mich. Da war es doch viel besser, ich bezahlte das Pferd auf einmal und reiste ab, oh, das hätte ich auch mehr als gern getan. Aber auf diese Weise würde ich wohl nichts erreichen: Nikolai würde den Kopf dazu schütteln wie zu einem Märchen. Dann rechne ich aus, daß eigentlich gar keine so große Summe für das Pferd mehr fehlen könne, vielleicht nichts, vielleicht wäre es bezahlt …;

Sieh, Frau Ingeborg strebt und arbeitet – wenn das nur nicht zu krampfhaft ist. Sie setzt sich selten, obwohl sie jetzt umfangreicher geworden ist und es nötig hätte, sie macht die Betten, kocht, versorgt das Vieh, näht, stickt, wäscht. Meistens hängt ihr zu jeder Seite des Gesichtes ein grauer Haarstrang herunter, sie ist so beschäftigt, mögen die Haare herunterhängen, sie sind zu kurz, um mit der Nadel festgehalten zu werden. Aber sie ist so schön und mütterlich, hat eine schöne Haut, einen schönen Mund, das Kind und sie zusammen sind eine Offenbarung der Schönheit. Natürlich habe ich ihr in dieser Zeit Wasser und Brennholz getragen, aber trotzdem habe ich doch ihre Arbeit vermehrt. Wenn ich daran dachte, fühlte ich meine Ohren heiß werden.

Aber wie konnte ich mir einbilden, daß man mich jetzt irgendwo um meiner selbst willen gern habe? Da hätte ich nicht alle die Jahre zuviel und nicht all die Feurigkeit zu wenig haben müssen. Gut, daß ich es schließlich herausfand.

Die Entdeckung machte es mir einesteils leichter, aufzubrechen; als ich diesmal den Rucksack packte, war es mir Ernst damit. Trotz dem Kind, ihrem Jungen – er auf jeden Fall hing an mir und wollte oft auf meinem Arm sein, weil ich ihm so viel seltsame Dinge zeigte. Das war der Instinkt des Kindes gegenüber dem unvergleichlichen Großvater.

Jetzt kam eine Schwester von Frau Ingeborg auf den Hof, wahrscheinlich zur Hilfe. Ich packe jetzt, ich bin bedrückt vor Gram über mich selbst und packe. Um Nikolai und das Pferd zu schonen, will ich allein zur Dampfschiffhaltestelle gehen, und um noch ein übriges zu tun, werde ich uns auch Abschied und Händedruck und Auf Wiedersehen ersparen, merk dir meine Worte!

Dann ging es natürlich doch nicht so, und ich drückte trotzdem jedem die Hand und bedankte mich. Es ging nicht anders. Ich stand in der Tür, den Rucksack schon auf dem Rücken, und lachte ein wenig und tat großartig und sagte, jaja, jetzt ginge ich wieder fort und sähe mich ein bißchen in der Welt um.

Ach – wirklich? fragt Frau Ingeborg.

Ja?

Aber so plötzlich?

Ich deutete es doch gestern schon an?

Ja, aber – Soll Nikolai Sie nicht fahren?

Nein, danke.

Aber nun bot ich dem Jungen wieder einen merkwürdigen Anblick, ich hatte einen Rucksack auf dem Rücken und einen Anzug mit höchst unbekannten Knöpfen, er wollte zu mir. Na – einen Augenblick, komm her! Doch wurde es nicht nur ein Augenblick, und es wurde nicht nur noch einer dazu. Denn jetzt hatte ich den Rucksack auf dem Rücken, und der mußte natürlich aufgemacht werden. Da kam Nikolai herein.

Frau Ingeborg sagt zu mir:

Sie glauben sicher, weil meine Schwester gekommen ist – aber wir haben doch noch ein Zimmer. Und außerdem ist ja Sommer, sie kann in der Scheune schlafen.

Aber liebe Frau Ingeborg, ich muß doch einmal – ich selber habe doch auch noch einiges zu tun.

Jaja, sagt Ingeborg und gibt nach.

Nikolai erbot sich, mich zu fahren, und als ich es ausschlug, sagte er nichts mehr.

Sie begleiteten mich hinaus und sahen zu, wie ich fortging, den Knaben hatte die Mutter auf dem Arm.

Unten bei der Biegung der Straße drehte ich mich um und wollte winken, dem Kind natürlich, niemand anderem, nur dem Kind. Aber es stand niemand mehr auf dem Hof.

 

38

An dich habe ich dies geschrieben.

Warum ich so geschrieben habe? Weil meine Seele immer vor Weihnachten aufschreit vor Langeweile über die gleichen Bücher von der immer gleichen Art. Ich hatte eigentlich vorgehabt, in einem Dialekt zu schreiben, um norwegisch zu sein; als ich aber merkte, daß du auch noch die Sprache des Landes verstehst, gab ich den Dialekt auf, unter anderem deshalb, weil er unbrauchbar war.

Warum ich soviel Ungleiches in einem Rahmen vereinigt habe? Kleiner Freund, eines der berühmtesten Dichterwerke der Welt ist während einer Pest geschrieben, um einer Pest willen, das ist meine Antwort. Und, kleiner Freund, wenn man sich lange Zeit von den Menschen zurückgehalten hat, die man in- und auswendig kennt, da vergönnt man sich einmal wiederum das Laster, zu sprechen, zu sprechen; man ist so unverbraucht, man hat tausend Reden im Kopf. Das ist meine Verteidigung.

Kenne ich dich nun recht, so wirst du dich an der einen oder anderen meiner Dreistigkeiten ergötzen, und besonders bei einer nächtlichen Szene wirst du dir die Hände reiben. Aber zu anderen Leuten wirst du kopfschüttelnd sagen: daß er so etwas schreiben mochte! Oh, du kleine simple Seele, geh du abseits und versuche in einem verschwiegenen Winkel diese Szene zu begreifen, – es hat auch mich etwas gekostet, sie dir auszuliefern.

Du wirst dich vielleicht auch für mich interessieren und nach meinen Eisen fragen? Jawohl, ich soll dich von ihnen grüßen. Es sind die Eisen eines Fünfzigjährigen, andere hat er nicht. Aber der Unterschied zwischen mir und meinesgleichen ist der, daß ich bekenne: ich habe keine anderen. Sie sind so groß und so glühend gedacht; aber es sind kleine Eisen und sie glühen nur schwach. So ist es. Sie vereinigen sich mit all den anderen Fleißarbeiten, die für die Einfalt und den Weihnachtstisch hergestellt werden. So ist es. Und nun kommt es darauf an, ob sie sich trotz allem von den Nichtigkeiten der anderen unterscheiden. Das kannst du nicht beurteilen, du bist der neue Geist in Norwegen und du bist es, den ich verhöhne. Eines wirst du zugeben: du hast deine Zeit nicht in »gebildeter Gesellschaft« vertan, ich wollte dein kleines Emporkömmlingsherz nicht mit der »Dame« erquicken. Ich habe von Menschen geschrieben. Aber innerhalb dieser gesprochenen Rede schwingt noch eine andere mit, läuft wie die Ader unter der Haut, ein Roman im Roman. Ich begleitete den siebzigjährigen Greis der Literatur Schritt für Schritt und berichtete von seinem Auflösungsprozeß. Ich hätte das früher tun sollen, war da aber noch nicht alt genug, ich fange direkt und indirekt jetzt damit an. Ich hätte es schon tun sollen, als das Land bereits lange, lange Zeit unter dem Schatten der Talentlosigkeit der Überbejahrten umhertastete – nun tue ich es jetzt, da man anfängt, mir selbst die Gabe, zu beschatten, zuzuteilen. Sensation, wirst du meinen, eine Jagd nach dem Ruhm! Mein kleiner, reiner Freund, ich habe Ruhm genug für meine letzten zwanzig Jahre, und dann bin ich tot. Und du? Mögest du lange leben, du verdienst es, ja, mögest du mich durchaus überleben – im Fleische!

Ich lese eben, was ein Mann auf den Höhen der Kultur gesagt hat: die Erfahrung zeigt, daß die Kultur dünn und farblos wird, wenn sie sich ausbreitet. Man soll also den Neuankommenden nicht mit der Renaissance entgegenheulen. Ich kann keine Renaissance machen, nicht jetzt, ich bin zu spät dazu gekommen. Damals, als ich viel vermochte und noch mehr wollte, war die Mittelmäßigkeit zu allmächtig. Ich wurde die Macht auf dem Holzfuß, das Los so vieler Jungen. Aber jetzt solltest du, mein winzigkleiner Freund, dich umsehen: sogar in deinem Gesichtsfeld ist da eine Gestalt und dort eine Gestalt aufgetaucht, ein schimmernder Federbusch, reiche Verschwender, Talente unter freiem Himmel, du und ich, wir könnten sie willkommen heißen. Ich gehe hier im Abend meines Lebens und fühle an mir selbst sie wieder beben, das ist die Jugend mit dem Edelsten im Auge – du mißgönnst es ihr, erkannt zu werden, ja, du mißgönnst es ihr, bekannt zu werden. Weil du selbst nichts bist.

An dich, den neuen Geist in Norwegen! Ich habe dieses während einer Pest um einer Pest willen geschrieben. Ich kann die Pest nicht aufhalten, nein, sie ist jetzt unüberwindlich, sie haust unter nationalem Schutz und unter Tararaboomdeay. Aber einmal wird sie halt machen. Inzwischen arbeite ich ihr entgegen, so gut ich kann, du tust das Gegenteil.

Natürlich habe ich auf dem Markte gesprochen, deshalb wohl ist meine Stimme dann und wann heiser geworden, vielleicht hat sie sich manchmal überschlagen. Das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste wäre, wenn sie nicht geklungen hätte. Ist denn eine Gefahr da? Nein, kleiner Freund, nicht für dich, du wirst leben, bis du stirbst, sei ruhig.

Aber warum habe ich gerade an dich geschrieben? Ja, was glaubst du? Du willst ja von der redlichen Wahrheit in meinen Schlüssen nicht überzeugt werden; aber ich werde dich sogar zwingen, zu verstehen, daß ich der Wahrheit nahe bin. Da sehe ich von dem Idioten in dir ab.

 


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