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Schluß.


 

I.

Milde und Gregersen gingen die Straße hinunter; sie kamen aus einer Bodega; es war Pjolterzeit geworden, und sie steuerten zum Grand hinunter. Sie sprachen über Mildes Porträt von Paulsberg, das jetzt von der Nationalgalerie angekauft worden war; vom Schauspieler Norem und einem Kollegen von ihm, die man gestern im Rinnstein gefunden und ins Rathaus hinaufgebracht hatte; von Frau Hanka, von der jetzt in der ganzen Stadt erzählt wurde, daß sie sich nun endlich von ihrem Manne getrennt habe. War denn etwas andres zu erwarten gewesen? Hatte sie nicht getreulich vier Jahre dort unten in dem Krämerladen ausgehalten? Die beiden Freunde fragten sich gegenseitig nach Frau Hankas Adresse, sie wollten sie besuchen, beglückwünschen; sie sollte doch sehen, daß sie ihre Sympathien habe. Aber keiner von beiden wußte ihre Adresse.

Im übrigen beschäftigten sie sich mit der Lage. Und die Lage war die, daß das Storthing nach Hause gegangen war, ohne Punktum gesagt zu haben. Die »Nachrichten« hatten im letzten Augenblick abgeraten, sie spielten auf die Verantwortung, die Unzeitigkeit einer reellen Herausforderung an; als das Blatt die Aufhetzerei bis zu einem gewissen Grade getrieben hatte, verließ es seinen bisherigen Standpunkt, wie gewöhnlich.

»Nein, was Teufel, können wir tun, wir mit unserer Kriegsmacht!« sagte Gregersen von den »Nachrichten« mit Ernst und Überzeugung. »Wir müssen hübsch so lange warten.«

»Ja,« sagte auch Milde, »es bleibt wohl nichts andres übrig.«

Sie gingen ins Grand. Dort saß bereits Öjen mit seinen Hängeschultern und seiner roten Lorgnonschnur. Vor seinen ständigen Begleitern, den beiden kurzgeschorenen Poeten, entwickelte er, was er an neuen Dichtungen auf dem Stapel hatte, drei oder vier Gedichte in Prosa: eine schlafende Stadt, Mohn, der Turm zu Babel, ein Bildertext. Aber denkt euch den Turm zu Babel, allein schon die Architektur! Und mit einer nervösen Bewegung zeichnete Öjen eine Spirale oberhalb seines Kopfes.

»Die Geste war zu hastig,« unterbrach ihn Gregersen. »Du denkst dir den Turm zu Babel doch nicht wie eine Uhrfeder? Nein, so muß man ihn sich denken, eine Spirale in gewaltiger Ruhe.« Und Gregersen machte einige ungeheuere Ringe um sich her.

Kurz darauf kamen Paulsberg und Frau; jetzt schob man zwei Tische zusammen und bildete eine Kolonie; Milde bestellte die Zeche für sämtliche Anwesende; er habe noch Geld von der ersten Hälfte des Stipendiums übrig. Paulsberg konnte sich nicht enthalten, sondern fiel sofort über Gregersen wegen der letzten Politik der »Nachrichten« her. Vor nicht langer Zeit habe er selbst einen scharfen Artikel für die »Nachrichten« geschrieben; hätte das Blatt ihn ganz und gar vergessen? Und damals wäre es doch mit ihm einig gewesen? Ja, wie wäre das alles denn zu verstehen? Bald würde es eine Schande für ehrliche Leute sein, ihre Feder für dieses Blatt anzusetzen. Paulsberg war aufrichtig böse und sagte seine Meinung mit wenigen Worten.

Und Gregersen schwieg. Er entgegnete nur, die »Nachrichten« hätten ja ihre Gründe dargelegt, in der heutigen Nummer …

Gründe? Ja, was für Gründe? Paulsberg wolle ihm zeigen, welcher Art die Gründe seien. Kellner, die heutigen »Nachrichten«!

Und während sie auf die Zeitung warteten, erklärte auch Milde, die Gründe seien zu jämmerlich, eigentlich gar nichts. Es sei von der Ostgrenze die Rede, von vergrößerter Heeresmacht, ja, geradezu von der Einmischung andrer Mächte.

»Und doch ist es noch keine Viertelstunde her, Milde, daß du derselben Ansicht warst wie die ›Nachrichten‹,« sagte Gregersen.

Jetzt aber begann Paulsberg Punkt für Punkt aus dem Blatte vorzulesen, er lachte leise und boshaft und blickte auf. Ja, ob es nicht köstlich sei, daß ein Blatt wie die »Nachrichten« von Verantwortung rede? Dieser ganze Artikel sei für die Abonnenten geschrieben … Und Paulsberg warf das Blatt von sich. Nein, ein wenig, ein ganz klein wenig müsse man im Leben doch auch auf Ehrlichkeit halten. Daß man fortwährend nur dem Geschmack des Pöbels huldige, zöge einfach das ganze Land herab. Er fürchte sich nicht, morgen am Tage hinauf zu den »Nachrichten« zu gehen und das zu sagen.

Darauf wurde es ganz still. Selten oder nie hatte man Paulsberg so viel auf einmal sagen hören; alle blickten ihn an, selbst die biertrinkenden Gäste an den Nebentischen steckten die Köpfe vor und lauschten; jeder kannte Paulsberg, und es war von tiefgehendem Interesse, zu hören, was dieser Mann über die Dinge dachte. So, also Paulsberg war nicht mit den »Nachrichten« einverstanden, das hörte man! Ein wirklich ehrlicher Mann konnte nicht mehr für sie schreiben!

Aber auch der arme Journalist war von Paulsbergs ernsten Worten ergriffen, er hielt die »Nachrichten« zwischen den Fingern, bekannte sich jedoch im Prinzip mit Paulsberg einverstanden; es bleibe doch immer etwas, das Ehrlichkeit heiße, das lasse sich nicht leugnen. Allerdings sei nicht er es, der diese letzte Schwenkung der »Nachrichten« zuwege gebracht habe, aber als Mitarbeiter könne er doch nicht jegliche Schuld von sich weisen.

»Ich könnte mir denken,« schloß Lars Paulsberg mit demselben Ernst, »ich könnte mir denken, daß, wenn gewisse Männer und Blätter dieses Mal in Einigkeit zusammengehalten hätten, das Storthing etwas getan haben würde, ehe es sich davonschlich; aller Wahrscheinlichkeit nach wäre unser unglücklicher Streit zu Ende gekommen. Gewissen Männern aber und Blättern waren die eignen Interessen zu teuer, und das Storthing schlich nach Hause. Jetzt müßte Landestrauer nach den strengsten Regeln angeordnet werden, um den Leuten zu zeigen, daß wir hier etwas verloren, etwas eingebüßt haben. Wir, die wir die Jugend sind, wir werden am meisten unter dem Streich leiden müssen.«

Abermaliges Schweigen. Alle nahmen sich zu Herzen, was sie hörten. Und Paulsbergs Züge drückten in diesem Augenblick aus, wie tief ihn das Verfahren der Zeitungen und des Things schmerzte, er vergaß seine gewöhnliche Positur mit gesenktem Haupt und gedankenvollen Mienen, die so viel Eindruck auf alle, die ihn sahen, machte; er war ein empörter, tiefverletzter Mensch, der das Antlitz hob und seinem Herzen Luft machte. – Erst nach einer langen Pause wagte Milde, seinen Pjolter zu kosten; die drei Prosadichter saßen noch immer stumm da. Der Journalist jedoch, dieser lustige Bursche von dem harmlosen Blatte, konnte es nicht länger aushalten, er deutete auf eine Annonce in den »Nachrichten« und las kichernd:

»Ein Mädchen, welches das Zimmer mit jemandem teilen will, wird gesucht …« Hi–hi, ein Mädchen, welches das Zimmer mit jemandem teilen will …«

»Gregersen, vergessen Sie nicht, daß Damen anwesend sind,« sagte Frau Paulsberg, ebenfalls lachend.

Nun war es für dieses Mal mit dem Ernst vorbei, alle begannen durcheinanderzureden, und selbst Öjen erdreistete sich, Paulsberg zu seiner Aufnahme in die Nationalgalerie zu gratulieren. Das sei doch so gut wie eine Aufnahme in die Akademie. Na, nicht, daß es etwa zu früh gewesen wäre, keineswegs!

Nun wurde noch mehr Pjolter gebracht, viel Pjolter, Milde traktierte reichlich und stieß mit dem ganzen Tische an. Gregersen trank sich nach und nach wieder zur guten Laune durch, fing an Drolligkeiten zu sagen, Worte zu verdrehen, wie es seine Art war. Die Hitze im Lokal nähme zu, meinte er, diese Luft sei schlecht, ein Gemisch von allen möglichen Gerüchen, sowohl Fischgeruch wie verschiedene Fleischgerüche. Wer weiß, ob die Spucknäpfe heute ausgeleert worden … Gregersen machte nicht viel Umstände mit seinen Gesprächsthemata.

Jetzt wollte der kleine Öjen wieder anfangen, von Poesie zu reden. Milde warf einen Blick auf Paulsberg, der unwillig grinste; er war offenbar jetzt nicht in der Stimmung, Öjens Anschauungen über Poesie anzuhören. Und Milde sagte geradezu nein, lieber wollten sie über den Suezkanal sprechen.

Diese kurze Abweisung kränkte Öjen ganz außerordentlich. Hätten seine beiden Eleven sie nicht mit angehört, würde er gelächelt und die Sache haben passieren lassen; jetzt aber konnte er nicht schweigen, er antwortete so scharf, wie es ihm gerade einfiel, Milde habe doch eine ganz merkwürdige Gabe, sowohl zur Zeit wie zur Unzeit möglichst unverschämt zu sein. Wer ihn denn um seine Meinung über Baudelaire befragt habe?

Aber Milde antwortete ihm, denn er wußte, daß Paulsberg ihm den Rücken deckte; es kam zu einer der gewöhnlichen Zänkereien, nur noch gröber, offenherziger als sonst. Jetzt war Frau Hanka nicht mehr da, die das Feuer dämpfte, es fielen kurze, klare Worte, die niemand mißverstehen konnte, ja, Milde sprach schließlich von Öjens Poesie als von einer ganz gewöhnlichen Baudelaireschen Gehirnentzündung. Hierauf entgegnete Öjen nichts, er stellte nur das Glas hart auf den Tisch, bezahlte plötzlich und ging. Er schüttelte sich erregt unter dem feinen Mantel, als er der Tür zuschritt. Seine beiden Begleiter leisteten ihm Gesellschaft.

»Er ist ganz unerträglich, dieser Mensch mit seinen Gedichten in Prosa,« sagte Milde, um sich zu entschuldigen. »Ich begreife gar nicht, daß er von seinen eignen Lappalien reden mag, wenn ihm zum Beispiel ein Mann wie Paulsberg vor der Nase sitzt. Na, übrigens werde ich ihn schon wieder besänftigen; wenn ich ihm nur auf die Schulter klopfe und bedaure, daß er das Stipendium nicht bekommen hat, dann …« Aber bald darauf fiel auch Milde Frau Hanka ein; er sagte: »Ich vermisse Frau Hanka hier; sie ist gänzlich verschwunden, niemand kennt ihre Adresse. Ja, ihr habt wohl gehört, daß sie endlich von ihrem Manne geschieden ist? Sie hat sich ein Zimmer gemietet und bekommt von ihrem Manne eine gewisse Summe im Monat.«

Da rief Gregersen in einem Anfall von Ausgelassenheit und Freude:

»Sie stoßen mich fortwährend mit den Füßen, Frau Paulsberg.«

»Nein, Sie sollten sich schämen …«

»Nein, wirklich wahr, Sie stoßen mich mit den Füßen unterm Tisch, hehe. Ich bin jedoch kein prinzipieller Gegner von Fußtritten, die hübsche Frauen erteilen, durchaus keiner von den allerprinzipiellsten Gegnern …« Und Gregersen lachte aus vollem Halse über das, was er gesagt hatte. Er kam wieder auf sein Steckenpferd, die Ziererei, das Laster, das hier zurzeit in höchster Blüte stand. Ja, nicht wahr? Könnte man sich rühren, könnte man Mensch sein? Nein! Und Gregersen lachte wieder und war lustig.

Paulsberg aber, der lange schweigend dagesessen, und außerdem seine Ungerechtigkeit gegen seinen hilfreichen Freund einsah, dem er die Politik der »Nachrichten« zur Last gelegt hatte, Paulsberg lachte jetzt auch und war froh darüber, daß Gregersen sich so gut amüsieren konnte. Er stieß mit ihm an, er hatte ihn ja auch wieder um einen Dienst zu bitten; fern war es von ihm, sich mit Gregersen entzweien zu wollen. Nach einer Weile stieß er aufs neue mit ihm an und sagte geradezu:

»Zum Teufel, du wirst doch wohl verstanden haben, daß ich nicht dir zu Leibe wollte, dir persönlich, als ich auf die »Nachrichten« schimpfte?«

Und Gregersen, der jetzt betrunken und liebenswürdig war, verstand alles; er klopfte Paulsberg auf die Schultern und sagte »bester Freund, bester Freund« zu ihm. Wofür hielt er ihn denn? Für einen Gimpel?

Nein, Paulsberg hielt ihn, weiß Gott, nicht für eine Ecke und sagte:

»Hör mal, alter Kamerad, kürzlich stand in einer deutschen Zeitung eine lobende Besprechung über meine ›Vergebung der Sünden‹; könntest du nicht mal versuchen, sie in die ›Nachrichten‹ zu schmuggeln? Du würdest mir einen großen Dienst damit erweisen. Ich werde sie dir in der Übersetzung schicken. Es hat ja doch auch Interesse für die Leute, wenn sie sehen, daß einer jetzt anfängt, sich das Ausland zu erobern.«

Gregersen versprach, sein Bestes zu tun; an gutem Willen solle es nicht fehlen. Natürlich sollte die Besprechung hineinkommen.

Sie gingen wieder an ihre Plätze zurück; Milde aber, der die Ohren offen hielt, hörte, was die beiden Freunde besprachen; er war ganz sicher, sich nicht verhört zu haben: Paulsberg wolle trotzdem seine Besprechung in das Blatt, die »Nachrichten« haben.

Nun hatte Paulsberg eigentlich seine Angelegenheit erledigt und wollte nach Hause. Aber Milde war einfältig und protestierte. Jetzt gehen? Nein, keine Streiche. Das sei nicht rechtschaffen.

Paulsberg lächelte geduldig.

»Milde, du kennst mich doch immer noch nicht,« sagte er. »Wenn ich einmal eine Sache gesagt habe, dann meine ich es auch so.«

Und das hätte Milde wissen müssen, aber er versuchte noch einmal, Paulsberg zurückzuhalten. Es half nichts; er habe keine Zeit, er habe zu viel zu tun; jetzt wollten auch noch obendrein ein paar Zeitschriften Beiträge haben; er sei mit Arbeit überbürdet.

Paulsberg und Frau verzogen sich. Aber beim Hinausgehen begegneten sie drei Personen in der Tür; daher kamen sie wieder an den Tisch zurück, um die alten Bekannten zu begrüßen. Die drei Personen waren Grande und Norem, und mit ihnen kam Coldevin.

Frau Grande hingegen war nicht dabei. Frau Grande war niemals dabei.

Coldevin sprach zu den beiden; er setzte sein Gespräch von der Straße fort, begrüßte die Gesellschaft nur mit einem Kopfnicken und sagte, was er zu sagen hatte, bevor er inne hielt. Der Advokat, diese merkwürdige Null, der selbst weder etwas tat noch sagte, was von Bedeutung war, hatte sein Vergnügen daran, diesen Wilden vom Lande reden zu lassen. Er nickte und hörte zu, fragte, widersprach, nur um zu hören, was der andre entgegnen würde. Jetzt hatte er Coldevin hoch oben in Thranes Weg getroffen, hatte ein Gespräch mit ihm angefangen, und Coldevin hatte ihm erzählt, daß er bald abreisen würde, wahrscheinlich schon morgen mit dem Nachtzuge. Er reise wieder nach Thorahus; übrigens gehe er nur hin, um seine Stelle als Hauslehrer zu kündigen; er habe eine Stelle weiter hinauf im Norden bekommen; damit wolle er es jetzt versuchen. Wenn er also jetzt sozusagen auf dem Sprunge stehe, müßten sie ein Glas miteinander leeren, sagte der Advokat, sonst wäre es eine Schmach. Endlich war Coldevin dann mitgebummelt. Vor dem Grand hatten sie Norem getroffen.

Coldevin sprach ebenfalls vom Storthing und von der augenblicklichen Lage; er klagte wieder die Jugend an, daß sie sich nicht gerührt habe, auf alle die letzten Torheiten nichts erwidert habe. Gott steh uns bei, welcher Art sei die Jugend von heute denn? Nur eine Abart?

»Es sieht schon wieder schlimm für uns aus, wie ich höre,« sagte Milde leise.

Und Paulsberg leerte sein Glas und entgegnete lachend:

»Ach, ihr müßt es mit Geduld tragen … Nein, wir wollen machen, daß wir nach Hause kommen, Nikoline. Dies mag ich nicht mit anhören.«

Paulsberg und Frau verließen das Grand.

 

II.

Coldevin hatte sich in einiger Entfernung gesetzt, er sah auch sehr unheimlich aus; er trug noch denselben Anzug, mit dem er im Frühling nach der Stadt gekommen war, und sein Haar und Bart waren lang und unbeschnitten. Der Anzug war ganz abgenutzt, und die Knöpfe fehlten.

Trotzdem rief der Journalist ihn näher an den Tisch. Was er trinken wolle? Ach, nur Bier? Nun, wie er wolle!

»Coldevin wird uns bald verlassen,« sagte der Advokat, »er reist vielleicht schon morgen, heute abend werden wir ein Glas zusammen trinken … Setzen Sie sich hierher, Coldevin, hier ist Platz.«

»Und du, Norem,« sagte Milde, »was Teufel hört man von dir? Im Rinnstein, in hilflosem Zustand im Rinnstein?«

»Ja,« erwiderte Norem, »und was weiter?«

»Na, da hast du allerdings recht, aber …«

Coldevin ließ einen gleichgültigen Blick durch das Café schweifen. Der lange, kahlköpfige Hauslehrer sah nicht aus, als hätte er es während seines Aufenthalts in der Stadt allzugut gehabt; er war jammervoll schmal und mager geworden, und unter seinen lodernden Augen lagen blaue Schatten. Er trank gierig aus seinem Seidel und sagte sogar, es sei lange her, seitdem Bier ihm so wohl getan habe. Er war ordentlich dankbar.

»Um auf unser Gespräch zurückzukommen,« sagte der Advokat, »so kann man doch nicht ohne weitres sagen, daß es gar so elend um das junge Norwegen bestellt sei.«

»Nein,« antwortete Coldevin, »man soll überhaupt niemals etwas ohne weitres sagen. Man muß versuchen, sich zu dem durchzufinden, was einem Zustande zugrunde liegt …«

»Nun und?«

»Und das, was unserm jetzigen Zustande zugrunde liegt, dürfte – wie ich schon sagte – unser naiver Aberglaube an eine Kraft sein, die wir absolut nicht mehr in hohem Grade besitzen; wir haben nicht ein einziges Gebiet mehr, auf dem wir eigentlich die Herren spielen, es müßte denn das Geschäftsleben sein, das wirklich fröhlich erblüht. Sonst aber! Wir sind so unsäglich genügsam geworden; wie mag das kommen? Sollte das nicht mit dem, was unserm Zustande zugrunde liegt, zusammenhängen? Wir führten eine stolze und große Sprache vor zehn, fünfzehn Jahren, und damals hatten wir einiges Recht dazu; dann aber gewöhnten wir uns so daran, die stolze, große Sprache zu führen, daß wir sie noch jetzt mit geringem oder gar keinem Recht führen. Wir fahren aber fort, sie zu führen. Die Zeitungen erzählen uns, daß wir kecke Burschen und Bahnbrecher ersten Ranges sind. Werfen Sie doch einmal einen Überblick auf unsre Bahnbrecher, und Sie werden sehen, daß wir ziemlich genügsam geworden sind. Vor kurzem ist das Storthing nach Hause gegangen. Es war herausgefordert worden, man hatte auf dasselbe geschossen; wie gebärdete es sich demgegenüber? Es packte seine Papiere zusammen und ging nach Hause. Unsere Journalistik ist dahin gekommen, keine Antwort schuldig zu bleiben; sobald gerufen wird, wird geantwortet, scharf geantwortet, männlich geantwortet: ›Ich glaube, du rufst? Nimm dich in acht, jetzt knallt es!‹ Aber es knallt nicht, das Storthing geht nach Hause. Ich habe mich selbst gefragt, ob wir uns vor zehn, fünfzehn Jahren damit begnügt haben würden. Ich glaube nicht. Wir würden uns hoffentlich abgewendet und die Nase zugehalten haben über unsre ärgsten Kleinlichkeiten, die Bosheit der Zwerge, die Apanagepolitik, und wir hätten würdiges und reelles Handeln verlangt. Nein, unsre Kraft und unsre Tapferkeit sind theoretisch, wir berauschen uns in Worten, wir handeln nicht. Unsre Jungen werfen sich auf Literatur und feine Kleider; das ist nun ihr Ehrgeiz, und für etwas andres sind sie nicht zu haben. Wir haben unser bißchen Zeit gehabt, unser bißchen Goldader; nun ists vorläufig vorbei damit, wir sind umgeschlagen. Und unser Geschäftsleben ists, das uns wieder auf die Füße helfen soll.«

»Denken Sie mal, was Sie alles wissen!« begann der Journalist hitzig.

Milde aber unterbrach ihn leise, beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm ein paar Worte zu: »Warum sich daran kehren? Weshalb den Mann nicht weiter schwatzen lassen? Hehe, er glaubt ja selbst an das, was er sagt, er bebt vor Überzeugung, für unsre Zeit ist er wirklich ein Anblick!«

Plötzlich fragte der Advokat ihn:

»Haben Sie Öjens letztes Gedicht gehört?«

»Nein,« sagte Coldevin.

»O großartig, aus Ägypten; ich besinne mich nur auf eine Strophe: In diesem Sandmeer, in dem niemand ist, tönt nichts andres als ein ewiger Regen von Sand gegen meinen Hut, und dann die knackenden und immer knackenden Kniekehlen der Kamele … Aber dann kommt das Wichtigste, in der Grabkammer, der Staub, die Mumie. Ja, das hätten Sie absolut hören müssen.«

»Ich erinnere mich des jungen Mannes, ich traf ihn das erstemal in Thorahus mit seinem total beschriebenen Vorhemd. O ja. Ich sah ihn wieder am siebzehnten Mai, wir begrüßten uns; er sei nervös, sagte er, er wolle nach Hause und sich schlafen legen. Vermutlich war er müde.«

»Selbstverständlichemang!« fiel der Journalist ein. »Wenn Öjen müde wird, geht er schlafen. So sonderbar ist er.«

»Aber Irgens' letztes Buch haben Sie doch wohl gelesen? Ich weiß nicht, ob ich Sie schon einmal danach gefragt habe?«

»Ja, das letzte Buch von Irgens habe ich gelesen. Weshalb fragen Sie?«

»Ach, wegen gar nichts,« erwiderte der Advokat. »Es ist mir nur unverständlich, daß Sie eine so schlechte Meinung von unsrer Jugend haben können, wenn Sie ihre Arbeiten kennen. Es sind Dichter von Rang …«

»Immer kommt man mit unsern Dichtern; man kann von keiner Sache reden, ohne daß man auf unsre Dichter kommt. Als wenn es das wäre, worauf es ankommt, ein paar Menschen zu haben, die dichten! Fürs erste ist die Frage die, welchen Ranges diese Dichtung ist …«

»Allerdings. Darum erlaube ich mir … Dichter von Rang, sagte ich.«

»Weshalb ist nie von etwas andrem die Rede als von unsern Dichtern? In diesem Kreise ist ein Mann, der kürzlich schweres Geld an Roggen verloren hat. Nun, das war schlimm, er hatte besondres Unglück. Aber wissen Sie, was dieser selbe Mann jetzt tut? Er bricht nicht über seinem Verlust zusammen, er schafft in diesen Tagen eine neue Exportware. Ich weiß das von seinen Leuten, er hat es übernommen, eine ausländische Schiffswerft mit Teer, norwegischem Teer zu versehen. Aber von ihm spricht man nicht.«

»Nein, ich gebe zu, daß meine Kenntnis unsers Geschäftslebens gering ist, aber …«

»Ihre Kenntnis dürfte nicht so schlecht sein, Herr Advokat, Sie haben vielleicht nur zu wenig Sympathie dafür … Es gibt hier so viele Dichter von Rang, hier ist Irgens, und hier ist Öjen, und hier ist Paulsberg, abgesehen von allen den andern; das ist das junge Norwegen! Ich sehe sie dann und wann auf der Straße; sie rasen an mir vorüber, wie Dichter an einem ganz gewöhnlichen Menschen vorüberrasen müssen, sie strotzen von neuen Ideen, sie duften nach Kölnischem Wasser, kurzum, sie lassen nichts zu wünschen übrig. Und wenn sie hier ins Grand eintreten, so schweigen alle andern Leute, während sie reden: scht! still, der Dichter redet! Und wenn sie nach Hause kommen, so ist es gewiß dieselbe Sache: Ruhe im Hause, der Dichter schreibt! Die Leute kennen sie schon von weitem und nehmen den Hut ab, und die Zeitungen sind in der Lage, der Nation mitteilen zu können, daß der Dichter Paulsberg jetzt einen Ausflug nach Hönefos macht. Kurz und gut …«

Jetzt vermochte Gregersen sich nicht mehr zu halten; in selbsteigner Person hatte er ja die Notiz über den Hönefosausflug gebracht; er schrie:

»Aber Sie haben eine ganz verfluchte Manier, Unverschämtheiten zu sagen; Sie sehen aus, als sagten Sie gar nichts andres …«

»Ich kann gar nicht begreifen, Gregersen, weshalb du dich so anstrengst!« bemerkte Milde. »Da Paulsberg selbst doch gesagt hat, wir sollten es mit Geduld hinnehmen.«

Pause.

»Kurz und gut,« fuhr Coldevin fort, »es ist alles, wie es sein soll, jeder tut seine Schuldigkeit den Dichtern gegenüber. Aber nun kommt die Frage, ob die jungen Dichter selbst all dieses Aufhebens wert sind. Das weiß ich nicht. Ich kenne vielleicht nicht alle, ich kann einen überschlagen haben. Ist eigentlich einer da, der alle die andern in den Schatten stellt? Oder kommt es alles auf mittelwertige Eskimopoesie heraus? Abrechnen will ich …«

»Sagen Sie mal, Mensch …« begann Gregersen wieder.

»Gleich, im Augenblick … Abrechnen will ich Öjens letztes Gedicht über Ägyptens Sand, sonst aber kenne ich das meiste. Es kommt mir vor, als wenn eins das andre nicht zuschanden machte, alles ist gleich gut …«

»Wenn Sie darin recht hätten, so wäre es jedenfalls höchst traurig,« sagte der Advokat.

»Höchst traurig, ganz außerordentlich traurig.«

»Und dabei ist nichts zu machen.«

»Nein, nein, sehr richtig. Aber nun können wir absolut nicht vergessen, daß wir seinerzeit einiges Recht hatten, eine stolze und große Sprache zu führen; wir setzten sie noch fort. Unsere Schriftsteller sind keine lesenswerte Talente, nein, sie sind lodernde Feuersäulen, Bahnbrecher, – sie werden ins Deutsche übersetzt. Sie nehmen Dimensionen an. Nun kann man das so lange wiederholen und wiederholen, daß die Leute es glauben; aber eine solche Einbildung ist herzlich schädlich für uns. Die Jugend glaubt obenauf zu sein, sie rauscht in Seide umher und macht ihre Bücher und beschaut die Welt hier vom Grand aus. Inzwischen gerät das Land in einen politischen Konflikt, und die Zeitungen, die bleiben die Antwort nicht schuldig, aber das Storthing, das geht nach Hause. Ja, was weiter! sagt die Jugend, steht es hier deshalb nicht ebensogut? Haben wir nicht unsre Bahnbrecher?«

Endlich aber nimmt Gregersen das Wort:

»Sagen Sie mal, Sie da hinten, ich weiß nicht mehr, wie Sie heißen: kennen Sie die Geschichte mit Vinje und der Kartoffel? Die Geschichte fällt mir immer ein, wenn ich Sie reden höre. Sie sind so ungeheuer naiv, Sie kommen vom Lande und glauben uns hier in der Stadt verblüffen zu können, und Sie wissen absolut nicht, daß Ihre Ansichten so furchtbar wenig neu sind. Es sind die Ansichten des Autodidakten … Ja, wissen Sie, Vinje war auch Autodidakt. Nun, vielleicht wissen Sie das nicht, aber er war also Autodidakt. Einmal verfällt er in Grübeleien über den Ring in einer durchgeschnittenen neuen Kartoffel, – ja, vom Lande her werden Sie wenigstens wissen, daß im Frühling eine violette Figur in der Kartoffel sein kann. Und Vinje war so frappiert von dieser violetten Figur, daß er sich hinsetzte und eine mathematische Abhandlung darüber schrieb. Dann brachte er Fearnley die Abhandlung zum Durchlesen und glaubte nun, eine große Entdeckung gemacht zu haben. Ja, das ist recht schön, sagte Fearnley auch, es ist ganz richtig, was Sie da gemacht haben, Sie haben die Aufgabe gelöst. Aber, sagte der alte Fearnley, die Ägypter wußten das vor tausend Jahren … Vor zweitausend Jahren wußten sie das, hahaha. Und an diese Geschichte muß ich immer denken, jedesmal wenn ich Sie reden höre. Nehmen Sie mirs nicht übel.«

Pause.

»Nein, ich nehme es Ihnen nicht übel,« entgegnete Coldevin. »Aber wenn ich Sie recht verstehe, sind wir derselben Ansicht? Ich sage nichts andres, als was Sie schon wissen, ists nicht so?«

Aber Gregersen schüttelte heftig den Kopf und wendete sich zu Milde:

»Nein, er ist unmöglich!« sagte er. Dann trank er und sprach wieder mit Coldevin, schrie lauter, als notwendig, beugte sich vor und schrie: »Liebster Herrgott, Mensch, begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Ansichten, die Ansichten des Autodidakten, allzu lächerlich sind? Sie glauben, es sei neu, was Sie uns da sagen; für uns ist es alt, wir kennen es und lachen darüber … Ich! Ich mag nicht mehr mit Ihnen reden!«

Gregersen erhob sich hastig.

»Bezahlst du?« sagte er zu Milde.

»Ja, aber willst du gehen?«

»Ja, erstens muß ich hinauf in die Redaktion, und zweitens habe ich genug hiervon. Und zweitens und drittens und zwölftens habe ich genug hiervon! Adieu!«

Und mit schwankendem Gang wanderte Gregersen aus dem Lokal, um sich in die Redaktion zu begeben.

Es wurde sechs Uhr. Die drei Herren, die noch am Tisch zurückgeblieben waren, saßen einen Augenblick schweigend da. Coldevin tastete nach seinen Knöpfen, als ob er den Rock zuknöpfen und gehen wollte, da er aber keine Knöpfe fand, sah er schnell zum Fenster hinaus, um die Aufmerksamkeit davon abzulenken, und sagte:

»Ja, es wird spät, wie ich sehe …«

»Sie wollen doch nicht ebenfalls gehen?« unterbrach ihn der Advokat. »Kellner, Bier! … Nein, lassen Sie uns zu einer Verständigung kommen. Derjenige, der uns unsre Dichter nimmt, kann uns ebensogut gleich von der Tafel streichen; denn sie sind es, die uns zu dem machen, was wir sind.«

Und plötzlich sagte Milde dasselbe; es seien die Dichter, die uns im Auslande bekannt machten; sie leuchteten allerdings wie Feuersäulen, sie seien unser Stolz. Milde erörterte den Ausdruck Eskimopoesie; was darunter zu verstehen sei? Übrigens sei er kein Fanatiker, er könne es ertragen, alle Ansichten zu hören.

»Es wäre nicht gut für uns, wenn es unsre Schriftsteller wären, die uns zu dem machen, was wir sind,« wendete Coldevin ein. »Es wäre auch besser, wenn Sie der Vorstellung ein wenig entgegenarbeiteten, besser für uns alle. Da gehen nun unsre Schriftsteller umher, und ihnen gehört die Welt in unsrer kleinen Stadt, und die Bürgersteige sind nicht zu breit für sie. Wir freuen uns darüber, daß sie so viel Platz brauchen, wir drehen uns um und sagen bewundernd: Seht, wieviel Platz sie brauchen! Ich ahne einen großen und allgemeinen Grund hierfür, und dieser ist, daß wir während der letzten Jahre so ungemein genügsam geworden sind. Ach ja, leider ungemein genügsam. Ich habe das alles in den Zeitungen verfolgt, wir stellen keine großen Anforderungen mehr, wir sind dankbar für wenig. Eskimopoesie? Nein, das ist ja ein zu derbes Wort, das versteht sich; ich meinte es nicht so geradezu. Aber ist es nicht auffallend, wie unsre Schriftsteller wohlgefällig die schwächsten Dinge behandeln? Da sind Paulsberg, und Irgens, und Öjen, sie sagen es nicht – ich setze nur den Fall: – der Weltenzustand ist soundso, das Dasein hat nicht nur ein, sondern etliche Tausend Seiten, und in meinem eignen Herzen gibt es dunkle und tiefe Moraste, die ich noch nicht besucht habe; wir müssen etwas tun, die Menschen dahin bringen, daß sie das Licht der Sonne Wiedersehen, den Namen Gottes brausen machen, die Jugend hinreißen, daß sie die Liebe nicht nur genießt, sondern sich auch errötend an ihr erfreut; nein, dies berühren sie so wenig, und wenn sie mehr daran rührten, würden sie auch wohl schlecht dabei wegkommen. Menschen sind nicht sehr ihre Sache; sie dichten über Pontoppidan, über die Staatskirche und die Hypothek, sie schreiben Verse über geschmolzene Königskronen und ägyptischen Sand; nein, du lieber Gott, unsre Schriftsteller sprechen so selten innig zu meiner armen Seele. Es fehlt ihnen an Impuls und Umfang. Aber sie selbst haben kein Gefühl für diesen Mangel, und es gibt niemand, der sie darüber aufklärt. Sie sprechen immer, als wenn sie eine neue Kulturmacht inaugurierten, mindestens; ihre bescheidene Selbstzufriedenheit artet in Vollkommenheit, in Pathos aus, sie runzeln die Stirn und sehen so gram und heilig besessen aus, als ob sie Christenblut röchen. Respekt vor diesen Männer, sie sind unser Stolz! Und die Zeitungen halten sie getreulich empor, die Zeitungen machen sie zu Geistern, zu Denkern, zu Sehern; Tag für Tag, Tag für Tag stoßen sie dasselbe hohle Eselsgeschrei aus, und man würde sicher den Verworfenen allen Ernstes steinigen, der es versuchen würde, die Selbstüberschätzung innerhalb ihrer Grenzen zu halten. Zuletzt bleibt gar keine Scham mehr, keine Scham, die Schriftsteller sind durchaus nicht mehr bloße lesenswerte Talente, ach nein, sie greifen tief ein in das Geistesleben der Zeit, sie versenken Europa in Grübeleien. Was Wunder da, daß sie sich selbst lehren, die Bewunderung der Menschen als etwas ihnen Zukommendes einzukassieren? Sie sind ja große Denker, sollen sie dann nicht mit ein wenig welthistorischer Miene in unserm kleinen Lande umhergehen? In stillen Nächten, wenn sie allein sind, lächeln sie vielleicht bei sich selbst, es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie sich in ganz einsamen Stunden vor den Spiegel stellen und sich von Kopf bis zu Fuß betrachten und dazu kichern. Bei den alten Römern hatte man ja einige Leute, die man Auguren nannte. Das waren sehr tiefe und weise Männer, sie befragten und deuteten den Flug der Vögel. Zwei solcher Auguren konnten jedoch nicht auf der Straße aneinander vorübergehen, ohne zu lachen …«

Der Advokat widersprach:

»Sie kennen unsre Schriftsteller nicht genug, Coldevin, lange nicht genug.«

»Ich habe versucht, hier in der Stadt einen kleinen Einblick in ihr Leben zu gewinnen; es ist nicht so bescheiden und verborgen, daß man nicht ein bißchen davon zu sehen bekäme, und aus einem bestimmten Grunde habe ich es ganz fleißig verfolgt; derselbe Grund, der da macht, daß ich heute abend vielleicht ein wenig scharf spreche. Ach ja, ich habe ein bißchen, ich habe manches gesehen. Mehr als einmal habe ich mich gefragt: Sind wir denn so arm in unsern Idealen geworden? Können wir absolut nicht mehr mit Stolz fordern? Neue Erde, blasse Erde, Tonerde! Nein, nein, nein, ich wünschte, ich könnte dem abhelfen und die Leute dahin zu bringen, daß sie es sähen! Und in diesem Schriftstellerleben werden sie auch nicht immer zu den besten Menschen. Weshalb sollten sie auch? Das Land ist klein und der Raum eng, die Schriftsteller brauchen viel Platz. Sie zanken sich untereinander, spinnen Intriguen, mißgönnen sich gegenseitig ein Stipendium. Weshalb hat man Irgens' Gedichtsammlung noch nicht besprochen, nicht erwähnt? Ich bin Irgens' Freund nicht, und er ist nicht der meine, aber es ist mir aufgefallen, daß man ihm unrecht tut. Wer ist es, der ihm entgegensteht? Ein Kollege, ebenfalls ein Verfasser, der im Verborgnen Dachsarbeit tut? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß unsre Schriftsteller ein beengtes Dasein führen; ich habe sie hier in der Stadt beobachtet, sie werden klein und bitter, sie werden eifersüchtig auf das Glück des andern, und sie sind so wenig imstande, ihren Neid niederzuhalten. Wenn sie dann in ein gewisses Alter kommen und eine Anzahl Bücher geschrieben haben, werden sie ärgerlich und sind verletzt dadurch, daß das Land ihnen nicht die Summen verschafft, die sie zum Leben gebrauchen, sie fühlen sich geradezu beeinträchtigt, daß die Nation sie nicht noch mehr anerkennt, als sie es schon tut Dann stellen sie sich hin und lassen sich beklagen: hier kann mans nun recht sehen, so behandelt Norwegen seine großen Männer! Ach ja, derartig hat man nun unsre Vorstellungen verwirrt, daß wir glauben, unsre Schriftsteller seien vor allen andern wert, viel Aufhebens von ihnen zu machen. Wie viel, viel eher müßte man den Journalisten die vorhandenen armseligen Stipendien geben, diesen überanstrengten täglichen Arbeitern an einem Blatte; den Journalisten, die in einem Monat mehr Arbeit tun, als die Dichter in einem ganzen Jahre aus sich herauspeinigen! Oft haben sie Familie, oft geht es ihnen sehr knapp, viele dieser Männer hat das Schicksal arg bedrückt; sie haben einst ein freieres und reicheres Leben erträumt, als in einem Zeitungskontor eingezwängt zu sitzen, wo ihre anonyme Arbeit spurlos verschwindet, und wo die meisten sich unheimlich stark anstrengen müssen, oft sogar durch Augendienerei – nur um ihre Stellen behalten zu können. Kommt ihnen ein glücklicher Einfall, so müssen sie ihn augenblicklich springen lassen, ihn sofort in einen Artikel stecken, und der Artikel wird roh gedruckt, und der Einfall verschwindet im Nu. Und was bekommen sie dafür? Ach, elenden Lohn, elenden Lohn und wenig Freude. Man könnte diesen Männern wirklich die gerechte Aufmunterung gönnen, die sie verdienen; man würde vielleicht auch nicht daran verlieren, sondern die Früchte davon in einer freien und redlichen Zeitungsliteratur sehen. Das wäre nicht unmöglich. Und wieviel mehr spricht einen nicht der bezahlte und ehrliche Journalist an, der in täglicher Arbeit für sich und die Seinen strebt, als diese vielen Dichter, die ein Jahr ums andre ein Buch fertig machen und sich dann hinlegen und das Stipendium erschleichen.«

Währenddessen saß der Schauspieler Norem zusammengesunken, gänzlich stumm auf seinem Stuhl, blinzelte nur mit den schweren Augenlidern und zog müde und träge an seiner Zigarre. Endlich sah er auf, stieß sein leeres Seidel auf den Tisch auf und sagte:

»Ja, Milde, wenn es wirklich deine Absicht ist, mir was zu geben, dann also einen Pjolter.«

Der Pjolter wurde gebracht.

In demselben Augenblick wurde die Tür zum Café geöffnet, und Irgens und Fräulein Agathe traten ein. Sie blieben einen Moment unten an der Tür stehen und sahen sich um, Agathe war ohne Verlegenheit, ohne Unruhe; als sie aber Coldevin erblickte, trat sie plötzlich ein paar hastige Schritte vor, lächelte und öffnete den Mund, um ihn laut zu begrüßen, dann hielt sie aber inne. Coldevin starrte sie an und tastete mechanisch nach seinen Rockknöpfen, blieb jedoch sitzen.

Das alles spielte sich in wenigen Augenblicken ab.

Irgens und Agathe kamen zusammen an den Tisch, grüßten und setzten sich. Agathe reichte Coldevin die Hand. Milde erkundigte sich, was sie zu trinken wünschten.

»Ihr kommt zu spät,« sagte er lachend. »Ihr hättet früher hier sein sollen, jetzt ist die Vorstellung vorüber. Coldevin hat uns wirklich ausgezeichnet unterhalten.«

Irgens sah auf, warf Coldevin einen hastigen Blick zu und sagte, indem er sich eine Zigarre anzündete:

»Ich habe Herrn Coldevins Unterhaltung schon einmal genossen, draußen in Tivoli, glaube ich; das mag mir vorläufig genug sein.«

Irgens vermochte seinen Unwillen nur schlecht zu verbergen. Er sah Coldevin heute zum zweitenmal; er hatte ihn lange vor seiner Wohnung stehen sehen, Thranes Weg Nr. 5, und nicht eher hatte er mit Agathe hinauskönnen, als bis dieser Satanskerl endlich fort war. Ein glücklicher Zufall hatte Grande vorübergeführt, sonst wäre der Mensch doch noch länger stehen geblieben. Und wie stand er dort? Wie eine Wache, eine Schildwache, ohne zu weichen. Irgens war rasend, er hatte seine große Mühe damit gehabt, Agathe von den Fenstern fernzuhalten; hätte sie nur einen Blick hinausgeworfen, so würde sie Coldevin sofort entdeckt haben. Er verbarg sich keineswegs, er stand dort gerade, als ob er gesehen werden wolle, und hielt das Paar im Belagerungszustand.

Jetzt sah er ziemlich verlegen aus, er spielte unruhig am Henkel seines Seidels und blickte zu Boden.

»Ja, Irgens, in dieser Abendstunde habt ihr Dichter euer Teil bekommen,« fuhr Milde fort. »Du meinst vielleicht, ihr hättet damals in Tivoli schon genug bekommen? Bah, Schmeichelworte gegen heute abend, Milch und Honig, sage ich dir, gegen heute abend. Ihr seid just keine großen Bahnbrecher, nicht eigentlich unerreichbar, nein; außerdem habt ihr die üble Gewohnheit, aufeinander eifersüchtig zu sein und euch hinterlistige Schlingen zu legen und unter euch zu keifen, wie die Dachse. Hehe, kennst du dich wieder?«

Irgens zuckte die Achseln.

Agathe sagte nichts, sie folgte bald dem einen, bald dem andern mit den Blicken und sah sorglos und mit lächelndem Munde zu Irgens auf. Sie war wieder ruhig.

»Na, na,« sagte der Advokat, »Coldevin ist sehr scharf gewesen; aber er hat doch jedenfalls des Unrechts erwähnt, daß man Irgens' Gedichte nicht bespricht. Das hast du doch auch gehört, Milde.«

»Das war indessen nicht als eine Verteidigung für Herrn Irgens gemeint,« rief Coldevin plötzlich scharf und klar. Er sah mit einem festen Blick auf. »Es war nur, um zu zeigen, wie die Herren Schriftsteller miteinander umgehen.«

Pause. Coldevin trank zerstreut aus seinem Seidel, seine Hand zitterte. Der Advokat sah ihn verwundert an. Was focht den Mann an? Er sprach mit einem Male mit andrer Stimme und biß sich hinterher in die Lippen.

»Na ja, das mag nun meinetwegen sein, wie es will,« sagte der Advokat versöhnlich. »Aber Sie sagten dies und jenes, was Sie gewiß nicht so ernst gemeint haben. Wenn Sie zum Beispiel den Schriftstellern zur Last legten, daß sie neidisch aufeinander seien und sich gegenseitig gern niederhielten, so ist das ja ein Laster, das allen Kollegen anhaftet und in jedem Stande zu finden ist. Ich sehe es in meiner eignen Stellung.«

Und nun erwiderte Coldevin kurz und schonungslos, es gäbe vielleicht keine Stellung im ganzen Lande, in der so viel jämmerlich kleinliche Eifersucht und böser Wille gegen Kollegen zu finden sei, wie in Schriftstellerkreisen. Den Handelsstand möchte er als Gegensatz anführen, die Kaufleute, diese verachteten und von traurigen Literaten geschmähten Großhändler, Krämer, Höker, die hülfen einander im Notfälle, ständen sich bei, bürgten gegenseitig und machten einen Gestrandeten wieder flott; was aber täten die Schriftsteller? Sie wünschten so frisch den Untergang eines Mitbruders, nur um selbst mehr Platz zu erlangen. Es sei von nicht geringer Bedeutung, in einer Stellung im Leben zu stehen, die den Menschen auch ein wenig herumwürfe, die ihn in Kummer versenke und ihm dann wieder den Zugang zu menschlicher Freude und Wärme eröffne; das mache die Menschen so prächtig großdenkend, so wenig kleinlich. Wir beschäftigten uns nur mit den Schriftstellern und diskutierten über ihr letztes, mehr oder minder gutes Buch, während doch jene Krämer zurzeit unsre größte Hochachtung verdienten. Auf welche Höhe hätten diese Männer uns gebracht! Eine Handelsnation, ein exportierendes Volk mitten in dem unfruchtbaren Lande! Er habe gelesen, daß man selbst in Paris noch heutigen Tages an die Läden schrieb: Hier ist Telephon! Das brauche man bei uns nicht; hier wäre es selbstverständlich, daß jedes Geschäft Telephon habe. Aber immer, immer müßten die Schriftsteller den Preis haben. Weshalb? Und wofür in aller Welt? Ein Schriftsteller könne seine ehrlichen, runden Zwanzigtausend Schulden haben. Was weiter? Er könnte nicht bezahlen, das sei alles. Wie, wenn ein Kaufmann sich so betrüge, sich eindrängte und sich unter der falschen Vorspiegelung, später bezahlen zu wollen, Wein oder Kleidungsstücke erschwindelte? Man würde ihn einfach wegen Betruges anklagen und ihn bankrott erklären. Aber die Schriftsteller, die Künstler, diese unsre Bahnbrecher, die das Land unter dem Jubel der Nation wie ein Alp bedrückten, – wem könnte man nachsagen, daß er so hart gegen diese auftrete? Die Leute redeten nur privatim über den Betrug und lachten darüber, es sei ganz verteufelt schlau, seine reinen Zwanzigtausend schuldig zu sein …

Milde stellte sein Seidel hart auf den Tisch und sagte:

»Ja, mein guter Mann, jetzt deucht mich aber, daß es genug sein könnte.«

Der vortreffliche Maler schien mit einem Male die Geduld verloren zu haben. Solange er hier mit dem Advokaten und dem Schauspieler allein saß, hatte er nicht mit einem Worte protestiert, er hatte sich sogar über die bittere Rede des elenden Hauslehrers amüsiert; kaum aber hatte sich einer der Schriftsteller selbst eingestellt, als er ärgerlich wurde und auf den Tisch schlug. Das war nun so Mildes große, ausgezeichnete Gewohnheit stets mit einer Stütze im Rücken zu rechnen.

Coldevin sah ihn an.

»Meinen Sie?« fragte er.

»Ja, das meine ich.«

Coldevin hatte ohne Zweifel mit Berechnung gesprochen, mit gutem Bedacht, hatte seinen Worten sogar eine Adresse gegeben, das hörten alle. Irgens biß dann und wann auf seinen Schnurrbart.

Jetzt aber wurde auch Norem aufmerksam, er merkte, daß vor seinen müden Augen etwas vorging, und fing an, sich hineinzumischen, gegen die Handelsmoral loszuziehen, die verrottetste Moral auf Erden, ja, Prellerei, Judentum, das reinste Judentum. Ob es recht sei, Wucher zu nehmen? Nein, ihm solle keiner mit solchem Unsinn kommen; er würde nach Verdienst darauf antworten, wenn es darauf hinausginge. He, Handelsmoral! Die verrottetste Moral auf Erden …

Inzwischen sprach der Advokat über den Tisch hinüber mit Irgens und Agathe; er erzählte, wie er Coldevin getroffen habe:

»Ich traf ihn vor einer Weile oben in deiner Gegend, Irgens, oben in Thranes Weg, ja, gerade unter deinen Fenstern. Dort stand er. Ich nahm ihn mit; es ging doch nicht an, den Mann dort stehen zu lassen …«

Agathe fragte leise, mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen:

»In Thranes Weg? Dort trafen Sie ihn? … Hör, Irgens, er war vor deinen Fenstern, Gott steh mir bei.«

Sie ahnte augenblicklich Unrat. Coldevin beobachtete sie jetzt gespannt, er starrte ihr gerade ins Gesicht und gab sich sogar Mühe, sie sehen zu lassen, daß er sie anstarrte.

Inzwischen fuhr Norem mit seinen unmöglichen Fragen fort: So? Es sei also zu verstehen, daß das ganze Volk sozusagen korrumpiert sei, Frauen und Männer total verderbt, da sie doch auf Kunst und Dichtung hielten? »Sie, Alter, lassen Sie Kunst Kunst bleiben und geben Sie sich nicht damit ab. He, Frauen und Männer total verderbt …«

Coldevin benutzte diesen Anlaß sofort und antwortete. Er wendete sich nicht an Norem, er sah sogar von ihm fort, sagte jedoch etwas, das ihm am Herzen lag, sprach zu allen, die es betraf, ins Blaue hinein, zu allen. Es sei ungenau, zu behaupten, alle Frauen und Männer seien verderbt, sie seien nur bei einem gewissen Grad von Hohlheit angelangt, sie seien ausgeartet und klein. Neue Erde, blasse Erde, ohne viel Fruchterde, ohne Üppigkeit. Die Jugend habe so kaltes, magres Blut, sie lasse alles seinen Gang gehen und sei nur oberflächlich betrübt, wenn ihr eignes Land schwieg und vor einer Herausforderung davonschlich. Es sei nicht mehr so, daß eine Überhebung Norwegen gegenüber als eine persönliche Überhebung jedem einzelnen Norweger gegenüber, Konservativen oder Freisinnigen, angesehen wurde; man errötete nicht mehr bis an die Haarwurzeln, man errötete überhaupt nicht mehr, weder vor Zorn, noch vor Freude. Und auch die Frauen lebten so glatt weg, ohne des Lebens müde zu werden, aber auch ohne einen Einsatz ins Leben zu wagen. Wie könnten sie auch einen Einsatz wagen? Sie hätten nichts einzusetzen. Sie hüpften umher wie blaue Flammen, sie nippten ein wenig an allem, an Freuden und Schmerzen, und sie hätten keine Empfindung dafür, daß sie unbedeutend geworden wären. Sie hätten aufgehört, hohen Ehrgeiz zu hegen, und ihr Herz verursache ihnen keine großen Plagen mehr; es schlüge sehr schnell, aber es schwelle ihnen nicht mehr in der Brust, weder für das eine, noch für das andre; weder für den einen, noch für den andern. Und was sei aus dem stolzen Blick der jungen Frauen, der Mädchen geworden? Er sei von großer und feiner Bedeutung gewesen, dieser Blick; aber jetzt begegne man ihm nicht mehr; die Frauen sähen ebenso gern auf die Mittelmäßigkeit, wie auf die Überlegenheit; sie ergingen sich in Bewunderung über ein paar armselige Verse, ja, sogar über zusammengequälte Romane. Und vor Zeiten gehörten doch größere und stolzere Dinge dazu, sie zu erobern! Jetzt hätten sie ihre Anforderungen sehr herabgestellt, und sie könnten nicht anders, sie vermöchten nicht mehr, ihr Verlangen sei erschlafft. Das Weib habe an Macht verloren, jene reiche und liebe Einfalt, die große Leidenschaft, das Rassezeichen, es habe die rechte Freude verloren an dem einzigen Manne, seinem Helden, seinem Gott, es sei naschhaft geworden, es schnuppre an jedem Beliebigen herum und gäbe allen den willigen Blick. Liebe würde für die Frau mehr zum Namen eines gewesenen Gefühls, sie habe davon gelesen und seinerzeit habe es sie selbst ebenfalls unterhalten, aber es habe sie nicht sanft hinabgezwungen auf die Kniee, es sei nur ganz leise an ihr vorübergerauscht wie ein abgenützter Laut. Aber das Weib heuchle nicht etwa seinen Mangel, ach nein, – es sei ehrlich gerupft. Aber da sei nicht mehr zu helfen; es gelte nur noch, den Verlust in seinen Grenzen zu halten. Nach soundsoviel Generationen bekämen wir unsre Zeit wohl wieder, alles gehe den Wellengang. Aber jetzt, in diesem Augenblick, zehrten wir sorglos von den Überbleibseln. Nur der Handel habe seinen frischen, vollblütigen Puls; der Handel lobe sein brausendes Leben, wir sollten ihm danken! Aus ihm würde die Erneuerung hervorgehen.

Diese letzten Worte empörten Milde abermals, er zog einen Zehnkronenschein aus der Tasche, schleuderte ihn Coldevin über den Tisch hin und sagte aufgebracht:

»Da … da haben Sie Ihr Geld! Sie erinnern sich, ich habe einmal zehn Kronen von Ihnen geborgt, ich hatte es vergessen. Jetzt verstehen Sie hoffentlich, daß Sie gehen können.«

Coldevin errötete plötzlich über das ganze Gesicht, aber er nahm die Banknote.

»Sie danken nicht sehr höflich für das Darlehen,« sagte er.

»Nein, wer hat Ihnen denn auch gesagt, daß ich ein höflicher Mann sei? Die Hauptsache ist ja, daß Sie Ihr Geld wiederhaben, und daß wir hoffen, Sie los zu werden.«

»Ja, ja, danke; ich brauche mein Geld, ich habe keins mehr,« sagte Coldevin und wickelte den Schein in ein Stück Zeitungspapier. Schon die Art, wie er diese kleine Banknote verwahrte, zeigte, wie unbeholfen und wenig gewöhnt er war, Geld in Händen zu haben. Plötzlich aber sah er Milde ins Gesicht und fuhr fort: »Ich hatte übrigens nicht darauf gerechnet, dies Darlehen von Ihnen zurückzubekommen.«

Milde durchzuckte es, aber er kroch schnell wieder zusammen; die starke Beleidigung jagte ihn nicht auf, er schluckte sie hinunter, murmelte eine Antwort, lenkte aber ein und sagte einfach, er habe nicht die Absicht gehabt, unhöflich zu sein, er bitte um Entschuldigung, er sei gereizt worden, aber, kurz gesagt …

Norem jedoch, der betrunken und gleichgültig daneben saß, vermochte nicht länger ernst zu bleiben, er sah nur das Komische an dem Auftritt und rief lachend:

»Hast du den Mann auch angepumpt, Milde? Nein, Helf mir Gott, du borgst doch Geld von jedem Menschen, der dir in den Weg kommt! Du bist unbeschreiblich. Haha, von dem auch?«

Coldevin stand auf.

In demselben Augenblick stand auch Agathe auf und eilte zu ihm hin. Sie ergriff seine Hand mit seltsamer Erregung und begann ihm etwas zuzuflüstern, zog ihn mit sich nach einem andern Fenster und flüsterte. Dort setzten sie sich; um sie her waren keine Menschen, und sie sagte:

»Ja, ja, es ist so, Sie sprachen zu mir, ich habe es verstanden, Sie haben recht, Coldevin, recht, recht. Ach, Sie werden sehen, es soll anders werden! Sie sagten, ich könne nicht mehr, ich vermöchte es nicht mehr, aber doch, ich kann, Sie sollen nur sehen! Erst jetzt verstehe ich alles; Sie haben es mir gesagt. Lieber, lieber Coldevin, seien Sie nicht böse auf mich, ich hoffe zu Gott, daß Sie es nicht sind. Denn ich habe so viel Unrecht getan …«

Sie weinte mit trocknen Augen, saß vor lauter Hilflosigkeit nur auf einer Ecke des Stuhles und sprach unaufhörlich. Dann und wann sprach er ein Wort hinein, nickte, schüttelte den Kopf, wenn sie zu untröstlich war und nannte sie verwirrt Agathe, nein, liebe Agathe. Sie blieben dort sitzen; sie wurde nach und nach beruhigt und legte den Kopf auf die Seite und lauschte aufmerksam, wenn er sprach. Sie möge nicht alles, was er gesagt habe, auf sich beziehen; das dürfe sie durchaus nicht. Ja, er habe auch an sie gedacht, das sei allerdings wahr; aber dann habe er sich geirrt, Gott sei Dank dafür! Er habe ihr damit auch nicht wehe tun wollen, sie vielleicht nur warnen wollen; sie sei jung, und er sei so viel älter, er begreife ja, welchen Dingen sie ausgesetzt sei. Aber jetzt solle ihr deshalb nicht mehr traurig ums Herz sein; alles sei zum Besten gemeint.

Sie fuhren fort zu sprechen. Irgens wurde ungeduldig und stand auf, er streckte die Arme von sich und gähnte, als Zeichen, das er jetzt gehen wolle; plötzlich fiel ihm aber etwas ein, das er vergessen hatte, und er ging mit ein paar hastigen Schritten ans Buffet. Er verlangte in aller Ruhe gebrannten Kaffee, den er in einer Düte erhielt.

Milde beglich die Rechnung, warf flott und reichlich mit dem Gelde umher und erhob sich dann ebenfalls. Er verabschiedete sich von den Herren am Tische und ging. Kurz darauf sah man ihn dicht vor den Fenstern vom Grand eine Dame begrüßen, sie gingen zusammen in eine Seitengasse; die Dame hatte eine lange Boa, die hinter ihr herschlängelte und sich dann und wann um Mildes Arm legte. Dann verschwanden sie.

Und noch immer saßen Agathe und Coldevin auf ihrem Platz.

»Sie können mich nach Hause begleiten,« sagte sie. »Warten Sie ein wenig, ich will nur …«

Sie wendete sich nach Irgens' Tisch um und nahm ihren Mantel. Damit wollte sie wieder fort.

»Gehen Sie?« sagte er und blickte sie wie aus den Wolken gefallen an.

»Ja, ja, ich will nichts mehr hören, Irgens,« erwiderte sie. »Danke für heute.«

»Was wollen Sie nicht mehr? Soll ich Sie nicht nach Hause begleiten?«

»Nein. Und später, morgen auch nicht mehr. Nein, nun soll es zu Ende sein.« Sie reichte Irgens die Hand und dankte ihm noch einmal gleichgültig; sie sah fortwährend nach Coldevin hin und wurde ungeduldig, weil Irgens sie aufhielt.

»Denken Sie an das, was Sie für morgen versprochen haben,« sagte er, als sie fortging.

 

III.

Agathe und Coldevin gingen zusammen die Straße hinauf. Er erzählte ihr nicht, daß er abreisen würde, und sie wußte es nicht. Die gutmütige Seele! Sie war glücklich darüber, neben Coldevin gehen zu können, diesem Menschen, der alle andern durch seine unmöglichen Reden abstieß; sie ging dicht neben ihm; das Herz zitterte ihr in der Brust.

»Vergeben Sie mir, Coldevin,« sagte sie. »Ja, ja, vergeben Sie mir alles, sowohl von früher, wie von jetzt, wollen Sie? Vor kurzem wagte ich noch nicht, Sie darum zu bitten, aber sobald ich wieder mit Ihnen zusammenkomme, bin ich ganz vertrauensvoll. Sie machen mir keine Vorwürfe, niemals. Aber ich habe heute nichts, nichts Unrechtes getan .., heute, als ich aus war, als ich hoch oben in der Stadt war, meine ich. Ja, Sie verstehen, was ich meine.« Und sie blickte ihm offen ins Gesicht.

»Ich habe Ihnen nichts zu vergeben,« antwortete er.

»Doch, Sie haben mir viel zu vergeben. Ja, das haben Sie,« wiederholte sie nachdrücklicher. »Nein, ich verstehe das nicht; jetzt denke ich nur daran, wie wir zusammen im Walde bei Thorahus gingen. Wir ruderten zusammen auf dem Meer …«

»Reisen Sie bald nach Hause, Fräulein Agathe?«

»Ja, ich reise sehr bald … Verzeihen Sie mir, Coldevin, und glauben Sie mir, glauben Sie mir, ich habe heute nichts Unrechtes getan, aber ich bereue es, bereue alles … Nein, Sie wecken so viele Erinnerungen in mir. Einmal holten Sie mich von der Sennhütte nach Hause; Sie sagten, Sie hätten mich vermißt, als ich fortgewesen sei; mir ist, als hörte ich es noch …« Sie schwieg. Dann sagte sie plötzlich lächelnd und sah ihn an: »Es ist schon lange her, daß Sie Ihr Haar abgeschnitten haben.«

»Ja, ich werde es bald abschneiden.«

»Aber den Bart nicht mit,« rief sie abwehrend, »nein, den Bart nicht, der ist jetzt prächtig.«

Darauf entgegnete er gleichgültig:

»Finden Sie das? Ach nein, er ist jetzt zu grau.«

Pause. Und dann sprach sie wieder:

»Ja, Sie haben nur recht in allem. Blaue Flammen, ohne irgend welchen großen Stolz. Ich bin doch nicht so dumm, daß ich nicht begriffen hätte, wem Sie das sagten.«

»Aber, liebe Agathe!« rief er verzweifelnd aus, »nicht zu Ihnen. Das meinte ich auch nicht. Und außerdem irrte ich mich, irrte mich durchaus, ich sehe es ein; Sie sind Gott sei Dank ganz anders. Aber dabei fällt mir ein, versprechen Sie mir eins, Agathe, … nein, entschuldigen Sie, daß ich nur Agathe sagte! Aber versprechen Sie mir, daß Sie sich ein wenig in acht nehmen werden, – wollen Sie? Es geht mich ja nicht im mindesten an, das weiß ich wohl, aber Sie sind mit einer Menge von Leuten zusammengeraten, glauben Sie mir, das sind keine Leute für Sie. Frau Tidemand war auch hineingeraten.«

Sie sah ihn fragend an.

»Ich dachte, ich müßte es Ihnen erzählen,« fuhr er fort. »Frau Tidemand, eine der wenigen stolzen Menschen, die in diesem Kreise waren, selbst sie! Ein Schriftsteller leitete auch sie irre.«

»Ach so,« sagte Agathe. »Ja, ich mache mir nicht das Geringste aus Schriftstellern, ach nein, das können Sie glauben. Nein, jetzt denke ich nicht einmal an sie.« Und plötzlich nahm sie Coldevins Arm und drückte sich dicht an ihn.

Er wurde beinahe verlegen und verlangsamte seinen Gang; sie fühlte es selbst und sagte lächelnd, indem sie ihn wieder losließ:

»Ach nein, das darf ich doch wohl eigentlich nicht.«

»Nein,« sagte auch er, »das dürfen Sie wohl nicht.«

»Nein. Aber jedenfalls sehe ich Sie jetzt nicht allzuoft, Coldevin, das weiß Gott.« Sie schlug die Augen nieder.

»Hm. Was werden Sie beginnen, wenn Sie jetzt nach Hause kommen? Ich meine, werden Sie lernen, oder was tun Sie? Apropos: haben Sie Nachricht von Ihrem Verlobten?«

»Nein, nein, noch nicht. Aber das wäre auch wohl zu früh. Fürchten Sie, daß er nicht glücklich ankommt? Lieber Coldevin, fragen Sie deshalb?«

»Nein, nein, seien Sie nur ruhig; er wird schon glücklich ankommen. Nein, ich fragte doch nur so … Ja, ja, ich danke Ihnen, daß ich Sie nach Hause bringen durfte.«

Sie blieben vor ihrer Haustür stehen und verabschiedeten sich gegenseitig. Zögernd stieg sie die beiden Stufen hinauf, ohne ihr Kleid aufzuraffen. Plötzlich drehte sie sich um, kam wieder auf die Straße hinab und sah ihn tiefbewegt an.

»Coldevin, wie lieb habe ich Sie jetzt!« sagte sie leise. »Und Dank für heute.«

Damit eilte sie die Stufen hinan und in die Tür.

Er blieb einen Augenblick stehen. Noch hörte er ihre Schritte im Hause, dann erstarben sie. Und nun kehrte er um und ging wieder langsam die Straße hinauf. Er sah und hörte nichts um sich her.

Instinktmäßig hatte er den Weg nach dem Keller eingeschlagen, wo er zu speisen pflegte. Er stieg hinunter und verlangte Essen. Hungrig verspeiste er alles, was ihm vorgesetzt wurde, als ob er lange nichts zu essen gehabt hätte; nicht einmal vom Brote ließ er etwas übrig. Als er fertig war, wickelte er seinen Zehnkronenschein aus dem Stück Zeitungspapier und bezahlte; zugleich fühlte er nach einem kleinen Päckchen in der Westentasche, wenige Kronen in Silber, die kleine Summe, die er für seine Eisenbahnfahrkarte abgezählt hatte.

Tags darauf gegen fünf Uhr ging Agathe nach dem Hafen hinunter, nach derselben Stelle, wohin sie am vorhergehenden Tage spazieren gegangen war. Irgens war schon dort und wartete auf sie.

Sie ging schnell auf ihn zu und sagte:

»Ich komme allerdings, aber nur, um Ihnen zu sagen … Ich komme nicht, um mit Ihnen zusammenzubleiben, ich habe keine Zeit, um mit Ihnen zu sprechen. Aber ich wollte nicht, daß Sie warten sollten.«

»Hören Sie, Fräulein Agathe,« sagte er plötzlich, »jetzt dürfen Sie nicht wieder Geschichten machen.«

»Ich gehe nicht wieder mit Ihnen in Ihre Wohnung, nie wieder. Ich bin belehrt worden. Weshalb nehmen Sie nicht Frau Tidemand mit? Ja, weshalb nehmen Sie sie nicht mit?« Agathe war bleich und erregt.

»Frau Tidemand?« sagte er und stutzte.

»Gewiß, ich weiß alles, ich habe mich erkundigt … Ja, ich habe die ganze Nacht daran gedacht, gehen Sie nur zu Frau Tidemand.«

Er trat dicht an sie heran.

»Frau Tidemand existierte nicht mehr für mich, seitdem ich Sie gesehen hatte; sie existierte nicht mehr! Ich habe sie seit Wochen nicht gesehen; ich weiß nicht einmal, wo sie wohnt.«

»Ja, das hilft nichts,« sagte sie. »Aber Sie können sie vielleicht aufsuchen … ich will ein kleines Stück mit Ihnen gehen. Ich gehe nicht mit Ihnen nach Hause, aber ein kleines Stück kann ich mitgehen,« sagte sie.

Und sie gingen. Agathe war wieder ruhig.

»Ich sagte, daß ich die ganze Nacht darüber nachgedacht hätte,« sagte sie. »Aber das tat ich natürlich nicht. Den ganzen Tag meinte ich. Nein, nicht den ganzen Tag, aber … nein, aber es fiel mir ein … Übrigens sollten Sie sich schämen! Verheiratete junge Frauen! Sie verteidigen sich nicht sehr warm, Irgens.«

»Ich weiß, daß es nichts hilft.«

»Nein, Sie lieben sie wohl.« Und als er schwieg, sagte sie heftig: »Sie könnten mir doch wenigstens sagen, ob Sie sie lieben.«

»Ich liebe Sie,« antwortete er. »Ich lüge nicht in diesem Augenblick; Sie sind es, die ich liebe, Agathe, und keine andre. Sie können mit mir machen, was Sie wollen, dann sind Sie wohl zufrieden.« Er sah sie nicht an, sondern blickte zu Boden und rang ein paarmal die Hände.

Sie fühlte, daß seine Bewegung echt sei, und wieder milde gestimmt sagte sie:

»Ja, ja, Irgens, ich glaube Ihnen … Aber ich gehe nicht mit Ihnen nach Hause, nicht ganz nach Hause.« – Pause.

»Belehrt worden?« sagte er dann. »Wer ist es, der Sie mit einem Mal so feindlich gegen mich gestimmt hat? Ist es jener …? Er ist Ihr Lehrer gewesen, aber er ist mir aufrichtig zuwider. Schmutzig und zerlumpt wie die Sünde. Ein unverträglicher Fisch.«

»Haben Sie die Güte, nicht auf Coldevin zu schelten,« sagte sie bestimmt. »Darum bitte ich Sie.«

»Na, ja, er reist ja heute abend, dann sind wir ihn los.«

Sie blieb stehen.

»Er reist heute abend?«

»Ja, mit dem Abendzuge.«

Er wollte abreisen. Davon hatte er ihr kein Wort gesagt. Irgens mußte erklären, woher er das wisse.

Sie war so mit dieser Nachricht über Coldevins Abreise beschäftigt, daß sie nichts andres hörte; und als Irgens ihren Arm ganz leise berührte, ging sie mechanisch weiter. Sie gingen direkt nach seiner Wohnung. Als sie vor der Treppe standen, wich sie plötzlich zurück und sagte ein paarmal nein, während sie ihn starr anblickte. Aber er fuhr fort, sie zu bitten, und zuletzt nahm er sie beim Arm und führte sie hinein.

Die Tür schloß sich hinter ihnen …

An der Ecke aber stand Coldevin und sah das Ganze. Als das Paar verschwand, trat er hervor und ging ebenfalls bis an die Tür. Dort blieb er eine Zeitlang stehen, starr und vornübergebeugt, wie wenn er horchte. Er war ganz verändert, sein Gesicht war verzerrt, und dennoch lächelte er, er stand da und lächelte. Dann setzte er sich auf die Treppe, dicht an die Wand gedrückt und wartete.

Eine Stunde verging; eine Turmuhr schlug; bis zum Abgang des Zuges war es noch eine gute Weile hin. Noch eine halbe Stunde; dann ertönten Schritte auf der Treppe. Irgens trat zuerst heraus, Coldevin rührte sich nicht, sondern saß unbeweglich da, den Rücken der Tür zugekehrt. Dann kam Agathe; sie trat ganz hinaus auf die Treppe und stieß plötzlich einen Schrei aus. In demselben Augenblick erhob sich Coldevin und ging von dannen. Er hatte sie nicht gesehen und nicht ein Wort gesagt, hatte sich nur gezeigt, war zur Stelle gewesen. Er taumelte wie ein trunkner Mensch und bog an der nächsten Ecke ab; er lächelte noch gleichsam wie versteinert.

Coldevin ging direkt nach der Eisenbahnstation hinunter. Er löste eine Fahrkarte am Schalter und stand bereit. Die Türen wurden geöffnet, und erging auf den Perron hinaus; hier kam ein Dienstmann mit seinem Koffer nachgelaufen. Sein Koffer, ach ja, den hätte er beinahe vergessen. »Ja, setzen Sie ihn dorthin ins Coupé, in das leere Coupé!« Er selbst stieg hinterher ein. Dann fiel er vollständig zusammen. Er schluchzte leise in seiner Ecke, und sein magrer Körper zitterte zum Erbarmen. Ein paar Minuten später zog er seine Brieftasche hervor, entnahm ihr eine kleine seidene Schleife in den norwegischen Farben und begann sie zu zerreißen. Ganz still, unter stummen Schluchzen saß er da und zerriß die Schleife, und als er fertig war, betrachtete er die Fetzen in seiner Hand. In demselben Augenblick pfiff der Zug und setzte sich in Bewegung; Coldevin ließ das Fenster herunter und leerte seine Hand. Und die winzig kleinen Reste der norwegischen Farben wirbelten am Zuge entlang, fielen auf den Kies nieder vor jedermanns Fuß.

 

IV.

Erst mehrere Tage später kam Agathe zur Abreise. Irgens hatte nicht vergebens ausgehalten, das Glück war ihm hold; jetzt erntete er die Früchte aller seiner Bemühungen. Agathe war täglich mit ihm zusammen; sie war so verliebt in ihn wie nur möglich, ging ihm nach, hing an seinem Halse.

Und die Tage vergingen.

Dann kam endlich ein Telegramm von Ole, und Agathe wachte auf. Das Telegramm war zuerst in Thorahus gewesen; jetzt war es nach der Stadt gekommen, alt und verspätet, viel zu spät. Ole war in London.

Ja, was sollte nun daraus werden? Ole war in London, aber jedenfalls war er nicht hier, und sie konnte sich nicht einmal klar darauf besinnen, wie er aussah. Dunkel, blaue Augen, und groß, mit herabfallendem Stirnhaar, das er fortwährend emporstrich. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn in weiter Ferne, in einer vergangnen Zeit. Wie lange, lange war es doch her, seitdem er abgereist war.

Als das Telegramm kam, loderten ihre Gefühle für den Abwesenden wieder auf, die alte Freude durchzuckte sie, das glückliche Bewußtsein, sein Herz zu besitzen, sie rief ihn flüsternd und segnete ihn weinend für alle seine Güte, ja, sie bat ihn, zu kommen, errötend und atemlos. – Nein, es war keiner, wie er; er trat niemanden nieder, er setzte ehrlich und redlich den ganzen Fuß auf, und er hatte sie lieb. Ja, wenn er nicht der Liebste ihres Lebens war, so …! Kleines Frauchen, kleines Frauchen, sagte er oft, selbst wenn er mitten in emsiger Arbeit war. Und seine Brust war so warm, ihr wurde heiß, wenn sie sich an seine Brust lehnte. Und ihr wurde auch heiß bei seiner großen, freundlichen Unbefangenheit; dieser Mann konnte mitten in einem Rechenexempel aufstehen und über etwas lächeln. Ach, auch das hatte sie nicht vergessen …

Sie packte sofort ihre Sachen zusammen und wollte nach Hause, wie es auch gehen mochte. Am Abend vor ihrer Abreise sagte sie Irgens Lebewohl, ein langes Lebewohl, das sie zerriß. Sie war jetzt sein, ja, und Ole würde sich wohl darein finden! Sie faßte ihren Entschluß: ja, sie wollte die Stadt verlassen und ihre Verlobung aufheben, sobald Ole zurückkam. Was er sagen würde, wenn er ihren Brief las und den Ring darin fand? Ja, was würde er wohl sagen! Es schmerzte sie, daß sie nicht bei ihm sein und ihn trösten konnte. Aus weiter Ferne mußte sie ihm den Schlag versetzen. So sollte es enden!

Irgens war zärtlich mit ihr und hielt sie aufrecht; sie würden ja nicht für so lange getrennt sein; wenn es keinen andern Ausweg gäbe, würde er auf seinen Füßen zu ihr kommen. Und außerdem könnte sie doch wieder in die Stadt kommen; sie sei ja keine Armenhäuslerin, sie besäße sogar einen Vergnügungskutter, ja ganz einfach einen Vergnügungskutter; könnte sie mehr verlangen? Und Agathe lächelte über diesen Scherz und fühlte sich erleichtert.

Die Tür war verschlossen, auf der Straße war es ganz still; sie konnten ihre Herzen schlagen hören. Und sie nahm Abschied.

Irgens sollte sie nicht auf die Bahn begleiten, das hatte er selbst vorgeschlagen. Es könnte Klatscherei daraus entstehen, wenn er sich einfände; die Stadt wäre ja so klein und er leider so bekannt, er könnte sich ja beinahe nicht rühren. Und Agathe fand sich drein. Aber sie würden sich schreiben, jeden Tag schreiben, nicht wahr? Denn sonst würde sie es nicht aushalten …

Tidemand war der einzige Fremde, der um Agathens Abreise wußte und sie an die Bahn begleitete. Er war am Nachmittag auf seinem gewohnten Gang nach Henriksens Geschäft gekommen und hatte sein Gespräch mit dem alten Chef gehabt, das längere Zeit gedauert hatte. Als er dann fortging, traf er Agathe reisefertig in der Tür; sie hatte nur noch Lebewohl zu sagen. Tidemand begleitete sie und trug ihre Reiseeffekten; ihr Koffer war schon vorausgeschickt.

Es hatte geregnet, und die Straße war schmutzig, sehr schmutzig. Agathe sagte ein paarmal: »Ach wie trübselig!«

Aber sie klagte nicht mehr, sondern ging vorwärts, ganz wie ein fleißiges Kind, das sich nicht zu lange auf der Straße aufhalten will. Ihr kleiner Reisehut kleidete sie, machte sie noch jünger, und im Gehen bekam ihr Gesicht Farbe.

Sie sprachen nicht viel zusammen. Agathe sagte nur:

»Es war freundlich von Ihnen, daß Sie mich begleitet haben, sonst hätte ich diesen Weg wohl ganz allein machen müssen.«

Und Tidemand sah, daß sie bestrebt war, keine Bewegung zu verraten, sie lächelte, und ihre Augen waren feucht.

Er lächelte ebenfalls und entgegnete tröstend, jetzt müsse sie wohl recht froh sein, diesen Schmutz in der Stadt verlassen zu können, jetzt käme sie auf reine Wege, in bessere Luft. Übrigens würde es hoffentlich wohl nicht so lange dauern, bis sie wiederkäme?

Nein, sagte sie, es würde wohl nicht lange dauern.

Diese gleichgültigen Worte waren alles, was sie miteinander sprachen. Sie standen auf dem Perron, es hatte wieder zu regnen angefangen, die Tropfen schlugen hart auf die Glaswölbung über ihren Köpfen, und die Lokomotive stand auf den Schienen und zischte. Agathe stieg ins Coupé und streckte Tidemand die Hand hinaus. Und mit dem plötzlichen Verlangen nach Vergebung, nach milder Beurteilung, sagte sie zu diesem Fremden, mit dem sie nicht oft zusammengekommen war:

»Leben Sie wohl … Und denken Sie trotz allem nicht zu schlecht von mir!« Dann errötete sie über das ganze Gesicht.

»Nein, liebes Kind …« entgegnete er verwundert. Er kam nicht dazu, mehr zu sagen.

Sie lehnte mit ihrem kleinen, hellen Gesicht am Fenster und nickte noch, als der Zug schon in Bewegung war, ihre Augen waren immer noch feucht, und sie kämpfte, um nicht zu weinen. Sie sah Tidemand die ganze Zeit an, zuletzt wehte sie mit dem Taschentuch.

Das seltsame Mädchen! Er war der einzige Mensch auf dem Perron, den sie kannte, und daher winkte sie doch jedenfalls ihm zu. Er wurde auch gerührt durch diese einfache Herzlichkeit und schwenkte ebenfalls sein Taschentuch, bis der Zug verschwand. Trotz allem nicht schlecht von ihr denken? Nein, das wollte er nicht. Und wenn er es je getan hatte, so sollte es auf jeden Fall nicht mehr geschehen. Sie hatte ihm zugewinkt, dem fremden Manne! Das mußte er wirklich Ole erzählen, das würde ihn freuen …

Tidemand schlug den Weg nach seinem Speicher ein. Er hatte den Kopf so voll von Handel und vergaß nach und nach alles andre. Die Arbeit in seinem Geschäft begann wieder zu wachsen, der Kredit war ihm nicht mehr verschlossen, und er hatte zwei von seinen alten Speicherleuten wieder in den Dienst nehmen müssen. Sein Geschäft war wie ein Tier, das eine Zeitlang ohnmächtig dagelegen hatte und nun anfing, sich zu rühren und wieder zu Kräften zu kommen. Für den Augenblick verschiffte er Teer.

Als er im Lager die Runde gemacht und einige Befehle erteilt hatte, begab er sich nach dem Restaurant, wo er seine Mahlzeiten zu nehmen pflegte. Es war spät geworden, er speiste schnell und sprach mit niemand. Er grübelte viel über einen neuen Plan, den er gefaßt hatte. Jetzt ging sein Teer nach Spanien, Roggen hatte einen guten, festen Preis, und er verkaufte gleichmäßig von seiner Masse; seine Tätigkeit begann ihre Arme wieder nach allen Seiten auszustrecken, und nun handelte es sich um diese Gerberei oben in Thorahus. Wie, wenn man außer der Errichtung einer solchen Gerberei noch einen kleinen Nebengedanken an eine feste Teerbrennerei faßte? Nein, er würde Ole von einem solchen Unternehmen wirklich nicht abraten, wenn er selbst etwas davon hielt; es hatte ihn nun seit Wochen beschäftigt, und er hatte sogar unter der Hand mit einem Ingenieur darüber gesprochen. Den entrindeten Abfall und die Baumspitzen hatte man ja schon, und wenn die Gerberei die Rinde nahm, nahm die Brennerei das Holz. Für seinen Teil wünschte er vorläufig nicht mehr auf den Händen zu haben, er hatte jetzt auch nur für sich und die Kinder zu arbeiten; aber er konnte es doch nicht unterlassen, oft und gern auf diese Sache zurückzukommen.

Tidemand wanderte heim. Es regnete dicht und gleichmäßig.

Wenige Schritte von seiner Kontortüre entfernt, blieb er plötzlich stehen, gleich darauf zog er sich vorsichtig in eine Haustür zurück. Er starrte geradeaus; da draußen auf der Straße stand seine Frau, dicht vor dem Kontor, obgleich es heftig regnete. Sie sah abwechselnd in die Kontorfenster und hinauf zur zweiten Etage, nach dem Mittelzimmer, ihrem eignen alten Stübchen. Dort stand sie, er irrte sich nicht, und plötzlich hielt er den Atem an. Er hatte sie schon einmal dort gesehen; im Schatten der Gaslaterne hatte sie das Haus umkreist; gerade so wie jetzt, er hatte sie ganz leise bei ihrem Namen gerufen, hatte sie gerufen; aber ohne zu antworten war sie schnell um die Ecke gelaufen. Das war drei Wochen her, an einem Sonntagabend. Jetzt war sie wieder da.

Er wollte vortreten, er machte eine Bewegung, sein Regenmantel raschelte, aber in demselben Augenblick sah sie scheu um und streckte plötzlich beide Hände aus, faltete sie und hielt sie über ihrem Kopfe empor. Dies dauerte einen Augenblick. Dann ging sie. Er blieb still an seinem Platze stehen, bis sie verschwunden war.

 

V.

Eine Woche später kam Ole Henriksen nach Hause. Er war unruhig geworden; er hatte gar keine Antwort von Agathe bekommen, hatte wieder und immer wieder telegraphiert, jedoch nichts von ihr gehört. Drum hatte er sich schnell bereit gemacht und war abgereist. Aber er war so weit davon entfernt, den ganzen traurigen Zusammenhang mit Agathens Schweigen zu ahnen, daß er noch am letzten Nachmittag, den er in London zubrachte, ein Geschenk für sie kaufte, einen Wagen für ihr kleines Fjordpferd in Thorahus.

Und daheim auf seinem Pult lag bereits Agathens Brief und wartete auf ihn. Der Ring war in Seidenpapier gepackt.

Ole Henriksen las den Brief, beinahe ohne ihn zu verstehen. Nur seine Hände fingen zu zittern an, und seine Augen waren weit geöffnet. Er ging hin, schloß die Kontortüre ab und las den Brief noch einmal; er war einfach und klar, er konnte nichts andres herausbringen, als was da stand: sie gab ihm seine »Freiheit« zurück. Und dort lag nun der Ring in Seidenpapier daneben. Ja, er konnte nicht länger in Ungewißheit über den Inhalt dieses deutlichen Briefes sein.

Und Ole Henriksen ging stundenlang im Kontor auf und nieder, legte den Brief auf das Pult, ging mit den Händen auf dem Rücken hin und her, nahm wieder den Brief und las ihn durch. Er war »frei«.

Er solle nicht glauben, daß sie ihn nicht lieb habe, schrieb sie; sie dächte gerade so viel an ihn wie früher, ja, noch mehr, denn hundertmal am Tage bäte sie ihn um Verzeihung. Aber was helfe es, daß sie so viel an ihn denke, schrieb sie weiter, sie wäre ja nicht mehr die seine, wie es sein müßte; dahin sei es gekommen. Sie habe sich indessen nicht das erste Mal und ohne Widerstand hingegeben, nein, Gott allein wüßte das, sie habe ihn so lieb gehabt, und habe keinem andern als ihm angehören wollen. Jetzt aber sei sie allzuweit gegangen; und sie bäte um nichts mehr, als daß er sie liebevoll beurteilen möge, obschon sie es nicht verdiene. Alles, was sie gegen ihn verbrochen habe, möge er vergessen, ja, alles; und er solle nicht um sie trauern, nein, nicht trauern, denn sie sei seinen Schmerz nicht wert. Und nun wolle sie ihm Lebewohl sagen und ihm für jede Stunde danken; auch den Ring schicke sie zurück; aber es geschähe das nicht, um ihn noch tiefer zu verletzen, nur sei es wohl so der Brauch. Und dabei müsse es bleiben in alle Ewigkeit.

Der Brief war zweimal datiert, sowohl ganz oben wie unten, das hatte sie nicht beobachtet. Er war auch mit Agathens großer, kindischer Schrift geschrieben, und rührend unbeholfen; zweimal hatte sie etwas ausgestrichen.

Er hatte es also doch recht verstanden; und außerdem lag ja der Ring da! Ja, was war er denn auch? Er war kein bedeutender Mann, den das ganze Land kannte, oder ein Genie, das man glühend lieb haben konnte; er war ein schlichter Arbeiter in seinem Geschäft, ein Krämer, das war alles. Er hätte sich nicht etwas so Hohes einbilden sollen, daß er Agathens Herz in Frieden würde behalten können; da sah man nun, wie er sich verrechnet hatte. Ja, er kümmerte sich wohl um seinen Handel und arbeitete früh und spät, aber in Gottes Namen, das konnte ihm doch kein liebendes Herz erwerben; dazu ließ sich nichts sagen. Ja, ja, nun wußte er doch, weshalb er keine Antwort auf seine Telegramme bekam; er hätte es gleich ahnen können, aber das tat er nicht … Sie war viel zu weit gegangen, jetzt sagte sie Lebewohl und liebte einen andern. Ach ja, dagegen war auch nichts zu sagen, – wenn sie einen andern liebte, so –! Es war wohl Irgens, der sie bekommen würde; es mußte so sein, er hatte mehr Glück bei ihr gehabt; er wirkte berauschender, reicher, er hatte auch seinen bekannten Namen mit ins Treffen zu führen … Nein, Tidemand hatte doch recht, die Inselfahrten waren gefährlich, und die Spaziergänge waren gefährlich; Tidemand hatte Erfahrung in dergleichen. Nun ja, jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken. Außerdem aber war auch die Liebe nicht sehr fest gewesen, wenn sie bei solch einer Inselfahrt stehen und fallen konnte …

Und Plötzlich packt der Zorn den armen Menschen, er fängt an, hitzigere und immer hitzigere Schritte zu machen, und seine Stirn wird rot. Sie war viel zu weit gegangen, jawohl, und das hatte er für seine Liebe! Er hatte vor einer Dirne gekniet und sich zwei Jahre lang von ihrem jämmerlichen Liebhaber um Waren und Geld betrügen lassen. Er konnte es aus dem Hauptbuche beweisen, seht her, seht nur her, wie Agathens feiner Freund bald wegen zehn, bald wegen fünfzig Kronen in Verlegenheit gewesen war. Und da hatte er nun noch gefürchtet, daß das Konto des Herrn Dichters ihr eines Tages unter die Augen kommen könne, wenn sie in seinen Büchern blätterte; zuletzt hatte er ihretwegen das Hauptbuch ganz beiseite gelegt, aus Rücksicht für den großen Mann. Ja, eine nette Kompagnie, diese beiden; einer war des andern wert; er konnte das nun in seinen Gedichten besingen, es war ein außerordentlich passendes Thema.

He, er solle nicht allzusehr um sie trauern, nein, wirklich, das dürfe er durchaus nicht, sie könne es nicht ertragen, es würde ihr den Schlaf rauben. Seht doch, seht! Aber wer hatte denn gesagt, daß er trauern würde? Sie irrte sich, er hatte vor ihr gekniet, aber er hatte ihre Schuhe nicht geleckt, nein, er hatte beinahe nicht einmal vor ihr gekniet. Ach, nein, bettlägerig würde er hiervon nicht werden, darüber könne sie sich trösten; salzige Tränen brauche sie aus diesem Grunde nicht zu vergießen. Sie hob die Verlobung mit ihm also auf, sie schickte den Ring zurück! Nun, was weiter! Hahaha, war das gleichbedeutend mit seinem Todesurteil? Kaum! Aber es war sonderbar, daß sie den Ring mit nach Thorahus geschleppt hatte; weshalb hatte sie ihn nicht auf seinem Pult zurückgelassen, dann hätte sie das Porto gespart! Nein, bestes Fräulein Lynum, man starb nicht vor Herzklopfen, wenn man einen Korb bekam. Und wer weiß, es war sicher zum Besten, ja, der Korb war geradezu ein Segen. Denn mit solchen Menschen, wie sie, wollte er nichts zu tun haben, er hatte sein Leben lang versucht, ein ehrlicher Mensch zu sein. Leb wohl! Leb wohl! durchaus keine Ursache; geh zum Teufel mit deinem seidengefütterten Betrüger, und laßt mich nie mehr von euch reden hören.

Erregt rang er die Hände und ging mit langen, rasenden Schritten im Kontor umher. Nun, er würde Vergeltung üben, er würde dem Fräulein natürlich seinen eignen Ring ins Gesicht werfen und der Komödie ein Ende machen. Er blieb am Pult stehen, riß den Ring vom Finger, packte ihn ein und steckte ihn in ein Kuvert. Oben drauf schrieb er mit großen brutalen Buchstaben; seine Hand zitterte heftig. Nun klopfte es an die Tür, er warf den Brief in sein Pult und klappte den Deckel zu.

Es war einer von seinen Kommis, der kam, um ihn zu erinnern, daß es weit über Schließenszeit sei. Ob er den Laden zumachen solle?

Jawohl, nur zumachen. Aber nein, er sei fertig, er wolle gehen. Den Schlüssel heraufbringen!

Er verließ das Kontor.

Nein, niemand solle sagen dürfen, daß er über einen so gemeinen Betrug zusammenbreche; er wollte den Leuten gerade zeigen, daß er seine ganze Fassung behielt. Er hätte Lust, ins Grand zu gehen und seine Heimkehr mit einem gemeinen Seidel Bier zu feiern! He, das wäre köstlich! Nein, er beabsichtigte nicht, die Menschen zu scheuen. Er hatte wohl einen Revolver im Kontorpult liegen, aber sei er im Begriff gewesen, ihn zu benutzen? Hätte er auch nur im entferntesten daran gedacht? Gar nicht, durchaus nicht; es wäre ihm nur einen Augenblick eingefallen, daß er vielleicht daläge und roste. Nein, Gott sei Dank, so müde wäre man des Lebens denn doch noch nicht …

Ole Henriksen ging ins Grand.

Er setzte sich dicht neben die Tür und verlangte sein Seidel. Gleich darauf fühlte er einen Schlag auf seiner Schulter; er blickte auf, es war Milde.

»Alter Bursche,« rief Milde, »da setzst du dich her und sagst nicht ein Wort? Willkommen zurück. Komm hinüber nach dem Fenster, wir sind unsrer mehrere dort.«

Und Ole Henriksen ging mit nach dem Fenster. Dort saßen Öjen, Norem und Gregersen, alle mit halbleeren Weingläsern vor sich. Öjen sprang auf und sagte vergnügt:

»Willkommen zurück, lieber Ole. Angenehm, dich wiederzusehen, ich habe dich sehr vermißt. Ja, ich komme übrigens morgen und begrüße dich ordentlich; ich habe etwas, das ich wieder mit dir besprechen muß.«

Gregersen streckte ihm gleichgültig einen Finger hin, Ole nahm ihn, setzte sich und rief den Kellner, der ihm sein Seidel brachte.

»Wie, du trinkst Bier?« fragte Milde verwundert. »Kein Bier in solch einer Stunde – du weißt. Nein, laßt uns Wein trinken!«

»Trinkt ihr, was ihr wollt; ich werde nur dies Seidel trinken.«

Aber in demselben Augenblick kam auch Irgens heran, und Milde schrie ihm zu:

»Ole trinkt Bier, aber wir wollen nicht, was? Was sagst du dazu?«

Irgens stutzte nicht im mindesten, als er Ole von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand; er nickte ihm nur zu und sagte etwas wie »willkommen daheim,« dann setzte auch er sich, als ob gar nichts vorläge.

Und Ole betrachtete ihn und bemerkte, daß er nicht ganz reine Manschetten anhabe; im ganzen genommen war auch sein Anzug nicht funkelnagelneu.

Aber Milde wiederholte seine Frage, ob man nicht. ein wenig Wein trinken wolle, was? Ole wolle ja Bier haben, aber das sei bei Gott zu gemein, besonders bei Gelegenheit einer doppelten Feierlichkeit.

»Eine doppelte Feierlichkeit?« fragte Gregersen.

»Ja, eine doppelte Feierlichkeit. Erstens ist Ole wieder nach Hause gekommen, und das ist in diesem Augenblick das Wichtigste für uns, das sage ich offen heraus. Dann aber bin ich heute aus meinem Atelier geworfen worden, und das ist ebenfalls von einer gewissen feierlichen Bedeutung. Ja, könnt ihr euch das denken? Die Frau kam und wollte Geld haben? Geld? sagte ich. Und so weiter, und so weiter. Aber das Ende war, daß sie mir kündigte, in möglichst kurzer Frist, ein paar Stunden. Hehe, ich habe nie von einer derartigen Frist gehört; ja, allerdings hatte sie mirs vor einem Monat angekündigt, aber –. Übrigens mußte ich ein Paar Stücke bemalter Leinwand zurücklassen … Und also meine ich, daß wir mehr Wein trinken. Denn Ole ist nicht der Mann, der nachrechnet, was wir trinken.«

»Nein, was kümmert das mich?« sagte Ole Henriksen ebenfalls.

Irgens aber nahm die schon geleerte Flasche vom Tisch, untersuchte mißtrauisch die Etikette und sagte:

»Was ist das? Nein, wißt ihr was, wenn es Wein sein muß, so soll es wenigstens trinkbarer Wein sein.«

Und der Wein wurde gebracht.

Irgens war übrigens ziemlich guter Laune, er hätte heute glücklich gearbeitet, wie er sagte, hätte ein Gedicht, ein paar Verse geschrieben, die förmlich lachten wie Mädchen. Aber das wäre eine wirkliche Ausnahme; seine Dichtung wäre zurzeit nicht gerade lächelnd, und sie sollte sie auch nicht sein.

Sein junger Kollege Öjen war auch nicht allzu betrübt. Allerdings hätte er nicht viel Geld und Gut, aber er sei mit wenigem zufrieden, und gute Menschen hülfen ihm ebenfalls; es wäre unrecht, wenn er etwas andres behaupten wollte. Aber gerade heute hätte ihn inmitten seiner Armut etwas ganz besonders gefreut: ein dänischer Autographensammler hätte an ihn geschrieben und ihn um seine Handschrift gebeten. Das wäre vielleicht nicht von großer Bedeutung, aber es zeige doch, daß die Welt einen nicht gänzlich vergessen hätte. Öjen sah unter den Anwesenden umher, als er dies sagte, und seine Augen waren ehrlich und treuherzig.

Die Herren stießen fleißig miteinander an; sie wurden fröhlich und gut, bevor sie sich verabschiedeten. Irgens war der erste, der ging; darauf sagte Öjen Gute Nacht und ging ebenfalls. Ole Henriksen saß immer noch da, bis der Letzte gegangen war; nur Norem war noch an seinem Platz; wie gewöhnlich war er jedoch eingeschlafen.

Ole hatte dem Gespräch der Herren zugehört, dann und wann hatte er auch ein Wort mitgesprochen. Er war still und müde geworden, die Erregung war von ihm gewichen; ein bitterer Widerwille hatte ihn erfaßt und für alles gleichgültig gemacht. Nun saß er hier im Grand, zwischen einer Menge betrunkner Menschen, und Irgens hatte neben ihm gesessen und sich vielleicht an seinem Siege über ihn gefreut – und trotzdem stand er nicht auf und ging seiner Wege! Nein, er ging nicht. War es denn nicht gleichgültig, wo er sich ein oder zwei Stunden aufhielt?

Endlich bezahlte er und stand auf.

Der Kellner hielt ihn auf.

»Entschuldigen,« sagte der Kellner, »der Wein …«

»Wein?« fragte Ole Henriksen, »ich habe nur zwei Seidel Bier getrunken.«

»Aber der Wein ist auch noch nicht bezahlt.«

»So? die Herren haben ihren Wein nicht bezahlt?« Einen Augenblick loderte die Wut wieder in ihm auf; er war im Begriff zu sagen, man möge die Weinrechnung nach Thorahus schicken, dort würde sie sofort bezahlt werden. Aber er sagte es nicht, er bemerkte nur: »Ich habe eigentlich keinen Wein getrunken, aber ich kann ihn ja trotzdem bezahlen.« Und dabei zog er seine Brieftasche hervor.

Jetzt begann der Kellner zu schwatzen, sich über die verschiedenen Arten von Gästen auszulassen. Es gäbe deren einige, die man fortwährend im Auge behalten müsse, sonst schlichen sie ohne zu zahlen zur Tür hinaus. Das sei hier nun nicht der Fall, weit entfernt, so sei es nicht aufzufassen. Die Dichter und Künstler seien ehrlich bis in die Fingerspitzen, die Dichter besonders, mit denen hätte es keine Gefahr. Er kenne sie, habe sie studiert und gelernt, sie zu ihrer Zufriedenheit zu bedienen. Es seien Leute, von denen jeder seine Eigenheiten hätte, die man zu berücksichtigen habe, wenn man Kellner sei; man sei daran gewöhnt, daß sie zu bezahlen vergäßen, sie hätten den Kopf so voll von andern Dingen, sie studierten und dächten so viel. Aber es gäbe ja immer jemanden, der für sie eintrete, ja, der es mit Freuden täte, man brauche es nur zu erwähnen …

Ole bezahlte und ging.

Nein, was sollte er zu Hause übrigens anfangen? Zu Bett gehen und schlafen? Ja, wenn er das könnte! An Bord hatte er schlecht geschlafen, und er war gerade von der Reise gekommen, aber er wollte doch lieber versuchen, sich trotzdem so lange wie möglich wach zu halten, bevor er zu Bett ging. Denn aus dem Schlaf würde wohl nicht viel werden. Er suchte die dunkelsten Straßen auf, wo er sich einsamer vorkam; er war auf dem Heimwege, bog dann aber jäh ab und schlug die Richtung nach der Festung ein.

Hier traf er plötzlich Tidemand an der Ecke des Festungswalles, Tidemand allein, der still vor einer dunklen Haustür stand und an dem gegenüberliegenden Hause in die Höhe sah. Was hatte er hier zu tun?

Ole ging zu ihm. Sie sahen sich verwundert an.

»Ja, ich mache nur einen Spaziergang, einen ganz kleinen Spaziergang, ich kam ganz zufällig hier vorüber,« sagte Tidemand verlegen und verwirrt, noch bevor er grüßte … »Aber Gott sei Dank, da bist du ja, Ole; bist du zurückgekommen? Willkommen zu Hause. Komm, laß uns weitergehen.«

Und Ole lächelte ein müdes Lächeln und grüßte ihn:

»Guten Abend, Andreas.«

Sie wanderten weiter. Tidemand konnte sich von seiner Überraschung nicht erholen. Etwas Ähnliches war ihm noch nicht vorgekommen; er hatte von Oles Heimkehr gar nichts gewußt. Zu Hause stünde übrigens alles gut, er sei fleißig beim Alten gewesen, wie er versprochen hätte. Im Geschäft ging alles, wie es sollte.

»Und deine Braut ist abgereist,« sagte er, »ich habe sie an die Bahn begleitet. Ich muß dirs wirklich erzählen, du hast doch eine allerliebste Braut. Sie stand im Coupé und war ein wenig bewegt, weil sie abreisen mußte, sie sah mich mit ganz feuchtglänzenden Augen an, als sie Lebewohl sagte. Du weißt ja, wie sie ist. Als aber der Zug in Gang kam, zog sie ihr Taschentuch heraus und schwenkte es. Ja, sie stand und schwenkte ihr Tuch, nur weil ich sie an den Zug begleitet hatte. Und das alles machte sie so niedlich, du hättest sie sehen sollen.«

»Ich bin nicht mehr verlobt,« sagte Ole mit dumpfer Stimme.

 

Ole ging in sein Kontor. Es war spät in der Nacht. Er war noch lange mit Tidemand gegangen und hatte ihm alles erzählt. Jetzt wollte er einen Brief an Agathens Eltern schreiben, ehrerbietig und stolz, ohne irgend welche Vorwürfe. Das war seine letzte Pflicht.

Und als er damit fertig war, las er Agathens Brief noch einmal durch. Er wollte ihn zerreißen und verbrennen, hielt aber inne und legte ihn vor sich aufs Pult. Es war ja doch ein Brief von ihr, der letzte; sie hatte doch an ihn geschrieben und dabei an ihn gedacht. Und sie hatte ihre kleinen Hände über den Brief gelegt; und hier hatte die Feder dick geschrieben, sie hatte sie wohl an irgend etwas abgestrichen und sie wieder eingetaucht und hatte dann weitergeschrieben. Der Brief war doch an ihn, an keinen andern; vielleicht war es abend gewesen, als alle andern schlafen gegangen waren, da sie an ihn geschrieben hatte.

Er nahm den Ring wieder aus dem Seidenpapier und sah ihn lange an, bevor er ihn zurücklegte. Er bereute, daß er das Gleichgewicht verloren und seinen Zorn heute abend mit sich hatte durchgehen lassen; er wünschte, jedes Wort zurücknehmen zu können.

Leb wohl, Agathe, leb wohl …

Und Agathens letzten Brief legte er zu den andern von ihrer Hand.

 

VI.

Jetzt fing Ole wieder an, im Geschäft zu arbeiten; er war eifriger dabei denn je und verbrachte fast seine ganze Zeit in den Kontors, sogar wenn die eigentliche Arbeit vorüber war. Wozu tat er das? Er nahm ab; er gönnte sich allzu wenig Freiheit, und sein Blick wurde abwesend und starr. Während mehrerer Wochen kam er nicht aus dem Speicher und den Kontors heraus. Man sollte ihm nicht nachsagen, daß er den Kopf hängen ließ, nur weil aus seiner Verlobung nichts geworden war; er bekümmerte sich um sein Geschäft wie zuvor, und es ging ihm gut.

Er fiel ab, magerte ab, – jawohl. Das kam von der Arbeit, von nichts anderm als von der Arbeit, er tat ihrer vielleicht etwas zuviel. Es fiel doch wohl keinem ein, zu denken, daß es von etwas anderm als von der Arbeit komme. Es lag so vieles unerledigt da, als er aus England zurückkam; er hatte Tidemand alles erklärt; es lag unglaublich viel da. Jetzt hatte er übrigens das Schlimmste von der Hand gebracht, und er wollte es mit mehr Ruhe nehmen, wollte obendrein ein wenig ausgehen, sehen, was zu sehen war, sich amüsieren; die Theater waren wieder in vollem Gange, bald kam auch der Zirkus. Nein, er war kein Kopfhänger.

Und er zog Tidemand mit, sowohl ins Theater wie nach Tivoli, am Abend machten sie lange Spaziergänge, besprachen alles, was Bezug auf die Gerberei bei Thorahus hatte, und beschlossen, zum Frühling zu bauen. Eine Teerschwelerei sollte unter demselben Dache angelegt werden. Dies Vorhaben beschäftigte beide sehr, und Ole war sogar der eifrigste. Er warf sich so feurig in das Leben, das ihn umgab, daß niemand glauben konnte, er trüge an seinem Kummer; er sprach auch niemals von Agathe, nannte sie nicht, sie war tot und dahin.

Aber er blieb immer gleich mager und hohläugig. Er schob es schließlich auf seine Reise; sie hatte ihn wirklich etwas mitgenommen; er hatte sich an Bord erkältet. Aber jetzt fühlte er, daß er bald darüber fort sein würde; es war ja nur eine Frage der Zeit.

»Wie geht es dir?« fragte Tidemand, wenn er kam.

»Mir? Ausgezeichnet,« erwiderte Ole. »Und dir?«

Und Tidemand erging es ebenfalls den Umständen nach. Tidemand hatte in den letzten Tagen seine alte Köchin wieder genommen; jetzt speiste er wieder zu Hause; das hatte er seit zwei Jahren nicht getan. Es war ziemlich öde, das Speisezimmer zu groß; die Plätze waren nicht besetzt wie früher; aber die Kinder machten den fröhlichsten Lärm durch die ganze Wohnung; zuweilen hörte er sie bis ins Kontor herunter, diese wilden Kinder. Gar manches Mal störten sie ihn auch; gar manches liebe Mal hielten sie ihn von der Arbeit ab. Wenn ihr Geschrei und Lachen zu ihm herunterdrang, oder er das Trippeln ihrer kleinen Füße oben im Entree hörte, legte er die Feder hin und machte sich oben unter irgend einem Vorwande etwas zu schaffen; nach ein paar Minuten kam er dann wieder hinunter, bereit, wie ein unerschrockener Jüngling sich von neuem über Bücher und Papier zu werfen … Ja, Tidemand ging es gut, er könne nichts andres sagen; alles habe angefangen, sich für ihn zum Besten zu wenden …

»Weißt du was,« sagte Ole, »ich glaube, in England müßte Absatz für norwegischen Käse sein. Ich habe mit verschiedenen Häusern gesprochen, als ich dort war, es müßte weißer Käse sein, Ziegenkäse; Molkenkäse verstehen sie nicht. Was hindert uns übrigens, den sogenannten Normandiekäse zu zubereiten? Es ist gar nichts andres, als geronnene Milch mit Sahne. Aber es ist das Verfahren, die Behandlung.«

Das hatte der überanstrengte Mann ausgedacht – daß in England für norwegischen Käse Absatz sein müsse. Dann entwickelte er ein wenig nervös, fieberhaft, wie er sich eine Ziegenherde von fünftausend Stück auf einer Almhütte in Valdres gedacht habe, eine Meierei nach Schweizer Muster, Käse in Partieen, Absatz in großem Stil. Seine Augen starrten in die Ferne.

Aber der Transport, meinte Tidemand, der Transport aus dem Gebirge vor allen Dingen …

Ole unterbrach ihn:

Jawohl der Transport. Aber der Transport könne doch nicht für ewige Zeiten ein Hindernis bleiben, es müßten doch auch einmal Wege kommen. Überdies müsse man von Berg zu Berg ein Kabel mit so genügend schlaffer Leine spannen können, daß man sie von einer Station im Tal aus erreichen könnte. Auf solch einem Kabel müsse es dann angehen, ungefähr alles, was man wolle, transportieren zu können. Die Ladung müsse in Gummiringen auf dem Kabel laufen und die Schnelligkeit von der Station aus durch Leinen und Blöcke reguliert werden. Ja, er habe daran gedacht, es könne doch nicht unausführbar sein. Und wenn man die Ware erst unten auf der Chaussee habe, ging der Transport von selbst.

Tidemand hörte seinem Freunde zu und sah ihm ins Gesicht. Er sprach mit großer Überzeugung und schien nur mit diesem einen Gedanken beschäftigt; bald darauf fragte er jedoch, wie es Tidemands Kindern gehe, obgleich dieser ihm soeben erst von ihnen erzählt hatte. Ole Henriksen, der ruhigste und besonnenste von allen, hatte etwas von seiner Ruhe verloren.

Sie fingen von ihren Bekannten in der Clique zu sprechen an. Grande sei Mitglied der Abstimmungskommission geworden, erzählte Tidemand; dem Advokaten selbst sei dies sogar ziemlich überraschend gekommen. Er hatte Tidemand erklärt, sie sei ein guter Anfang für etwas, diese Abstimmungskommission, eine schöne liberale Bewegung. Nun müsse man abwarten, vielleicht setze man nun das nächste Mal einfach das allgemeine Stimmrecht durch. Von Milde habe der Advokat erzählt, daß dieser allzeit glückliche Mensch jetzt eine große Arbeit auszuführen bekommen habe, er solle Welhavens »Norwegens Dämmerung« mit Karikaturen illustrieren. O, da würde Milde sicher etwas Vorzügliches machen, er sei gerade der Mann dazu.

Ole hörte zerstreut zu. Irgens wurde nicht genannt …

Als Tidemand nach Hause ging, trat er zufällig bei einem Detailhändler ein, dem er Waren lieferte. Es kam ganz zufällig. Er trat in den Laden, ging an den Tisch und begrüßte mit lauter Stimme den Chef, der an seinem Pulte stand. In demselben Augenblick gewahrte er seine Frau am Ladentisch; sie hatte etliche kleine Pakete vor sich liegen.

Tidemand hatte sie seit jenem Regenabend vor seinem Kontor nicht gesehen. Durch einen glücklichen Zufall hatte er ihren Ring eines Tages in dem Ladenfenster eines Goldschmieds gesehen, hatte ihn sofort eingelöst und ihn ihr zugeschickt. Sie hatte ihm auch mit einigen rührenden Worten auf einer Karte gedankt: sie habe den Ring nicht vermißt; jetzt sei es aber etwas andres, nun werde sie ihn nicht wieder verkaufen.

Sie stand dort am Ladentisch in einem schwarzen Kleide, das ziemlich abgetragen war und keinen guten Eindruck machte; plötzlich schoß es ihm in diesem Augenblick durch den Kopf, daß sie vielleicht nicht genug Geld habe, daß sie irgend etwas entbehre. Weshalb trug sie sonst so alte Kleider? Dazu könne sie doch nicht gezwungen sein; er hatte ihr ja immer mehr und mehr Geld geschickt, Gott sei Dank, er hatte die Mittel dazu. Anfangs, als es ihm noch knapp erging, hatte er ihr keine großen Summen geschickt, allerdings; er hatte sich auch tief darüber gegrämt und ihr jedesmal einen Brief dazu geschrieben, in dem er um Entschuldigung bat. Es sei nur Unachtsamkeit von ihm, hatte er geschrieben, im Laufe der Woche solle ihr mehr Geld zugeschickt werden; es sei nur eine Vergeßlichkeit, er habe versäumt, das Geld beizeiten zurechtzulegen. Und sie hatte gedankt und jedesmal auf einer Karte geantwortet, es sei allzuviel Geld, was in Gottes Namen sie mit so viel Geld anfangen solle? Sie habe es noch massenweise liegen, er solle ihr glauben.

Aber weshalb trug sie denn so alte Kleider?

Sie hatte sich abgewendet; sie hatte seine Stimme wiedererkannt, als er den Chef begrüßte. Eine Sekunde lang blieben sie stehen und sahen sich an.

Er wurde verwirrt und grüßte auch sie lächelnd, wie er den Chef begrüßt hatte, und sie erwiderte plötzlich errötend diesen Gruß.

Ja, danke, es kann auch bleiben,« sagte sie leise zu dem Kommis, »das übrige können Sie mir ein andermal geben.« Und sie bezahlte in aller Eile, was sie bereits bekommen hatte, und sammelte ihre Päckchen zusammen. Tidemand sah ihr nach. Mit gesenktem Kopf ging sie zur Tür und blickte gleichsam beschämt zu Boden. An der Tür ließ sie in ihrer Bestürzung ein Paket zu Boden fallen, Tidemand trat eilig vor, um es aufzuheben, sie beugten sich beide zu gleicher Zeit nieder, und sie stotterte in der größten Verlegenheit danke! danke! Ihr Busen wogte, sie blickte zu ihm auf und verschwand durch die Tür. Und Tidemand blieb stehen; er schloß die Tür hinter ihr, ohne zu wissen, was er tat.

 

VII.

Und die Tage vergingen, die Stadt war ruhig, alles war ruhig.

Irgens war immer noch der Mann, Erstaunen zu wecken und der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu werden. Eine Zeitlang hatte er ziemlich niedergeschlagen ausgesehen, seine Schulden bedrückten ihn, er verdiente kein Geld, und niemand gab ihm etwas; jetzt kam der Herbst und der Winter; es sah nicht allzu glänzend aus mit Irgens; er war sogar genötigt gewesen, ein paar Anzüge vom vorigen Herbst in Gebrauch zu nehmen.

Da plötzlich überrascht er seine Bekannten, indem er sich, vom Kopf bis zu Fuß erneuert, auf der Promenade zeigt, in einem flotten Herbstanzug, mit hellgelben Handschuhen und Geld in der Tasche, fein, wie der alte, einzige Irgens. Die Leute gafften ihn entzückt an; der Satanskerl, er überstrahlte alle! In welche Diamantenhöhle war er denn jetzt geplumpst? O, er hatte einen Kopf auf den Schultern, ein Talent, eine Überlegenheit! Allerdings hatte seine Wirtin, Thranes Weg No. 5, ihm gekündigt, endlich hatte sie ihm gekündigt; aber was machte das? Jetzt hatte er zwei Zimmer im Villenviertel gemietet, mit Aussicht auf die Straße, auf die Stadt, feine Zimmer, Ledertapeten. Er konnte es in einer elenden Bude mit gesprungenem Fußboden und garstigem Aufgang nicht länger aushalten; das nahm ihm alle seine besten Stimmungen fort, er litt darunter; wenn man etwas ausführen sollte, mußte man sich soviel wie möglich vom Druck befreien; jetzt hatte er es ja erträglich. In der vorigen Woche war auch Fräulein Lynum wiedergekommen und wollte eine Zeitlang in der Stadt bleiben; sie machte, daß er zu einem ganz neuen Menschen aufstrahlte. Wie doch die alte Stadt leuchtete und wieder rosig wurde, als Agathe kam!

Und nun war es zwischen ihnen abgemacht, im Frühling wollten sie sich auf die Aussicht auf das nächste Stipendium hin verheiraten. Endlich mußte er doch einmal dies armselige Stipendium bekommen, besonders wenn er eine Familie begründete und eine neue Gedichtsammlung herausgab. Absolut keiner brauchte es so notwendig, wie er, man konnte ihn doch nicht einfach zu Tode hungern lassen. Und Irgens hatte sich resolut mit Advokat Grande in Verbindung gesetzt, der wegen des nächstjährigen Stipendiums persönlich ans Ministerium gegangen war. Irgens wollte sich nicht selbst an den Minister wenden; es widerstrebe ihm aufrichtig, hinzugehen und höhern Orts seine eigne Angelegenheit zu führen; Grande jedoch könne es tun, wenn er es für zweckmäßig halte. »Du weißt, wie es um mich steht,« hatte er zu Grande gesagt, »ich bin nicht sehr wohlhabend, und wenn du mit dem Minister reden willst, werde ich dir dankbar dafür sein. Aber ich rühre mich nicht, dazu kann ich mich nicht bequemen.« Nun war Advokat Grande allerdings ein Mann, den Irgens innerlich verachtete; aber es half nichts, er fing nun doch an, etwas zu bedeuten, dieser Advokat, er war Mitglied einer königlichen Kommission geworden und die »Nachrichten« hatten ihn sogar interviewt. Ha, ganz ohne Bedeutung war er nicht –, etwas, das er selbst übrigens in Gang und Wesen zu zeigen begann; Grande ließ sich nicht mehr vom ersten Besten auf der Straße anhalten …

Als Tidemand Ole Henriksen erzählte, daß er Agathe am Vormittag auf der Straße gesehen habe, schrak Ole heftig zusammen. Er faßte sich jedoch schnell und sagte lächelnd:

»Ja, lieber Freund, was kümmert das mich? Laß sie hier sein, soviel sie will, ich habe nichts gegen sie. Ich habe an andres zu denken, als an sie.« Er zwang sich, auf ihr früheres Gespräch zurückzukommen, auf die neue Partie Teer, auf die Tidemand eine Bestellung bekommen hatte, und ein paarmal wiederholte er: »Versichere gut, um Gottes willen, versichere gut, das schadet niemals.« Er war ziemlich nervös, wurde aber im übrigen bald wieder ruhig.

Sie tranken ein Glas Wein wie in alten Tagen, kamen beide in eine warme und glückliche Stimmung; ehe sie sichs versahen, vergingen ein paar Stunden in gemütlichem Geplauder, und als Tidemand ging, sagte Ole voll Dankbarkeit:

»Es ist hübsch von dir, dich nach mir umzusehen, du hast ja außerdem genug zu tun … Hör mal,« fuhr er fort, »die Oper gibt heute abend ihre Abschiedsvorstellung, komm, laß uns hingehen, ich bitte dich darum.« Und der ernste Mann mit den hellen Augen sah aus, als hätte er die größte Lust, in die Oper zu kommen. Er sagte auch ganz offen, daß er schon mehrere Tage daran gedacht habe.

Sie verabredeten also hinzugehen. Ole wollte die Billets besorgen.

Und kaum hatte Tidemand das Kontor verlassen, als Ole nach den Billets telephonierte; er wünschte drei Plätze in einer Reihe, 11, 12 und 13. Nummer 12 wollte er selbst Frau Hanka hintragen, die unten bei der Festung wohnte; sie würde sich über ein Billet zur Oper freuen; früher war niemand fleißiger in die Oper gegangen als sie. Auf dem Wege rieb er sich heimlich die Hände. Nummer 12, sie sollte Nummer 12 haben und in der Mitte sitzen. Selbst wollte er Nummer 13 behalten, das war eine passende Nummer für ihn, so eine Unglücksnummer …

Vor lauter Ungeduld ging er immer schneller und vergaß darüber seine eignen Sorgen. Von ihm war nichts mehr zu reden, er war fertig mit seinem Schmerz, gänzlich fertig, er war ganz und gar darüber weggekommen, das wollte er der ganzen Welt zeigen. Hatte es ihn eigentlich in hohem Grade erschüttert, daß Agathe wieder in der Stadt war? Keineswegs; er hatte sich gar nichts merken lassen. Es würde schon gehen, es würde schon gehen!

Und Ole ging weiter. Er kannte Frau Hankas Adresse sehr gut, mehr als einmal hatte er Frau Hanka im Laufe des Herbstes bis an ihre Tür gebracht, wenn sie heimlich bei ihm gewesen war und sich nach ihren Kindern erkundigt hatte. Außerdem hatte er Tidemand an dem Abend, als er aus England kam, vor ihren Fenstern getroffen. Wie sie aneinander dachten! Mit ihnen war es etwas andres als mit ihm, er war darüber hinweg und dachte nicht mehr viel …

Als er aber hinkam, hörte er, daß Frau Hanka ihre Zimmer abgeschlossen habe und außerhalb der Stadt sei –, hinaus nach dem Landhause. Sie würde erst morgen zurückkommen.

Ole hörte es wohl, aber er verstand es nicht gleich. Nach dem Landhause? Nach welchem Landhause?

Und die Antwort lautete: nach dem Landhause der gnädigen Frau, nach Tidemands Landhaus.

Ach ja, Tidemands Landhaus, natürlich; er war ja so dumm. Ach so, also hinaus nach dem Landhause? … Ole sah auf die Uhr. Nein, heute konnte er Frau Hanka nicht mehr veranlassen, wieder in die Stadt zu kommen, es war zu spät. Außerdem, welchen Grund sollte er ihr angeben, damit sie sofort, im Augenblick, wieder in die Stadt käme? Er hatte sowohl sie wie ihren Mann mit seinem Plan überraschen wollen. Aber nun war ihm sein ganzer Plan vereitelt, in Rauch aufgegangen. Nein, wie ihm doch alles mißglückte, selbst wenn er andern Gutes tun wollte!

Ole kehrte wieder um.

Nach dem Landhause! Wie sie die alten Plätze umkreiste! Jetzt hatte sie es nicht mehr aushalten können, sie hatte das Landhaus wiedersehen müssen, obgleich das Laub da draußen längst abgefallen war und der Garten verödet lag. Sie würde vom Hausbesorger den Schlüssel verlangen und sich in den Zimmern einschließen. Das Landhaus! Dort hätte auch Agathe im Sommer sein sollen, wenn das Ganze nicht so unglücklich verlaufen wäre. Nun, das war etwas andres, das gehörte nicht hierher … Jedenfalls war Frau Hanka nicht in der Stadt und konnte heute abend nicht mit in die Oper kommen.

Ole war müde und enttäuscht; traurig wie er war, beschloß er, Tidemand von seinem Anschlag zu erzählen; jedenfalls hatte er es gut gemeint, es tat ihm um beide leid. Er begab sich zu Tidemand.

»Wir müssen allein in die Oper gehen,« sagte er; »ich hatte sonst noch einen dritten Platz für deine Frau.«

Tidemand wechselte die Farbe.

»So?« sagte er nur.

»Ich wollte, sie sollte zwischen uns sitzen … Ich hätte dir dies vielleicht vorher sagen sollen, aber –. Und nun ist Frau Hanka bis morgen verreist.«

»So?« sagte Tidemand wie oben.

»Hör mal, Andreas, du, bist mir deshalb doch nicht böse? Du solltest nur wissen … Deine Frau ist während der letzten Monate sehr oft bei mir gewesen und hat sich nach dir und den Kindern erkundigt …«

»Ja, schon gut.«

»Was?«

»Ich sage: schon gut. Weshalb erzählst du es mir?«

Da loderte der Zorn in Ole auf, er kam Tidemand mit seinem roten Gesicht ganz nahe und sagte wütend und mit pfeifender Stimme:

»Eins will ich dir sagen, hol mich der Teufel, du verstehst dein eignes Bestes nicht. Nein. Du bist ein Schafskopf. Du bringst sie ins Grab, damit endigst du. Und du tust dein Bestes, um denselben Weg zu gehen; glaubst du, ich sähe das nicht? Schon gut, schon gut – ach so, es ist schon gut, daß sie sich zu mir schleicht, wenn es am Abend dunkel wird, und mit stockendem Atem nach dir und den Kindern fragt! Glaubst du, daß ich während aller dieser Monate zu meinem eignen Vergnügen nach deinem Befinden gefragt und mich nach allem erkundigt habe? Für wen hätte ich es getan, wenn nicht für sie? Meinetwegen kannst du dich zum Teufel scheren, verstehst du? Ja. Du siehst nichts, du verstehst nicht, daß sie sich um deinetwillen bleich grämt. Ich habe sie hier des Nachts vor deiner Kontortür stehen sehen und dir und den Kindern Gutenacht sagen hören, Sie hat heftig geweint und Johanne und Ida Kußhände zugeworfen, und dann ist sie die Stufen zur Haustür hinaufgestiegen und hat die Klinke gestreichelt, die du berührt hattest, als du die Tür zugemacht und fortgegangen warst; sie hat diese Türklinke gehalten, wie wenn sie eine Hand wäre; es war ihr Gutenacht an dich. Das habe ich von der Ecke aus mehreremal gesehen. Aber auch hierzu wirst du nur sagen »schon gut«; denn du bist verstockt, damit dus nur weißt. Übrigens will ich nicht gerade sagen, daß du verstockt bist,« fügte Ole bereuend hinzu, als er endlich Tidemands vergrämte Miene sah. »Du darfst dir nicht zu Herzen nehmen, was ich gesagt habe, ich wollte dir nicht weh tun; du mußt entschuldigen, daß ich grob gegen dich gewesen bin; hörst du, es war nicht meine Absicht. Aber, mein Gott, kennst du mich denn immer noch nicht?«

»Ich will sie nicht ins Grab bringen«, entgegnete Tidemand gebrochen, »ich habe ihr freie Hand gelassen, wie sie mich gebeten …«

»Ja, aber das ist lange her, jetzt bereut sie es, sie will wieder zurück.«

»Gott gebe, daß es so wäre! Aber ich habe auch daran gedacht, es wird mir so schwer, alles zu vergessen; es ist mehr, als du weißt. Ich habe zu kämpfen versucht, so gut ich konnte, um wieder zur Ruhe zu kommen; es sollte den Kindern an nichts fehlen, dachte ich, das andre mochte gehen, wie es wollte. Aber ich habe Hanka nicht einen Tag vergessen, nein, nicht einen Tag, das weiß ich selbst. Ich habe wohl gedacht wie du, ich wollte zu Hanka gehen und sie auf den Knieen bitten, zurückzukommen, auf den Knieen, flehentlich; und ich hätte es getan mit kniendem Herzen. Aber wie würde sie zurückkommen, wie würde sie zurückkommen? … Sie hat es mir selbst gesagt … es ist ja nichts Schlimmes, aber dennoch. Nein, du darfst nicht glauben, daß es etwas allzu Schlimmes ist; das glaubst du doch wohl nicht von Hanka? … Es ist mir nur mehr als schwer geworden, wenn ich das Ganze überdacht habe. Und außerdem ist es ja auch nicht sicher, daß Hanka überhaupt zurückkommen möchte; ich begreife nicht, woher du das weißt. Aber auf jeden Fall ist da mehr als du weißt.«

»Ich hätte mich nicht in diese Sache mischen sollen, das sehe ich jetzt ein,« sagte Ole. »Aber denk daran, Andreas, trotz alledem; behalt es in der Erinnerung. Und vergib, was ich sagte, ich nehme es durchaus zurück, das ist meine einfache Pflicht, denn ich dachte nichts Böses dabei. Ich bin seit einiger Zeit so heftig geworden; ich verstehe nicht, wie es kommt … Aber wie gesagt, behalt es in der Erinnerung. Ich weiß, was ich sage; ich kenne dich sowohl wie sie … Leb wohl inzwischen. Ach, es ist ja wahr, die Oper! Kannst du in einer Stunde bereit sein?«

»Noch eins,« sagte Tidemand, »sie hat also nach den Kindern gefragt? Da hörst dus, da hörst dus! … In einer Stunde, sagst du? Jawohl!«

 

VIII.

Einige Tage später stand Ole Henriksen in seinem kleinen Kontor unten im Lagerhause. Es war an einem Nachmittag gegen drei Uhr, das Wetter war klar und still; am Hafen herrschte das gewohnte emsige Leben.

Ole ging ans Fenster und sah hinaus; ein ungeheures Kohlenschiff glitt leise in den Hafen; überall sah man Schiffe, Masten und Segel; auf den Brücken wurden Waren auf und ab gerollt. Plötzlich zuckt er zusammen; die Jacht Agathe, der kleine Vergnügungskutter ist fort. Er sperrt die Augen auf; was hatte das zu bedeuten? Unter Hunderten von Mastspitzen war keine vergoldete zu sehen. Was in aller Welt!

Er wollte seinen Hut nehmen und der Sache sofort auf den Grund gehen, aber an der Tür blieb er stehen. Er ging wieder an seinen Platz, stützte den Kopf in die Hände und versank in Gedanken. Eigentlich gehörte der Kutter ja nicht ihm, er gehörte ihr, Fräulein Lynum; sie hatte ihn ehrlich bekommen, und die Papiere hatte sie im Gewahrsam. Sie hatte diese Papiere nicht mit dem Ring zurückgeschickt; das hatte sie unterlassen, vergessen – was wußte er? Aber jedenfalls gehörte der Kutter ihr, sein Schicksal kümmerte ihn nicht mehr, er mochte nun sein, wo er wollte. Aber gesetzt den Fall, er wäre gestohlen? Ja, auch das wäre nicht seine Sache.

Ole nahm die Feder wieder zur Hand, aber es dauerte nur ein paar Minuten, dann legte er sie abermals nieder. Herrgott, dort auf dem Sofa hatte sie gesessen, als sie die kleinen roten Polster für die Kajüte nähte! Sie hatte sich vornübergebeugt und so fleißig genäht, daß sie beinahe nicht aufgeblickt hatte. Und die Polster waren so herzig klein geworden, daß es wirklich ein Anblick gewesen war! Aber dort hatte sie gesessen, er sah sie noch …

Und Ole schrieb wieder einen Augenblick.

Dann öffnet er hastig die Tür und schreit ins Lager hinaus, die Jacht sei verschwunden, Agathe, sie sei fort. Das sei doch unerhört!

Aber einer der Kommis wußte zu erzählen, daß der Kutter am Morgen von zwei Männern aus einem Anwaltsbureau fortgebracht worden sei; jetzt läge er vertäut auf der Festungsseite.

Welches Anwaltsbureau?

Danach hatte der Kommis nicht gefragt.

Ole wurde neugierig. Der Kutter gehörte ihm gar nicht, allerdings; aber Fräulein Lynum konnte doch nichts mit einem Anwalt zu tun haben. Hier mußte ein Mißverständnis obwalten. Und Ole geht spornstreichs nach dem Festungshafen hinunter und betreibt während einiger Stunden seine Nachforschungen. Als er schließlich erfuhr, wer der Anwalt sei, begab er sich nach dessen Bureau.

Er fand einen Mann ungefähr so alt wie er selbst, der an einem Tische saß und schrieb.

Ole stellte ein paar vorsichtige Fragen.

Gewiß, es hatte seine Richtigkeit, der Kutter sollte verkauft, zu Geld gemacht werden; der Mann hatte denselben sogar schon mit tausend Kronen belehnt. Hier die Papiere; Irgens hatte sie deponiert, der Dichter Irgens. Der Herr Großhändler habe doch nichts dagegen einzuwenden?

Nein, nein, keineswegs. Nicht die Spur.

Der Mann wurde immer höflicher; er wußte sicherlich ganz genau über den Kutter Bescheid, aber er verriet sich nicht mit einer Miene. Wieviel das Fahrzeug wohl wert sein könne? Ja, Irgens sei zu ihm gekommen und habe ihn ersucht, den Verkauf des Kutters zu übernehmen; er sei augenblicklich in einer kleinen Geldverlegenheit; er brauche es sofort –; und man müsse doch einem Talent gegenüber tun, was man könnte. Die Talente säßen hierzulande ohnehin nicht allzusehr im Fett, leider! Aber nun müsse er doch noch einmal fragen, ob der Herr Großhändler den leisesten Einwand dagegen erhöbe; sonst würde er es rückgängig machen, alles mögliche tun, um es rückgängig zu machen.

Aber Ole Henriksen fragte noch einmal, was er wohl dagegen einzuwenden haben sollte? Er hätte nur ein Interesse zu fragen. Der Kutter habe immer vertäut vor seinem Lagerhause gelegen, und jetzt sei er plötzlich verschwunden; es amüsiere ihn zu erfahren, wo er geblieben sei. Er sei also nur aus Neugierde gekommen; bäte übrigens sehr um Entschuldigung.

Ach, wie er nur so reden könne! Keine Ursache, gar keine Ursache. Es freue ihn außerordentlich …

Ole ging.

Nun konnte er begreifen, woher Irgens mit einem Male so von oben bis unten neu geworden sei und so schöne Zimmer im Villenviertel habe mieten können. Die ganze Stadt wunderte sich und sprach darüber, niemand wußte, daß er eine so unerwartete Hilfe bekommen hatte. Aber daß sie das getan hatte! dachte er. Hatte sie denn nicht die leiseste Empfindung von Scham über diese neue Gemeinheit? Übrigens, was war denn Gemeines dran? Was ihr gehörte, gehörte auch ihm; sie teilten liebevoll, darüber war nichts zu sagen; in Gottes Namen, mochte sie nach ihrem Herzen handeln! Jetzt war sie in der Stadt; sie wollte etwas in der Industrieschule lernen; da lag es so nahe, daß das Ding, die Jacht zu Gelde gemacht wurde. Wer konnte es ihr verdenken, daß sie ihren Verlobten wieder auf die Füße brachte? Im Gegenteil, das machte ihr Ehre … Aber vielleicht, wenns zur Sache kam, wußte sie nicht einmal, daß der Kutter zum Verkauf gekommen war; sie hatte vielleicht Kutter und Papiere vergessen, und es war ihr gleichgültig, wo sie sich befanden. Das konnte niemand wissen. Und jedenfalls würde sie die Jacht nicht verkauft haben, nur um Geld für sich selbst zu bekommen, nein, nein, niemals, er kannte sie. Sie wollte einem andern aufhelfen; so war sie. Und das war es doch, worauf es ankam.

Er sah Agathe so deutlich vor sich, das helle Haar, die Nase, das Grübchen; am nächsten siebenten Dezember wurde sie neunzehn Jahre alt. Ja, neunzehn Jahre. Laß die Jacht fahren, sie hatte ja keine Bedeutung mehr; die kleinen roten Polster hätte er wohl gern gerettet; aber jetzt war es zu spät, jetzt wurden sie verkauft.

Er ging nach dem Kontor zurück, konnte aber nur die notwendigste Arbeit tun; er hielt jeden Augenblick inne und starrte vor sich hin; er war mit allen seinen Gedanken anderswo. Wie, wenn er selbst den Kutter zurückkaufte? Konnte sie etwas dagegen haben? Wer weiß, vielleicht würde sie es als Bosheit auffassen; es war doch wohl besser, sich ruhig zu verhalten. Ja, es war besser; er wollte doch auch kein Narr sein, Fräulein Lynum und er waren fürs ganze Leben fertig miteinander; man sollte nicht sagen dürfen, daß er Reliquien hinter ihr her sammle. Was in aller Welt hatte er mit ihrem Kutter zu schaffen!

Er schloß das Kontor zur gewohnten Zeit und ging aus. Die Laternen leuchteten hell, das Wetter war noch immer ruhig. Er sah Licht bei Tidemand, wollte hineingehen, blieb aber auf den Haustürstufen stehen und besann sich anders; Tidemand hatte vielleicht irgendeine Arbeit vor, mit der er fertig werden mußte. Darum ging Ole weiter.

Stunde auf Stunde verging, er wanderte in einem Zustande dumpfer Gleichgültigkeit, Müdigkeit, beinahe mit geschlossenen Augen umher. Er war oben am Park, ging vorüber, bog ab und kam hinauf auf die Hügel. Es war dunkel, er sah nichts, setzte sich trotzdem aber für einen Augenblick auf eine Treppe. Dann sah er nach der Uhr. Es war zwölf Uhr. Er schlenderte wieder nach der Stadt hinunter. Kaum, daß er einen einzigen Gedanken im Kopf hatte.

Er schlug den Weg hinunter nach Tivoli ein. Wie war er den ganzen Abend herumgelaufen! Jetzt mußte er zu Tode ermüdet wie er war, doch diese Nacht schlafen! Vor einem Restaurant blieb er plötzlich stehen, gleich darauf trat er mehrere Schritte zurück, vier, sechs Schritte zurück; seine Augen starrten scharf und unverwandt auf den Eingang des Restaurants. Davor hielt ein Einspänner.

Er hatte Agathens Stimme vernommen, als er so plötzlich stehen blieb; jetzt traten sie und Irgens auf die Straße hinaus. Agathe ging hinterher, sie ging schwerfällig und wurde auf der Treppe durch irgend etwas aufgehalten.

»So, spute dich jetzt!« sagte Irgens.

»O warten Sie einen Augenblick, Herr Irgens,« sagte der Kutscher. »Die Dame ist noch nicht fertig.«

»Kennen Sie mich?« fragte Irgens überrascht.

»Ja, wie sollt ich Sie nicht kennen!«

»Er kennt dich, er kennt dich,« sagte Agathe und eilte die Stufen hinunter. Sie hatte ihren Mantel noch nicht um, er fiel hin, und sie stolperte darüber. Ihre Augen waren starr und matt. Plötzlich Lachte sie.

»Der abscheuliche Gregersen, er hat mir einen Fußtritt gegen die Wade versetzt,« sagte sie. »Ich glaube sicher, daß es blutet, ich glaube es sicher … Nein, Irgens, gibst du nicht bald wieder ein Buch heraus? … Denk nur, der Kutscher kennt dich, hast dus gehört?«

»Du bist betrunken,« sagte Irgens und half ihr endlich in den Wagen.

Der Hut saß ihr schief auf dem Kopfe, sie versuchte, sich den Mantel anzuziehen, und dabei sprach sie unaufhörlich:

»Nein, betrunken bin ich nicht, ich bin nur ein bißchen lustig … Willst du nicht nachsehen, ob mein Bein blutet? Ich glaube sicher, daß das Blut herunterrinnt. Es schmerzt auch ein wenig, aber das macht nichts; mit mir, das ist gleichgültig. Betrunken, sagst du? Na, und wenn ich auch betrunken bin? Du hast mich ja dazu gebracht, ich tue alles dir zuliebe, mit Freuden … hahaha, ich muß lachen, wenn ich an den abscheulichen Gregersen denke. Er würde den schönsten Artikel über mich schreiben, wenn er mit eignen Augen sehen dürfte, daß er mich blutig gestoßen hätte, sagte er. Es ist was andres, wenn ich es dir zeige … Das war ein gräßlicher Pjolter, er ist mir so zu Kopf gestiegen. Und die Zigaretten, alle die Zigaretten …«

»Fahren Sie zu!« rief Irgens.

Und der Wagen fuhr ab.

Ole stand da und starrte dem Wagen nach; die Kniee zitterten ihm; ohne es zu wissen, tastete er mit den Händen auf der Brust, auf den Kleidern umher. Nein, das war Agathe! Wie hatten sie sie verdorben! Agathe, liebe, kleine Agathe …

Ole setzte sich dort, wo er stand; es verging eine geraume Zeit, vor dem Restaurant wurden die Laternen ausgelöscht, es wurde sehr dunkel. Ein Konstabler klopft ihm auf die Schulter und sagt, er dürfe nicht dort sitzen und schlafen. Ole blickte auf. Nun ja, er wolle gehen, gute Nacht, danke … Und Ole taumelte die Straße hinunter.

Er kam gegen zwei Uhr nach Hause und ging ins Kontor, er zündete die Lampe an und hängte aus alter Gewohnheit den Hut an den Nagel; sein Gesicht war ganz starr. Eine gute Stunde verging, er ging im Zimmer auf und ab, dann ging er ans Pult und fing zu schreiben an, Briefe, Dokumente, kurze, feste Linien auf verschiedenen Papieren, die er kuvertierte und versiegelte. Er sah auf seine Uhr, es war halb vier Uhr; er zog die Uhr mechanisch auf, als er sie in der Hand hielt. Mit einem Briefe an Tidemand ging er selbst auf die Straße um ihn in den Briefkasten zu werfen; als er wieder zurückkam, nahm er Agathens Briefe hervor und löste den Knoten.

Er las keinen dieser Briefe, er trug sie nur zum Ofen und verbrannte einen nach dem andern; nur den letzten, den allerletzten Brief mit dem Ringe drin zog er halb aus dem Kuvert und betrachtete ihn einen Augenblick; dann verbrannte er auch diesen.

Die kleine Uhr an der Wand schlug vier Uhr; ein Dampfschiff pfiff. Ole stand auf und ging vom Ofen fort. Sein Gesicht war voll Leiden, jeder Zug war gespannt, die Adern an seinen Schläfen geschwollen. Dann zog er langsam eine kleine Schieblade in seinem Pulte auf.

 

Am Morgen fand man Ole Henriksen tot. Er hatte sich erschossen; die Lampe auf dem Pulte brannte, einige versiegelte Briefe lagen daneben, er selbst lag auf der Erde. Er hatte den Stiel eines Petschafts zwischen den Zähnen, als er den Schuß gegen sich abgegeben hatte, und er war sofort erstarrt, er lag noch und biß auf das Petschaft. Mit knapper Not konnte man es aus seinem Munde bringen.

In dem Briefe an Tidemand hatte er förmlich um Entschuldigung gebeten, daß er nicht noch kommen und ihm ein letztes Mal für seine Freundschaft danken könnte. Jetzt müsse es zu Ende sein, er könne keinen neuen Tag mehr erleben, er sei krank. Und das Landhaus solle Tidemand jetzt als eine Erinnerung haben. »Du wirst hoffentlich doch mehr Verwendung dafür haben, als ich gehabt hätte,« schrieb er, »es gehört dir, guter Freund, nimm es an von mir. Frau Hanka wird sich auch darüber freuen; grüße sie. Leb wohl! Und solltest du Fräulein Lynum in Not finden, so hilf ihr freundlich zurecht; ich sah sie heute abend, aber sie sah mich nicht; doch ich weiß, sie ist rein im Herzen. Ich kann mich zu keinem ordentlichen Briefe an dich sammeln; ich habe nur eins klar vor mir, und dies Eine tue ich in einer halben Stunde. Deshalb leb wohl, Andreas. Du warst redlich von unsrer Schulzeit an; ich denke jetzt an das alles, deshalb schreibe ich diese Zeilen an dich und sage dir Lebewohl. Ich kann heute abend nicht besser schreiben, aber du verstehst es doch.«

Die Photographie, die er von Agathe hatte, lag unberührt in seiner Brieftasche; vielleicht war es ihm nicht eingefallen, sie zu verbrennen. Er hatte auch vergessen, die paar Depeschen aufzugeben, die er am Nachmittag geschrieben hatte, bevor er ausging; sie steckten noch in seiner Rocktasche. Er hatte recht: er hatte nur noch eins klar vor sich.

 

IX.

Man war in den September hineingekommen, das Wetter war kühl, der Himmel hoch und rein; die Stadt war ohne Staub und ohne Schmutz, sie war hübsch; die Berge rund umher hatten noch keinen Schnee.

Und die Begebenheiten in der Stadt lösten einander ab; mit kurz andauerndem Interesse hatte man Ole Henriksens Tod besprochen; jener Schuß dort unten in dem Kontor des jungen Großhändlers hatte kein lautes Echo geweckt; jetzt waren neue Tage und neue Wochen darüber zusammengeschlagen, und niemand sprach mehr davon. Nur Tidemand wurde es schwer zu vergessen.

Tidemand hatte viel zu tun; er hatte Oles Vater während der ersten Wochen mit dem Geschäft helfen müssen, der Alte wollte sich noch nicht zurückziehen, er nahm nur seinen ersten Kommis als Kompagnon und setzte zäh und ruhig das Geschäft fort, ohne sich von seinem Kummer knicken zu lassen. Der alte Henriksen wußte, daß er noch heutigen Tages arbeiten konnte, wenn er keinen andern an seiner Stelle hatte.

Und Tidemand war in unaufhörlicher Tätigkeit. Jetzt begann sein Roggen zu schwinden; er setzte in Partieen ab, zu immer besseren Preisen; der Roggen stieg, je näher der Winter kam, und sein Verlust verringerte sich. In den letzten Tagen hatte er sogar einen seiner alten Kontorarbeiter wiedernehmen müssen; er verlud seinen letzten Teer, morgen sollte er abgehen.

Er hatte alle Arbeiten gemacht, die Papiere ausgestellt, assekuriert; nun war das erledigt. Bevor er etwas Neues anfing, zündete er eine Zigarre an und überlegte. Es war am Nachmittag gegen vier Uhr. Er nahm die Feder hinterm Ohr hervor und legte sie einen Augenblick hin, trat dann ans Fenster und sah hinaus. Als er noch so stand, wurde hinter ihm leise an die Tür geklopft, und seine Frau trat ein. Sie grüßte und fragte, ob sie störe; es handle sich nur um eine kleine Angelegenheit …

Sie hatte den Schleier vor dem Gesicht.

Tidemand warf die Zigarre fort. Er hatte seine Frau seit Wochen nicht gesehen, seit vielen langen Wochen nicht; eines Abends, als er in den Straßen umhergeschlendert war, hatte er sie in einer Dame mit demselben stolzen Gang wiederzuerkennen geglaubt; aber sie war es nicht gewesen. Er war der Dame eine Weile nachgegangen, bis er sah, daß er sich geirrt habe; nein, seine Frau war es nicht. Sie war nicht mehr zu sehen. Er hatte nie, nie etwas dagegen gehabt, daß sie kam, und das wußte sie, aber sie kam nicht. Also hatte sie ihn und die Kinder wohl für immer vergessen; es sah so aus. Und ob er auch manche stille Nacht in den Straßen bei der Festung umhergeschlichen war, wenn es ihm daheim zu öde wurde, so konnte es sich wohl treffen, daß er Licht in ihren Fenstern sah, aber oft war es auch dunkel, und jedenfalls sah er sie selbst nie. Während all diesen Wochen war er nicht einmal so glücklich gewesen, ihren Schatten an der Gardine schimmern zu sehen. Wo war sie geblieben? Er hatte ihr zweimal Geld geschickt, um doch ein Wort von ihr zu hören.

Jetzt stand sie vor ihm, ein paar Schritte entfernt. Halb unbewußt machte er seine gewohnte Bewegung, wie um seinen Rock zuzuknöpfen.

»Du bist es, Hanka?« sagte er.

»Ja, ich bin es,« entgegnete sie leise. »Ich hatte … ich wollte …« Und plötzlich begann sie in ihren Taschen zu suchen, sie zog ein Päckchen Banknoten hervor, viel Geld in einem Päckchen, und legte es vor ihm auf das Pult. Ihre Hände zitterten allzusehr, sie brachte das Geld in Unordnung, ließ Scheine zu Boden fallen, bückte sich, nahm sie wieder auf und sprach unruhig: »Bester, nimm es, sag nicht nein! Lieber Andreas, du solltest nur wissen, wie ich dich bitte! Es ist Geld, das ich verbraucht habe, um … das ich unwürdig verbraucht habe; erlaß mirs zu sagen, wofür ich es verbraucht habe, denn es ist allzu unwürdig. Es müßte noch viel mehr sein, aber ich konnte nicht länger warten; viel mehr Geld also, noch einmal so viel, aber ich hatte nicht die Geduld, noch länger zu warten, deshalb bin ich gekommen. Nimm nun dies hier. Sei so gut. Ich gebe dir den Rest später, mit der Zeit; nur mußte ich heute kommen …«

Aber er unterbrach sie ganz ratlos und verzweifelt:

»Nein, Hanka, kannst du nicht einmal … Beständig kommst du auf das Geld zurück! Weshalb sparst du Geld für mich? Ich begreife nicht, wie dir das Freude machen kann; ich habe Geld genug, das Geschäft geht wieder, geht großartig, ich brauche nichts.«

»Aber mit diesem Gelde ist es eine andre Sache,« rief sie beklommen, »ich gebe es dir um meiner selbst willen. Ich habe es ja auch von dir bekommen, du hast mir geholfen, du hast mir allzuviel geschickt, ich konnte es jedesmal beiseite legen. Wenn ich diese kleine Freude nicht gehabt hätte, an die ich denken konnte, hätte ich es nicht ausgehalten; ich habe die Banknoten jeden Tag gezählt und darauf gewartet, daß ihrer endlich genug werden sollten. Es ist auch nicht die Hälfte Rest, ich habe es nachgerechnet; nur ein Viertel ist noch Rest; du bekommst es später. Mach mir die Freude, es zu nehmen! Du weißt nicht, wie ich mich schäme.«

Und mit einem Male wurde ihm klar, weshalb sie ihm durchaus gerade dies Geld geben wollte. Er nahm es und dankte. Er konnte nichts andres hervorbringen, als daß es viel Geld, wirklich viel Geld sei. Aber ob sie sich dadurch nicht schädige? Ob er sich darauf verlassen könne? Denn er wollte das Geld als Darlehn gern und mit Dank obendrein von ihr nehmen; sie solle es zurückbekommen, es könne ja bei ihm stehen bleiben. Aber jedenfalls sei es eine wahre Wohltat gegen ihn, daß sie gerade jetzt komme und ihm hülfe, denn er könne wirklich Geld brauchen, etwas Geld, wenn er doch einmal die Wahrheit gestehen solle …

Er verriet sich nicht mit einer Miene; er beobachtete sie und sah, daß sie vor Freude zusammenzuckte; ihre Augen glänzten durch den Schleier, und sie sagte:

»Nein, ist das wahr? Mein Gott, du machst mich ganz … Dank dafür, daß du es annimmst!«

Diese Stimme, diese Stimme, er kannte sie aus ihren ersten glücklichen Tagen, wenn sie ganz kleinlaut vor Dankbarkeit über dies oder jenes war. Er war um die Ecke des Pultes gekommen und trat nun wieder zurück, überwältigt von ihrer Nähe, von ihrer Gestalt, von dem vollen Blick unter dem Schleier. Er sah zu Boden.

»Wie geht es dir?« sagte sie. »Und den Kindern?«

»O ausgezeichnet, die Kinder wachsen aus ihren Kleidern heraus. Es geht uns allen ausgezeichnet. Und dir?«

»Ich habe von euch allen absolut gar nichts mehr gehört. Ich würde gewartet haben, bis ich mit dem Gelde hätte kommen können, bis ich auch mit dem letzten Viertel kommen könnte; ich hielt es aus, solange Ole lebte, Ole erzählte mir von euch allen, ich habe ihn manches Mal gequält. Aber dann war das vorbei, ich hatte nicht mehr ihn, zu dem ich gehen konnte, und nun verlor ich die Geduld ganz und gar. Auch gestern war ich hier vor dem Hause; aber ich trat nicht ein, ich kehrte um …«

Sollte er sie bitten, zu den Kindern hinaufzugehen?

»Du gehst doch wohl einen Augenblick hinauf, Hanka?« sagte er. »Du würdest uns allen eine Freude machen. Ich weiß nicht, wie es oben aussieht, aber …«

»Ach ja, ich danke, wenn ich darf! Ich habe dich bitten wollen. Wenn sie mich nur wiederkennen! Ich höre sie; sie laufen fortwährend … ja, ja, noch einmal tausend Dank für heute!« Sie reichte ihm die Hand.

Und er nahm sie und sagte:

»Ich komme gleich nach, ich habe gerade jetzt nichts zu tun. Du verweilst vielleicht ein wenig? Aber ich weiß gar nicht, ob es oben so aussteht, daß … Hier ist der Schlüssel zum Entree, damit du nicht zu läuten brauchst. Aber nimm dich vor den Schuhen der Kinder in acht, wenn du sie auf den Schoß nimmst. Ja, lache nicht darüber; wer weiß, ob sie zufällig ihre neuen Schuhe anhaben.«

Hanka ging. Er öffnete ihr die Tür und geleitete sie an die Treppe, dann ging er wieder ins Kontor zurück. Herrgott, da hatte sie sich Wochen und Monate hindurch wegen dieses Geldes gequält! Es hatte ihre Freude ausgemacht, sie hatte es jeden Tag gezählt und hatte gewartet und gewartet, daß es genug werden solle. Hätte er es nur geahnt! Aber er hatte nichts geahnt, so stupide war er gewesen. Sie hatte ein altes Kleid getragen, sie hatte ihren Ring verkauft, und er hatte nichts geahnt. Wie dies Geld auf ihr gelastet hatte! Sie wollte nicht früher kommen, als bis sie einen Vorwand hatte, und nie, nie bekam sie Geld genug …

Tidemand stellte sich wieder ans Pult, aber er arbeitete nicht. Dort hatte sie gestanden; heute hatte sie ihr schwarzes Samtkleid an; aber ihr Gesicht hatte er nicht gesehen, nur ein wenig vom Halse, einen weißen Streifen vom Halse. Jetzt war sie oben. Wer weiß, ob er jetzt schon hinaufgehen konnte? Er hörte nichts mehr von den Kindern, sie liefen nicht mehr umher, vielleicht saßen sie bei ihr. Ob sie zum Glück ihre roten Kleider anhaben mochten?

Seltsam bewegt ging er die Treppe hinauf, und als er an die Stubentür kam, klopfte er sogar an, als ob er nicht zu Hause wäre. Seine Frau stand auf, sobald sie ihn sah.

Sie hatte den Schleier abgenommen, sie errötete stark. Jetzt begriff er, weshalb sie einen Schleier trug; sie hatte sich nicht umsonst gesehnt und in aller Stille gelitten, dort unten in ihrem Zimmer bei der Festung; ihr Gesicht trug deutliche Spuren ihrer Einsamkeit. Und das nur in den kurzen Wochen, seitdem Ole gestorben war! Johanne und Ida standen neben ihr und hatten ihr Kleid gefaßt; sie erkannten sie nicht ganz klar wieder, sie sahen sie verwundert an und schwiegen.

»Sie kennen mich nicht,« sagte Frau Hanka und setzte sich, »ich habe sie gefragt.«

»Doch. Ich kenne dich,« sagte Johanne … Und zugleich kletterte Johanne auf den Schoß der Mutter; Ida tat dasselbe.

Tidemand sah ihnen bewegt zu.

»Ihr dürft nicht aufklettern, Kinder,« sagte er; ihr müßt Mama auch ein bißchen Ruhe lassen.«

Nein, das wollten sie nicht, sie wollten Mama keine Ruhe lassen. Sie hatte so prächtige Ringe an den Händen, sie hatte auch die merkwürdigsten Knöpfe am Kleide, sie konnten daran zupfen; sie fingen zu sprechen, von diesen Knöpfen zu plaudern an; Mamas Brustnadel fiel ihnen in die Augen, und auch darüber sagten sie gar manches. Und dort lagen sie beide auf den Knieen im Schoß der Mutter und hatten die Hände auf ihre Brust gelegt.

»Du mußt sie auf die Erde setzen, wenn du ihrer müde bist,« sagte Tidemand.

»Nein, nein, laß sie nur!« sagte sie.

Sie begannen von Ole zu sprechen, sie erwähnten Agathens; Tidemand wollte sie nächstens aufsuchen; Ole hatte ihn gewissermaßen darum gebeten; ihr Schicksal lag ihm am Herzen, er hatte sie nicht vergessen. Aber jetzt kam das Kindermädchen herein und wollte die Kinder holen; sie sollten ihr Essen haben und dann schlafen gehen.

Aber das wollten die Kinder keineswegs, sie sträubten sich und machten sich schwer, die Mutter mußte mit, mußte ins Schlafzimmer und sie beruhigen. Sie blickte umher; da drinnen war alles wie früher; dort standen die beiden kleinen Betten, dort lagen die Decken, die winzig kleinen, weißen Kissen, die Bilderbücher, das Spielzeug. Als sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, mußte sie ihnen ein kleines Lied vorsingen, sie wollten nicht schlafen; jede hielt eine ihrer Hände und wollte fortwährend wieder aus dem Bette und weiter plaudern.

Tidemand stand eine Weile und sah ihnen blinzelnd zu, dann kehrte er sich hastig um und ging hinaus.

Nach einer halben Stunde kam Hanka wieder ins Wohnzimmer.

»Jetzt schlafen sie,« sagte sie.

»Ich wollte dich fragen … Wir haben es hier ganz wunderlich,« sagte Tidemand, »wir führen selbst eine Art Hausstand. Wenn du hier essen möchtest … Ich weiß nicht, was sie draußen in der Küche vorbereitet haben; aber mir fiel ein …«

Sie sah ihn an, verschämt wie ein Mädchen, und sagte: »Danke, ja.«

Nach Tische gingen sie wieder ins Wohnzimmer, und Hanka sagte plötzlich:

»Andreas, ich bin heute nicht hergekommen, um alles wieder gut zu machen; das darfst du nicht glauben. Ich konnte es nur nicht noch länger aushalten, bis ich einen von euch wiedergesehen hatte.«

»Das habe ich auch nicht gedacht,« erwiderte er; »ich habe mich nur gefreut, daß du hergekommen bist. Die Kinder wollen dich ja auch nicht loslassen.«

»Ich habe dich auch nicht einen Augenblick mehr um das bitten wollen, um was ich dich früher bat; nein, das ist vorbei, ich weiß es selbst. Und ich könnte auch gar nicht zurückkommen, jedesmal, wenn du mich ansähest, müßte ich … wenn du mich nur begrüßtest, müßte ich zusammenfahren. Ich weiß es gar wohl; für uns beide würde es nicht zu ertragen sein. Aber ich könnte vielleicht in Zwischenräumen kommen, in Zwischenräumen …«

Tidemand ließ den Kopf sinken, seine heimliche Hoffnung brach zusammen. Sie wollte nicht mehr zurückkommen, das war vorbei. Diese Monate hatten gemacht, daß sie die Dinge innerlich anders ansah, sie hatte ihn einmal lieb gehabt; es war keine Ewigkeit her, daß sie selbst es gesagt hatte, – am Abend, bevor sie fortging.

»Komm, Hanka, komm oft, jeden Tag,« sagte er. »Du kommst ja nicht zu mir, sondern …«

Sie sah zu Boden.

»Doch, zu dir. Ja, leider zu dir! Ich habe bis jetzt niemals gewußt, was es heißt, ganz und gar von jemandem ergriffen sein. Ich rühre mich nicht, ohne an dich zu denken; ich sehe dich, wo ich gehe und stehe. Seit jener Segelfahrt im Sommer war ich wie geblendet durch dich; wie, ich sollte es wohl nicht sagen, aber manches Mal, wenn ich allein dort unten in meinem Zimmer war, und … ich habe die Arme an mich gepreßt, wenn ich an dich dachte. Es ist wirklich wahr, ich habe niemals etwas Ähnliches gehört. Nein, es ist die ganze Zeit schlimm gegangen, bis du dein Geld verlorst; da aber wurdest du mit einem Mal ein andrer Mann, ach, du stiegst hoch empor über alle andern, niemals werde ich vergessen, wie du damals am Ruder standest und gesteuert hast. Ich vergaß dich früher, ich vergaß auch mich selbst; das ist schon lange her, mich deucht, das ist viele Jahre her; und damals warst du nicht wie jetzt, Andreas, jetzt könnte ich dich nimmer vergessen. Ich war glücklich, wenn ich dich nur einmal auf der Straße sah, und ich habe dich öfter gesehen, als du glaubst. Einmal trafen wir uns auch in einem Laden, du besinnst dich vielleicht nicht darauf, aber ich erinnere mich daran, du nahmst mir ein Paket auf; ich war so verwirrt, daß ich nicht weiß, wie ich nach Hause kam, und doch hattest du kein Wort zu mir gesprochen. Ach ja, ich bin auch schwer gestraft worden, aber …«

»Aber, Hanka, dann ist doch nicht alles vorbei,« brachte Tidemand hervor.

Er war aufgestanden, er zitterte und stand hochaufgerichtet da, den Blick auf sie gerichtet. Wie sie strahlte; die grünen Augen wurden goldig im Lampenlicht, ihre Brust hob und senkte sich. Auch sie stand auf.

»Ja, aber … Du kannst mich ja nicht mehr lieb haben. Nein, sag es nicht, ich will nicht, nein, lieber Andreas, ich will nicht. Doch, hätte ich dich weniger lieb gehabt, vielleicht, wenn ich dich weniger lieb gehabt hätte … Du kannst all das Gewesene nicht vergessen, das ist unmöglich.« – Sie nahm Mantel und Hut.

»Geh nicht, geh nicht!« sagte er flehend. »Ich erinnere mich an nichts, was gewesen ist, an nichts; ich selbst war schuld daran, daß du fortgingst; hör mich an! Du bist mir nicht einen einzigen Tag aus den Gedanken gekommen; jetzt ist es so lange her, daß ich fröhlich war; es sind Jahre her. Erinnerst du dich, wie es anfangs war, anfangs hier? Wir waren immer zusammen, wir beide fuhren ganz allein aus; wir besuchten eine Menge Leute, wir hatten Gäste bei uns und freuten uns darüber und hatten Licht in allen Zimmern; ja, kannst du dich darauf besinnen? Aber am Abend gingen wir in dein Zimmer und waren all der andern müde und wollten nur allein sein. Dann sagtest du, du wolltest ein Glas mit mir trinken, und du lachtest und trankst mit mir, obgleich du so müde warst, daß du dich kaum auskleiden konntest. Ach nein, du, Hanka! Das ist wohl drei Jahre her, vier vielleicht … Und jetzt liegt und steht alles in deinem Zimmer genau so wie früher; willst du es sehen? Du darfst nicht glauben, daß wir da drinnen etwas angerührt haben, und wenn du dort bleiben willst … Weißt du, was mich betrifft, ich habe heute Nacht im Kontor zu arbeiten; unten liegt gewiß ein Haufen Postsendungen; ich bin sicher, daß ein ganzer Haufen auf mich wartet. Aber das Mittelzimmer steht nun da, wie du es verlassen hast; überzeuge dich!«

Er hatte die Tür geöffnet. Sie kam ihm nach und sah hinein; es brannte auch Licht dort; sie sah das alles und trat ein. Nein, daß er es wollte, noch immer, noch immer! Sie durfte wieder hier sein, er hatte es selbst gesagt, er nahm sie zurück. Sie stand da, erstarrt vor Freude, sie sagte nichts; ihre Augen begegneten sich, er zog sie in seine Arme und küßte sie wie das erste Mal, damals vor drei Jahren. Sie schloß die Augen, und in demselben Augenblick fühlte er den Druck ihres Armes um seinen Nacken.

 

X.

Und der Morgen brach an.

Und die Stadt erwachte, und die Hämmer tanzten mit klingendem Schlag auf den Werften, und in die Straßen hinein rollten in langsamer Fahrt die Karren der Bauern. Es ist dieselbe Geschichte. Auf den Märkten sammeln sich Menschen und Waren, die Läden werden geöffnet, der Lärm braust und wogt, und treppauf, treppab klettert das kleine, stierblickende Mädchen mit seinen Zeitungen und seinem Hunde.

Es ist dieselbe Geschichte.

Aber erst gegen zwölf Uhr sammeln sich Leute an der »Ecke«, junge und freie Menschen, welche die Mittel haben zu tun, wozu sie Lust haben, und lange zu schlafen. Dort stehen einige von der bemerkenswerten Clique, Milde, Norem und Öjen, zwei in Ulsters, einer im Mantel, Öjen im Mantel. Es ist kalt, es friert sie; sie stehen in die eignen Gedanken versunken und sprechen nicht mehr; selbst als Irgens plötzlich zwischen ihnen auftauchte, in der besten Laune und fein wie der feinste Mann der Stadt, kam es zu keinem lebhaften Gespräch. Nein, es war zu früh am Tage und zu kalt, in ein paar Stunden war es ganz anders. Öjen hatte sein allerneuestes Gedicht in Prosa erklärt, eine schlafende Stadt, es war ihm geglückt, über Nacht ungefähr bis zur Hälfte zu kommen; er hatte angefangen, auf farbigem Papier zu schreiben, er hatte es so vortrefflich gefunden. »Aber denkt euch,« sagt er, »die schwere, stampfende Ruhe über einer schlafenden Stadt; man vernimmt ihren Atemzug nur wie eine Schleuse in einer Entfernung von zehn Meilen. Es dauert Stunden, es dauert eine ewig lange, lange Zeit – da erwacht die Bestie plötzlich und beginnt ihre Glieder zu strecken. Daraus kann man doch etwas machen?«

Und Milde meinte, man könne sehr viel daraus machen, wenn alles gut ging; denn er ist jetzt schon lange wieder gut Freund mit Öjen. Im übrigen arbeitet Milde an seinen Karikaturen zu »Norwegens Dämmerung«. Ja, er hatte wirklich schon einige drollige Karikaturen gemacht und das unglückliche Gedicht überwältigend verhöhnt. Der Verleger erwartete viel von dem Unternehmen.

Norem spricht kein Wort.

Aber plötzlich kommt Lars Paulsberg die Straße herunter; Journalist Gregersen geht ihm zur Seite. Jetzt wird die Gruppe groß, jeder bemerkt sie, es war so viel auf einem Brett versammelt. Die Literatur hat das Übergewicht, die Literatur beherrscht das ganze Trottoir; Leute, die vorüber gehen, suchen einen Vorwand, um noch einmal zurückzugehen und die sechs Herren in Ulsters und Mänteln anzusehen. Milde erregt auch Aufmerksamkeit, weil er die Mittel zu einem neuen Anzug gehabt hatte.

Und Gregersen gafft den neuen Anzug von oben bis unten an und sagt:

»Du hast das da doch wohl nicht bezahlt?«

Aber Milde hörte nicht, er hatte seine Aufmerksamkeit auf etwas andres gerichtet, auf einen Einspänner, der im Schritt die Straße heraufkommt. An dem Einspänner war nichts Ungewöhnliches, nur daß er im Schritt fuhr. Und wer saß aus dem Rücksitz? Eine Dame, die Milde nicht kannte, obgleich er die ganze Stadt kannte. Er fragt die andern Herren, ob sie sie kennen, und Paulsberg und Öjen greifen gleichzeitig nach dem Lorgnon, und alle, alle sechs starren die Dame aufmerksam an; aber nicht einer kennt sie.

Sie war ungewöhnlich dick und saß schwer und bequem auf dem Sitz; sie hatte eine Stulpnase und trug den Kopf hoch; ein roter Schleier, den sie auf dem Hute trug, hing ihr gerade über den Rücken. Nur einige ältere Leute schienen sie zu kennen und grüßten sie, und sie beantwortete von ihrem Einspänner herab jeden Gruß mit dem Ausdruck großer Gleichgültigkeit.

Gerade als sie an der »Ecke« vorüber kam, stieg Paulsberg eine Ahnung auf und lächelnd sagte er:

»Aber, mein Gott, das ist ja Frau Grande, Frau Liberia.«

Und nun kannten auch die andern Herren sie wieder. Ja, das war ja Frau Liberia, die frühere lustige Frau Liberia! Journalist Gregersen hatte sie sogar einmal geküßt, an einem siebzehnten Mai, in einer begeisterten Stunde. Und nun kam ihm eine seltsame Erinnerung an diesen Tag. Es war lange her, sehr lange her.

»Nein, das war sie!« sagte er. »Wie dick sie geworden ist! Ich habe sie nicht wiedererkannt, ich hätte grüßen müssen.«

Ja, das hätten die andern Herren ebenfalls müssen; sie kannten sie ebensogut. Aber Milde tröstete sich sowohl wie die andern, indem er sagte:

»Wer kann sie denn auch von einem Jahr zum andern wiedererkennen? Sie geht ja niemals aus, sie zeigt sich nicht, nimmt an nichts teil; sie sitzt nur zu Hause und mästet sich. Ich hätte ebenfalls grüßen müssen, aber … Na, das Vergehen nehme ich wirklich leicht.«

Irgens kam jedoch sofort ein furchtbarer Gedanke; er hatte nicht gegrüßt, Frau Grande war imstande, es ihm übel zu nehmen; sie konnte ihren Mann betreffs des Stipendiums zu einer andern Ansicht bringen. Ja, sie hatte den größten Einfluß auf ihren Mann, das war allgemein bekannt; wie, wenn der Advokat morgen am Tage mit einem Vorschlage zum Minister ging?

»Adieu!« sagte Irgens plötzlich und machte sich auf die Beine. Er lief und lies, er machte einen Umweg, einen Bogen; es war ein Glück, daß die Frau so langsam fuhr, er konnte einen Richtweg einschlagen und sie wieder einholen. Und als er die Hauptstraße wieder betrat, glückte es ihm wirklich: die Frau sah auf seine tief grüßende Person. Er grüßte, ja, er blieb stehen, nahm den Hut verblüffend tief ab und grüßte. Und sie nickte ihm von ihrem Einspänner herab wieder zu.

Immer in demselben Schritt setzte Frau Liberia ihren Weg durch die Stadt fort. Die Leute wurden nicht müde, sich gegenseitig zu fragen, wer sie doch sein könne, wer sie doch sein könne. Welche Neugierde! Es war Frau Liberia Grande, verheiratet mit Grande aus dem großen Geschlecht der Grandes; sie saß ruhig und gut wie ein ganzes Ministerium in ihrem Einspänner und machte ihre seltene, seltene Morgenfahrt. Es lag nichts Ungewöhnliches darin, nur daß sie im Schritt fuhr. Aber ihr roter Schleier war nicht sehr modern, er machte nur ein schreiendes Aussehen, und die Jungen, die in der Mode waren, lachten vor sich hin über diesen roten Schleier. Aber manche Leute hatten die arme Dame geradezu im Verdacht, daß sie mit den hochmütigsten Gedanken dort säße; sie sähe aus, als sei sie von zu Hause mit dem Vorsatz fortgefahren, sich bemerkbar zu machen, ja, als ob sie in ihrem Herzen unaufhörlich wiederhole: Hier komme ich!

So sah sie aus.

Und ganz arg wurde es, als sie den Kutscher am Storthingsgebäude halten ließ. Was hatte sie dort zu tun? Und als ihr Kutscher obendrein noch einen scharfen Knall mit der Peitsche gab, war auch nicht einer da, der nicht gemeint hätte, dies sei denn doch allzuweit gegangen. Was hatte sie mit dem Storthing zu tun? Es war geschlossen; sie waren nach Hause gegangen, die Saison war zu Ende; war das Frauenzimmer verrückt? Aber die wenigen ältern Leute, die Frau Liberia kannten, wußten doch, daß ihr Mann in einer liberalen Kommission im Storthing saß, in einem Hofzimmer, man gelangte von der Rückseite aus zu ihm; durfte sie ihn denn nicht besuchen? Dagegen war nichts zu sagen, sie hatte ihrem Manne etwas zu bestellen, und außerdem kam die Frau doch auch nicht allzuoft aus. Man tat ihr das allergrößte Unrecht.

Aber die Frau stieg aus dem Einspänner und befahl dem Kutscher zu warten; beschwerlich und langsam ging sie zur Treppe; ihr roter Schleier hing ihr immer noch schlaff und tot auf dem Rücken, kein Windhauch bewegte ihn. Dann verschwand sie in dem großen Gebäude …

Als es aber zwei Uhr wurde, hatte das Leben und Treiben in der Stadt den höchsten Grad erreicht, überall war dieselbe Bewegung, Menschen spazierten, fuhren, plauderten, kauften und verkauften, Maschinen arbeiteten weit fort mit gedämpftem Sausen. Unten am Hafen pfiff ein Dampfschiff, ein andres Dampfschiff pfiff wieder, Flaggen wehten, große Prahme glitten zwischen einander hin und her, und Segel wurden gehißt, und Segel wurden eingezogen. Und hier und da ließ ein Schiff seinen Anker fallen, und die eisernen Ketten rasselten unter einem Rauch von Rost aus den Klüslöchern, und wie stammende Hurrarufe rollten diese Laute über die Stadt in den lichten Tag hinein.

Alles war eitel Leben.

Tidemands Teerschiff lag zum Abgang bereit, deshalb war er selbst zur Schiffbrücke hinuntergekommen, Hanka kam mit ihm; sie waren beide da und standen schweigend Arm in Arm. Jeden Augenblick sahen sie sich an mit Augen, die voll Freude und Jugend waren. Ihnen flaggte der Hafen entgegen. Als das Schiff zu gleiten begann, hob Tidemand seinen Hut hoch empor, und Hanka wehte mit ihrem Taschentuch, vom Schiff her wurde wiedergeweht und noch einmal geweht. Und das Schiff glitt weiter zum Fjord hinaus.

»Wollen wir gehen?« fragte er und beugte sich zu ihr hinab.

Und sie hing sich fest an ihn und entgegnete:

»Ja, wie du willst.«

Aber in demselben Augenblick kam ein andrer Dampfer herein, ein ungeheurer Kasten, aus dessen Schornstein sich noch ganze Ballen Rauch wälzten. Auch dieser hatte Waren für Tidemand an Bord; er hatte dieses Schiff während der letzten beiden Tage erwartet; seine Freude wurde dadurch erhöht, daß es gerade jetzt ankam, und er sagte:

»Hanka, dort haben wir ebenfalls Waren an Bord.«

»Haben wir?« sagte sie nur. Und er fühlte, wie ein zärtliches Beben durch ihren Arm ging, als sie zu ihm aufblickte.

Dann gingen sie heim.

 

Druck von Hesse & Becker in Leipzig

 


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