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Ich war – erzählte mir ein Freund – noch ein junger Mensch von wenig über zwanzig Jahren, Studiosus der Philosophie, aber schon als Lyriker in ein paar Almanachen hervorgetreten, und hatte mich soeben über die Sommerferien bei einem Vetter in der ländlichen Umgebung der Hauptstadt eingemiethet, in einem Dachstübchen, das schmale Fensterchen, aber aus diesen schmalen Fensterchen eine weite prächtige Aussicht hatte.

Eines Abends spät wollte ich nach einem ermüdenden Gebirgsausfluge mich eben zu Bette begeben, als ich Jemand ungestüm die schwanke hölzerne Treppe heraufpoltern und an meine Thür klopfen hörte.

In demselben Augenblick stürzte, ohne mein »Herein!« abzuwarten, auch schon ein blonder Jüngling von ungefähr gleichem Alter mit mir selbst, aber durch sprühende Augen und eine Art von Mähne ausgezeichnet, die seinem Kopfe etwas Löwenartiges gab, mit leidenschaftlicher Hast in mein Gemach.

Ich erkannte in ihm einen alten Schulkameraden wieder, den ich seit Jahren aus den Augen verloren, und der, wie ich inzwischen vernommen, mit dem Feuer seines Naturells, das mir von der Schule her recht wohl erinnerlich war, sich ganz in die Arme seiner Lieblingsmuse, der Tonkunst, geworfen hatte.

»Endlich gefunden!« rief er, athemlos und in Schweiß gebadet, während das dichte, hellbraune Gelock in wirren Strähnen um seine Schläfe flog.

»Höre, Freund,« fuhr er fort, in der Mitte des Zimmers stehend, »Du mußt mir einen großen Gefallen thun! Mach' mich nicht unglücklich und sag' nicht nein! – Einen Text mußt Du mir schreiben! Den Text zu einem großen dramatisch-symphonischen Tonwerke, »Tristan und Isolde« betitelt! Heute Mittags, nach Beendigung von Immermann's herrlichem Epos, habe ich diesen Plan gefaßt, und den ganzen Nachmittag bin ich umhergelaufen, um Dich aufzustöbern in Deiner Verborgenheit! Mir brennt der Kopf – ich mußte noch heute mit Dir sprechen!« – Ich hatte beim Eintritt des jungen Mannes den einen Fuß, mit welchem ich eben das Bett hatte besteigen wollen, zurückgezogen, war während seiner Anrede in die schon abgelegten Beinkleider geschlüpft, und beantwortete nun die hastig hervorgestoßenen Worte des späten Ankömmlings lächelnd mit der Frage:

»Bist Du ein Jude, lieber Freund?«

»Warum?« sagte er betroffen.

»Weil man,« versetzte ich, zum Scherz aufgelegt, denn ich fand den nächtlichen Ueberfall drollig – »weil man musikalische Texte nicht für die Ehre schreibt, unter den jugendlichen Componisten Deutschlands aber, wie mir ein Operntextschreiber sagte, höchstens die vom Stamme Israels in der Lage zu sein pflegen, ein Libretto gebührendermaßen zur Hälfte voraus, zur Hälfte nach Empfang baar zu bezahlen!«

Er erblaßte. Aber mein schalkhaftes Lächeln beruhigte ihn ein wenig, und nachdem er von dem ersten Schrecken, in welchen mein grausamer Scherz ihn versetzt hatte, sich erholt, erledigte er die Honorarfrage vorläufig dadurch, daß er mir die unerhörtesten Tantiemen zusicherte, die seiner Zeit bei den Aufführungen von »Tristan und Isolde« als ein goldener Regen sich über mich ergießen sollten.

Dann setzte er mir, lebhaft in dem Stübchen auf- und abgehend, seine Ideen in Beziehung auf den Text und die Composition des geplanten Tonwerks auseinander.

Des Vetters Hahn krähte zum dritten Male, als der junge Tonkünstler, nach endlich erhaltenem entschiedenen Jawort von meiner Seite mich begeistert an's Herz preßte und dann mit demselben Ungestüm fortstürmte, mit welchem er bei mir eingetreten war.

Von diesem Tage an blieb ich mit Othenio – so hieß mein Freund – in lebhaftem Verkehr. Er kam gelaufen zu allen möglichen Stunden des Tages, spät Abends und im Morgengrauen, ja, mehr als einmal erschien er in schwülen, sternhellen Nächten, wenn eben sein Gehirn auf den Siedepunkt gerathen, oder ihm ein neuer Gedanke für den Text von »Tristan und Isolde« durch den Kopf geschossen war, vor meiner Behausung, weckte mich mit einer Handvoll Sand, die er gegen die Scheiben des Fensters warf, und ich mußte dann aus dem Fenster eine Stunde lang mit ihm plaudern, oder gar mich ankleiden und im Mondschein mit ihm durch das nahe gelegene Wäldchen schweifen.

Oft besuchte auch ich ihn, in einem Landhause, das er gleichfalls bei Verwandten, in einem romantischen Waldthale, eine halbe Stunde von meinem Asyl entfernt, den Sommer über bewohnte.

Das Landhaus war reizend; an einer breiteren Stelle des Thales gelegen, stand es, obgleich in der Entfernung von einigen hundert Schritten von Wäldern umgeben, fast den ganzen Tag weiß und freundlich im Sonnenschein da. Vom Sopha in Othenio's Stube sah man durchs Fenster hinaus in das dichte lebendige Grün der Gartenbäume und weiterhin des hochstämmigen Nadelwaldes. Das Haupteinrichtungsstück der Stube war natürlich ein Flügel, über welchem an der Wand die Bilder Beethoven's, Bach's, Schumann's und Chopin's, der fanatisch verehrten Lieblingsmeister Othenio's, hingen.

In Liebe und Haß ungestüm, sprach Othenio niemals anders als mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit über Kunst und Künstler. Oft spielte er mir auf dem Piano Stücke seiner geliebten Meister vor, überstürzte aber in seinem Feuereifer Alles derart, daß ich selten einen ruhigen und reinen Genuß davon hatte. Er sang mir überdieß Lieder, ja halbe Opern vor, entwickelte aber auch hierbei eine solche Leidenschaftlichkeit, daß das angestrengte Organ ihm in der Regel sehr bald den Dienst versagte und der ganze Rest hernach mehr gekrächzt als gesungen wurde. Das heilige Feuer loderte in ihm so stark, daß er mir oft den Eindruck machte, als könne er jeden Augenblick explodiren, und vor meinen Augen in Rauch und Dampf aufgehen. Auch seine eigenen Klavier- und Gesangskompositionen gab er mir zu hören und ich verfehlte nicht, die wildgährende, wirklich geniale Kraft darin zu bewundern. Aber welchen Anblick bot er selber bei solcher Gelegenheit! »Die ambrosischen Locken wallten ihm vorwärts,« wie dem Zeus bei Homer, fielen über sein Gesicht und bedeckten es, so daß nur die großen, funkelnden Augen dazwischen hervorlugten. Und war er dann so recht im Zug, so sang er, mit dem ganzen Leibe sich im Takte wiegend, die Oberstimme mit, gab bei jeder interessanten Wendung, wenn es ein Orchesterstück war, die Instrumente an, welche hier eintraten, seufzte und ächzte um die Wette mit dem Pianoforte, unter dessen Gedröhne das stille Waldthal erzitterte.

Sein lebhaftes Künstler-Temperament verrieth sich auch in den zum Theil sehr verwunderlichen Anweisungen, die er für den Spieler unter die Noten seiner Compositionen setzte. Da stand z.&#160;B. zu lesen: »entrückt,« – »mit unbändiger Leidenschaft,« – »sich wieder gehen lassend,« – »zuversichtlich,« – »in tollem Rasen,« – »schwülwonnig,« – »schwirrend,« – »wie gestampft,« – an einer Stelle sogar: »mit Ekel.«

Er warf seine musikalischen Eingebungen in genialer Unordnung auf einzelne Blätter, und niemals gab er sich die Mühe, irgend eine Titelüberschrift für ein vollendetes Klavierstück zu ersinnen, sondern setzte lieber einige Verse darüber, die mit der Grundstimmung des Tonstücks in Harmonie standen.

Eines Morgens saßen wir beide, uns sonnend, auf einem niedrigen Zaun, der den großen Hausgarten von dem mit halbwüchsiger Körnerfrucht bestandenen Ackerfelde des Nachbars schied.

Es war ein wundervoller Tag. Wir tranken den Würzeduft der hohen Gräser und Kräuter tief in uns, wiegten uns auf dem Zaune, wie ein paar Hänflinge und sahen der Mutterhenne nebst ihren unzähligen, überaus drolligen Küchlein zu, die sich gackernd und glucksend zwischen den dichten, grünen Halmen des Feldes tummelten. Jenseits des Ackers stand der Wald den Abhang hinan. Hinter den ersten Bäumen sah man eine Gruppe von Soldaten beisammen stehn, auf Blaseinstrumenten tutend. Sie gehörten dem Musikcorps der städtischen Garnison an, und pflegten so ziemlich alle Tage in den Wald zu kommen, um sich da freier zu üben, ohne zu ahnen, daß sie gerade hier einen feinsinnigen Musiker mit ihren nicht immer reinen Tönen in Wuth versetzten.

Othenio runzelte auch schon bedenklich die Stirn, als ein etwa dritthalb Jahr altes Knäblein in Sicht kam, mit einem Kopf, groß und rund wie ein Kürbiß, das Söhnlein des Wirthes in einer nahen Waldschenke. Es war in den Garten hereingetrippelt, stand in einiger Entfernung und glotzte uns an mit einer Kindertrompete in der Hand.

»Der Bube da,« sagte Othenio ernst, »ist auch ein Musikgenie!« – Ich lachte. Othenio fuhr aber lebhaft fort: »Ein Musikgenie! – Jeden Morgen kommt er in mein Zimmer und hört mir sehr aufmerksam zu, wenn ich am Piano sitze und spiele. Findet er mich nicht im Zimmer, sondern etwa im Garten, so wartet er geduldig halbe Stunden lang, steif und stumm auf einem Flecke stehend, wie Du ihn da siehst, die Trompete in der Hand, und läßt mich nicht aus den Augen, bis ich mich anschicke, in meine Stube hinaufzugehen. Dann torkelt er sacht hinter mir drein, die Treppen hinauf, bis an's Piano. Ich spiele ihm hernach meist Schumann's romantische Phantasie, Op. 17, oder die ›symphonischen Etüden‹ vor, denn für die tieferen und grandioseren Arbeiten dieses Meisters scheint er eine besondere Vorliebe zu haben.«

Ich lachte wieder. Aber Othenio wiederholte nachdrucksvoll, in gehobenem Tone: » Eine besondere Vorliebe! Er pflanzt sich neben dem Piano auf, horcht zu, guckt mir bald auf die Finger, bald bückt er sich und richtet sein Augenmerk auf meine Füße und auf das Pedal, als ob er darüber in's Klare kommen wollte, wie und wodurch ich denn eigentlich das ganze Tongebrause zuwege bringe. Die Hände auf dem Rücken scheint er ganz Ohr zu sein; plötzlich aber bringt er eine der auf den Rücken gelegten Hände mit der Trompete zum Vorschein, setzt diese ganz sachte an den Mund und versucht bescheidentlich einen einzigen leisen Ton, ohne Zweifel in dem Bemühen, aus seinem Instrumente doch auch so etwas Aehnliches, wie ich aus meinem Tonwerkzeuge, herauszubringen. Dann hört er wieder zu, immer mit so sinniger, verständnißinniger Miene, lache nicht, ich bitte Dich, – daß ich überzeugt bin, es ist ihm nicht gleichgültig, ob ich ihm Sachen von Gewicht zu hören gebe, oder leichte Salonwaare. Denn als ich neulich versuchsweise einen gewissen banalen Modewalzer anschlug, begann er unruhig zu werden und flüsterte: ›Heimgehen!‹ – Ich mußte ihm die Thüre öffnen und er trippelte mit seiner Trompete von dannen. Ich wiederhole es: Ein keimendes Tongenie! meinen Kopf setz' ich zum Pfande;« – hier faßte mich Othenio scharf und fest ins Auge ob ich nicht etwa lächle – »ich habe mich auch bei den Eltern des Knaben schon erboten, ihn auszubilden für die Kunst. Wenn er nur endlich einmal reden und mich verstehen lernte, der Range!«

»Die Muse der Tonkunst scheint also diesem Thale absonderlich geneigt!« bemerkte ich.

»Ja wohl,« versetzte er. Und nach einer Pause, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, wiederholte er lebhafter und mit einem gewissen mysteriösen Ausdruck: »Ja wohl, lieber Freund, ja wohl! – Du weißt aber noch lange nicht Alles!«

Und nun erzählte er mir mit seinem gewohnten Enthusiasmus allerlei Wunderliches von einer merkwürdigen, geheimnißvollen Stimme, die sich seit einiger Zeit in der Umgegend vernehmen lasse. Von den waldigen Abhängen des Thales herunter und aus den dichtesten Waldgründen heraus, erzählte er, werde zuweilen ein heller Discant vernehmlich, aber nur in abgerissenen Phrasen, oder in lange ausgehaltenen, anschwellenden und verhallenden Tönen, regellos und doch eigenthümlich bestrickend. Diese Stimme mache schon ein gewisses Aufsehen im ganzen Thale; Spaziergänger aus der Stadt, die sie vernähmen, blieben horchend stehn und verlören sich dann im Walde, um dem Ursprunge derselben nachzuspüren. Aber es sei noch Niemandem gelungen, die geheimnißvolle Sängerin von Angesicht zu Angesicht zu schauen, obgleich es auch nicht an wunderlichen, ganz unglaubwürdigen Behauptungen des Gegentheils fehle: die Einen wollten dies, die Anderen Anderes gesehen haben, Holzhauer hätten gar versichert, es sei ein junger Herr, der im Walde so singe und tririllire – er habe sogar schon mit ihnen gesprochen; ein junger Mensch sei es mit langen blonden Haaren – vermuthlich ein Studiosus.

»Man müßte indessen die Ohren eines Holzhauers haben,« fügte Othenio erregt hinzu, »wenn man das Mädchenhafte jener wundersamen Stimme auch nur einen Augenblick zu verkennen im Stande wäre. Und wenn die Stimme wirklich im Zusammenhang stände mit jenem blondlockigen Jüngling, den die Holzhauer gesehen, – was ich dahin gestellt sein lasse – nun, dann ist der Jüngling eben ein verkleidetes Mädchen! Du brauchst den Gesang nur ein einziges Mal zu hören, lieber Freund, um mir vollkommen Recht zu geben!«

Mein eigenes Interesse war durch diese Erzählung in ungewöhnlichem Grade erregt norden, und ich wünschte lebhaft, die räthselhafte Sängerin selbst zu vernehmen, wozu mein Freund mir auch alle Hoffnung gab, wenn ich nur etwas länger bei ihm verweilen wollte.

Er sprach dann wieder viel von seinem dramatisch-symphonischen Tonwerk. Anfangs, sagte er, habe es ihm noch immer an der rechten Inspiration gefehlt. Aber seit jene merkwürdige Stimme sich hören lasse, sei es wie ein neuer Geist über ihn gekommen, sei die Romantik, die Poesie, und fast auch die Liebe bei ihm eingezogen.

Die Sonne war schon hinter den Wipfeln des wie ein grüner Wall jenseits der Thalstraße sich erhebenden Nadelholzwaldes hinabgesunken. Ich war genöthigt aufzubrechen und den Heimweg anzutreten.

Othenio citirte das schöne indische Sprichwort: »Bis an's Wasser muß man geleiten wen man lieb bat!« und ging mit mir bis an den Steg, der den Bach in der Mitte des Thals hart neben der Straße überbrückte. Da blieben wir eine Weile stehen, um Abschied zu nehmen, geriethen aber neuerdings in's Plaudern.

Der Abend war überaus mild und angenehm, die Luft würzig und labend. Im Thale lag schon tiefe Dämmerung, aber weiße Wölkchen, von der scheidenden Sonne rosig angehaucht, flatterten über dem schweigenden Walde.

Da stieg plötzlich aus dem stillen Tannengrunde ein heller, süßeinschmeichelnder Ton wie eine Rakete in die Luft.

Wir verstummten, wechselten einen freudigen Blick und lauschten. –

Die seelenvollen Töne wiederholten sich, steigend, fallend, einzelne Liedphrasen, dann wieder Naturlaute wie der Aufschrei eines Vogels, und doch in eigenthümlicher Weise sympathisch anmuthend – ganz wie mein Freund es beschrieben hatte.

Dann war alles wieder still. »Was hältst Du davon?« fragte Othenio, nachdem eine kleine Zwischenpause vergeblichen Lauschens verstrichen war.

»Es ist die Stimme eines Mädchens,« sagte ich mit Ueberzeugung; »daran ist kein Zweifel«.

Othenio lächelte und verabschiedete sich funkelnden Auges mit warmem Händedruck von mir. Und bevor ich noch aus dem dämmernden Waldthal hinausgelangt war auf den breiten Weg in der Ebene, hörte ich hinter mir den Sturm von gewaltigen und leidenschaftlichen Klängen erbrausen, den der erregte Freund, in's Landhaus zurückgekehrt, in den Saiten seines Flügels entfesselte.

*

Othenio versäumte nicht, im Laufe der nächsten Woche mir fleißig weitere Nachrichten von der Waldsängerin zu geben, und häufig genug klirrte auch der Sandwurf aus seiner Hand an mein Fensterchen in vorgerückter Sommernachtstunde. Seine Versuche, der Geheimnißvollen auf die Spur zu kommen, blieben noch immer vergeblich.

Ließ er an einer einsamen Stelle im Walde sich nieder, so wurde die Stimme oft auf einmal ganz in der Nähe vernehmlich. Oder sie klang aus der Ferne, und kam näher, und entfernte sich wieder, schien ihn neckisch zu fliehen, sobald er mit ungestümer Hast sich anschickte, sie zu verfolgen. Bald klang sie aus Schluchten oder tiefem Dickicht, bald wieder von sonnebeglänzten, mit niedrigem Gebüsch bedeckten Hängen herunter.

Ganz und gar war sie der schalkhaften Nymphe Echo zu vergleichen, die sich hier und dort vernehmen läßt, die man aber vergebens zu haschen sucht.

Aber daß sich das geheimnißvolle Wesen zu dem jungen Tonkünstler in eine Beziehung setze, war kaum mehr zu bezweifeln.

Aus den abgerissenen Melodiephrasen der Sängerin hörte er unverkennbar Stimmen der Sehnsucht, der Liebe heraus, die sich an ihn zu wenden schienen, die ihm klangen, als würden sie ihm vertraulich in's Ohr geflüstert und die unmittelbar zu seinem Gemüthe sprachen.

Zuweilen fing er solche Phrasen am Piano auf, ergänzte sie, setzte sie fort, variirte sie, gestaltete sie zu reizenden Phantasien. Wie Schumann sich wohl auch ein Thema von seiner geliebten Clara geben ließ, um es nach allen Regeln der Kunst auf's schönste auszuarbeiten, so verfuhr Othenio mit Themen seiner geliebten Waldsängerin.

Dafür scholl ihm dann auch manches mal ein warmes »Sei bedankt, du lieber Schwan!« oder sonst ein entsprechendes Liedfragment zurück, ein hingeworfenes Arienmotiv, aber stets ohne Worte.

Er suchte auch durch ganz besonders herzgewinnende, zärtliche Weisen, wenn er die Waldsängerin in der Nähe wußte, die Aufmerksamkeit derselben zu erregen. Das Henselt'sche » Si oiseau j'etais«, und die Ges dur-Etüde (aus Opus 25) von Chopin, sowie die Nummer 2 aus dem zweiten Heft des damals eben erschienenen »Buch's der Lieder« von Robert Volkmann, ließ er mit besonderer Vorliebe bei solcher Gelegenheit von seinem Piano in die Stille des Waldthals hinauserklingen, wiederholt versichernd, diese drei Klavierstücke seien unbedingt die reizendsten, entzückendsten, die es gebe, wenigstens für Liebende. Er spielte sie gern in der hier gegebenen Ordnung hinter einander, indem er behauptete, sie bezeichneten auf's schönste den Stufengang der Liebe: holde Schwärmerei, muthiges, ahnungsvolles Liebewerben, brünstige Liebesentzückung.

Selbstverständlich versäumte er auch nicht, Melodien zu spielen und zu singen, deren bekannter Text zu unmittelbarer Verständigung dienen konnte, so daß er im Stande war, der geheimnißvollen Freundin ganz bestimmte Dinge zu sagen, und da er seinerseits bald jeden Ton der Waldsängerin zu deuten wußte, so spielte in Fragen und Antworten, Reden und Gegenreden ein kleiner Roman für ihn sich ab, in welchem es sogar an kleinen Eifersüchteleien, an zärtlichem Schmollen und Grollen, an Vorwürfen und Wiederversöhnungen nicht fehlte.

Eines Tages polterte er, wieder athemlos und in Schweiß gebadet, in mein Gemach und berichtete mir, er habe – sie gesehen!

In die Stadt sei er morgens gegangen, erzählte er, und habe, durch die Hauptstraße schlendernd, ein Mädchen erblickt, dessen wunderbares Auge einen Moment lang mit unbeschreiblicher Innigkeit dem seinigen begegnete, das aber, als er es schärfer ansah, mit sanftem Erröthen sich abwendete und seine Schritte beschleunigte.

»In meinem Herzen,« sagte er, »jubelte es: Das ist die Waldsängerin! Ich konnte nicht einen Augenblick zweifeln. In den Augen dieses Mädchens lag die schöne, unwiderlegliche Bestätigung alles dessen, was mir die geheimnißvolle Stimme im Walde zugeraunt, zugesungen und zugejauchzt! Es waren dieselben Worte, dieselben Dinge, in die Sprache der Augen übersetzt! Ich folgte dem Mädchen, sie schlug den Weg gegen den Markt ein, der leider eben von Menschen wimmelte. Plötzlich fuhr mir der Hund einer Hökerin, ein verdammter häßlicher Köter, dem ich im Gedränge vielleicht auf den Schwanz getreten, bellend gegen die Wade und verbiß, als ich mit einem Fußtritt ihn abwehrte, sich in das Tuch meines Beinkleids; die Hökerin selbst erhob ein Gezeter und erging sich zuletzt meinen Flüchen gegenüber in Schmähworten, eine dichte Gruppe von Gaffern wuchs aus dem Boden und grinste – es war zum Tollwerden! Endlich brach ich mir Bahn durch die Menge, aber die Fährte des Mädchens war verloren, unwiederbringlich verloren – Straßen auf, Straßen ab rannte ich wie besessen – vergebens!«

»Blinder Eifer schadet nur!« versetzte ich mit der überlegenen Ruhe und skeptischen Besonnenheit, in welcher die Freunde eines Verliebten sich zu gefallen pflegen. Aber Othenio hatte nur ein Lächeln für meinen Gemeinplatz, und wiederholte an den folgenden Tagen fleißig seinen Morgenspaziergang durch die Straßen der Stadt. Es gelang ihm vorläufig nicht wieder, des Mädchens ansichtig zu werden. Er mußte sich nach wie vor begnügen, ihrer Stimme im Walde zu lauschen, sich in Klängen mit ihr zu unterreden. War er nun doch schon so weit, daß die Holde ihm überall entgegenkam, aus allen Sternen ihm winkte, aus allen Blumen ihm lächelte, aus allen Wassern ihm rauschte ....

Süß und schmerzlich war es ihm zugleich, unablässig auf ihrer Spur zu sein und zuletzt doch immer wieder enttäuscht zu werden, wenn er das schöne Bild haschen wollte.

In meiner Liedermappe fand er einige Strophen, die er mit großer Freude aufgriff, sofort in Musik setzte und nicht müde werden konnte zu singen:

Suchte lange dich im Walde,
Wähnte schon dein Kleid zu sehen,
Doch es war nur einer Taube
Weißer Flügel im Gebüsch.

Wähnte deinen Gruß zu hören;
Doch es war nur das Geflüster
Eines Bächleins, das, mit Blumen
Plaudernd, über Kiesel rann.

Zwischen Zweigen sah ich blendend
Deine gold'nen Haare blinken:
Doch es war ein Sonnenblitz nur,
Der sich durch die Wipfel stahl.

Und ich glaubte schon zu wittern
Deines Odems wonnig Wehen:
Ach, ein Hauch nur, duftbeladen,
War's, der von den Linden kam.

Sank zuletzt in süße Träume,
Träumte deinen Kuß zu spüren:
Aber ach, es war der Lenz nur,
Welcher lächelnd mich umfing.

Was der zarte Liebesroman dem jungen Künstler an Zeit raubte, das gab er ihm an Stimmung zurück. Die Komposition von »Tristan und Isolde« nahm bei allem far niente amoroso des Tondichters einen erstaunlich schleunigen, gedeihlichen Fortgang.

So verstrichen wieder ein paar Wochen; da kam Othenio mit neuer Kunde zu mir, fieberisch erregt wie immer. Er trug einen halbwelken Strauß in der Hand, den er mir von Weitem entgegenhielt.

Gelegentlich wieder die Spur der Sängerin im Walde verfolgend, hatte Othenio einen Jüngling bemerkt, der, vom waldigen Abhange herabkommend, den Thalweg einschlug, offenbar um in die Stadt zurückzukehren. Dieser Jüngling entsprach auffallend der Beschreibung, welche die Holzhauer von dem jungen Menschen gemacht hatten, den sie im Walde gesehen, und von dem sie behaupteten, daß er der Besitzer jener feinen, hellen Stimme, die man in der Umgegend aus dem Walde heraus vernehme.

Es dunkelte bereits, und Othenio konnte das Gesicht des in ziemlich weiter Entfernung vor ihm Einhergehenden nicht sehen; aber das lange, blonde Haar, die feinen, schlanken, durchaus weiblichen Formen, Gestalt, Größe, Haltung, erinnerten ihn an das Mädchen, das er in der Stadt bemerkt und über den Markt verfolgt hatte.

Fest entschlossen, der räthselhaften Erscheinung bis in die Stadt, bis an's Thor ihrer Behausung zu folgen, hielt er sich im Uebrigen absichtlich in der gemessenen Entfernung von ihr, mit Recht besorgend, daß sie, wenn sie ihn gewahr würde, nicht Stand halten, sondern ihm gelegentlich entwischen würde.

Einmal schien es Othenio, als ob der Jüngling sich flüchtig umgesehen hätte, und als ob er darauf seinen Weg mit etwas beschleunigten Schritten fortsetzte.

Nach einiger Zeit ließ derselbe einen Blumenstrauß fallen, den er bis dahin in der Hand getragen hatte.

Othenio's Herz begann zu pochen, und nachdem er die Stelle erreicht hatte, wo der Strauß am Boden lag, bückte er sich und hob denselben mit Andacht auf, wie ein Heiligthum, als ein holdes Liebeszeichen, das, wie er wohl merken mußte, nicht so von ungefähr in den Staub der Straße gefallen ....

Die Seele geschwellt von Liebesentzücken, blies er den Staub von dem Strauße und steckte ihn vor seine Brust.

Als dann aber wieder sein Blick die Mädchengestalt im Jünglingsgewand suchte, die durch das Thal vor ihm hergeschwebt, da war sie verschwunden.

Sie mußte rechtshin in die Büsche geschlüpft sein, die noch hart vor dem Ausgange des Thales vom Berghang sich bis zum Thalweg herunter erstreckten.

Vergebens warf er sich selbst auch in's Dickicht; die Schatten der sinkenden Nacht vereitelten seine Bemühungen und er mußte nach einer halben Stunde vergeblichen Umherstreifens sich auf den Heimweg machen.

Aber nicht ohne die süße Trophäe des Waldblumenstraußes! – Er zog denselben immer wieder aus seiner Brust hervor, wies mir ihn und küßte ihn vor meinen Augen wiederholt.

»Was zum Teufel aber mag sie veranlassen,« rief er aus, »ihre Person so hartnäckig vor mir zu verbergen? mich anzulocken, und sich mir doch stets zu entziehen? Wozu diese geheimnißvolle Vermummung?«

Und nun erging er sich in allen möglichen romantischen Vermuthungen über die Absichten, die das Mädchen haben konnte, sich in männlicher Verkleidung zu zeigen.

»Wenn sie nun einmal die romantische Passion hat,« sagte ich, »singend durch die Wälder und durch die Thäler zu schweifen, so liegt es doch nahe genug, daß sie sich in männliche Kleider steckt, um unbekümmert und unbehelligt zu bleiben!« –

Ich war recht gespannt darauf, wohin das Alles noch führen sollte.

*

Ein paar Tage verstrichen, und ich lag eben im tiefsten Mitternachtsschlaf, als ein starkes Geklirr des Fensters mich aufschreckte – Othenio stand draußen und diesmal war unter seinem ungeduldigen Sandwurf die Fensterscheibe in Trümmer gegangen. Aber die Ungeduld des Freundes war diesmal auch mehr als je zu entschuldigen. War er doch in der glücklichen Lage, mir zu berichten, daß er der völligen Enthüllung des Geheimnisses wieder näher, ja ganz nahe gekommen. Soviel erfuhr ich noch am Fenster; jetzt ging ich zu ihm hinunter, wir begaben uns in das nahe, monderhellte Wäldchen, und da begann er wie folgt:

»Ich schlenderte,« sagte er, »von einem unbestimmten, räthselhaften Drange getrieben, wieder in den Straßen der Stadt umher. Plötzlich – denke Dir mein freudiges Erschrecken! – erblicke ich dicht vor mir die nun schon wohlbekannte, liebe Gestalt der Waldsängerin in ihrer Verkleidung! fast in demselben Augenblick aber verschwindet sie auch schon im Thor eines Hauses. Ich schlüpfte rasch in dasselbe Haus, natürlich entschlossen, ihr bis an die Thür der Wohnung zu folgen. Ich trete so leise als möglich auf – sie sieht sich glücklicher Weise nicht um – hatte offenbar keine Ahnung davon, daß ich hinter ihr her sei. So geht es aufwärts, drei Treppen hoch, raschen Schrittes geht sie auf eine Thür zu, die sie öffnet, und hinter welcher sie alsbald meinen Blicken entschwindet. Ich sehe nach der Nummer der Thür und präge sie meinem Gedächtnis; ein. Dann spähe ich nach Personen aus, bei welchen ich nach Namen und Stand der Bewohner des Quartiers, in welchem das verkleidete Mädchen verschwunden war, mich hätte erkundigen können. Ich bemerke Niemand in dem geräumigen, aber ziemlich leeren und öden Hause. Ich sehe mich also, nachdem ich die Treppe wieder hinuntergestiegen, nach der Zelle des Hausbesorgers um, krieche in alle Räumlichkeiten und Winkel des Erdgeschosses, lange vergebens. Endlich gerathe ich an eine steil abwärtsführende, sich in vollkommener Finsterniß verlierende Treppe, auf welcher ich ein paar Dutzend Stufen mehr hinunterfiel als ging. Aber in der finstern Tiefe angelangt, erblicke ich von der Seite her einen schwachen Lichtschein, einfallend durch eine schmutzige Glasthür, hinter welcher Gestalten von plebejischem Aussehen in einer engen, raucherfüllten Stube sich wie im Nebel hin- und herbewegen. Ich stürze mich unverweilt in das Gemach, wo ich im Halbdunkel einigen sich am Boden wälzenden Kindern auf den Bauch zu treten Gefahr laufe, und wende mich an ein hexenhaftes Weib, das eben den Boden fegt und mir mit ihrem Besen eine Wolke übelduftenden Staubes entgegenwirbelt!

›Wollten Sie nicht die Gefälligkeit haben, gute Frau, mir zu sagen, wie der Name des Fräuleins ist, das hier im dritten Stockwerk, Nr. 17, wohnt?‹

›Im dritten Stockwerk? Nummer 17? warum?‹ schnarrte das Weib mit widriger Nasenstimme und maß mich dabei mit stechenden Augen wie einen Verdächtigen.

Ich fühlte, daß mir das Blut in die Wangen schoß, hatte aber doch noch so viel Geistesgegenwart, meine Geldtasche hervorzuziehen, und dem hexenhaften Weibe die darin befindlichen drei kleinen Silberstücke auszuliefern.

›Nummer 17? im dritten Stockwerk?‹ schnarrte sie wieder, aber ohne die stechenden Blicke, › da wohnt das Fräulein Mathilde ....‹

Sie war, glaub' ich, im Begriff, auch den Familiennamen des Mädchens zu nennen, aber in diesem Augenblick hatte der größere von den beiden verwünschten Rangen, die sich am Boden balgten, sich aufgerafft, und leerte mir mit tückischem Lachen ein Gefäß mit Asche oder Sand oder was es war, in den Hut aus, den ich, mit der Oeffnung nach oben, in der Hand hielt! Gleichzeitig brach das übrige Kindergezücht aus allen Winkeln der Stube in ein so infernalisches Halloh, Gelächter und Gelärm aus, daß ich allen Muth verlor, noch weitere Fragen zu stellen und schleunig meinen Rückzug antrat. – Aber ich bin im Allgemeinen doch zufrieden, sehr zufrieden mit den Ergebnissen und Fortschritten dieses Tages! Ich kenne ihren Aufenthaltsort – ich weiß ihren Rainen! Mathilde! schon dieser Name macht mich glücklich – unbeschreiblich glücklich! – Alles Weitere ergiebt sich nun von selbst, und ich wüßte nicht, wie sie meiner Annäherung jetzt noch länger ausweichen könnte!« –

Othenio war auch nicht träge, sich seine letzte Errungenschaft und Entdeckung zu Nutze zu machen. Er ging unzählige Mal an jenem Hause vorüber und blickte nach dem Fenster des Quartiers hinauf, das die Geheimnißvolle barg. Wiederholt hatte er die Freude, den Kopf des Mädchens zwischen den Blumentöpfen am Fenster zu erblicken, und er schwelgte im Anblicke von geliebten Zügen, die er freilich nur sehr undeutlich, nur im allgemeinen Umriß sah, die aber sein liebendes Herz ohne Mühe ergänzte und wonneselig ausschmückte mit dem Zauber der glühendsten Farben.

Als ich Othenio kurz darauf besuchte, spielte er mir eine Reihe von wahrhaft genialen Clavierstücken vor, die er in wenigen Tagen componirt hatte, und die mich durch Originalität sowohl als Gefühlstiefe entzückten. Er zeigte mir auch eine besonders zierliche Abschrift davon in prächtigem Einband; sie trug auf dem Titelblatte, von Waldblumen»Arabesken umrahmt, die Widmung:

»Meiner geliebten Mathilde!«

»Das Heft ist bereits in ihren Händen!« sagte er mir am nächsten Morgen mit leichtem Erröthen, während zugleich ein gelindes Zittern der Erregung und der gespannten Erwartung ihn überlief.

»Du hast es ihr gesendet?« fragte ich.

»Nichts selbstverständlicher als das!« versetzte er. »Ich sandte das Heft ›an Fräulein Mathilde‹ mit genauester Bezeichnung ihrer Adresse. Und – es wurde auch angenommen! Es lag aber auch ein Schreiben dem Hefte bei – ja, ein Schreiben an Mathilde, liebster Freund, nicht zu wenig sagend von idealen und nicht zu viel von prosaischen Dingen, ohne Nennung von Namen – die Antwort erbeten unter der Chiffre » L.B. poste restante«. Sie soll nur selbst errathen, daß der Uebersender identisch mit dem Freunde aus dem romantischen Waldesthal! Und nun kann jeder Augenblick mir die ersehnte Antwort bringen! Du begreifst – ich glühe! ich lodere!« –

Ich besuchte jetzt Othenio fast täglich selbst, weil er mir nicht blos vorschwärmen, sondern auch vormusiciren wollte. Die Sommertage, so lang sie waren, vergingen rasch.

Eines Tages aber hinderte mich am Ausgehen der gewitterdrohende Himmel, der nach einem äußerst schwülen Vormittage sich ganz mit finsterem Gewölk umzog. Bald darauf entlud sich auch die Spannung der Luft bereits in Blitzen und krachenden Donnerschlägen, während zugleich der Regen prasselnd niederging.

Mitten in diesem Toben der Elemente klopfte es an die Thür meines Dachstübchens und – Othenio trat herein.

Seine Kleider troffen vom Regen.

» Sie hat geantwortet!« rief er und fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes, wie um etwas daraus hervorzuholen – zog sie aber im selben Augenblicke leer wieder zurück, erblaßte, erröthete, und zeigte eine Miene, in welcher die äußerste Bestürzung und leidenschaftlicher Aerger sich malte, während zugleich ein gelinder Fluch seinen Lippen sich entrang.

»Was ist Dir?« fragte ich betroffen.

»Ich glaubte den Brief zu mir gesteckt zu haben,« stieß er hervor, »und habe ihn in der Eile des Aufbruchs auf meinem Pulte liegen gelassen!« –

»Nun, so erzähle mir indessen nur mündlich ...« begann ich beschwichtigend.

» Du mußt ihn lesen!« rief er, griff nach meinem Regenschirm, der in der Ecke stand, stürzte sich mit demselben hastig in den prasselnden Gewitterregen hinaus, und ich fand gar nicht Zeit, ihm zu sagen, daß an dem Schirm ein paar Stäbe gebrachen und derselbe im Augenblicke gar nicht zu gebrauchen sei.

Nach einer halben Stunde kam er zurück, den Brief in der erhobenen Rechten.

»Lies!« rief er, und übergab mir das Papier.

Ich las. Es war ein überschwänglicher, räthselhafter Brief. Es kostete mich einige Mühe, mich in die Stimmung hineinzuversetzen, aus welcher heraus derselbe geschrieben war. Er lautete:

»Lieber, Herrlicher! Die Seufzer aus meiner Brust haben ein Echo erweckt, das mich verhöhnt. Du bist es nicht, der mich verhöhnt, aber das Schicksal. O, gewiß ist alles nur ein Traum! Oder nicht? Warum kamst Du, ach, so spät, Du Theurer, Wunderbarer? Zwar mir lebtest Du schon lange, und so herrlich-schön lebtest Du mir, lange bevor Du kamst, und nie warest Du mir ein Fremder! Und nur durch Dich ist seit Langem die häßliche Zeit mir lieb und schön. O Deine Töne – Deine Melodien! Du Reichster, ist nicht arm ein Jeder, der Dir naht – und nun erst ich? Ich würde mit Lust vor aller Welt zu Deinen Füßen hinknieen, könnte ich Dir so zeigen, wie heilig Du mir bist! Die Töne sind zwischen uns hin- und hergegangen, lange bevor Du kamst, und ich schwelge in ihnen Tag und Nacht, Du Wunderbarer! Aber ich bin sehr unglücklich, weil Deiner viel zu wenig werth, und rettungslos schmacht' ich im schnöden Joche des Alltagslebens. Ich kränze mich mit Blumen als Deine Braut, aber ich verschmachte, welke und sterbe früher noch, als die Blumen, wenn Du mich nicht rettest durch Deine Liebe, Du Hoher, Herrlicher! Das Leben ist hart, und könnte so wonnereich sein und köstlich!

Ewig Deine Mathilde.«

»Ist das Wahnwitz,« sagte ich kopfschüttelnd, nachdem ich den Brief erst still, dann laut für mich gelesen; »ist's Wahnwitz, oder ist's Poesie?«

» Liebe ist's,« versetzte Othenio und sein Auge flammte.

»Sehr überspannt!« warf ich ein. »Du hast ihr's angethan, mit Deinem Pianofortespiel inmitten der Waldstille, mit Deinen Tristan- und Isolde-Phantasien, mit Deinen ›Tönen,‹ wie sie es Dir angethan hat mit den ihrigen. Aber das Schreiben bleibt doch immer höchst sonderbar und räthselhaft, an manchen Stellen geradezu unverständlich.«

»Aber sind darin nicht Urlaute tiefster, idealster Empfindung?« fragte Othenio; »ist das alles nicht durchweht von einem ganz wunderbaren, seelischen Arom?«

Ich gab es zu. Ein origineller, wundersamer Gemüthston klang unleugbar hier und da aus dem seltsamen Schriftstück.

Jetzt begann Othenio die einzelnen Ausdrücke des Schreibens zu kommentiren, Charakter und Schicksal der Schreiberin daraus zu entziffern. Der fast bis zum Wahnwitz gesteigerte Liebesenthusiasmus des Mädchens machte ihn schwindeln, ihre Schwärmerei für seine Kunst, für seine Tonphantasien, für sein Pianospiel berauschte ihn. Und ihre seltsamen Klagen zerrissen ihm das Herz! Daß sie in schnöden Banden seufzend nach Erlösung schmachte – das legte der Brief ihm nahe genug.

»Sie seufzt nach Erlösung,« rief er, indem er mit großen Schritten im Gemache auf und nieder ging, bald zu mir gewendet, bald wieder wie im Selbstgespräch – »wenn ich sie nicht rette, nicht retten kann – o, ich schaudere es zu wiederholen, was sie selber sagt: sie stirbt! – Sie liebt mich, daran kann ich nicht zweifeln, schwärmerisch, abgöttisch! – Ich schwöre darauf, sie ist das edelste Frauenwesen, das je geathmet! Und denken zu müssen, daß sie vielleicht auch das unglücklichste ist! – Diese Begeisterung für mich, für meinen Genius, was ist sie anders, als ein Beweis innigster, wunderbarster Seelenverwandtschaft? – Kein göttlicheres Entzücken kann ich mir denken, als einmal ein Weib in meinen Armen, an meinem Herzen zu halten, das mich als Künstler enthusiastisch verehrt, anbetet, dessen Seele mit der meinigen himmlisch ineinanderschmilzt! – Und ich sollte nicht alles daran setzen, daß Mathilde mein werde? Alles will ich zum Opfer bringen, Jugend, Freiheit, Unabhängigkeit, für sie! – Wär' ich schon Herr des Wenigen, was mir von dem Tage meiner Großjährigkeit an zufällt, sie wäre vielleicht zu retten! – Und sie muß gerettet werden!« –

» Wie aber?« wagte ich hier ihn zu unterbrechen.

»Habe ich mich das nicht auch gefragt?« versetzte er, und warf sich neben mir auf einen Stuhl nieder. »Ich bin in acht Tagen erst zweiundzwanzig Jahre alt – ich bin mittellos ...«

»Das ist's!« sagte ich. »Deine Absicht ist schön und groß. Aber kannst Du ... darfst Du ...«

»Ach, was dürfen! können!« – rief er und sprang heftig wieder auf, »ich muß, Freund, ich muß – verstehst Du? Ich bin genöthigt – o, es klingt so abscheulich prosaisch, und doch muß es sein – ich bin genöthigt Geld zu schaffen! wir wollen ja leben, leben! Bisher schwärmte ich so hin in sorgenloser Existenz – das ist zu Ende. Ich muß fort, muß einen Beruf ergreifen ...«

»Aber welchen?« warf ich wieder ein.

»Dafür,« gab er zurück, »ist mir nicht bange. Die Welt steht mir offen. Hundert Möglichkeiten bieten sich mir statt einer. Ich kann als Musik-Kritiker bei einem großen Blatte Stellung suchen, oder als Liedertafel-Dirigent, oder als Hofkapellmeister in einer kleinen deutschen Residenz, oder als Dozent für Musikgeschichte an einer Universität, und im Nothfall, das schwör' ich, werde ich mich lieber als Musiklehrer verdingen oder als Geiger im nächsten besten Theaterorchester unterkriechen, als Mathilden schmachten lassen in unwürdigen Banden!«

Von so übereilten Entschlüssen suchte ich ihn zur Besonnenheit zurückzuführen; aber er ließ nicht mehr mit sich reden.

Tagelang saß er am Piano und phantasirte über Themen wie: »O Mathilde!« »Reich' mir die Hand mein Leben!« und dergleichen.

Er schrieb noch einmal an die Geliebte. Er drang in sie um weitere Enthüllungen. Aber seine Herzergießungen mögen nicht weniger wunderlich, nicht weniger unklar ausgefallen sein, als die er zur Antwort erhielt, und aus welchen noch immer nicht mehr zu entnehmen war, als daß dem »Hohen, Herrlichen« der volle Strom fast mystischer Innigkeit aus einer schwärmerischen und von Leid gebeugten weiblichen Seele entgegenschäumte.

So ging noch etwa eine Woche hin, als die Sache plötzlich eine andere, sehr traurige, ja tragische Wendung nahm.

Ich erhielt ein paar, mit zitternder Hand flüchtig hingeworfene, kaum lesbare Zeilen von Othenio. Er war krank, bat mich eiligst zu kommen, hatte mir eine niederschmetternde Nachricht mitzutheilen.

Ich eilte zu ihm und fand ihn im Bette, vom Fieber geschüttelt.

» Sie ist todt!« sagte er.

»Mathilde?« rief ich erschrocken.

Er wandte sich ab. Thränen erstickten seine Stimme und eine lange Zeit verstrich in düsterem Schweigen.

»Sie ist todt!« wiederholte er nach einer Weile, richtete sich im Bette halb empor und warf sich, als ich in herzlicher Theilname mich zu ihm neigte, von Neuem schluchzend an meine Brust.

Hiernach begann er, noch immer halb aufrecht, erst in mattem Tone, bald aber mit der gewohnten Lebhaftigkeit zu erzählen.

»Als ich gestern Nachmittags,« sagte er, »an jenem Hause wieder vorüberging, um zum Fenster hinaufzusehen und von ihr, wo möglich, etwas zu erspähen, fand ich vor dem Eingange eine Anzahl von Leuten, wie zu einem Begräbniß versammelt.

Ich benutzte diesen Anlaß, gleichfalls vor dem Hause stehen zu bleiben, und hörte gleichgültig die Reden der Leute rings um mich.

Plötzlich schlugen die Worte an mein Ohr: › Das arme Fräulein Mathilde!‹ –

Es war eine ältliche, ärmlich gekleidete Frau, die zu einer andern diese Worte sprach.

Ich horchte hoch auf, während mir ein krampfhaftes Beben durch den Körper lief.

›Nun ist sie erlöst!‹ fuhr die Frau fort.

›Eingegangen zu einem besseren Leben, nachdem sie in diesem wenig Gutes genossen!‹ sagte die andere.

›Ueberspannt war sie freilich immer,‹ begann wieder die erstere, ›aber ein gutes Herz hatte sie, ein engelgutes Herz. Wie hat sie gedarbt und gesorgt und sich geopfert für den jungen Menschen, ihren Verwandten, der leider zu nichts Rechtem taugt!‹

›Der einzige Trost, den sie hatte, war die närrische Liebe zu ihrem Musikus‹ ....

›Ja wohl, aber diese närrische Liebe gab ihr auch den Rest, so daß sie nur noch so hinschmachtete und zuletzt plötzlich verlöschte wie ein Licht!‹

So ging das Zwiegespräch noch eine Weile hin und her. Ich erstarrte förmlich, und zugleich war mir, als fühlte ich plötzlich das Drehen des Erdballs unter meinen Füßen ....

Jetzt wollte ich die Stiege hinaufeilen, – da brachte man sie schon getragen.

Der einfache Sarg wurde auf die Bahre gehoben, und als ich mich umwandte, sah ich auch schon den Priester im Chorrock dastehen, und den Küster an seiner Seite, und es begann die Einsegnung unter den ernst und feierlich klingenden Sprüchen des Ritus. Die wenigen, meist ärmlich aussehenden Leute standen still und stumm dabei, nur einen jungen Menschen hörte ich laut schluchzen, er stand aber so entfernt von mir, mitten unter den Uebrigen, daß ich nur seinen Kopf sehen konnte und nicht einmal sein Gesicht, denn er verbarg es unter strömenden Thränen mit seinem Taschentuch.

Nun erklang's aus dem Munde des Priesters zum Schluß:

Et lux aeterno luceat ei!

Worte, die auf mich von jeher, wegen ihres schönen und tiefen Sinnes, immer einen eigenthümlichen, ergreifenden Eindruck machten.

Diesmal aber rührten und erschütterten sie mich so sehr, daß mich nach der Betäubung, ich möchte sagen Erstarrung, in der ich mich bis dahin befunden, ein plötzlicher Krampf des Schluchzens erfaßte, welcher die verwunderte Aufmerksamkeit der Leute um mich her erregte.

Ich stürzte hinweg, und zugleich kam mir der Gedanke, schleunigst einen Immortellenkranz zu kaufen, dann dem kleinen Trauerzuge nachzueilen, und diese letzte Spende auf das Grab der geliebten Todten zu legen.

So einfach im Uebrigen das Leichen-Begängniß war, fehlte es doch nicht an einer kleinen Musikkapelle, und der Trauermarsch, unter dessen Klängen sich der unansehnliche Zug in Bewegung setzte, erscholl hinter mir her, während ich die nächsten Straßen durcheilte. Dünn und armselig klang die Musik, aber in mir baute, während ich so hinlief, um einen Kranzladen zu erreichen, das Thema sich auf zur gewaltigsten Schmerzessymphonie. Ich glaubte den Trauermarsch noch immer zu hören, als ich längst außerhalb des Bereichs der Töne war, und so großartig erweiterte und beseelte sich mir das einfache Motiv, daß es Beethoven'schen Riesenschwung gewann, aber freier und freier gestaltete es sich, verwandelte sich in neue gewaltige Tongebilde, bis zuletzt das hehre › Et lux aeterno luceat ei‹ als wunderbarer Riesen-Choral meinem inneren Ohre erscholl, wie der berühmte Hymnus am Schlusse der › neunten‹ ....

Ich erreichte endlich den Laden, erstand einen Kranz, warf mich in einen Wagen, fuhr auf den Friedhof und legte die Todtenspende auf das Grab in dem Augenblicke, als eben die Schollen auf den Sarg hinuntergekollert waren und sich darüber zum Hügel gerundet hatten. Aber die blöde Verwunderung der Umstehenden trieb auch von da mich alsbald wieder fort, und nur erst zu Hause, in meinem Gemache angelangt, war ich im Stande, dem ungeheuren Schmerze ganz und ohne Rückhalt mich hinzugeben.«

So erzählte Othenio.

Mir war es klar, daß diese ganze Schicksalswendung, ob auch erschütternd, doch segensreich und fruchtbar für meinen Freund ausfallen müsse. Ich sagte ihm das mit warmen herzlichen Worten. Ich führte ihm zu Gemüthe, daß die Weihe der Entsagung und des Schmerzes sein Künstlerthum läutern und verklären werde.

Othenio war nicht unempfänglich für diesen Trost. Der starre, herbe Schmerz löste, während ich zu ihm sprach, sich in Rührung und Wehmuth auf und in einer linden Thränenfluth machte sein gepreßtes Herz sich Luft.

Dann raffte er sich plötzlich auf, sprang vor meinen Augen vom Lager herab und erging sich in begeisterten Plänen, wie er das Andenken der Theuren verherrlichen wolle, wie er sich verwandelt, gehoben, gereift fühle, in seinem tiefsten Innern durch dieses Erlebniß.

Wir sprachen noch lange von dem was die nächste Zukunft bringen sollte. Er wollte zunächst sein großes, dramatisch-symphonisches Tonwerk vollenden, dann auf Reisen gehen, die Welt sehen, Verwandte in Rußland besuchen.

*

Ich machte mich auf den Heimweg. Der Sonnenball hing nur mit seinem obersten Rande noch über den Wipfeln. Sinnend schritt ich durch das Gehölz einen rauhen und ziemlich abschüssigen Weg empor. Es war ganz still und einsam um mich, nur der Abendwind säuselte in den Espen zu beiden Seiten des Weges.

Ich schlenderte langsam so hin, das Haupt gesenkt, in tiefen Gedanken an Othenio.

Auf einmal drang zur Rechten aus dem Walde, und zwar aus ziemlich weiter Entfernung, wie es schien, ein Ton zu mir, leise beginnend, allmälich wachsend – dann einzelne hohe Töne mit fast klagendem Accent, wie Rufe eines nächtlichen Vogels aus des scheidenden Tages auffing, während die Thäler schon im tiefsten Schatten lagen, klang mir jetzt aus einer Gruppe von Bäumen, die ziemlich dünn standen, plötzlich wieder die Stimme.

Ich schlich mich näher, wohl bedacht, Geräusch zu vermeiden, als die Töne wiederum einhielten.

Jetzt sah ich einen jungen Menschen in leichtem Sommeranzug zwischen den Bäumen auf und abgehen. Ich achtete anfangs nicht auf ihn, denn ich suchte die Sängerin.

Plötzlich erklangen die bekannten Töne von Neuem. Aber sie kamen von der Stelle, wo der Jüngling auf und niederwandelte. Ich rückte mein Augenglas zurecht – »Alle Wetter! die Stimme kommt doch nicht etwa von dem jungen Menschen im lichten Sommeranzug dort?« so fragt' ich betroffen.

Allerdings – sie kam von ihm.

Es war ein Bürschchen, fast weibisch von Ansehen, blondhaarig, bartlos, und doch nicht allzu jung. Gleich wieder schoß mir's durch den Kopf: ein verkleidetes Mädchen! –

Ich war mittlerweile dem Sänger in den Rücken gekommen, hatte ihn umgangen; jetzt wendete er sich zufällig, und gleich darauf sah ich ihn auf dem Punkte, zwischen den dichteren Bäumen sacht zu verschwinden. Aber ich benutzte meine Position und versuchte ihn gegen den gebahnten Weg hinzudrängen, den er dann wirklich einschlug, wie mit einer Art von Resignation, als merke er, daß ich ja doch nicht mehr, wohin er sich auch wende, von seiner Spur abzulassen gesonnen sei.

Ich wollte, mußte ein Gespräch mit ihm anknüpfen.

Das seltsame Persönchen ging nun nicht mehr singend, sondern, als wollte es seine frühere Schüchternheit durch um so größere Dreistigkeit vergessen machen, pfeifend seiner Wege.

Jetzt war ich dicht hinter ihm – jetzt an seiner Seite. Ich bot ihm lächelnd einen guten Abend und machte ihm ein Compliment über den schönen Sopran, über den er verfüge, und der Alle hier in der Gegend seit geraumer Zeit in Verwunderung, Zweifel und Unruhe versetzte.

Der junge Mensch erröthete tief, in großer Verlegenheit, was ich begreiflich fand. Ich fand das Erröthen ganz mädchenhaft; aber ich durfte, obgleich ich etwas wie Mitleid fühlte, keine Schonung üben; ich war es meinem Freunde schuldig, die letzte Hülle von diesem verschleierten Bilde zu reißen.

Ich ergriff die Hand des Jünglings und flüsterte ihm ins Ohr: » Fräulein Mathilde

Ein verwunderter Blick war die Antwort. Ich wiederholte noch ein Mal: » Fräulein Mathilde

Er erröthete jetzt wieder, aber mehr verblüfft und unwillig als verlegen, und sagte: »Sie spotten meiner, Herr! und ich muß mir das freilich gefallen lassen. Ich weiß recht gut, daß meine Stimme etwas ganz merkwürdig Weibisches hat, und daß man mich darum für ein Mädchen halten kann. Ja, ich weiß, daß ich durch ein seltsames Spiel der Natur einen förmlichen Discant besitze, und daß man mich deshalb oft verlacht. Deshalb gehe ich auch lieber in den Wald und suche die Einsamkeit auf, um zu singen, denn ich habe eine große Neigung für Musik; die ist mir angeboren, aber meine musikalische Ausbildung ist leider sehr mangelhaft.«

»Also nicht Fräulein Mathilde?« sagte ich mit einem ungläubigen, ernsten, forschenden Blicke in das unbärtige, mädchenhafte Antlitz.

»Sie halten mich also wirklich für ein verkleidetes Mädchen?« fragte er mit einem herben, fast traurigen Lächeln. »Das bin ich nicht, lieber Herr, ich bin und heiße, wie es hier geschrieben steht.«

Damit nahm er eine Visitkarte aus seiner Brieftasche, und reichte sie mir. Mein Blick überflog sie eilig. Sie enthielt den Namen:

» Vincenz Brechelmeyer.«

»Mathilde,« fuhr der junge Mensch nun fort, »Mathilde war der Name meiner unverheiratheten Tante, bei welcher ich nach dem Tode meiner ursprünglich begüterten, später aber verarmten Eltern lebte. Vor ein paar Tagen ist diese meine mütterliche Erzieherin auch dahingegangen. Ganz auf mich selber angewiesen, habe ich mich nunmehr nach einer Stellung umsehen müssen, und es ist mir gelungen, eine solche zu finden. Morgen werde ich als Praktikant eintreten beim hiesigen Stadtamte, so daß es mit meinem Umherschweifen im Walde ein Ende haben wird, weshalb ich heute noch einmal herausgekommen und mich zum Abschied von der lieben Waldeinsamkeit recht aussingen wollte. Ohnedies würde ich mich jetzt, nachdem ich entdeckt bin, nicht mehr hier in der Gegend hören zu lassen getrauen.«

Ich unterlasse es, meine Verblüffung bei diesen Eröffnungen des jungen Mannes zu schildern ...

Nun brachte ich das Gespräch auf seine Tante Mathilde.

Sie habe ihn mühselig mit ihrer Hände Arbeit ernährt und aufgezogen, sagte er, und erzählte mir ungefragt ihre ganze Geschichte.

Als junges Mädchen war sie die Braut eines Mannes gewesen, der sie verließ, als ihre Eltern plötzlich durch einen Unglücksfall ihr Vermögen einbüßten. Sie verfiel in Trübsinn aus unglücklicher Liebe. Anfangs hatten die Symptome ihrer Geistesstörung noch etwas Harmloses, Poetisches, Opheliaartiges an sich: sie begnügte sich, mit Blumen und Kränzen geschmückt, auf dem Fensterbrette ihrer Behausung im vierten Stockwerk zu sitzen und lächelnd in die schwindelnde Tiefe hinabzublicken, oder Tage lang am Piano zu singen und zu musiciren, und die Büste ihres Lieblings Beethoven zu bekränzen, denn sie war immer eine enthusiastische Freundin der Musik gewesen. Als sie aber einmal in später Nacht anfing, die Möbel ihres Gemachs, Stühle, Tisch, Nachtkästchen u. s. w., eins nach dem andern vom Fenster des vierten Stockwerks in den Hofraum hinabzuwerfen, so daß sie unten donnernd zerbarsten, zum Schrecken des ganzen Hauses, da übergab man sie Tags darauf einer Irrenanstalt. Nach Jahresfrist schien sie leidlich wieder hergestellt und wurde entlassen, aber sie behielt doch immer etwas Schwärmerisches, Absonderliches; dabei verarmte sie gänzlich, ließ sich aber, fast zur Bettlerin geworden, nicht abhalten, das von begüterten verwandten verlassene Kind ihrer verstorbenen Schwester – eben den kleinen Vincenz Brechelmeyer – zu sich zu nehmen, zu pflegen und aufzuziehen. Im Laufe der Zeit hatte sie dann und wann auch wieder kleine Anfälle von Irrsinn und ihre Schwärmerei für den großen Beethoven wurde zur Manie. Da fügte es überdies der Zufall, daß – wie der junge Mensch in seiner Erzählung sich ausdrückte – »ein anonymer junger Musiker sich den grausamen Scherz machte, mit ihr in einen geheimnißvollen brieflichen Liebesverkehr zu treten« – sie bildete sich ein, Beethoven, ihr geliebter Meister, sei noch am Leben und er sei es, der an sie schreibe ... Man dachte eben daran, sie der Irrenanstalt zurückzugeben, als ein Herzschlag ihrem Leben ein plötzliches Ende machte und sie befreite aus aller irdischen Drangsal ...

Unter dieser Erzählung des jungen Mannes waren wir aus dem Wald hinaus und auf die große Straße gekommen, die gegen die Stadt hinlief.

Ich wußte genug – und fand es dringend gerathen, so spät es war, stehenden Fußes umzukehren und meinen Freund heute noch einmal aufzusuchen.

Ich verabschiedete mich von dem jungen Menschen und lenkte ungesäumt meine Schritte rückwärts durch den Wald zur Behausung Othenio's.

Es war indessen vollkommen dunkel geworden.

Vor der Thür von Othenio's Gemache angelangt, hörte ich, daß er auf dem Piano mit großer Leidenschaftlichkeit phantasirte. Soviel ich merkte, war er mit der Composition des grandiosen Trauermarsches beschäftigt, der, wie er mir früher gesagt, sich symphonisch gestalten und zuletzt in einen großartigen Choral › Et lux aeterna luceat ei‹ausgehen sollte.

Ich lauschte eine Zeit lang ergriffen den ernsten Klängen, die aus dem tiefsten Gemüthe des jugendlichen Meisters sich losrangen. Niemals in meinem Leben hatte ich so etwas Ergreifendes gehört. Mein Auge füllte sich mit Thränen. Mir war, als sähe ich meinen Freund zum Genius geworden, der vor meinen Augen auf Adlerschwingen zum Himmel emporsteige.

Wie hätte ich es über mich gewinnen können, in diesem Augenblicke zu ihm einzutreten und ihn aus der höheren Welt einer schmerzlichen, doch weihevollen und schaffensfreudigen Stimmung herabzuschleudern in den Bereich der prosaischen Wirklichkeit, als deren Bote ich zu ihm zurückgekehrt war! –

Hatte die Seele des kunstbegeisterten Freundes sich nicht so ganz in seine hohen und schönen Illusionen eingelebt, daß es unmenschlich gewesen wäre, sie ihm nun auf einmal zu entreißen? Sollte ich jetzt plötzlich vor ihn hintreten und sagen: Deine Mathilde, deren Verlust du so schmerzlich betrauerst, war ein betagtes, geistesverwirrtes Frauenwesen, und die Stimme im Walde, die dein ganzes Herz gefangen nahm, war die eines bartlosen Jünglings, Vincenz Brechelmeyer geheißen, den die Natur in seltsamer, aber durchaus nicht beispielloser Laune zum halbweiblichen Discantisten gestempelt? Sollte ich jetzt ihn belehren, daß alle die wunderbaren Beziehungen und Zusammenstimmungen zwischen der Waldsängerin und ihm, sowie alle die Ähnlichkeiten, die ihn verlockten, nur Spiele des Zufalls oder Gaukeleien seiner erhitzten Phantasie gewesen?

Ich ließ ab von der Thürklinke, die ich unschlüssig einige Minuten lang in der Hand gehalten; ich machte Kehrt ohne einzutreten und ging stillsinnend den langen Waldweg im Dunkel noch einmal, fest entschlossen, so lange es anginge, in dem Gemüthe des Freundes ungestört die Saaten reifen zu lassen, deren Samenkörner ein wesenloser aber edler Schmerz darin ausgestreut hatte.

Das Schicksal trennte uns unerwarteter Weise schon in den nächsten Tagen. Othenio wurde durch eine Familienangelegenheit genöthigt, unverweilt zu entfernten Verwandten abzureisen.

Er vollendete nichtsdestoweniger binnen Kurzem sein großes Tonwerk und brachte es mit außerordentlichem Erfolge zur Aufführung.

Dann ging er in's Ausland und ich hörte und las noch Manches von den Triumphen, die er überall mit seiner Schöpfung und später noch mit einigen anderen errang.

Aber kein späteres Werk, so hieß es allgemein, erreichte die Frische und Lebendigkeit, den hinreißenden Schwung der Empfindung jener jugendlichen Tondichtung des Meisters, die ich unter so seltsamen Umständen hatte werden und wachsen sehen.

Das Glück blieb ihm indeß getreu und überschüttete ihn mit seinen Gaben.

Als Componist, und fast mehr noch als gefeierter Virtuose auf dem Piano erntete er neben dem unfruchtbaren Lorbeer auch den klingenden Lohn seines Talents und seiner Kunst in reichlichem Maße.

Er war beständig auf Reisen, glänzte in Paris, in London, in Petersburg, sammelte Dollars jenseits des Oceans, und das Letzte, was ich von ihm vernahm, war, daß er sich eine Villa am Comer See gekauft.

So verging eine lange Reihe von Jahren. Ich hatte Othenio nicht wiedergesehen, denn mich fesselte ein bescheidenes Loos an den Ort unseres früheren Verkehrs und er war niemals dahin zurückgekehrt.

Aber eine lang geplante und zuletzt doch in's Werk gesetzte Reise nach dem Süden entführte mich endlich der Abgeschiedenheit meines vieljährigen Aufenthalts.

Eines Tages machte ich auf der Reise Halt in einem Städtchen des südlichen Tirol, das auf der großen Verkehrsstraße der Touristen liegt. Ich saß im Gasthofe beim Mittagstisch, und beachtete nur wenig die Gruppen von Kommenden und Gehenden, die sich rings um mich in dem großen Saale bewegten.

Auf einmal sah ich einen Mann eintreten von auffallend stattlichem und vornehmem Aussehen – eine Gestalt, ein Antlitz, in welchem aus neuer und allerdings sehr fremder Umhüllung mich alte, vertraute Züge begrüßten.

Ich konnte nicht lange im Zweifel bleiben: Othenio stand vor mir. Unser Wiederfinden war – man kann es sich denken – das froheste und herzlichste; wir feierten es bei perlendem Schaumwein und langem traulichem Gespräch.

Othenio stand im besten Mannesalter: aus dem ungestümen, sprudelnden Jüngling war, wie das so manches Mal zu geschehen pflegt, ein würdevoller Mann von fast vornehm gemessenem, ruhigem Wesen geworden. Seine stattliche Figur hatte eine behagliche Wohlbeleibtheit angesetzt. An den Fingern trug er ein paar Brillantringe, Geschenke regierender Fürsten.

Ich mußte aber immer und immer wieder an den jugendlichen Enthusiasten zurückdenken, an den mächtigen, genialen Künstlerkopf mit den feuchtglühenden Augen und der dichten Lockenmähne über der fieberhaft unruhigen, schmächtigen Gestalt, an den blinden und tollen, ins Blaue hinein liebenden und schwärmenden Freund der mythischen Mathilde, an den Komponisten von »Tristan und Isolde«!

Wie weit lag das Alles nun hinter ihm und mir!

Wahrhaftig, die Zeit war da, ihn ohne Schaden aufzuklären über eine verschollene wunderliche Episode seiner Jugendzeit.

Ich brachte das Gespräch auf Mathilde und schloß damit, ihm bis in's kleinste Detail zu erzählen, was ich an jenem Abende erlebt und erfahren, unmittelbar nachdem er an meiner Brust sich in beißen Thränen über den Tod Mathildens ausgeweint.

Er lächelte, ein leichtes Erröthen überflog seine Wangen, als schämte er sich seiner einstigen Thorheit. »Die Sache ist gar nicht so wunderbar,« sagte er; »mir sind seither ein paar ganz ähnliche Beispiele von geborenen männlichen Discantisten vorgekommen.« Er sprach mit der kühlen Objektivität des reifen Mannes von der Sache, gab aber zu, daß der Eindruck jenes Jugenderlebnisses lange bei ihm lebendig geblieben, und daß der Born künstlerischer Inspiration ihm niemals reicher und schöner geflossen, als zu der Zeit, da die närrische Liebe zur geheimnißvollen Unbekannten und dann der Schmerz über ihren Verlust in seinem Gemüthe gährte und wetterte.

Wir saßen bis tief in die Nacht beisammen, und ehe wir schieden, erhoben und leerten wir die schäumenden Becher auf das Andenken der mythischen Waldsängerin!

»Im Grunde,« sagte er zuletzt in seiner jetzt so ruhigen und kühlen Weise, »im Grunde war es mir von Anfang an auffällig und für mein musikalisches Gefühl fast unangenehm, daß die geheimnißvolle Stimme immer nur in so regellosen Tönen und abgerissenen Phrasen sich vernehmen ließ. Ich glaub' es gern, daß der junge Mensch nicht ordentlich singen gelernt hatte, und wenn ich jetzt dergleichen hörte, so würde ich mir vielleicht die Ohren zuhalten. Ich sehe jetzt, es war nicht der seltsame, mädchenhafte Discant, der mir's angethan, sondern mein junges Herz, und der Wald, mit dessen Zauber verwebt, jene Stimme so merkwürdig, so ergreifend zu meinem Thalhause aus den stillen Tannengründen herüberklang.«


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