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Der Grund, warum ich damals meine Stellung im Ausland unvermutet aufgab und in meine Heimat zurückkehrte, war nicht allein im argen Heimweh zu suchen, das mich befallen hatte. Es war etwas dazugetreten, das eifrig wie ein Gebot klang, und dem ich unbedingt Gehör schenken mußte, wenn ich mein Leben nicht mutwillig verkümmern lassen, und in eine Ecke schleudern wollte wie einen Knäuel verbrauchtes Papier.

Ich hatte eines Wintermorgens neben meiner Schülerin gesessen, um ihr Klavierspiel zu überwachen. Draußen und in den Zimmern war es so kalt, daß wir beide, Monica und ich, uns in Wolltücher eingepackt hatten; unsre Hände waren erstarrt, und unser Atem ging wie ein wirbelnder Hauch durch den Raum. Ich war vom Stuhl aufgestanden und wandelte, um mir Bewegung zu machen, auf dem blaßblauen Teppich hin und her. Da gewahrte ich auf dem Kaminsims unter dem Spiegel ein Buch, das sonst nicht dagelegen hatte. Es war Lessings Laocoon.

Leidenschaftliche Liebe zu Büchern war schon seit längerer Zeit in mir erwacht. Der Eindruck aber, den gerade dies Buch damals auf mich machte, bedeutete eine völlige Umgestaltung meines Lebens. Der geräuschlose, überwältigende Ernst solch gründlichen Wissens, das in die Mauer aller Erkenntnis eine Bresche zu schlagen schien, die ruhige Gewalt der Auseinandersetzung mit der Welt der Dinge, dies Auge in Auge mit Wahrheit und Schönheit, vor allem die zwingende Allmacht des Gedankens überhaupt, das war es, was mich an dem Buche so tief erschütterte. Was war ich? Das matte, geringe Leben, das ich bis jetzt um mein Brot, durch das Erziehen fremder Kinder, geführt hatte, war, wie ich von diesem Augenblick an deutlich zu fühlen begann, den wirklichen Anforderungen, die auch ich an die Ernsthaftigkeit meines Wesens stellen durfte, nicht ebenbürtig. Mit beinah physischem Schmerze wurde es mir plötzlich bewußt, daß ich bis jetzt einer Verantwortlichkeit für ein auch mir anvertrautes und sträflich hintangesetztes Pfund aus dem Wege gegangen sein müsse, und daß ein unbekannter Richter von mir dereinst Rede und Antwort fordern werde. Welches war dies anvertraute Pfund? Ich wußte es nicht. Wer war mein Richter? Auch das wußte ich nicht. Kaum aber hatten diese neuen Gedanken von mir Besitz ergriffen, als ein Zustand tiefen, unerklärlichen Unbehagens mich befiel; ich verfiel in Hast, Bangigkeit und Unruhe, sodaß ich Tage und Wochen in einer seltsamen Erregung zubrachte. Dazu gesellte sich das Empfinden der Wehmut und Trauer: Ich vermeinte, daß der Geist der Wahrheit, Größe und Schönheit, der das Buch Lessings dereinst gespeist und der mich so mächtig ergriffen hatte, wohl achtlos an mir vorübergerauscht sei. Wenn es Bestimmung und Zweck auch meines Daseins war, so rief es schmerzlich in mir, die anvertrauten Kräfte auszubilden und der Vervollkommnung entgegenzuführen – wie stand es um mich? Was hatte ich bis jetzt von mir selbst gefordert und was für mich getan?

Nur der Entschluß, meine unbefriedigende Stellung aufzugeben, in die Heimat zurückzukehren und dem Drange nach tieferm Erfassen aller Erscheinungen des Lebens auf irgend eine Weise nachzugeben, beschwichtigte mein stark erregtes Gemüt und füllte auch teilweise die Lücke wieder aus, die zwischen mir, meiner lauen Pflicht und meiner gewohnten Umgebung entstanden war.

*

Es war Anfang März und um elf Uhr in der Nacht.

Der Zug tat seine Pflicht und fuhr rasch. Meine Seele aber lief eilfertig voraus und begehrte, am Orte zu sein. Ich stand am Fenster und blickte in die durch Schnee und leichten Nebel verdeckte Landschaft hinaus.

Vier volle Jahre hatte ich meine Heimat, meinen Vater und meine beiden jüngern Schwestern nicht gesehn.

Der Zug rüttelte und schüttelte. Lichter kamen und gingen, verschwanden in Nebelringen. Endlich tauchten Häuser auf, vereinzelt zuerst, dann in Gruppen, in Reihen. Schon fühlte man die Nähe der Stadt; sie schickte uns ein leises, schläfriges Brummen entgegen. Dann schrillten Pfiffe, und eine Glocke tönte irgendwo. Jetzt fuhren wir über eine schmale Eisenbrücke, unter welcher die kalten Wasser sich träge weit unten in der nächtlichen Tiefe stießen. Nun fuhren wir schwerfällig und langsam in die schwacherleuchtete Bahnhalle hinein. Sie schien beinah leer.

Auf dem Perron standen Arm in Arm, fröstelnd, zwei junge Mädchen. Ob es meine Schwestern waren? Ich suchte im Halbdunkel nach ihren mir vertrauten Gesichtern, die zwischen dem breiten Hutrand und dem aufgestülpten Mantelkragen kaum zu erkennen waren. Nein, sie waren es nicht. »Suse!« rief ich aber dennoch halblaut zum Fenster hinaus, »Regine!« Doch die beiden Mädchen kehrten sich nicht nach mir um, sondern liefen eilig der Wagenreihe entlang und spähten in die hellerleuchteten Abteile.

»Regine!« wagte ich nochmals, als sie sich wieder näherten und das Licht nun voll auf die jungen Gesichter fiel.

Hastig hoben sie die Köpfe, liefen zu mir her, stellten sich unter meinem Fenster auf, und meine jüngste Schwester Regine rief munter: »Bist du es wirklich, Anna? So komm doch heraus!«

Aber mir war bei diesen ersten vertrauten Lauten in meiner Muttersprache auf einmal sonderbar wehmütig geworden. Törichte Wehmut hatte mich ergriffen. Statt hinauszugehn und meine Schwestern zu begrüßen, blieb ich mitten im leeren Wagen stehn, die Tränen rannen mir übers Gesicht; das zurückgedrängte Heimweh, die Spannung der letzten Monate und die Freude des Wiedersehns waren daran schuld.

Regine kam rasch in den Wagen und hielt verdutzt inne, als sie mich im Scheine der runden, grellen Lampe und inmitten meiner Gepäckstücke weinend dastehn sah.

»Was ist dir denn, Anna?« fragte sie erstaunt. »Bist du glücklich oder unglücklich, daß du wieder da bist?«

»Glücklich«, entgegnete ich ihr und umschlang sie. »Nun gut, dann komm heraus«, meinte sie, nahm mich beim Arm und zog mich die Treppe hinunter. »Suse steht draußen und wartet; wir sind beide halberfroren, es ist außerdem Mitternacht vorbei, und wir müssen morgen früh an die Arbeit; also komm rasch!«

Ich folgte ihr. Draußen wartete die fröstelnde Suse. Aber als ich auch sie umarmte und küßte, brachen die dummen Tränen wieder hervor und netzten Suses schmales Gesichtchen. Suse lachte mich jedoch fröhlich aus, schob ihren Arm in den meinen, und so schritten wir gepäckbeladen dem Ausgang der Bahnhofhalle zu.

*

Wir haben uns von der Seite heimlich betrachtet, wir drei Schwestern; aber wir schwiegen über die aneinander flüchtig entdeckten Veränderungen in Antlitz und Gestalt, über die Art, Gewand, Hut und Schuh zu tragen und das Wesen, das sich in Gang, Haltung und Rede einer jeden von uns als etwas Neues und Fremdes kundgab. Während ich auf die helle Stimme Reginens lauschte, die in diesem Augenblick das Lieblichste war, was mein Ohr vernehmen konnte, empfand ich nur das eine deutlich: daß ich mich einer längst entschwundenen Welt Schritt um Schritt wieder zu nähern begann, und daß an der Straßenecke dort, wo die verdeckten Gassen ihre Bogen wölbten, auch jenes Leben wieder einzusetzen begann, das mir einst wehmütig teuer, nah und vertraut gewesen war.

»Wo führt ihr mich eigentlich hin?« fragte ich meine Schwestern.

»Direkt ins Bett«, entgegnete Suse lustig.

»Gut. Aber in welches Bett?«

»Ins dritte, das, welches bis jetzt unbewohnt war und dir gehört.«

»Wo steht es?«

»In einer Reihe mit den andern«, ergänzte Regine.

»Ich meine: In eurem großen oder in eurem kleinen Zimmer?«

»Es sind beide Zimmer sehr groß.«

Wir lachten alle Drei. »In der Stube gegen die Sonne oder gegen den Schatten?« beharrte ich.

»Gegen den Schatten.«

»Gut, endlich! Wie nennt ihr denn das andre Zimmer?« fragte ich weiter.

»Das Mädchenzimmer.«

»Wie schön das klingt! Hat es viel Sonne?«

»Vom frühen Morgen scheint sie der großen Tanne im Garten über den Kopf in jeden Winkel hinein.« – »So, das ist fein.«

»Bist du hungrig?« – »Nein, gar nicht.«

Wir schritten die Stadt hinunter. Sie schlief. Stummen Gesellen gleich lehnten die Häuser da, in Nacht und Stille versunken. Kein greifbarer Laut; nur unsre Schritte hallten viel zu lärmig um uns herum, und unsre Stimmen liefen uns geräuschvoll auf dem Wege voraus.

Nun bogen wir in die einsame Gasse ein, in der meine Schwestern seit drei Jahren wohnten. Hier war es noch stiller als in den Hauptstraßen. Ernste, verflossene Jahrhunderte hatten die hohen Torbogen über den Häusereingängen gespannt, hatten sie mit bunten Wappenschildern geschmückt, an die schweren Eichentüren die Messingbeschläge gehämmert und die festen Gitter, grimmigen Maulkörben gleich, vor die Fenster geschmiedet. Da hingen große altmodische, ledergefaßte Laternen in den weiten Eingangshallen, und wenn man an den bestaubten Glockenstrang rührte, der zur Seite des Türpfostens hing, so zerriß ein hoher, gellender Ton die nistenden Spinngewebe in den langen Gängen und sprang taumelnd auf die Gasse den Häuserreihen entlang, wie eine bettelnde, verstoßene Erinnerung.

Wir hörten mit Plaudern auf, als wir in die stille Gasse eingebogen waren. Ein alter Brunnen, auf dem ein marmorner Löwe saß, rauschte hinter uns her, und von den Dächern sickerte in langen Tropfen der lockere Märzschnee.

Nun standen wir vor unsrer Haustüre. Zwei Treppen hatten wir emporzusteigen. Auf einem weitvorspringenden Fensterbrett in der Tiefe des Korridors stand eine kleine, grüne Kupferlampe, deren matter Lichtschimmer uns auf die obersten Treppenstufen entgegenfiel.

»Wir sind zu Hause«, meinte Regine, hielt die grüne Lampe empor und schritt uns voran. »Leise auftreten!« gebot Suse. »Das Haus ist verwunschen, heißt es. Aber wenn niemand sonst gespenstert, besorgt es zu später Stunde noch der Hausherr oder seine fortwährend keifende Frau.«

Regine öffnete, oben angekommen, eine Türe in der Tiefe. Ach, seht doch, seht das hohe, riesige Gemach! Weder mein Auge, noch die engen Strahlenkreise der grünen Lampe reichten aus, um den im Dunkel liegenden Raum mit einem Blick zu überschauen. Hoch wölbte sich die weiße Decke, in deren Mitte in der Form eines großen Medaillons ein altes Gemälde eingelassen war, auf welchem anmutige, kleine, dickköpfige Engel nach schwebenden Wolkenbündeln haschten! Man mußte schon ins Gemach eintreten und den Wänden nachgehn, um seine Größe und Stattlichkeit zu ermessen. Und wie freundlich da innen alles war! An der endlos erscheinenden Seitenwand standen drei ausgerüstete Betten mit hoch sich türmenden Federdecken, drei Kommoden, zwei Waschtische, Stühle, Sessel, ein altes, ungeheures Sofa, und doch blieb im Zimmer immer noch so viel freier Raum, daß man bequem einen kleinen Hausball hätte inszenieren können.

»Wie traulich es bei euch ist!« rief ich beglückt, legte Hut und Mantel ab, begann langsam im Zimmer herumzugehn und besah und betastete jeden mir wohlbekannten Gegenstand. »Hier muß es sich gewiß gut leben lassen!«

Aber meine Schwestern verlangten bald nach Ruhe und ließen meiner begreiflichen Neugier keine Zeit. »Das kannst du alles morgen sehn«, meinte Suse, als ich immer wieder stehnblieb.

»Sieh dir noch schnell meine Blumen an!« rief dazwischen Regine, »und dann komm ins Bett!«

»Und euer »Mädchenzimmer«? Darf ich das nicht mehr sehn?« warf ich ein.

»Heute nicht«, erklärte Regine bestimmt. »Es liegt übrigens am andern Ende des Korridors. Es geht ja schon dem Morgen zu. Suse und ich sind wirklich müde. Warte also bis morgen. Geh, aber meine Klivia sieh dir noch schnell an!«

In der Fensternische, die gegen die Gasse hinausging, stand ein feiner, neuer Blumentisch. »Es ist Reginens Privatbesitztum!« rief mir Suse als Erklärung zu, indem sie sich auszukleiden begann, ihr aschblondes Haar löste und es schüttelte wie eine lästige Bürde. – Ueber den geflochtenen Rand des Blumentisches fluteten die weißgetupften Ranken einer Hängepflanze, eine junge Palme spreizte den harten Fächer, und ein Efeu stieß sich an ein paar ärmlichen, verdrossenen Geranien. Mitten unter den ungesegneten, beschämten Genossen aber saß in einem unverhältnismäßig großen Topf auf dem Sockel ihrer knollighervorbrechenden Wurzel eine Klivia; herrisch stieß sie ihre derben Blätter von sich und schaffte sich Raum. Auf hohem Stengel trug sie aufrecht ihre erste, starke Blüte von wundervoller, rotgelber Färbung.

»Schau ihr nicht zu tief in die Augen, Anna!« rief Regine und kroch rasch ins Bett, »sie verträgt das nicht gut.«

War es der frische Klang der Stimmen meiner Schwestern, war es die vertraute und helle Atmosphäre, das Bewußtsein, wieder mit meinen Nächsten auf dem festen Boden der Heimat zu stehn, ich wüßte den Zustand heute nicht mehr zu deuten, der in diesem Augenblick über mich kam. Ich erinnere mich nur, daß es ein so tiefes Glücksempfinden war, das mich durchrieselte, wie ich es in dieser Stärke und Greifbarkeit nie bisher gekannt. Es schien mir plötzlich, als ob ich auf der Schwelle stehe, die alles Vergangene vom Zukünftigen trenne, als ob ich das, was gewesen und das, was kommen würde, mit meinen Augen überblicken und mit meinen wägenden Händen halten könne. Alle verborgenen Zusammenhänge meines Lebens schienen vor mir aufgedeckt für einen kurzen Augenblick, und mir war, als ob ich ihr Fürst und Meister sei und darüber zu gebieten habe. Und zur selben Zeit dämmerte auch das Bewußtsein einer geheimnisvoll in mir ruhenden stillen Kraft auf, die mich mit ahnungsvollen Schauern überschüttete und mich die verborgene Gestaltung meines künftigen Lebens wie in einem hellseherischen Traum ahnen ließ.

»Jetzt komm endlich zur Ruhe, Anna!« rief da Suse laut, »es ist höchste Zeit!« –

Eine Viertelstunde später wurde es still im weiten Gemach. Drei junge, müde Menschen nisteten sich ein zum wohlverdienten Schlafe. Die Kissen wurden zurecht gelegt, die Decken gelüftet, die Federbetten verschoben.

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht! Schlaft wohl!«

Aber bevor ich die Augen schloß, stellte ich doch noch die Frage, die mir während des ganzen Abends auf den Lippen geschwebt: »Wie geht es Vater?«

Mit schläfriger Gleichgültigkeit antwortete Suse aus ihren Kissen heraus: »Wie immer.«

»Er erwartet uns alle Drei am Sonntag«, ergänzte Regine.

Dann herrschte lautlose Stille. Draußen schlug die Turmuhr die erste Stunde der Nacht.

*

In der Heimat! – So hieß das wonnige Empfinden, das ich am andern Morgen beim Erwachen aus einem gesunden, festen Schlaf in die Wirklichkeit hinübertrug.

Meine Schwestern hatten sich rasch auf dem Spirituskocher ihr Frühstück bereitet und waren halbverschlafen fortgeeilt, Suse in das große Seidengeschäft, in dem sie Verkäuferin war, Regine in das Kontor der Buchdruckerei Halmer. Ich blieb allein zurück. Ich machte Toilette, ordnete meine Sachen und lief nun ins sogenannte Mädchenzimmer hinüber. Ich sang und pfiff vor mich hin, als ich durch den Korridor schlüpfte und die Türe öffnete. Wie der Morgen durch die beiden hohen Fenster ins weite Gemach flutete! Und doch war draußen kein lichterfüllter Tag, eher grau und verwischt sah er aus; aber alle Frische, alle helle Farbe, die ihm übrig blieb, stellte er gutgesinnt unserm Riesenzimmer zur Verfügung und trug so viel Licht als er vermochte in die Winkel hinein. Die Uhr auf dem Kaminsims gab einen hohen, hellen Klang, als ich eintrat. Singend und pfeifend ging ich im Zimmer herum. Wie schön das Zimmer war! Die von den Großeltern überkommenen kostbaren Möbel, die den stattlichsten Bestand unsres eignen, gewesenen Heims gebildet hatten, gaben dem Gemach das Gepräge und Gepränge behaglicher Feierlichkeit. Das festgebaute, mächtige Sofa, überschüttet von roten, in dunklem Samte schwimmenden Rosengirlanden, sah wie ein Balkon aus, auf dem diese Rosen lebendig blühten und dufteten. Auch die blankpolierte Kommode aus dunklem Kirschholz war mit ihren verschlungenen Füßen und verschnörkelten Schlössern und Griffen das tüchtige Stück einer geschmacksichern, ruhigen Zeit und so auch der Bücherschrank des Großvaters, der von oben bis unten vollgepfropft war von politischen Büchern und Schriften, weil Großvater von der Politik wie vom Teufel besessen gewesen war. Neben dem grünen Kachelofen im Winkel stand das Spinnrad, die Kunkel war mit einer roten Seidenschleife umbunden. Eine alte Hornbrille lag in der ehrwürdigalten, aufgeschlagenen Bibel auf dem Wandsims, und unter Glas und Rahmen hingen an der Wand bunte Schmetterlinge, die auch der Großvater einst gesammelt, und breiteten ihre schönen, jedoch von der Zeit zerfressenen, farbenreichen Flügel aus.

Auf dem Boden lagen große Teppiche, in denen die selben Rosengirlanden wie am Sofa eingewirkt waren. Sofort umhüllte mich hier jene erinnerungssatte Atmosphäre, wie sie über jedem Heime ruht, ungreifbar, gleich einer verlassenen Hülle, die, von Längstverstorbenen abgestreift, uns nun umschlossen hält.

Nur Großmutter störte mich in dieser Umgebung. Ihr Bild hing über dem Sofa in reichem Goldrahmen. »Bist du immer noch da, alte Hexe?« sagte ich laut zu ihr und hörte mit dem leisen Singen auf, das ich angestimmt. Sonderbarerweise hatte der Maler der alten Frau die Hände kreuzweise, wie einer Büßenden, auf die Brust gelegt. Es waren schwere, weiße, selbstgerechte Hände, die auf dem dunklen, flachen Brusttuch wie angenagelt schienen. Um das lange, starre Gesicht schloß sich die weiße Faltenhaube, und die Augen blickten auf mich nieder wie unausgesprochenes Unheil. »Großmutter, du willst mir doch nicht etwa meinen ersten Tag in der Heimat verpfuschen wollen mit deinen Augen?« fragte ich sie. Ich lief von ihr weg durch den Korridor ins Schlafzimmer und zwischen den beiden großen Zimmern hin und her. Ich ordnete meine Sachen, schichtete den Inhalt meines Koffers in die tiefen Wandschränke. Dabei kam mir meine kleine Schatulle in die Hände, die mein kostbarstes Besitztum bildete. In Watte gebettet lagen darin eine Anzahl Halbedelsteine, die ich mir im Ausland bei Gelegenheit und zu geringem Preise zu erstehn verstanden hatte. Ach, diese meine geheime, unstatthafte, blödsinnige Leidenschaft für Kostbarkeiten aller Art! Ich liebte bis zur Torheit die Pracht und Festlichkeit von Silber und Gold und hatte mir in den verschiedenen Sammlungen, in Museen, die ich besucht, nie genug tun können im Betrachten einer meisterhaften Arbeit aus edlem Metall. Es war mir vollkommen verständlich, daß die Menschen früherer Zeiten die Edelsteine in Beziehung zu ihrem eignen Schicksal brachten, und ich fand es köstlich und weihevoll, daß bei den Juden das Brustschild der Hohepriester mit allen Edelsteinen, die je nach den Monden Heil und Unheil bedeuten konnten, besetzt war. Ich begriff auch, daß man einer kostbaren Gemme wegen in die Verbannung ging und haßte schon in meiner Kindheit die prahlerische Kleopatra, weil sie die wunderbarsten Perlen des Orients um einer eitlen Stunde willen in Essig aufzulösen gewagt hatte.

Perlen befanden sich nun nicht in meiner Schachtel. Wohl aber ein paar sattblaue Lapislazulikugeln, die ich einst bei einem Antiquar erstanden und an eine Kette gereiht hatte. Dann besaß ich einen Labradoriten, dessen Farben wanderten, versanken und wieder aufflackerten, sobald ich ihn ins zukömmliche Licht rückte und einen flachen Mondstein, in dem es wie schimmernde Seide wogte. Ich besaß auch einen schönen, farbenfesten Malachiten, einige Karneole, auf denen fremde Namenszüge eingeritzt waren, einen kleinen Opal und einen dunklen, in sich ruhenden, feinen und stillen Ametysten, den die Mutter meiner Schülerin Monica mir einst geschenkt. Meine liebste Augenweide aber waren die Achate, deren meine Schachtel eine ganze Anzahl barg. Ihre bunten, unerschöpflichen Flammenzeichen, die zu rauschen und zu lodern schienen, die Rundungen und Windungen ihrer zuckenden oder fließenden Linien, der ruhige Glanz ihrer Buntheit und stillen Vielfältigkeit, dies alles war für meine Augen ein nie endendes Schauen. Nur um in die Nähe kostbarer Gesteine, in die Nähe von Gold und Silber zu kommen, war in mir ab und zu der Gedanke aufgetaucht, bei einem Goldschmied in die Lehre zu treten. Ab und zu, sage ich. Und zwar war mir dieser Gedanke immer dann mit Heftigkeit gekommen, wenn ich irgendwo wiederum eine Sammlung Kostbarkeiten gesehn hatte, und ich wähnte, nicht leben zu können, wenn ich nicht selbst in der Nähe von Silber und Gold zu stehn käme und aus Silber und Gold und Edelsteinen selbst wundervolle Gefäße und Schalen Herstellen könnte. –

Aber der Tag schaute ja fest ins Fenster hinein, und ich kramte immer noch in meinen Sachen. Schon mußte es gegen Mittag gehn. Ich öffnete das Fenster. Da gewahrte ich, daß draußen ein feiner Niesel niederging. Ich konnte, wenn ich mich hinauslehnte, die Brücke übersehn, den Kirchturm, einen Teil der Stadt.

Wie in heimlicher Verabredung rückten gerade die vergoldeten Zeiger der Kirchtürme gegen die Mittagsstunde hin. Bereits öffneten sich zu meinen Füßen die Türen der Geschäfte, Bureaux und Magazine, Menschen traten heraus, liefen nach rechts und links davon. Und nun schlug es von allen Türmen die Mittagsstunde. Und wie ich so dastand und leise durchschüttelt vom Frost des Wetters hinlauschte, wie die Glockenschläge sich langsam von allen Türmen lösten und ins Grau des Tages hinüberströmten, wie jeder Tritt, jeder Laut, das Pfeifen und Klirren, Rasseln und Surren zusammenfloß, und wie doch jeder Ton zur selbständigen Macht wurde, der mich eigenwillig herüberholte aus einer bereits verlassenen Vergangenheit in seine eigne Wirklichkeit und Gegenwart – da fühlte ich mich wie von einem neuen Anlauf eines Glücksgefühls bestürmt, und ich wußte, daß ich wohl sehr vieles, nein, alles und jedes von meinem neuen Leben erhoffte. »Du sollst mir ein reiches Leben schenken, Heimat!« rief es in mir. »Du sollst es formen und bilden! Du schuldest es mir seit langem. In dir liegt es, in dir birgt es sich, aus dir redet es zu mir mit hundert Zungen. Du bist die Kraft, die meinen Fuß beflügeln soll, der Bogen, auf dem meine Seele sich schwingt. Aus deiner Hand will ich meine Verheißung empfangen!« In freudiggehobener Feiertagsstimmung schloß ich das Fenster. Tritte hallten durch den Korridor. Es waren meine Schwestern, die von der Arbeit heimkehrten.

*

Wenn wir Kinder sind, nehmen wir das Ungemach, das uns widerfährt, als etwas Unvermeidliches wehrlos hin. Später, wenn wir emporgewachsen und mitten im Kampfe stehn, wenn das Selbstbewußtsein gebietend in uns erwacht ist und wir den Willen allein als oberste Macht in uns anerkennen; wenn wir vermeinen, daß der Mensch sein Schicksal sich selber schaffe und die Verfügung über Heil und Unheil in den eignen Händen halte – dann ist die Zeit der Irrsale und Wirrnisse, der Klage und Anklage gekommen, in der wir untertauchen. Erst viel später, zur Zeit der Reife, wird uns erlösend bewußt, daß die Fäden unsres Geschicks nicht allein in unsrer Brust zusammenliefen, sondern daß sie unter uns, über uns dahingingen, und daß wir nur ein Werkzeug waren in den Händen des Schmerzes und der Lust.

Wir drei Geschwister waren jung. Wir standen im Beginn unsres widerstrebenden und widerspruchsvollen Daseins, wir glaubten an den Widerstand, die bestehende Macht der Verhältnisse und nur selten ganz an unsre eigne Kraft, und wenn wir klagten, so war es, weil uns das große, erträumte Leben noch vieles schuldig zu sein schien.

Vater war seit vierzehn Jahren im Irrenhaus. Daß ihm so geschehen mußte, dem einfachen, klaren und demütiggläubigen Landpfarrer, dessen Wesen Maß, Vernunft und aufrichtiges Vertrauen in Gott war, dessen Wort zu verkünden er sich zum selbstgewählten Beruf gemacht hatte – das mußte wohl für ihn damals eine furchtbare Niederlage gewesen sein. Ich war, obwohl die Aelteste, viel zu jung, um diesen Zusammenbruch für ihn und die Folgen für uns alle bloß ahnen zu können. Ich weiß nur, daß seit Vaters Erkrankung unser äußeres Geschick eine rasche Wendung nahm, daß dies Geschick uns Kindern von dem Tag an keinen Schutz mehr gewährte, weil uns das gemeinsame Heim entzogen, und weil wir zu Obdachlosen gemacht wurden, Preisgegebenen, dem Spiel der Zukunft und dem Arg der Lieblosigkeit in die Hände geworfen.

Mutter! Warum hast du dich und uns damals verleugnet? Warum hast du uns nicht in deiner Hut behalten? Du hast mit dem Verschwinden Vaters hinter den Mauern des Irrenhauses einen breiten Strich unter alles Vergangene gezogen und es mit harter Hand weggewischt, wie man Brosamen von einem leergewordenen Tische streicht. Die bescheidene Rolle der Pfarrerin, Vaters allzeit sorgliche Liebe haben deine eignen plumpen und hochmütigen Lebensträume nie zu beschwichtigen vermocht. Und als deines Mannes Rolle unter den Menschen zu Ende gespielt war, da hast du dich fernab gestellt und hast uns drei Kinder mit kühlem Gleichmut fremden Händen übergeben. Du hast aus uns Anstaltskinder gemacht, auf denen das Auge der Zärtlichkeit nie mehr ruhte. Auch damals, als Regine und mir bitteres Unrecht geschah, als die Anstalt uns überschüttete mit unbilligem Zorn und bösartiger Verkennung, als man uns beide auf die Gasse stellte – da hast du deinen Arm nicht ausgestreckt, uns, deine Kinder, zu schützen, sondern du legtest deine Hand ängstlich vors Schlüsselloch, damit unsre Tränen, die Widerwärtigkeiten und das Gerede der Leute nicht an dein Ohr drängen. So sind wir denn, Mutter, ohne deine schützende Liebe groß gewachsen und zu Menschen geworden, jedes auf seine und mit seiner Art, hungernd und dürstend nach Liebe. Du bist nun längst tot. Aber wir, deine Kinder, trauern noch heute um das zu leicht preisgegebene Heim, weil eine Jugend ohne Liebe unwiderruflich armselig ist und wohl das Bitterste, was einen Menschen treffen kann. Und eine Anklage gegen dich will sich in mir erheben, die ungehört bleiben soll, weil sie Vaters teures Haupt betrifft ...

Vor Jahren, zu Anfang der jungen Ehe, hatten sich die ersten Spuren der spätern Erkrankung meines Vaters gezeigt. Es war an der Stätte seines ersten Amtes, hoch oben in einem engen Bergdorf gewesen. Mutter erwartete von Stunde zu Stunde ihr zweites Kind, einen Sohn, der bald nach der Geburt starb. Seit längerer Zeit mußte Vater übermüdet, reizbar und ohne Schlaf gewesen sein und mit uneingestandenen Sorgen belastet. Da besuchte ihn ein Amtsbruder, der von einer längern Fußtour zurückgekehrt war, und der in einem Dorfe wohnte, das sich um Stunden entfernt, auf der andern Seite des Bergpasses befand. Mutter riet, den Freund zu begleiten, weil sie für den Gatten hoffte, die körperliche Ermüdung würde ihm den nötigen Schlaf bringen. Unruhigen Herzens machte mein Vater sich auf den Weg, besorgt wegen Mutters bevorstehender Niederkunft. Diese Besorgnis auch war es, die ihn nach mehrstündigem Marsch über den einsamen Bergpaß, trotz großer Erschöpfung und einbrechender Nacht, wieder dem eignen Pfarrhof zutrieb. Vorher aber hatte ihn noch im Hause des Freundes eine erschreckende Botschaft getroffen, die seine erregte Phantasie fieberhaft aufgepeitscht hatte: Ein Raubmörder, der im Dorfe zwei Menschen getötet und eingefangen worden war, war aus der Haft, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, entwichen. Man hatte ihn in der Richtung des Passes hin fliehen sehn.

Mit dem Gedanken an den entsetzlichen Flüchtling, erschöpft und voll Bangigkeit um sein Weib, trat der Pfarrer den Rückweg an. Wolken jagten am Himmel, bargen und offenbarten abwechselnd den fahlschimmernden Mond. Dichter Wald zog sich dem Wege nach im Hintergrund. Rasch holte der einsam Wandernde aus. Da vernahm er aus dem Dunkel des sich vorbiegenden Waldes ein sonderbares Lachen. Entsetzt blieb er stehn. Was war das? Wer lachte da in seiner Nähe? Gespannt horchte er hin. Das konnte nur er sein, der entlaufene Mörder, der sein drittes Opfer sich wehrlos preisgegeben sah. Jäh wandte der Erregte sich um und schaute voll Grauen nach dem Walde hin. Da, horch, wieder dasselbe versteckte kurze Lachen! O, man spottete erbarmungslos sein in dieser Verlassenheit! Jetzt wandte er sich völlig um, damit das Nahen des Mörders ihn nicht schutzlos träfe, er streckte die Arme aus gegen ihn, und dann lief er rückwärts, das Antlitz dem Walde zugekehrt, strauchelnd, taumelnd seinen angstvollen Weg weiter. Aber das Lachen verfolgte ihn. Da begann er in steigendem Entsetzen mit gellender Stimme ins Dunkel der Bäume hineinzurufen, zu schreien, er rief den vermeintlichen Mörder herbei, damit er seiner nicht schone und flehte ihn kurz darauf verwirrt wieder um sein Leben, um seiner Frau und seiner Kinder willen. Jedoch als Antwort wurde ihm nur das boshafte, verdeckte Lachen. –

Es war nur eine Lachtaube gewesen, die der Unglückselige in der schreckhaften Verwirrung seiner Sinne für einen drohenden Menschen gehalten. Auch als das Lachen längst verstummt war, getraute der Pfarrer sich nicht, vorwärts zu schreiten. Er hat den ganzen, stundenlangen Weg rückwärtsschreitend zurückgelegt, das Gesicht dem vermeintlichen Mörder zugekehrt. Es war morgens um vier Uhr, als er endlich an die Türe des Pfarrhofs pochte. Er war blaß wie ein Toter, der kalte Schweiß rann ihm über die Schläfen, und seine ausgeschriene Kehle war keines Lautes mehr fähig.

Schon am nächsten Tage brach bei ihm der Verfolgungswahn aus. – Aber der Kranke genas damals. Ein Jahr der Ruhe und der Entspannung stellten ihn wieder her.

Viel später, nach Jahrzehnten, kehrte die Krankheit in andrer Form zu ihm zurück. Da wurde er als ein Unheilbarer ins Irrenhaus verbracht.

*

Der Sonntag, an dem wir Vater besuchen durften, war angebrochen. Es war uns berichtet worden, die Krise der Aufregung sei wieder einmal vorüber und der Kranke ruhig und zugänglich. Ich freute mich unsäglich, ihn wiederzusehn.

Es war der erste helle Tag, der uns seit meiner Rückkehr in die Heimat geschenkt wurde. Der Winter schien sich irgendwo hinter einer hohen Hecke verborgen zu halten, wenigstens mischte er sich nicht in das frische und trugvoll täppische Gebaren des Frühlings. Die Sonne erzählte; aber die Spatzen hörten nicht zu, sondern gebärdeten sich laut und dumm, und über Wege und Bäume und den sickernden Schnee huschten und flirrten die warmen Lichter; diese aber lauschten nach der erzählenden Sonne und ihren flimmernden Wünschen hin. – Wir drei Mädchen gingen den menschenleeren Weg. Suse schritt voran. Auf dem aschblonden Haare trug sie den mit geschickten Händen schön aufgeputzten Frühjahrshut mit buntem Laubgewind und leuchtend grünen Seidentuffen. Sie schlenkerte ein Paket Backwerk, das wir gemeinsam Vater zu bringen gedachten. Der Weg war lang; er führte durch eine öde Landstraße an einem baumlosen Weiler vorbei zu einem Hügel, auf dem das Irrenhaus, verborgen hinter einer Tannengruppe, lag.

»Die Welt scheint wieder einmal groß und schön werden zu wollen,« meinte Regine unerwartet aufseufzend, »und wir, wir sind so trostlose Leute.«

»Warum?« fragte ich erstaunt. Die traurigen Stimmungen Reginens waren mir damals noch fremd, und mein eigner freudiger Gemütszustand ließ mich noch jede schwermütige Anwandlung als Ueberraschung empfinden.

Regine blieb stehn. »Ach,« meinte sie, und ihre lautern blauen Augen verloren auf einmal allen Schimmer, »andre junge Mädchen gehn Sonntags über Land, gönnen sich's, haben's reich, haben's schön. Und wir? Wir arbeiten die ganze Woche angestrengt, und am Sonntag sitzen wir entweder zu Hause oder gehn ins Irrenhaus, seit Jahren, Jahren. Das ist so aschgrau und traurig.«

Ich wollte etwas erwidern und Suse blieb stehn. »Sag nichts, Suse!« wehrte Regine ab, »und du auch nicht, Anna, es ist doch so, wie ich sage, daran läßt sich nichts ändern. Seht, da habe ich mir eine hübsche Seidenbluse zugelegt,«fuhr sie mit bekümmertem Ernst fort, »aber ist vielleicht irgendwo in der Welt jemand, der mich neunzehnjähriges Ding bloß anschaut, hübsch findet und ein wenig bewundert?«

»Ich!« meinte Suse neckisch und nickte Regine wohlmeinend zu.

»Du? Was habe ich davon?« entgegnete Regine und schlenkerte ihr Ledertäschchen, als ob sie es auf die Straße werfen wollte. »Keinen einzigen Menschen hat man ganz für sich, keinen. Unsereins ist im Grund gottverlassen einsam in der Welt, im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Aber der Frühling, der fällt am schwersten; denn der geht uns Junge am meisten an. Und die Sonntage, die stets so viel versprechen und so wenig halten! Gott, fragt einmal die Einsamen aus über ihre Sonntage, auf die sie sich immer wieder trotz aller Enttäuschungen freuen, und vor deren Leere sie sich am Abend fröstelnd unter die Decke verkriechen! Gerade der Sonntag ist den Einsamen der Beweis, wie einsam sie sind. Ja, ja, wir haben keine Freunde, keine Verwandten, die uns einlüden, mitgenießen ließen am eignen Tisch, niemand, der uns wohlwollte, der uns gutgesinnt wäre, bloß darum, weil wir jung sind, unberaten und seiner bedürften. Du, Anna, empfindest heute noch keinen Mangel, weil du erst seit ein paar Tagen hier bist. Aber warte bloß. Das Elend der Einsamkeit wird auch dich überkommen.«

Reginens Stimme schlug um. »Aber hört, wollen wir nicht alle drei zusammen einen Ausflug machen in die Berge oder sonst wohin? Wollt ihr? Vielleicht erleben wir dann etwas Hübsches! Vielleicht lächelt uns jemand zu, nickt, winkt, bittet uns zu sich, heißt uns willkommen, wollt ihr?«

»Gewiß, gern,« entgegnete ich ihr, »ich kenne die Berge ja kaum.«

Aber Suse blieb wieder stehn. Halblaut sagte sie zu mir: »Du vergissest, Anna, oder scheinst es noch nicht zu wissen, daß wir beide rechnen müssen, Regine und ich. Wir verdienen sehr knapp. Unser Verdienst ist so schmal, daß es gerade fürs Nötigste reicht. Und besonders Reginchen ist arm daran. Ihr Prinzipal ist ein gemeiner, knauseriger Filz. Sie soll dir einmal selbst vorrechnen.«

»Eben, so ist es immer«, unterbrach sie Regine, die jedes Wort vernommen hatte, und ihr Gesicht rötete sich vor Erregung bis unter den breitrandigen Hut. »Immer das leidige Rechnen. Sorge und Not ertöten jegliche Freude. Darum fahre ich nachts auch immer so wild im Schlaf auf und schreie und weiß im Grunde nie warum. Das aber wird es sein: Das Weh und der Ekel um die frühzeitige Lebensnot. Wenn ein Fremder in unsre hohen Stuben tritt an der stillen Gasse, und sieht die feinen, alten Möbel von den Großeltern her, denkt er, wir müßten wohl recht wohlhabend sein, weil wir so schön wohnen. Und weiß nicht, wie arm die Mädel sind, die darin hausen, und wie kümmerlich und vernünftig sie knausern müssen, bloß um leben zu können und auszukommen in ihren schönen Möbeln.«

»Regine,« mischte sich nun Suse laut ein, »faß es nicht so schlimm auf. Was ist auch heute mit dir? Hast du wieder Lebensüberdruß? Es bietet sich doch auch uns mehr, als du glaubst. Nimm das, was am Wege liegt.«

Regine schien diesen Ratschlag bei ähnlichen Ausbrüchen schon öfters vernommen zu haben. Sie blieb stehn. »Das sagst du immer, Suse«, meinte sie in zürnendem Tone. »Du weißt aber auch, daß ich das nicht kann. Jeder hat seine Art. Ich kann das nicht.«

Eine Weile schritten wir wortlos fürbaß. Mir war ganz traurig zumute geworden bei diesem ersten tiefern Einblick in das Leben meiner Schwestern, das ich mir seit dem Abend meiner Ankunft, wenn auch schmal, eng, so doch in gewissem Sinne heiterer, freier und nicht so beklommen vorgestellt hatte.

Die Sonne strahlte indessen die Welt voll und goß all ihre Strahlen über die lockersitzenden Schneestreifen, die da und dort noch an Schattenplätzen auf den weiten Matten lagen.

Horch, da sang jemand! Es war Regine. Halblaut erklang zuerst die Melodie, dann wurde sie immer leiser und trostloser. Es war die alte, bittende Weise vom einsamen Veilchen, das unbeachtet am Wegrand duftet und verblüht. Nun brach das Liedchen jäh ab, zerrissen und verweht flatterte es davon. Ich hatte mich umgedreht. Ueber der Sängerin Wangen rieselten große, ratlose Tränen und tropften in trüber Schwere auf die neue Seidenbluse nieder.

»Reginchen, was ist dir?«

Aber sie achtete nicht der Tränen, nicht der Frage. Nochmals erhob sie die helle Stimme, und wieder ertönte das Lied vom einsamen Veilchen, scheuen Wehes voll, wie eine klagende Glocke aus dem goldenen Torenland der jungen Sehnsucht. –

*

Wir wurden im Irrenhaus angemeldet.

In einem frostigkalten Raume hieß man uns warten. Dann führte man uns durch die unverändert gebliebenen Gänge, die ich von meiner Kindheit her wohlkannte, in denen die Kranken wie unruhige Pendel hin und her wandelten. In der Ofenecke saß, wie auch vor Jahren, der blonde, dicke, verblödete Mann und aß gierig Schokolade aus einem Papierknäuel. Am Fenster stand, die Hände in den Hosentaschen, das Hemd auf der Brust weit offen, widerliche Bartstoppeln im Gesicht, die dürre Gestalt des einstigen Gelehrten, der jetzt in der Anstalt die Aufsicht über die Limonadenfläschchen führte.

Im obern Stockwerk tönten uns Geigenklänge entgegen. »Bist auch du immer noch da, armer Geiger?« fragte ich unwillkürlich. An der Türe des Kranken klebte ein Zettel aus grauem Packpapier: Nicht zuhören! Nicht stehen bleiben! Nicht durchs Schlüsselloch sehen! stand darauf. Wir gingen vorbei. – Vater mußte sich eben in der Nähe der Türe aufgehalten haben, als der Wärter sie öffnete, denn unvermutet standen wir einander gegenüber. Einen Augenblick sah er uns durch die Brille mit gespannter Aufmerksamkeit an, als ob er uns nicht sogleich erkenne, dann aber leuchtete sein ganzes Gesicht in unverhohlener großer Freude auf.

»Grüß Gott, Kinder!« sagte er mit zärtlicher Rührung in der Stimme. »Und du, Anna, bist wirklich wieder da!«

Er zog uns ins schmale Zimmer hinein, er küßte uns, trug Stühle zusammen, hieß uns sich setzen und setzte sich selbst vor uns auf die Bettkante hin. »Grüß Gott, Kinder!« wiederholte er nochmals, »und du Anna, sei mir besonders willkommen!« Zärtlich fuhr er mir über die Wangen. Wie verändert Vater aussah! Seine Kleider waren gering, von bäurischem Schnitt; unter dem Kragen, der viel zu tief saß und den abgemagerten Hals zu stark freigab, kauerte eine verfärbte, fadenscheinige Krawatte. Auf dem karggewordenen, blonden Haar, das sich aber immer noch in kleinen Löckchen ringelte, war eine türkisblaue, viel zu kleine Samtmütze gestülpt, in die vorn in der Mitte ein kreisrundes Loch eingebrannt war. Ueber dem gramesmürben Antlitz Vaters nahm sich diese Mütze armselig und grotesk aus.

»Was soll das Loch da oben?« fragte Regine sofort, deutete auf die Mütze und zwang sich in einen scherzenden Ton hinein.

»Puh, Vater, bist unrasiert«, meinte Suse, in den Scherz absichtlich einfallend. »Das geht nun eigentlich nicht, wenn man Damenbesuch bekommt.«

Vater nahm die türkisblaue Mütze herunter und betrachtete sie mit liebevoller Aufmerksamkeit. »Seht,« erklärte er uns, und aufrichtiges Bedauern klang aus jedem seiner Worte, »ich habe vorgestern abend in meiner Weltgeschichte etwas nachschlagen wollen. Zu dem Zwecke hatte ich die brennende Lampe auf den Nachttisch gestellt und das Buch daneben gerückt. Der Platz war schmal, ich konnte die betreffende Stelle lange nicht finden und bückte mich wohl dabei zu tief. Erst als ein brenzliger Geruch sich um mich herum verbreitete, merkte ich, daß mein Mützchen brannte. Nun trage ich es eben so weiter wie es ist. Es ist auch so immer noch schön.«

»Wundervoll«, lachte ihn Suse aus. Aber er wandte sich ernsthaft an sie. »Ihr wißt ja, daß es das letzte Geschenk von Mutters Hand ist«, sagte er, und dann setzte er das blaue, verbrannte Mützchen wieder aufs Haar.

Nun packten wir unser mitgebrachtes Backwerk aus und boten es Vater an. Aber zuerst wünschte er über uns alle Drei Bescheid zu wissen; mit aufmerksamer Teilnahme hörte er zu und versenkte sich in das Erzählte. Er fragte nach Einzelheiten aus der Vergangenheit, und sein treffliches Gedächtnis, das ihn während seiner ganzen Krankheit nie verließ, half ihm an früher Erzähltes aus dem alltäglichen Leben meiner Schwestern anknüpfen und weiterführen. Dann wandte er sich an mich und wünschte zu wissen, wie ich mir eigentlich mein zukünftiges Leben denke.

»Studieren möchte ich, wenigstens auf der Universität vorläufig Vorlesungen hören«, sagte ich zögernd.

Vater sah mich erstaunt und befremdet an. »Und dann?«

»Und später eine mir passende, berufliche Tätigkeit finden.«

»Ja, hast du denn Geld?« lautete nach einer Pause seine besorgte Frage.

»Nein,« entgegnete ich mit plötzlicher Zuversicht, »gerade das Notwendigste, wie Suse und Regine auch. Das heißt, etwas Erspartes, das, wenn ich sehr bescheiden bin, mir für ein Jahr – mein eigentliches Vorbereitungsjahr – auf ein Fachstudium hin vorläufig reichen muß.«

»So. So. Und dann?«

»Dann, dann ist mein Vorbereitungsjahr auf meine eigentlichen Studien hin um; das Studium aber soll erst dann bestimmt werden, wenn ich all das, was mir an Wissen fehlt, eingeholt habe. Dann werde ich auch weiter sehn, was zu machen ist.«

Ich fühlte, daß ich über und über rot geworden war, als ich das erste Mal vor Vater und mehren Schwestern über meine Hoffnungen und Ziele reden sollte. Vater blickte mir fortwährend mit einem merkwürdigen Ausdruck zweifelnder Spannung ins Gesicht. Und nun erzählte ich die Geschichte mit dem amerikanischen Milliardär, an den ich mich um einen Studienbeitrag, viel mehr im Ernste, denn im Scherz gewandt hatte, als mir der Gedanke an die Rückkehr in die Heimat zur Gewißheit geworden war. Ich erzählte, wie ich wochenlang auf seine Antwort gewartet, ohne ihrer am Ende gewürdigt zu werden und wie ich hierauf dennoch, auch ohne den Milliardär, beschlossen hätte, mein Vorhaben nicht aufzugeben, sondern es, wenn möglich unabhängig und ohne fremde Beihilfe auszuführen. »Siehst du, Vater,« fuhr ich fort, ich bin erschreckend unwissend, und ich möchte mit allem Eifer jetzt die Lücken in meinem Wissen wenigstens ausfüllen. Ich denke, ich werde mit Sprachstunden, Uebersetzen, Abschreiben vielleicht doch einigermaßen durch mein Studium durchkommen und dann den Beruf später finden, der meinen Fähigkeiten entspricht.«

»Und welches sind, glaubst du, deine Fähigkeiten?« unterbrach mich Vater.

»Ja, eben. Das ist's. Ich kenne sie im Grunde selber nicht«, mußte ich bekennen. »Wer hätte sie mir auch weisen und deuten sollen, wo ich doch nie. danach gefragt wurde und niemand da war, der sie mir hätte ausbauen helfen? Was hat uns die karge Anstalt andres mitgegeben, als falsche, enge Begriffe, die umzubiegen und zu erweitern allein viel Zeit und eifriges Ehrlichsein erforderten? Wir mußten, alle drei, wie du wohl weißt, unser Brot verdienen, sobald wir auf den Füßen standen. So wurde man gezwungen, nach außen und nie nach innen zu leben und auf sich zu hören. Wie sollte ich darum über mich Bescheid wissen? Wissen die Menschen überhaupt Bescheid von sich? Und je aufrichtiger wir zu sein streben, desto weniger wissen wir von uns, scheint mir. Ich glaube nur, Vater, daß es eine ernsthafte Sache ist, zu leben und richtig zu leben, und seine eigne, reine Auffassung vom Leben zu haben, zu halten und zu erhalten ist gewiß ein tapferes Unternehmen; das glaube ich.«

Vater blickte mir immer noch mit derselben gespannten Aufmerksamkeit ins Gesicht, und ermuntert fuhr ich deshalb fort: »Ich konnte mich einfach nicht mehr zufrieden geben, fremde Kinder fremder Eltern zu erziehen. Es wird, glaub es mir, auf die Länge zur trägen und dürftigen Aufgabe, die im Grund auch danklos ist. Sollte ich so weiterleben bis ans Ende meiner Tage, mit der einzigen Abwechslung, ab und zu die Stellung zu wechseln und statt im Haus eines Obersten in dem eines Generals zu dienen? Wo blieb denn ich selbst dabei? Und wie die endlosen Wochen verbringen in diesem unbefriedigenden Zustand und von Sonntag zu Sonntag sich vertrösten auf das eigentliche, reiche, vollgültige Leben, von dem schließlich ein jeder träumt? Ich fragte mich, ob das wohl die einzigen Farben wären, die es für mich in Bereitschaft halte, diese arme, blasse, dahingleitende Wirklichkeit, die mir nichts von meinen Träumen wahrmachte? Ich ahnte und ahne doch auch etwas von der Unerschöpflichkeit dieses Lebens und will nicht umsonst allen meinen Glauben darauf gerichtet haben. Irgendwo muß es doch auch für mich verborgen sein, dies starke, greifbare Gefühl alles Lebendigen, von dem ich plötzlich erfaßt worden bin. Siehst du, mir ahnt auch, ein jedes unter uns habe seine Bestimmung und habe auf einen Namen zu hören, wenn es einst gerufen werde. Verstehst du mich, Vater?«

Ohne mich zu unterbrechen, blickte der Kranke mir immer noch aufmerksam ins Gesicht und rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand nervös aneinander, wie er das immer tat, wenn ein Eindruck sein Gemüt stark in Anspruch nahm.

»Siehst du, Vater,« fuhr ich, immer eifriger werdend unter seinem aufmerkenden Blick, fort, »aufrichtig möchte ich vor allem sein. Ein guter Mensch möchte ich werden können. Dies vor allem. Und was nun mein Studienziel betrifft, so kenne ich es heute, wie gesagt, noch nicht. Ich kenne an mir und meinen Fähigkeiten bloß das, was ich durch eigne Beobachtung, im Vergleich mit andern, prüfend und wägend, mehr herausgefühlt als herauserkannt habe. Ich bin selbst gering. Aber ich habe das richtige Gefühl für das wahrhaft Große, das weiß ich. Und dieser Instinkt wird mich befähigen, einst wenigstens in die Nähe des Großen zu kommen. Ich fasse leicht, habe Talent für Sprachen, ich habe auch immer gut gezeichnet, male heute ganz ordentlich, und es fehlt mir nicht an Erfindungsgabe. Das ist aber auch das einzige Tatsächliche, was ich über mich zu berichten weiß. Und das ist wenig genug. Die Hauptsache aber scheint mir, ist der Durst, den ich in mir spüre. Der wird mich führen. Richtung, Maß, Ziel, Weg, das alles wird er mir bestimmt weisen. Das trügt nicht, Vater, siehst du, das kann nicht trügen.«

Vater blickte mir immer noch ins Gesicht, wartete eine Weile, dann sagte er langsam und tonlos: »Ich wünsche es dir, mein Kind.«

Er hatte vor meinem jungen Glauben die umflorten Augen gesenkt, dann seufzte er tief auf. Es war jener schwermutbeladene, zitternde Seufzer, den ich von früher her kannte, und den ich so nie sonst an einem Menschen vernommen habe. Wenn Vater seufzte, war es, als ob der Schatten eines jeder Hoffnung und jeden Glaubens baren Daseins mit wunden Augen durchs Zimmer schreite. Ich wagte nicht mehr, weiter zu reden und brach ab.

»Iß jetzt dein Backwerk!« mahnte Regine, um Vater auf andre Gedanken zu bringen, und Suse breitete das Papier mit den Süßigkeiten auf seinen Knien aus.

Aber der Kranke schien noch mit dem eben Gehörten beschäftigt. »Du hast also nicht viel Geld, Anna«, hub er an. »Ja, wo sollten meine Kinder es auch hernehmen? Ich war auch ein armer Student seinerzeit, das heißt, man hielt mich kurz, weil die gestrenge Mutter das so haben wollte, eure böse Großmutter. Aber ich hatte einen Vater, der helfen konnte, wenn es not tat. Du hingegen, Anna, hast keinen. Helfen kann ich dir mit nichts. Aber wenn du je in arge Not kommen solltest, dann kannst du dies da haben, wenn du's brauchst.«

Wir lächelten alle drei; denn wir wußten bereits, was gemeint war. Vater griff in die Tasche und zog einen alten, häßlichen Lederbeutel hervor. Im Mittelfach lag ein schönes, schimmerndes Fünffrankenstück. Ein Amtsbruder, der einst als Student mit Vater engbefreundet gewesen, hatte es ihm einmal vor Jahren bei einem Besuch im Irrenhaus geschenkt. Dies Geldstück bildete für ihn, den Enterbten, dem sonst kein Geld zur Verfügung stand, einen wirklichen Schatz, der ihm Hintergrund und eine gewisse menschlich-bürgerliche Gewähr und Sicherheit bot und ihm die Illusion eines finanziellen kleinen Rückhalts vorzauberte. Seit Jahren bot er uns Kindern an Weihnachten, Ostern, Geburtstagen und bei sonstigen Anlässen abwechslungsweise dies stolze Silberstück liebevoll an und drängte es uns mit dem besten Willen und viel Ueberredungskunst auf. Keine von uns aber würde natürlich je daran gerührt haben. So auch heute. Mit wehmütiger Befriedigung steckte Vater sein Geld wieder in das Mittelfach des häßlichen Lederbeutels. – Dann verzehrte er sein Backwerk. Einen Kuchen nach dem andern aß er rasch auf. Den letzten aber, den, der mit Schlagsahne gefüllt war, und den er am liebsten aß, wickelte er sorgfältig wieder in das Papier und schob ihn uns zu. »Den eßt ihr dann zu Hause!« meinte er.

»Einen einzigen für uns alle drei?« rief Suse fröhlich. Wir lachten alle über Vaters naive Wohlmeinenheit, und er lachte mit. Da ertönte durch das geöffnete Gitterfenster aus dem nahen Walde der Gesang froher Stimmen. Es war ein bekanntes, vielgesungenes Lied, das zu uns herüberdrang. Der Kranke hob aufhorchend den Kopf. Dann räusperte er sich, versuchte seine Stimme und fiel unvermutet in den Gesang ein.

»Singt auch, Kinder,« bat er uns, »wir haben so lange nicht mehr miteinander gesungen!« Wir gehorchten. Eine um die andre von uns fiel mit ein, zuerst Reginchen. Hochaufgerichtet stand Vater da, das Antlitz dem offenen Fenster zugewandt. Sein blaues, verbranntes Mützchen hatte sich nach hinten verschoben. Er sang mit starker Stimme. Dann rötete sich sein Gesicht, die Adern am Hals quollen auf. Im Ueberschwang von Ergriffenheit und Rührung des Augenblicks zwang er seine Stimme, überlaut zu werden. Es schien, als ob der Arme mit seinem lauten Singen klang- und sanglose Jahre selbstvergessen überschreien wolle. Und unsre drei jungen Stimmen klangen mit hinaus in diesen ersten Vorfrühlingstag und drangen hinunter in den hochummauerten Garten, wo in den schmalen Wegen die Kranken hin und her wandelten, diese Elendesten unter den Menschen.

*

Es galt, alles Trübe abzuschütteln und den jungen Mut leuchten zu lassen.

Jetzt, nachdem ich Vater begrüßt und ihm mein Vorhaben mitgeteilt, wollte ich meine Pläne zu verwirklichen suchen. Es war gerade der richtige Zeitpunkt dazu. – Was würde mir das Jahr bringen? Mit der tiefen Bescheidenheit und Scheu des Uneingeweihten und geistig Bedürftigen, betrat ich das erste Mal die Räume der Universität. Als ich in Gegenwart des Pedells meinen Namen in die Liste der Hörerinnen eintrug, zitterte meine Hand, und kindliche Bangigkeit befiel mich, weil mir schien, ein jeder würde die beschämende Unzulänglichkeit meines geringen Wissens unfehlbar sofort erraten können. Meinen Platz im Hörsaal wählte ich zuhinterst an der Wand, und als ich einst während der Vorlesung nach dem Heft meines vierschrötigen Nachbars hinüberzuschauen wagte, trug ich die Ueberzeugung davon, daß er, mein Nachbar, wohl das Lebendige und Bleibende, das Gute und Bedeutende des Vortrages sicherlich festgehalten habe, während ich in meiner geistigen Armut und Verwahrlosung gewiß nur Unwichtiges und Unwesentliches zusammentrage. Diese meine bedingungslose Ehrfurcht des Neulings vor dem Wissen übertrug ich im Anfang auch auf die Person der Studierenden selbst, sodaß mir die unbedeutendste und einfältigste Physiognomie, die mir in den Hörsälen begegnete, als der Ausdruck eines geistigen Besitztums vorkam, das ich mir erst erwerben mußte. Trotz meiner Befangenheit fühlte ich mich aber in der ungewohnten Atmosphäre wohl und heimisch. Hier, wo nach meinem Ermessen jedem Wort, jeder Gebärde erhöhte Bedeutung zukam, weil Ernst und Gründlichkeit die hier allein gültigen Maße sein konnten, die an Mensch und Arbeit gelegt wurden; hier, wo die Ehrfurcht vor dem Adel des Wissens durch den Ernst jedes Einzelnen bekundet wurde – wo jeder, wie es mir schien, sowie auch ich, nur nach Sinn, Klärung und Deutung seines eignen Weltbildes suchen mußte – hier mußte auch für mich das in Fülle zu finden sein, wonach ein dunkles Bedürfnis in mir verlangt hatte. Ich war noch jung. Ich konnte all das Neue und Große, das mir jetzt entgegenkam, noch nicht erfassen und nicht durchdringen. Aber eines Tages mußte es mir offenbar werden. Hier mußte der breite Strom fließen, in den ich mich ruhig hineinlegen und tragen lassen konnte, einem sichern Ziele entgegen.

Und so geschah es denn, daß ich in der gierigen Hast des Lernbeflissenen ausgiebigen Gebrauch machte von allem, worauf ich als Studierende ein Recht hatte, so auch von meinem Benutzungsrecht der Bibliotheken. Wenn ich in die altmodisch feierlichen Räume trat, wo mir die Bücher in endlosen Reihen zu Gebote standen, wurde es in meiner Seele immer zuversichtlich und still. Ich holte mir Buch um Buch, stapelte sie auf dem Tisch unsres Mädchengemachs auf und schlang nun Nötiges und Unnötiges in mich hinein, bunt und planlos durcheinander. So rasch wie möglich wollte ich mir Genüge tun, nach allen Seiten hin horchte und sammelte ich, tastete, suchte, vernachlässigte keine Vorlesung, überging keinen öffentlichen Vortrag. Einem Drang nach Uebersicht gehorchend, trug ich geschäftig alle möglichen Notizen und Bemerkungen in ein dickes Heft ein und suchte auf diese Weise bereits erworbene Aufschlüsse über das Wesen der Dinge festzuhalten, um sie als Einzelglieder miteinzureihen in das Ganze, das mir später mit aller Gewißheit würde geoffenbart werden. Mein naiver Eifer und meine Geschäftigkeit waren so groß, daß ich nicht merkte, wie ich andres, was auch zum Leben eines jungen Menschen gehörte, hintansetzte, daß die Wochen gingen, und der verspätete Frühling längst gekommen war. Ich gewahrte ihn erst, als ich eines Morgens meiner Gewohnheit gemäß, die Fenster des Mädchengemachs weiter als sonst öffnete und die Sonne mit ungewohnter Helle in jeden Winkel des Raumes hineinleuchtete.

Nun wurde ich aber vom Frühling, der eigentlich schon Sommer war, förmlich überrumpelt. Weit vor beugte ich mich.

In der Luft regte sich's, oben, unten, überall surrendes, wimmelndes Leben. Im kleinen Garten des Hausherrn war das Gras längst aufgeschossen, die totgeglaubte Schildkröte war aus ihrer Erdgruft hervorgekrochen, spazierte im schmalen Kiesweg mit unsichern, taumelnden Schritten, und die zottige Tanne bereitete den Finken und Meisen das gastliche Haus. Gegenüber am Hang, dort wo er sich gegen den Fluß senkte, wehten die jungen Birken ihre Zweige dem Wasserwind entgegen. Und wie ich zur Brücke, die sich weiter unten über den Fluß wölbte, hinunterblickte, da sah ich viele junge Menschen darüber gehn, rasch und erfreut, die schauten sich ins Antlitz, und ihre Augen fragten: Bist du's? Bist du's nicht? Die Alten aber, die an ihnen vorüber mußten, senkten verworren die Blicke und predigten den Herzen Stille und Zufriedengeben. Und ich? Gehörte ich denn nicht zu den Jungen? O Jubel, o schöne, große, gnadenreiche Welt!

Was tun, um auch endlich den ersten Frühling in der Heimat zu begrüßen? Warum sprachen Suse und Regine nie davon? Sahen sie ihn nicht? War er ihnen verhängt und verdüstert durch die tägliche Arbeit? Wir mußten eine Frühlingsfeier gemeinsam veranstalten, wir drei Jungen! Eine Frühlingsfeier! Hörst du's, garstige Großmutter? Aber jetzt, was jetzt, gerade jetzt tun?

Ich lief in unser Schlafzimmer hinüber, das nach der Gasse hin und im Schatten lag und riß unser sämtliches Bettzeug aus den Betten, Kissen, Decken, Leinen, Federbetten. Ich breitete alles über dem Sims der zwei Fenster des Mädchenzimmers aus, sodaß die weißen Linnen bis auf die Fenster des untern Stockwerks hinunterhingen und wie flatternde Fahnen ausschauten. Ich belud mit den Decken alle Haken und Riegel der Fenster und ruhte nicht eher, bis das Weiß der Stoffe vom Sonnenglanz festgepackt und durchtränkt wurde, bis alles sich mit einem Schimmer frischer, echter Frühlingswärme überzog, sodaß nach und nach das Sonnenlicht in Leinen, Wolle und Federn hineingebannt schien und meine Finger beim Berühren in milder Glut brannten.

*

Ob denn Suse und Regine wirklich nichts vom Frühling gemerkt hätten, fragte ich sie später. Ja, gewiß hatten sie ihn gesehen; aber Arbeit und Pflichten hatten ihnen die Sonnenstrahlen überschattet. Als ich jedoch plötzlich ungestüm meine Freude zu äußern begann über die endlich entdeckte Pracht und Schönheit draußen, da schien sie in Suse besonders ein Echo zu rufen. Eine nicht lärmige, aber dennoch ansteckende Lebenslust ging auf einmal von ihr aus.

Wer war eigentlich Suse?

Sie führte für sich ein Sonderleben. Wir, Regine ebensowenig wie ich, kannten im Grunde ihre Neigungen und die Vorstellungen der Pflicht und Ehre, die sie sich für ihr Dasein gestellt haben mochte. Sie äußerte sich selten oder nie über sich selbst, schien ohne besondere Gedanken den Tag hinzunehmen. Wir fühlten deutlich, daß sie ihr wahres Wesen von uns beiden forttrug zu Menschen, die wir nicht kannten, die sie uns vorzog und deren jeweiligem Einfluß sie sich wehrlos aussetzen mußte, weil, das fühlten wir auch, kein von sicherm Instinkt und tüchtigem Verstand geleitetes Urteil über Dinge und Menschen ihr auch nur notdürftige Ueberlegenheit und Beherrschung sichern konnten. Ihr angenehmes, unbestimmtes Gesichtchen mit den leicht verwischbaren Zügen, wechselte selten den Ausdruck und barg hinter der weichenden Stirn mehr, als es offenbarte. In diesen Tagen des Frühlings aber trug Suse, die sonst Widerstrebende, eine gleichmäßige, friedliche Offenheit uns gegenüber zur Schau, eine Offenheit, von der wir wußten, daß sie sich durch den geringsten Umstand, den kleinsten Widerspruch von unsrer Seite wieder in plötzliche, befremdende Verstocktheit verwandeln konnte.

An jenem Abend, dem Abend unsrer Frühlingsfeier im Mädchenzimmer, war Suse besonders aufgeräumt. Sie hatte sich einige Tage vorher aus schillernden Seidenstreifen, die sie aus dem Geschäft mitgebracht hatte, kunstvoll ein Paar Pantoffeln gewirkt, indem sie die bunten Bänder fest kreuzte und durcheinanderwarf und darauf das ganze auf einer leichten Ledersohle festnähte. Der Schuh, der am Knöchel mit einer großen, schwarzen Masche festgebunden wurde, sah kokett und niedlich aus.

Jetzt kam sie vom Schlafraum her ins große Mädchenzimmer in ihrem neuen Schuhwerk, hob abwechselnd die hübschen Füße, stemmte die Arme in die Hüften und neigte leicht den Oberkörper vor. Ihre Bewegungen gingen nach und nach in Tanz über. Warm strömte die Abendluft durch die offenen Fenster herein, der Mond stieg den Himmel hinauf. Noch eine Weile würde es dauern, und er hielt vor den Fenstern. Jetzt setzte er sich auch schon hinter der Tanne fest und schaute groß zu uns herein. Wir löschten die Lampe. Regine holte ihre Mundharmonika hervor, setzte sich aufs Fensterbrett und spielte ihren einzigen, mühsam erlernten Tanz, da auf dem billigen Instrument die notwendigen Töne zu bessern Variationen fehlten.

»Komm, Reginchen, ich bringe dir den Walzer bei,« lud Suse sie ein und zerrte die Spielende vom Fensterbrett herunter, »komm, du mußt ihn tanzen lernen.«

Suse machte eifrig den Walzerschritt vor, hob die Röcke, wiegte sich hin und her. Regine ging mit. Unser Frühlingsball begann. Bald wirbelten wir alle drei durchs hohe Zimmer, pfeifend, singend, fingen uns, gaben uns frei und versuchten abwechselnd unsre Kunst auf der alten Harmonika. Wir durchwalzten das Gemach, wirbelten an den böswilligen Augen der strengen Großmutter vorbei, hinunter zum grünen Kachelofen. Wir fegten die Teppiche zur Seite, versetzten Reginens Klivia, die tagsüber an der Sonne hauste, einen bösen Stoß, stießen auch an den Büchertisch, daß die Bücher sich schüttelten, die Tassen im Schrank erzitterten, die Standuhr auf dem Kaminsims zu surren begann und unter dem eisernen Schutzvorhang des Kamins kleine Aschenhäufchen auf den Teppich herausflogen. Der Mond sah unsrer Lustigkeit aus seinem nachtblauen Hause mit runden Augen gutmütig zu. Wir tauchten ein in fein schimmerndes Licht und in unsre eigne, sprudelnde Lebenswonne und hörten mit Tanzen erst auf, als er längst hinter der zottigen Tanne weggewandelt war und den Nachbarsleuten in Scheiben und Betten schaute.

»Das tat gut,« meinte Reginchen und lehnte hoch aufatmend am Kaminrand, »man möchte doch auch einmal von Herzen lustig sein können! Und dabei kostet ein derartiger Ball rein gar nichts, das ist noch das Beste dran.« Draußen schlug die Turmuhr zehn. »Nun gehn wir aber zu Bett«, fuhr Regine fort und zog bereits die Nadeln aus dem blonden Haar. »Es ist zwar eine herrliche Nacht, man sollte sie nicht verschlafen müssen.«

Da ertönte durch das offene Fenster ein kurzer Pfiff. Suse blieb mitten im Zimmer stehn, horchte auf und zwängte hastig mit raschen Händen ihr losefallendes Haar in einen Knoten; dann eilte sie ans Fenster und beugte sich weit vor in der Richtung der Brücke. Der kurze Pfiff wiederholte sich. Nun lief sie mit ihrem aufgewühlten Haar und den heißgetanzten Röcken aus dem Zimmer und warf die Türe unwirsch hinter sich ins Schloß.

»Wer ist es, der sie ruft?« fragte ich erstaunt, »galt der Pfiff ihr?«

»Es wird der Däne sein«, entgegnete mir Regine und lachte, »sonderbar, der, der nicht einmal deutsch kann.«

»Wie verständigt sie sich denn mit ihm?« fragte ich erstaunt.

»Ich weiß es nicht, da mußt du Suse wohl selbst fragen«, gab sie mir zur Antwort.

*

Nach unserm verspäteten Frühlingsball ging der Alltag wieder fort. Mein Lerneifer dauerte an; ich saß oft bis spät in die Nacht über meinen Büchern. Eins machte mich unruhig: Ich fühlte den innern Fortschritt nicht, den ich erhofft hatte; denn meine Bereicherung in Wissen und Arbeiten bot vorläufig nach außen hin nichts Greif- und Wahrnehmbares, das mir als Prüfung für mein Vorwärtsschreiten hätte dienen können.

Die Zeit lief. Der Sommer war längst da. Regnerisch und düster hatte er begonnen. Dann aber setzten Tage ein von heiterer, klarer Sonnigkeit, und tiefes, wolkenloses Blau spannte sich über das Land viele Wochen lang, sodaß die Hitze groß war, die Sohlen auf der trocknen Erde brannten und das Auge zu schmerzen begann von dem feinen Geflimmer der Luft. Es waren köstliche Tage für diejenigen, die Muße hatten, sie zu sehn und zu genießen. Wir drei Schwestern aber fühlten ihre Schönheit als etwas, das bloß vor den Fenstern stand, oder eher als Hintergrund, von dem unser Arbeiten sich abhob, als daß wir ihren Prunk durchkosten konnten. Wie durch offenstehende Türen liefen diese Sonnenwochen bei uns aus und ein, und wir achteten kaum ihr Kommen und Verweilen. Suse steckte in ihrem Seidengeschäft in der sogenannten haute Saison, denn das Städtchen barg viele Sommergäste, und Regine schleppte oft des Abends noch große Bogen beschriebener Blätter an die stille Gasse zum Korrigieren und schlief oft müde darüber ein. Ich dagegen hatte, meine Scheu und Zaghaftigkeit überwindend, mich auf der Universität für eine erste Versuchsarbeit literarischen Charakters angemeldet, arbeitete fleißig daran und war, nachdem ich sie überreicht, zu meiner Ueberraschung nicht nur mit der Anerkennung meines verehrten Lehrers, Professor W., ausgezeichnet worden, sondern er hatte mich nach Hause geleitet, mit regem Anteil mit mir gesprochen und mich gefragt, was ich zu studieren und mit welchem Examen ich abzuschließen gedächte. Diese Auszeichnung war mir eine hohe Freude und ein Ansporn auf mein unbekanntes Ziel hin. Wohl wissend, wie sehr Vater an allem was uns Kinder anging, Anteil nahm, hatte ich ihm für ein paar Tage meine Arbeit zugestellt und erwartete gespannt auf sein mir wertvolles Urteil. Das Ueberraschende, aber wahrscheinlich ganz Naturgemäße war, daß kurz nach der Vollendung dieser meiner Arbeit, die mich ein paar Wochen lang in höchster Ehrgeizspannung gehalten, mich ein Gefühl der Erschlaffung und des Mattseins überkam, das mich unsicher und verworren machte. Vielleicht waren die lockenden, sonnenreichen Tage daran schuld, vielleicht hatte ich auch wirklich durch einseitigen Eifer meine Kräfte zu sehr in Anspruch genommen, Geist und Gedächtnis überlastet. Wenigstens geschah es, daß schon ein paar Tage, nachdem ich von Professor W. das erfreuliche erste Lob eingeholt, und das mich zuversichtlich hätte stimmen sollen, meine Lernbegier jäh abzubrechen drohte, wie eine Lanze an einer festgefügten Mauer. Fragen stellten sich plötzlich ein: Wo bleibt mein Leben? Komme ich wirklich durch die Bücher allein weiter in meinem Denken, in Gefühl, Geist und Gemüt? Klären sie mich tatsächlich über das Dasein überhaupt und mein eignes auf, und verschaffen sie mir diejenige innere Festigung und Sicherheit, womit ich das unbedingt Wahre und Schöne einst erkennen könnte? Gibt es ein absolut Wahres und Schönes, wo ist es, und bin ich auf dem Wege dazu? Tragen die Bücher in die geistige Verfassung meiner zweiundzwanzig Jahre Ordnung, Bewußtsein und Befriedigung hinein, und sicherten sie mir Unabhängigkeit von all den Einflüssen, denen ich mich zugänglich fühlte? Festigten sie meinen Charakter und beruhigten und bereicherten sie mich derart, daß meine Jugend alles andre außer ihnen entbehren konnte? Vor allem: Ersetzten und gaben sie mir den Reichtum jenes Lebens, von dem ich durstig geträumt? Wo blieb es, dieses Leben?

Ich stand in der Tiefe unsres hohen, lautlosen Mädchenzimmers, hatte die glühenden Hände an die Kacheln des alten Ofens gelegt und fühlte alle diese Gedanken wie lebendige Wesen auf mich zukommen. Unerträglich einsam kam ich mir plötzlich vor, mehr als das: Vereinsamt. Ich ertappte mich dabei, daß ich die Menschen, die mir wirklich zugehörten, die wirklich oder scheinbar mein waren, an den Fingern abzählte. Wie wenige waren es im Grunde: Mein kranker Vater und meine beiden Schwestern, und dabei fragte ich mich zweifelnd, ob das Verhältnis zu meinen Schwestern – ich dachte besonders an Suse – nicht eher eine Sache des verwandtschaftlichen Zufalls, denn eine ursprüngliche und beruhigende Zusammengehörigkeit sei, welche stark mit Liebestüchtigkeit ausgerüstete Menschen zum vornherein für einander empfinden können. Es mußte tiefere und stärkerbindende Gefühle geben, das begann ich schmerzhaft einzusehen. Fehlten uns gemeinsam durchlebte Geschehnisse, die uns fester knüpften? Wir drei sahen und kannten uns im Grunde wenig; die gemeinschaftlich verbrachten Stunden eines raschen und kurzen Mittagessens an einem billigen Kostorte, die müden Abendstunden und die größtenteils bei Vater verbrachten Sonntagnachmittage, das alles war kaum angetan, uns einander näher zu bringen. Ich verlangte plötzlich mehr; dies Flüchtige, Vernachlässigte taugte nicht; ich fühlte mich befähigt zu innigerm Lieben. Das Bedürfnis nach ganz nahen Menschen, nach Mitteilung, nach guter, fordernder und auch verschwenderischer Freundschaft, nach Hingabe und eingehendem Verständnis und Gedankenaustausch in meiner Heimat stand auf einmal wie eine Erscheinung mit großen Augen mitten im lautlosen Mädchenzimmer und forderte Rechte für sich allein.

Da klopfte es. Ein Bote von Vater brachte mir meine Arbeit zurück. Gespannt durchsuchte ich die Blätter nach einem Wort von Vaters Hand. Auf dem letzten endlich entdeckte ich seine krausen, dichtgedrängten Schriftzüge. Es hieß: »Du machst Fortschritte, das ist gut. Aber vergiß nicht, mein Kind, daß du eine Frau bist, und werde nicht zu gelehrt!«

Ich schritt im Zimmer auf und ab und dachte nach. Was wollte Vater mit seiner Mahnung sagen? Trachtete ich denn nach Gelehrsamkeit? War es nicht vielmehr die Angst um meine geistige Entwicklung und menschliche Vervollkommnung gewesen, die mein starkes Streben wachgerufen hatte? Sollte ich als Frau das Auge nicht auch auf das Ganze meines Daseins richten dürfen? Trug ich nicht angstvoll gehütet meine Ideale mit mir herum? Hatte ich sie mir selbst in die Brust gelegt? Saß in mir nicht auch der Gram um das Wollen und Nichtkönnen und die Freude am Können? War ich nicht gerade jetzt schmerzvoll zersplittert, und litt ich nicht unter Enttäuschung und Einsamkeit, gerade so wie der Mann? Würde ich, falls mein Dasein ohne Erfüllung bliebe, die Reue nicht kennen über ein vergeudetes Leben, und fühlte ich mich nicht, wie alle Menschen, ob Mann oder Weib, bedrückt vom Gedanken des Todes, der Vereinsamung und des Vergessenseins?

Warum sprach Vater so zu mir? Er, der Kranke, war der Einzige, der an meinem Leben ein tieferes Interesse nahm. Er hatte um meine Pläne gewußt. Warum sprach er jetzt so? Was tun und was lassen? O über ein junges, unberatenes Herz! Es ist bitter, wenn es sich nirgends geborgen weiß, wenn die Verworrenheit sich unversehens einstellt und wenn es sich kein Obdach kennt, wohin es seine Befangenheit, zum voraus gebilligt, hintragen könnte! –

Die folgenden Tage fanden mich in einem Zustand verworrener Mattigkeit und Unruhe. Ich konnte meine Bücher nicht ansehn; sie machten mich nervös und kamen mir vor wie eine Phalanx aufgereihter Feinde. Mit aller Macht drängte es mich von ihnen weg, aus meiner selbstgewählten Einsamkeit hinaus zu lebendigen, warmen, guten, empfänglichen Menschen, die mich beraten konnten, die besser wußten, was tun, was lassen.

Als einst am Abend Regine ins große Mädchenzimmer trat, sagte ich ungeduldig zu ihr: »Sag, wo um Gottes Willen findet man bei uns Menschen? Ich meine solche, die uns brauchten und denen wir, ich meine auch ich, etwas bedeuten könnten? Es laufen soviel Leute in den Straßen unsrer Stadt herum; du lebtest immer hier, du mußt doch Bekannte, Freunde haben. Ist denn niemand auch für mich da?«

Regine legte ihren Hut auf einen Stuhl, wandte sich mir langsam zu und blickte mich groß an. Erst nach einer Weile aber meinte sie: »So, so – du hungerst nach Menschen? Hat es dich nun auch gepackt? Ich dachte mir, deine Bücher machten dich satt.«

Ich trat zu ihr hin und ergriff sie bei den Schultern: »Nein, nein, heute nicht mehr«, rief ich laut, und fühlte, daß mir Tränen in die Augen stiegen.

Regine wickelte Eier und Butter aus einem Paketchen, band eine Schürze vor, während ich, ihrer Antwort harrend, den Tisch zu decken begann.

»Menschen sollte ich gefunden haben, Anna, Freunde?« meinte sie endlich halbspöttisch. »Ich denke, du hast mehr Zeit und mehr Gelegenheit dazu als ich. Und an der Universität?«

»Ach Gott, da geht man aneinander vorbei, grüßt sich und läßt's beim Gruße bewenden. Davon wird man nicht satt. Aber das scheint hier so Brauch zu sein«, entgegnete ich.

Regine stellte sich vor mich hin: »Meinst du wirklich, Anna, ich hungre nicht? Nach Menschen, nach dem Leben, nach allem? Es ist doch so armselig, das Dasein, das ich zu führen gezwungen bin. Jeden Tag sage ich mir: Nun gehst du nicht mehr ins Kontor, an diese Art Arbeit, läufst einfach davon von einer Stunde zur andern. Jeden Morgen möchte ich meinem Chef ins fleischige Gesicht rufen: Ein Lump bist du, ein schmieriger Fetzen Mensch! Du nutzest meine jungen Kräfte aus und gibst mir für meinen müden Kopf gerade so viel, daß ich ihn nicht an der Wand einzurennen brauche. Wenn du ihn sehen könntest, Anna, den geizigen Hallunken, wie er seine gierigen Augen, farbigen Kugeln ähnlich, unter den Brauen hervorrollt, wenn ich ein paar Franken Gehaltserhöhung verlange oder letzten Winter vorbrachte, meine Kollegin und ich frören, da der Raum, in dem wir die Korrekturen durchsehn, seines Geizes halber nicht geheizt werden darf. Er sitzt im warmen Zimmer, wir aber korrigieren unsre Bogen mit blaugefrornen Händen. Glaubst du denn, ich möchte nicht fort oder mir wenigstens eine andre Art Stellung suchen? Nicht nur das wünschte ich, sondern ich möchte auch vieles, vieles, vieles wissen und von ganzem Herzen nützlich und gütig sein können, und statt dessen, scheint mir, komme ich mit jedem Tag weiter weg von mir selbst. Ich verlaufe mich. Alles in mir, mein Bestes, mein Tapferstes, verkriecht sich vor dem Muß des Alltags wie ein geprügelter Hund unter dem Ofen um des kargen Brotes willen. So ist es, Anna.«

Ich blickte, ohne meine Schwester zu unterbrechen, gespannt nach ihr hin. »Du bist wohl heute sehr müde und verstimmt, Reginchen«, versuchte ich einzuwenden.

»Vielleicht«, gab sie mir zur Antwort. »Es ist auch natürlich so. Wie konnte ich nicht müde und verstimmt sein! Menschen finden, meinst du? O, wie oft habe ich es versucht, auch in meinen Arbeitskreisen. Aber immer habe ich die Erfahrung gemacht, daß gerade das, was bei uns zu Lande und in diesen Kreisen Freundschaft heißt, auf lockern Füßen steht. Heute schließt man sich aneinander an, morgen löst man die Bande wieder. Dann urteilen beide Teile herb und ungerecht über einander und verurteilen sich gegenseitig mit unbilligem Zorn. Hörst du bei uns die Leute über Freundschaft reden, so sind sie alle Enttäuschte. Und von jedem vernimmst du stets dieselbe Redensart: Daß man in seinen vier Wänden bleiben werde, weil es so am besten sei. Zum Schlüsse leben alle notgedrungen nur noch für sich allein. Siehst du, diese Dinge habe ich so oft gehört, und sie kamen mir immer wenig verlockend, dumm, eng und furchtbar gewöhnlich vor.«

»Ja – aber es muß doch bei uns auch Menschen geben mit festern und zuverlässigern Gefühlen?« warf ich ein.

»Vielleicht. Ich denke ja. Aber wo sind sie? Wer sind sie? Wie sollte ich sie finden können? Etwa in den kargen Arbeitspausen? Vielleicht verbergen sie sich in der Geschlossenheit der Familie, ich weiß es nicht. Die Familie ist bei uns egoistischer als anderswo, scheint mir; sie verschließt sich hinter ihren Türen und lebt bloß für sich. Und Familienlose wie wir, die bleiben eben vor diesen Türen stehn und sind doppelt einsam. Es muß anderswo gewiß anders sein. Nein, nein, es kann nicht überall so aussehn, so aussichtslos und schwer. Du hast doch erzählt, Anna, daß man anderswo gütiger, freier, rückhaltloser in der Liebe sei. Aber bei uns ist man eng und klein. Man erdrückt sich. Es fehlt das rasche, warme Entgegenkommen, dessen wir Junge so sehr bedürfen. Es gibt dafür aber eine große Menge Leute, die mit eifriger Regsamkeit das ganze Zivilstandsregister auswendig lernen möchten, um genau zu wissen, ob nicht allenfalls jemand in ihrer Nachbarschaft vor der angesetzten, legalen Frist zur Welt gekommen sei, damit man ihn hierauf mit einem Fetzen der Unehrbarkeit noch von seinen Großeltern her behängen könnte!«

Ich mußte lachen. »Du siehst zu schwarz, Reginchen«, versuchte ich wieder einzuwerfen.

»Nein, nein,« rief sie mit dem ihr eignen, kindlichleidenschaftlichen Ernst, »man macht sich bei uns eine Tugend daraus, einen von allen Seiten so viel wie möglich einzuengen, glaub es nur. Man kennt die mildernde Nachsicht kaum und spöttelt dort, wo das Verständnis nicht hinreicht. Ich habe vieles beobachtet und über manches nachgedacht. Liebst du – ich weiß das von andern – darfst du dich nicht schrankenlos geben wie du bist, aus Furcht, das Uebermaß deines Fühlens werde verzerrt. Leidest du, darfst du dich nicht völlig anvertrauen, aus Bangigkeit, nirgends den weichen Boden zu finden, dessen du bedarfst. Alles und jedes muß bei uns schwer und mühsam erkämpft werden, auch das Vertrauen und die Menschen. Oft blicke ich auf der Straße neugierig allen, die mir begegnen, ins Gesicht, und da ist keiner, dessen Augen mir Segen versprächen. Jeder lebt eingeschlossen für sich, aus Furcht, es könnte ihm zu viel genommen und vor allem: niemals ersetzt werden.«

Ich trat zu der Erregten hin und blickte ihr verwundert ins junge Gesicht. Da fuhr sie rasch fort: »Hast du etwa unsre qualvolle Jugend vergessen? Die Anstalt! Ja, glaubst du, eine solche Jugend lasse einen später nicht nach Menschen Umschau halten? Als ich noch in der Anstalt war, da habe ich oftmals Gott in meinem Abendgebet gedankt, daß ich nicht als Hund zur Welt gekommen bin, sonst wären sie mir auf vier Füße, statt nur auf zwei getreten, und nur die Hunde konnten es schlimmer haben an Lieblosigkeit als wir Anstaltskinder. Aber du schienst mich ja noch vor ein paar Monaten nicht verstehn zu wollen, Anna! Ach, man wird elend und unsicher allem gegenüber, wenn man so einsam geht!«

Ich blickte Regine unverwandt ins Gesicht, das erste Mal wohl mit jener tiefen Aufmerksamkeit, die ich ihr schon seit langem schuldig gewesen wäre. Wie lauter waren ihre blauen Augen unter den schweren Lidern! Sie bildeten in dem jungen Antlitz den festen ruhenden Mittelpunkt und blickten an der kleinen Nase vorbei in ihre eigne, mir völlig unbekannte Welt sinniger Betrachtung. Flüchtige Sommersprossen, die sich über Nase, Stirn und Schläfen bis unter das aschblonde Haar hinauf verbreiteten, vermochten weder der hellen Lieblichkeit der Züge etwas zu nehmen, noch beeinträchtigten sie die Frische der Haut. Reginens Mund war groß und trug schwere Lippen, die bis in die Mundwinkel gleichmäßig und fast ohne Wölbung verliefen. Es war ein gescheites, liebes, sinniges Antlitz, das sich mir bot.

»Was schaust du mich so an,« fragte sie jetzt und lächelte. »Wie komme ich dir vor?«

»Ganz neu, Reginchen. Mir scheint, es wäre Zeit, daß wir uns besser kennen lernten,« entgegnete ich ihr, »aber heute scheinst du mir doch gar verbittert.«

»Nein, ich bin nicht verbittert«, entgegnete sie mir wieder heftig. »Nenn es nicht so. Ich wollte bloß, ich könnte fünf Jahre meines Lebens verschlafen oder überspringen und dann zusehn, was aus mir geworden ist. Aber vielleicht ändert sich einst alles von selbst. Und weißt du, was ich noch möchte? Ich möchte manchmal schön sein, sehr schön, sodaß alle vor mir still ständen und meine Schönheit priesen. Dann möchte ich durch die Straßen gehn und nicht schauen nach rechts und links, weil ich doch von allen bewundert würde. Und alle sollten mich anstaunen dürfen. Dann möchte ich meine Schönheit eintauschen können gegen die Güte und eine Zeitlang nur gut sein, so gut, daß ich einer Heiligen gleichkäme und nur spenden und austeilen könnte. Und weiterhin möchte ich klug, sehr klug sein und so immer abwechseln können mit den höchsten und feinsten Dingen und Eigenschaften, wie man seine besten Gewänder wechselt. Ich möchte zum Schluß auch häßlich sein können und gerecht; denn Gerechtigkeit ist häßlich, weil sie ohne Liebe ist, und ich würde strafen und büßen lassen alle die, welche an ihrem Nächsten gesündigt haben. Auch an mir.«

Regine schwieg. Die Dämmerung war hereingebrochen, sie umschloß bereits unsre offnen Fenster und warf lange summende Schatten in alle Winkel. Unser Abendbrot stand fertig auf dem Tische. Schweigend verzehrten wir es.

»Wo bleibt eigentlich Suse?« fragte ich nach einer Weile.

»Sie sagte mir, sie verbringe den Abend bei Bergers am Bühl.«

»Wer sind diese Leute?«

»Ich weiß es nicht.«

»Suse verbirgt sich vor uns.«

»Ja.«

Wortlos saßen Regine und ich beisammen. Immer dunkler wurde es um uns. Die Abendschatten krochen ins Zimmer und legten sich stumm in die Winkel. Keine rührte sich, um die Lampe anzuzünden.

Da ertönte auf einmal hinter dem hinuntergeschobenen Schutzmantel unsres Kamins ein fremdartiger Laut, als ob ein Gegenstand durch den Schlot hinuntergefegt und auf dem Backsteinboden des Kamins aufgefallen sei. Der leichte Mantel erzitterte, die Feuerzange, die daran lehnte, rutschte auf dem Marmorbrett aus und glitt zu Boden. Etwas Lebendiges bewegte sich angstvoll hin und her, stieß hart an die Kaminwände und wurde für Sekunden still.

»Was kann es sein?« fragte Regine und näherte sich behutsam dem Kamin.

»Vielleicht eine Ratte,« rief ich, »gib acht, daß sie sich nicht in deine Röcke verfängt!«

Regine hatte sich dem Kamin genähert und kniete davor nieder. Da erhob sich hinter dem verschlossenen Mantel wieder das angstvolle, diesmal deutliche Geräusch, wieder stieß ein Körper hart an die Kaminwand und fiel darauf mit kurzem Laut auf die Bocksteine nieder.

»Es muß ein verirrter Vogel sein«, meinte Regine und schob mit beiden Händen das Blech mühsam in die Höhe.

In der Asche lag mit ausgebreiteten Flügeln eine schöne, sterbende Schwalbe. Der dunkle Leib war noch lebenswarm; aber das Köpfchen hing nach vorn, und die Augen schlossen sich langsam. »Ein kleiner Selbstmörder«, sagte nachdenklich Regine und nahm das mit Asche bestäubte Tierchen sorgsam in beide Hände. Die Schwalbe atmete rasch und ängstlich, nach und nach aber ermatteten ihre Atemzüge, der Körper erkaltete und wurde schwer in ihrer Hand. Mit Scheu und Trauer betrachteten wir den toten Vogel, legten ihm behutsam die stolzen Schwingen dicht an den Leib und gewahrten nun erst die schweigsame, stille Feinheit seines wohlgefügten kleinen Leibes.

»Wir müssen ihm ein würdiges Grab finden«, sagte ich leise. Regine nickte.

Wir beschlossen auszugehn, einen Spaziergang an den Waldrand zu machen und die Schwalbe dort zu begraben.

»Vielleicht erleben wir unterwegs etwas recht Schönes,« sagte Regine, »vielleicht treffen wir einen guten gescheiten Menschen, wie wir ihn gerade brauchen könnten, du und ich.«

»Ob die Straße dazu der richtige Ort ist?« fragte ich.

»Warum nicht?« meinte sie. »Gute, gescheite Menschen sollten sich doch überall finden lassen, auch auf der Straße. Sie können doch nicht immer zu Hause sitzen«, fügte sie bei und lachte, »und übrigens stecke ich eine rote Nelke in den Gürtel.«

»Gut, gehn wir also feine, gute, gescheite Menschen suchen«, entgegnete ich mit Unglauben und Glauben.

Wir hüllten die tote Schwalbe in ein Papier, setzten unsre Hüte auf und traten auf die Straße.

*

In den Straßen war die Luft träge und dumpf geworden. Eine große Menschenmenge bewegte sich, wie es zu dieser Stunde üblich war, gleich einer rollenden Woge Gasse auf, Gasse ab. Es war jene Dämmerstunde, wo die verglommene erloschene Tageshitze, einer heimlichen Flamme gleich, dem Abend bis in seine Kammer folgt und den Schatten nachschleicht.

»Siehst du, da sind so viele Menschen beisammen«, sagte ich zu Regine, während wir Arm in Arm in die Menge hineinschritten. »Die scheinen doch liebevolle Worte für einander zu finden, wissen sich Aufmunterung, Fürsorge, Rücksicht und Rat. Die haben Vertrauen zu einander, scheinen das Alleinsein nicht zu kennen, und wenn sie sich verlieren sollten, so finden sie sich gewiß wieder zu sich zurück.«

»Um so trauriger für uns, die wir diese Menschen nicht kennen,« entgegnete Regine – »aber vielleicht scheint das alles auch bloß so.«

Wir mischten uns unter die müßigen, warmgelaufenen Spaziergänger und ließen uns, von fremden Ellbogen und Schultern gestoßen, mittreiben durch die schmalen Hauptgassen, an den altmodischen Häusern mit den blumengeschmückten Fenstern vorbei, dem westlichen Ende der kleinen Stadt entgegen.

»Allerdings sind sehr viel Leute da,« sagte Regine nach einer Weile nachdenklich, »aber dennoch niemand für uns, scheint mir. Sollte es an uns liegen? Sind wir schwerfälliger als andre? Häßlicher, ärmer? Wie sie scherzen! Wie sie sich unterhalten! Wie sie sich zu lieben scheinen! Kehren wir um, es ist niemand für uns da. Die Straße ist gewiß auch nicht der richtige Ort –, du hast recht. So tragen wir wenigstens unsre Schwalbe an den Waldrand, bevor die Nacht einbricht.«

Wir waren aus der Menge herausgetreten und standen einen Augenblick ratschlagend dicht neben einer der Säulen, die die Arkaden tragen. Da gewahrten wir auf der entgegengesetzten Seite der Straße einen jungen Mann im hellen Sommermantel, der uns mit unverhohlener Neugier zu beobachten schien. Gleich uns war er neben einer Säule stehn geblieben und verfolgte ungescheut unsre Bewegungen und Schritte.

»Man beobachtet uns«, sagte Regine und lachte leise auf. »Es scheint doch jemand da zu sein, ein Einziger, der gerade uns Aufmerksamkeit schenkt. Gilt sie mir? Gilt sie dir? Jetzt sind wir schon nicht mehr so einsam und verstoßen, scheint mir.«

Gefolgt von den Blicken des Unbekannten machten wir kehrt und liefen rasch die Straße hinunter. Der Fremde folgte uns. Heimlich wandte Regine den Kopf nach ihm und lächelte dann vor sich hin. »Er kommt hinter uns her«, flüsterte sie eifrig, und ich bemerkte, wie hübsch sie errötete und wie eine nervöse Erregtheit über die ungewöhnliche und abenteuerliche Situation sie gepackt hatte. »Wir gehn bis an die Ecke, dort steigen wir in die Elektrische und fahren in der Richtung des Waldes davon«, sagte ich. Neugier und Spannung über den Ausgang der Begegnung kamen auch über mich.

Da standen wir an der Ecke. Der junge Mann hielt sich unauffällig in einiger Entfernung von uns, und seine Blicke ließen uns nicht mehr los.

»Er wird uns ansprechen«, flüsterte Regine. Leise Besorgnis und leise Neugier sprachen aus ihrer Stimme.

»Das wird er nicht wagen,« entgegnete ich ihr, »sehn wir denn nicht wie anständige, junge Mädchen aus?«

»Gewiß, wenn er uns nun aber doch anspricht?«

»So mag er. Wir sind ja auf der Suche nach Menschen.«

»Ob er fein ist und gut?«

»Vielleicht, vielleicht nicht. Ich darf nicht hingucken. Ich kann sein Gesicht nicht sehn.«

In den Straßen wurden die Laternen angezündet. Mit hellerleuchteten Scheiben fuhr die Elektrische eben heran.

»Steigen wir rasch ein,« sagte Regine eifrig, »vielleicht folgt er uns. Aber mir ist doch ein bißchen bang.«

Wir stiegen ein. Der Fremde hatte den weißen Strohhut nach hinten geschoben, rührte sich nicht und blickte uns nach. Schon fuhr der Wagen langsam ab. Als Regine den Unbekannten so regungslos dastehn sah, wie er mit dem Ausdruck der Enttäuschung unserm Wagen nachblickte, da kam ein Gefühl mutwilliger Sicherheit über sie, und einer raschen Eingebung folgend, nahm sie die rote Nelke vom Gürtel und winkte damit dem jungen Mann abschiednehmend zu. Kaum aber war dies geschehn, hob der Unbekannte den Kopf, drückte den Hut in die Stirn und begann hinter unserm davonfahrenden Wagen so rasch nachzulaufen, daß sein gelber Mantel um ihn herumflatterte wie eine sausende Wolke. Im nächsten Augenblick trat er hochatmend in den hellerleuchteten Wagen, in dem zufällig nur wir zwei törichte Dinger, dichtaneinandergedrängt saßen. Wir waren beide so ehrlich erschrocken und zugleich belustigt über das unerwartete Erscheinen des Fremden und unsern leichten Erfolg, daß wir uns eines fröhlichen Auflachens kaum enthalten konnten. Da wir aber den Eindruck der Wohlanständigkeit auf den Fremden nicht verfehlen wollten, schluckten wir das Lachen hinunter. Regine kehrte sich nach dem Fenster hin, starrte nach den Hügeln hinter sich, und ich besah mir, nachdem ich mich zu notdürftigem Ernste gezwungen, unauffällig und verstohlen den Mann, der in diesem Augenblick einen Teil dessen, was wir heimlich vom Leben für uns erwarteten, verkörpern sollte. Noch schnaufte und pustete er, und seine geblümte Weste ging stürmisch auf und nieder. – Ein gemeingewöhnliches, wohlgenährtes Gesicht mit flachen Augen und roten, trägen Lippen war es, das uns gegenüber saß. Dies Gesicht neigte sich nun vor, versuchte in meine Nähe zu gelangen, und der fettrote Mund sagte mit widerlicher Vertraulichkeit: »Na, wo geht's denn hin, Kinder?«

Wir fuhren beide auf, Regine und ich, und sahen uns beim Klang und Ton dieser Anrede einen kurzen Moment an. Wie verletzend und beschämend familiär klang sie! Ich tat, als ob ich nichts vernommen hätte.

»Kommt's mit, wir essen zusammen!« flüsterte der Fremde wieder, rutschte noch weiter nach vorn und berührte mit ekelhafter Absichtlichkeit mit seinen Knien mein Kleid. Ich sah wie Reginens Wangen sich röteten, sah wie der neugierige Schaffner uns beobachtete, fühlte in mir Empörung und Beschämung zugleich und wußte doch in der Unbeholfenheit der Lage, in die wir uns selbst gebracht hatten, nicht, wie das Wort heißen sollte, das die notwendige Zurückweisung darstellen sollte. Der Fremde benutzte unsre sichtbare Verlegenheit, rutschte noch weiter nach uns hin, stieß nochmals an mein Knie und forderte uns nun in gönnerhaftem und zugleich ungeduldigem und befehlendem Tone auf:

»Na, was soll's denn? Steigen wir aus, Kinder!« Da endlich fand ich mich zurecht. »Steigen Sie allein aus, wir sind noch nicht an unserm Ziel!« sagte ich halblaut, und mein Herz pochte dazu; denn der Wagen hatte sich mit Passagieren gefüllt, und zwei Damen beschauten sich herzhaft das kleine Schauspiel, das wir boten. Augenblicklich veränderte der Fremde seine Haltung. Da war auch gerade die Haltestelle. Der Wagen hielt. Ohne noch einen Blick auf uns zu werfen, schritt er hinaus, wie ein Genarrter, der seine erprobte großstädtische Geschicklichkeit an eigensinniger Provinzdummheit verschwendet hatte. –

»Hattest du es so gemeint, Regine, das Menschenfinden?« fragte ich meine Schwester, als wir an der letzten Station ausgestiegen waren und dem nächtlichen Walde zuschritten. Sie schüttelte den Kopf. »Das war allzu beschämend, Anna,« sagte sie nach einer Weile, »und so unsäglich widerlich –«, und dann lachten wir beide dennoch herzlich über unsern demütigenden Mißerfolg. »Die Straße muß doch wohl nicht der richtige Ort sein, um Menschen zu finden«, fügte ich hinzu. »Wenigstens nicht solche, wie wir sie brauchen.«

Schweigend, nachdenklich, gingen wir am Waldrand auf und nieder. Die Nacht war gekommen. Es war ganz still. Sterne flimmerten am Himmelssaum, und über unsern jungen Köpfen tauschten Tannen und Buchen ihren leise summenden Nachtgesang. Hier, fernab von allen Menschen, von Unrast und Begehren, war Ruhe, Klarheit und süßes Wohlbefinden. Leise schritten wir auf und ab und sprachen kaum, bis aus der Ferne die Turmuhr schlug. Da traten wir den Rückweg an.

Erst als wir auf die Brücke kamen, unter der das Wasser in rollenden Wogen dahinfloß, fiel uns die tote Schwalbe wieder ein. In weitem Bogen schleuderte ich das kleine Bündel ins Wasser.

*

Einen Menschen hatten wir also nicht gefunden, Regine und ich. Wohl aber waren wir beide uns von diesem Tag an näher getreten, und das tat uns beiden not und gut und war von größerer Bedeutung als alles andre.

Das Gefühl einer unerklärlichen Bangigkeit aber verließ mich nicht mehr. Ich erinnerte mich an den Zustand der Erregung, in dem ich gewesen, nachdem Lessings Laocoon mir zu Gesicht gekommen war. Wiederum fürchtete ich, etwas versäumt und unterlassen zu haben, das nie mehr einzuholen sein würde und das beständig vor mir floh. Was war es? Was hatte ich zu tun? Was zu unterlassen?

Ich wurde begierig auf jeden neuen Tag; mir war, als ob ich bloß provisorisch lebte und gerade dieser neue Tag mir die Erfüllung bringen müßte. Ein paarmal des Tages lief ich die Treppe hinunter zum Briefkasten und untersuchte ihn jeweilen bis zur Lächerlichkeit genau, ob er nicht etwas Außergewöhnliches berge, wo doch seine saubere hölzerne Tiefe wahrhaftig keine schwer zu findenden Geheimnisse bergen konnte.

Dann setzte ich mich wieder hinter meine Bücher. Ich hatte mir aus der Bibliothek die »Attische Komödie« Schlegels geholt, versuchte, mir das Hauptsächlichste daran einzuprägen und las dabei zum erstenmal die Dramen des Aeschylos, Sophokles und Euripides. Ich las sie rasch, zerstreut durch, ohne auf diese Weise irgend eine eigne Auffassung, ein unabhängiges Urteil und Verständnis des Dichters zu gewinnen und ohne eine bestimmte Auffassung seines Geistes zu suchen und zu erhalten. Schon nach ein paar Tagen legte ich die griechischen Meister auf die Seite. Was gingen mich die fernen Geschicke ihrer Helden, ihrer Götter an? Mich verlangte heiß nach meinem eignen, mir tief verborgenen, ungedeuteten, ungelebten Schicksal, nach meinen eignen Göttern. Ich wollte meine eignen Opfer bringen, am eignen Altar meine eignen Taten niederlegen, gute, böse, wilde, wollte fehlen und bereuen. Vor allem hätte ich eine Tat begehen mögen, die, so glaubte und wähnte ich, böse war und schlecht, oder die selbstlos und unbedingt gut war, die volle Hingebung barg oder vollen Haß, eine Tat, die mein ganzes Selbst, die ganze Anna Richter vom Kopf bis zu Fuß herausforderte und erheischte.

Da sah ich in einer Buchhandlung das Tagebuch Tolstois. Das von Rjepin gemalte letzte Bild des greisen Denkers war ihm beigegeben. In seinem dunklen Bauernkittel saß er in einem tiefen, mit Rot ausgeschlagenen Ledersessel. Sein Blick war greisenhaft, alt und müde. Die Stirn aber, die über den Augen lagerte, die war der Thron jenes Gottes, dem er als getreuer Knecht sein Leben lang gehorsamsuchend gedient hatte. – Seines Gottes?

Ich überzählte mein Geld und kaufte das Buch. Auf meinem niedern Stühlchen hinten beim großen Kachelofen, las ich es in einem Zuge durch. Nach der Lektüre fühlte ich mich planlos ergriffen, gepackt, ohne eigentliches Verständnis, nur fühlend die bedingungslose Hingabe, die Demut und das mächtige Verlangen nach einer guten hingebungsvollen Tat, die Ziel und Zweck in sich selbst trug.

Eines Abends lief ich hinaus in die Dämmerung. Mein Weg führte mich durch unbekannte Pfade. Die Stadt schien mir fremd. Unversehens war ich in eine Gegend geraten, die ich kaum kannte. Ich verfolgte einen schmalen ausgetretenen Weg; Nebel senkte sich. Rechts erblickte ich ein Feld mit Kohl und Bohnen, links befand sich ein kleines Haus, aus einfachen Latten gezimmert, das wie eine Baracke, eine provisorische Unterkunftsstätte aussah. Wozu diente das Häuschen wohl? Es war ringsum mit hochstehenden, blühenden Sonnenblumen umsteckt und erinnerte an ein verlassenes Künstleratelier. Durch die geschlossenen Läden fiel helles Licht mir als schmaler Streifen vor die Füße. Nun ertönten aus dem Innern die Klänge eines Harmoniums; breit, voll und ruhig strömten sie mir zu. Was war das? Wo befand ich mich? Ich schlich mich bis vor die Türe und blieb horchend stehn. Da kamen rasch zwei Frauen durch den leichten Abendnebel daher, näherten sich dem Hause, und als sie im Flur verschwanden, folgte ich ihnen, ohne eigentlich zu wissen warum.

Kaum hatte sich die Türe hinter mir geschlossen, und kaum hatte ich mich auf einem Stuhl niedergelassen, wurde mir klar, daß ich mich unter den Zugehörigen der neuen christlichen Lehre befinden mußte, von der ich in der letzten Zeit viel gehört hatte. Im Häuschen befand sich ein einziger Raum, der als Gebets- und Versammlungsstätte diente. Er war nicht groß, und dicht gedrängt saßen die Andächtigen beisammen. Eine stille, wohltuende Heiterkeit, die von den mühsamen Stunden des Tages nichts mehr wußte und von der Gewißheit eines offenbargewordenen Geheimnisses herzurühren schien, lag wie Beglückung auf allen Gesichtern.

Auf dem Podium in der Tiefe des Raumes, wo sich zwischen blühendem Oleander das Harmonium befand, stand ein schlichter, bärtiger Mann, der ohne jegliche begleitende Geste eben die Worte des 91. Psalmes las: »Es wird dir kein Uebles begegnen und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Er begehret meiner, so will ich ihm aushelfen; er kennet meinen Namen, darum will ich ihn schützen. Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren machen. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.«

Der Mann las ohne Pathos. Jedes Wort floß dahin in seiner eignen, ihm innewohnenden Bedeutung, mild, verheißungsvoll, schutzbietend zugleich, ohne eine willkürliche Auslegung zuzulassen, lösend und erlösend, jedes eine Offenbarung für sich. Es schienen in diesem Raum und zu dieser Stunde Wahrheit und Bewahrheitung der verkündeten Worte unzertrennlich beieinander zu liegen und allen offenkundig zu werden, sodaß sie nur inbrünstig ergriffen werden mußten, um den gefangenen Geist zu befreien, den gebrechlichen Leib zu stärken, zu heilen, aufzurichten, sehend und hörend zu machen. Seltsam fühlte ich mich ergriffen, und wie ich mich aufmerkend umsah und die Gesichter der Andächtigen betrachtete, da war mir, als ob sie alle im verborgenen Schrein ihrer Seele ein starkes und vertieftes Glaubensvermögen besässen, ein unmittelbares Gottesbewußtsein, das diesen Geist der geoffenbarten Gnade heilbringend ergriff, sodaß der kranke Körper als die lose Hülle dieses erstarkten Geistes an ihm selbst genas und alle seine Gebrechen von sich werfen mußte.

Ich saß da und fühlte, wie der Geist der Unstätheit aus mir wich und wie Neid und Wehmut mich überkamen um dieser gläubigen Ruhe willen, die ich nicht besaß. Da stürzte jählings eine Erinnerung auf mich ein. Ich sah mich als Anstaltskind. Schwere Unbill war mir widerfahren, die lieblosen Mauern des Hauses schienen mich zu erdrücken, und niemand war da, der mich schützte. Beladen mit meinem Kummer, in Tränen gebadet, hatte ich mich am hellichten Tag ins gemeinsame Schlafzimmer hinaufgeschlichen, um zu beten. Das Zimmer war sehr groß, die Sonne schien grell durch die gelben Vorhänge. Das große Licht störte mich, ich zog die Vorhänge dicht zusammen und kniete hinten an der Wand in einer Ecke zum Gebet nieder. Ich senkte dabei den Kopf tief, so tief, daß er beinahe den Boden berührte; denn dies schien mir die Gott angemessenste und wohlgefälligste Stellung zu sein, die ein bittendes Kind vor ihm einnehmen konnte. Und nun betete ich das heißeste, inbrünstigste Gebet meiner Kindheit. Ich bat um die Genesung meines Vaters; denn nur wenn er genas, konnten wir drei Geschwister die Anstalt verlassen und ins Elternhaus zurückkehren. Halblaut brachte ich zuerst meine Worte vor, mit verhaltenem Zittern, vertrauend der Allmacht meines Vaters im Himmel und seinem guten Willen. Immer lauter erhob ich die Stimme, die Tränen fielen auf meine Hände, mein Flehn mußte bis an den Schemel Gottes dringen. Er würde seine Wunder tun an uns allen, seine Hände öffnen und alles zerschmettern, was lieblos und böse gegen uns war. – Da kamen Schritte die knarrende Holztreppe herauf. Ich fürchtete mich, mich von meinen Knien zu erheben, mich zu unterbrechen; denn ich hätte die Stimme Gottes überhören können, die meinem Flehn als trostreiche Antwort von irgendwoher kommen mußte. Aber die Antwort kam nicht. Wochenlang, monatelang habe ich auf die Nachricht, Vater sei genesen, gewartet; aber niemand erschien, sie mir zu bringen. Gott hatte mich also im Stiche gelassen. Da verfiel ich in Trauer, dann schalt ich ihn, und wenn man uns Sonntags zur Kirche führte, faltete ich die Hände nicht mehr zum Gebet und hörte nicht hin, wenn der Pfarrer sprach. Ich tat, als ob Gott nicht da wäre, ich schwieg ihn in mir zu Tode, und wenn andre von ihm sprachen, tat ich, als ob es leeres Gerede wäre, das sie für sich selbst erfunden hatten.

Jetzt, nachdem ich jahrelang aus dem Vorhof Gottes geflohen war, mitten unter dieser glaubensinnigen Schar, fühlte ich etwas in mir lebendig werden. Soviel fromme Hingabe wunderte und erstaunte mich derart, daß ich meine unerklärliche Bedrängnis für einen Augenblick schwinden fühlte und mit der ganzen Kraft meiner Seele mich sehnte, mittun zu können und solchen Glauben auch zu besitzen. Aber als die Gemeinde, der Sitte gemäß, gemeinsam, mit halblauter Stimme, das Vaterunser betete, sodaß es wie ein frommes Raunen durch den Saal ging, da scheute ich mich dennoch, miteinzustimmen, weil die heilige Größe dieses einzigen Gebets mich vor der Unehrlichkeit bewahrte, zu einem Gott zu beten, dessen Bild mir abhanden gekommen war.

Jetzt forderte der Vorlesende auf, zu Heil und Förderung jedes einzelnen und besonders derer, die als Neuhinzugekommene erschienen waren, Zeugnis abzulegen über die Wirkung der neuen Lehre und zu erzählen, inwieweit der verjüngte und erneute Zustand des Gemüts auch den Körper wohltuend beeinflußt und ihn aus krankhaften Zuständen der Gesundung zugeführt habe. Erwartend saß ich da. Eine Weile herrschte tiefes, begieriges Schweigen im Saale. Da erhob sich endlich eine junge Frau und sprach von der Heilung ihres jahrelangen Uebels. Sie sprach mit Frohlocken in der Stimme und brach zum Schluß in den Ruf des Apostels aus: »Freuet euch, und abermals sage ich euch, freuet euch!«

Nachdem sie geendet, herrschte wieder dieselbe erwartungsvolle Stille. Da stand ein junges Mädchen auf, und mit improvisierten Worten, werbend und bezeugend zugleich, sprach auch sie von ihrer Seele Not, welche sie dank der neuen Lehre überwunden, sodaß sie heute auch von körperlicher Kraft und von körperlicher Heilung und Gedeihen reden könne.

Wiederum verhallten ihre Worte. Man setzte sich zurecht, und befriedigt über das Gehörte, wartete man von neuem auf die freudige Botschaft. Nun erhob sich hinter einer Säule, dicht in meiner Nähe, ein unscheinbarer, älterer Mann, den ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Gespannt blickte ich zu ihm hin. Der Mann aber sagte langsam: »Mit meinen Augen will es nicht besser werden. Mein Glaube ist wohl zu gering. Ich bin immer noch blind.«

Nach diesen mit der Dumpfheit schmerzvoller Resignation gesprochenen Worten, aus denen eine ganze Welt zuschanden gewordener Hoffnungen klang, setzte er sich geräuschlos wieder hin. Ich sah, wie er nach der schwarzen Brille griff, die sein Gesicht beschattete, wie er sie herunter nahm und wie er, gleichsam als Beweisführung des Gesprochenen, mit rotunterlaufenen, entstellten und völlig glanzlosen Augen langsam und stumpf im Kreise herumblickte. Mein Herz aber füllte sich mit unsäglichem Mitleid. War er der allein Verstoßene in dieser Versammlung der Glücklichen? Er und ich? Niemand schien seiner zu achten. Die Worte der Selbstanklage dieses einzigen Unerhörten, dessen Glauben am Throne seines gütigen Gottes zu zerschellen drohte, drangen tief in meine Seele. Mein ungehörtes Kindergebet wurde wach. Da saß auch einer, der als Schuldloser ein schweres Verhängnis nicht zu fassen vermochte, der aus der tiefsten Bekümmernis seines Herzens nach dem Troste des frommen Wunders begierig war, wie ich damals. –

Als der Gottesdienst zu Ende war, sah ich den Blinden, tastend und mühsam sich zurechtfindend, den Weg hinaufgehn, der nach der höher gelegenen Vorstadt führte; da lief ich hinter ihm her in den leichten Nebel hinein, der die Abendluft zu füllen begann. Ich kam ihm zuvor, und unter einer Laterne stillstehend, sprach ich ihn an. Erstaunt blickte er empor, und seine Augen suchten mein Antlitz.

Voll regen Eifers fragte ich ihn nach seinem Namen und seinem Wohnort. Ich bot ihm meine Hilfe an, obwohl ich in diesem Augenblick nicht wußte, welcher Art in meinen Verhältnissen diese Hilfe sein konnte, und ich fragte ihn, ob ich ihn besuchen dürfe, um mit ihm zu beraten, wie ihm allenfalls geholfen werden könnte, da ja sein guter Glaube versagt habe. Der Mann hörte meiner Rede gelassen zu und äußerte schließlich zu meinem Erstaunen den Wunsch, ich möchte ihn nicht besuchen, aus Gründen, die er mir erklären würde. Er werde sich aber andern Tages um zwei Uhr bei mir in der Wohnung einfinden.

»Werden Sie sich denn auch zurechtfinden?« fragte ich ihn besorgt.

»Ja,« entgegnete er mir, »ich taste mich durch; ich sehe gerade noch so viel, daß ich dunkle Umrisse erkennen kann.«

Freudig gehoben verließ ich ihn. Endlich hatte sich für mich etwas gefunden, eine Tat, in die ich Liebe, Willen und Kraft hineinlegen konnte. Ich durfte für einen Menschen, einen tiefunglücklichen und vom Jammer erdrückten Menschen etwas leisten, etwas tun, das ihm Nutzen und vielleicht mehr als das bringen konnte. Auf welche Weise, konnte ich noch nicht ermessen. Aber endlich wurde von mir etwas gefordert, das mich erheischte, nicht mein neues Wissen, sondern meines Herzens Kraft und das nach meinem und zwar nur meinem raschen Beistand Verlangen trug! Niemand hatte helfen können. Auch Gott nicht.

Ich lief rasch den Weg hinunter, alles schien plötzlich in Helle und Klarheit getaucht; Klarheit überall. In mir brannte jenes geheimnisvolle Licht, das die gehobene Stimmung eines Impulses begleitet, das eine Fülle von Kräften erzeugt, der wir uns uneingeschränkt anvertrauen und in der das Ahnen der unausbleiblichen Erschlaffung und Selbsttäuschung nicht liegt.

*

Andern Tages zur verabredeten Stunde wartete ich mit Ungeduld auf meinen Schützling. Meine zuversichtliche, heitere und trostsichere Stimmung war mir geblieben, und ich war überzeugt, dem Unglücklichen eine Wendung seines Lebens bedeuten zu können. Ich hatte mir rasch vorgenommen, den Ertrag von Privatstunden, die ich suchen und finden würde, an ihn zu verwenden, ihn zu einem der besten Augenärzte der Stadt zu führen, alles wohlgemeinte Entschlüsse, von denen sich meine Kurzsichtigkeit und Unkenntnis in fremden, menschlichen Geschicken sehr viel versprachen. Ich hatte auch ein Silberstück, zu dem Reginchen beigesteuert und das ich dem Blinden verabreichen wollte, bereitgelegt, und erging mich in innerer Vorbereitung zu der großen, nutzbringenden Tat, die ich mit Ernst, Liebe, Wohlwollen durchführen wollte.

Bereits hatte es zwei Uhr geschlagen, und schon fürchtete ich, der Unglückliche würde in seiner Blindheit das Haus nicht gefunden haben, als es klingelte.

Er trat ein; er war im Sonntagsstaat. Er trug einen schmalrandigen Strohhut, dessen grelles Weiß von der stark gefärbten roten Haut des unbeweglichen Gesichts sonderbar abstach. Ich bot ihm einen Stuhl mir gegenüber und fragte ihn, ein wenig unsicher, wie es ihm gehe. Zuerst saß er eine Weile stumm da und hielt den Kopf gesenkt. Dann begann er zu sprechen. Er sei Bürstenmacher, sagte er, er sei allein, wohne auch allein, habe keine Familie und keine Angehörigen; er besorge seinen Haushalt und sein Essen selbst und vertrage auch seine Ware den Kunden.

Ich fragte ihn hierauf, den monotonen und ermüdenden Gang seiner Rede durchbrechend, ob er denn auch genug verdiene, um sich durchzubringen und ob ich ihn nicht mit einer bescheidenen Gabe von Zeit zu Zeit unterstützen dürfte. Dabei legte ich mein Silberstück vor ihn auf den Tisch, sodaß er es wahrnehmen konnte. Aber er machte eine abwehrende Handbewegung, und die Antwort, die er mir gab, war meiner Opferwilligkeit eine arge Enttäuschung.

»Was ich verdiene, reicht mir. Ich brauche nichts, wenigstens nicht Geld«, meinte er gelassen.

Etwas verwirrt betrachtete ich ihn. Da nahm er, wie auch am Abend vorher, die schwarze Brille vom Gesicht. Mit seinen scheuen, blutroten und lichtlosen Augen schaute er mich lange starr an, wie einer, der vom Schauen nicht ermüdet. Ich fuhr zusammen. Wie furchtbar waren diese Augen in der Nähe! Ich fühlte, wie meine gehobene freudige Stimmung sich erschreckt vor diesen Augen verkroch und einer nervösen Unsicherheit Platz machen wollte. Aber ich raffte mich auf, zwang meinen Blick von ihm weg und ermunterte ihn, mir aus seinem Leben noch mehr zu berichten. Er wartete lange. Dann sagte er mir, daß er früher in einem Asyl für Blinde untergebracht gewesen sei und dort von der neuen, heilbringenden Lehre gehört habe. Man habe ihm so viel Verheißungsvolles davon gesprochen, und fest auf sie und die Aussagen derer vertrauend, die gesund geworden waren, habe er sich entschlossen, die Anstalt zu verlassen, und nun arbeite er auf eigne Rechnung in seiner Stube, im Warten auf sein Sehendwerden; denn Christus habe Blinde sehend gemacht, und sein Geist vermöge dies Wunder noch heute.

»Kann Ihnen kein Arzt mehr helfen?« unterbrach ich ihn und wollte ihm meinen Vorschlag unterbreiten.

»Nein, es wird doch nicht besser«, entgegnete er mir.

Nun machte er plötzlich eine Bewegung nach vorn und rutschte mit seinem Stuhl dicht in meine Nähe, sodaß ich den Geruch seiner Kleider und jede Falte seines Gesichts wahrnehmen konnte. Erschrocken fuhr ich zurück. Das starre Antlitz mit den nahen, furchtbaren Augen begann mich zu ängstigen, in seiner dumpfen Ausdruckslosigkeit schien es etwas Unbekanntes von mir zu fordern, drängte mein Mitleiden zurück und scheuchte meinen tapfern Willen. Es kam mir als unausbleiblich vor, daß der Blinde im nächsten Augenblick mir etwas mitteilen würde, das ungeheuerlich sein müsse. Aber wieder gebot ich mir Ruhe, schaffte meine Nervosität auf die Seite und versuchte an meinen Vorsätzen festzuhalten.

»Warum sollte es nicht besser werden können?« begann ich von neuem, sah über ihn hinweg und machte meine Stimme ruhig. Und mit innerm Widerstreben, weil das, was ich zu sagen gedachte, mir heute selbst noch fremd und unfaßbar war und darum wie eine zitternde Lüge klang, sagte ich: »Ich denke doch, es liegt alles bei Gott und allein bei ihm und durch ihn ist Heilung ...«

»Ja,« unterbrach er mich sicher und überzeugt, »das weiß jeder Christ. Und das ist auch die Wahrheit, solange die Welt besteht. Aber da ist einer, der mir alles Gute vorwegnimmt, das sich auf mich beziehen sollte ... Das ist der Mensch, der neben mir im Hause wohnt, Tür an Tür, Wand an Wand, Franz Bacher heißt er. Er ist auch Bürstenmacher und verfolgt mich. Er haßt mich, schnappt mir alle Kunden und alle Arbeit weg. Darum wollte ich nicht, daß Sie zu mir kommen, er hätte Sie verscheucht. Er ist es, der sich gegen meine Genesung stemmt, gegen mein Augenlicht, und es nicht zuläßt, daß ich es wieder gewinne.«

Ich horchte auf. »Aber Sie sollten sich nicht«, warf ich ein, »Ihr ohnedies mühevolles Leben durch Mißtrauen und Aerger und böse Gedanken noch mehr vergällen!«

Er achtete meiner Worte nicht, sondern schien sein eignes Denken zu verfolgen. Mit seinem Stuhle rutschte er noch näher, und dicht unter meinen Augen sprach er mit drohendem Geflüster und indem er die Schultern senkte, als ob jemand in der Nähe sei, den er fürchte: »Seit Jahren verfolgt er mich, er ist der Schwarze, der Satan. Er verfolgte mich schon, als ich im Asyl war. Ueberall, wo ich hinkomme, streut er mir Giftpulver. Oft, wenn ich meine Bürsten vertrage in irgend einer entlegenen Gegend der Stadt, stoße ich an, gleite aus, falle hin. Das ist immer Er. Er weiß mich überall zu finden. Er ist an allem schuld. Auch daran, daß ich mein Augenlicht nicht zurückerlange.« Einen Augenblick hielt er inne. Dann fuhr er flüsternd fort: »Er hat die meisten der neuen Lehre beschwatzt, damit ich nicht gesunde. Ich merke seinen Einfluß gut. Es wird dann immer ganz schwarz in mir. Dann kann ich den richtigen Glauben, den es braucht, damit ich sehend werde, nicht finden, und Gott hört mein heilbringendes Gebet nicht. Er ist der Satan, glauben Sie mir's. Er richtet es stets ein, daß ich ihm auf den Schwanz, wissen Sie, so ein Teufelsschwanz, treten muß. Dann stolpere ich. Und wenn ich stolpere, lacht er hinter mir und klatscht in die verfluchten Hände. Denn wer sollte sonst schuld sein, wenn ich unvermutet stolpere und falle, wenn nicht er? Wo ich doch immer bete, wenn ich mich auf die Straße wage und sorgsam Fuß vor Fuß setze! Auch nachts höre ich ihn scharren an meiner Zimmerwand und mit den Nägeln die Wand zerkratzen. Dann kann ich nicht schlafen, und das macht auch, daß ich nicht vorwärtskomme.«

Mit wachsendem Grauen hatte ich zugehört. Redete da nicht offensichtlich bereits der Irrsinn? Waren da nicht Glauben und Aberglauben in einem absonderlichen Gemisch beisammen, und ein verzweifelter und leidenschaftlicher, armer Verstand suchte um jeden Preis das wieder zu erlangen, was ihm von Rechts wegen zuzukommen schien?

Die starren, blutroten Augen waren dicht in meiner Nähe und überall um mich herum. Der lichtlose Blick war auf mich gerichtet und suchte in meinem Antlitz nach Verständnis und Mitgefühl. Statt dessen fühlte ich, wie mein Herz erschreckt zu klopfen begann und wie meine Kehle trocken wurde. Es wurde mir auf einmal bewußt, daß ich ganz allein mit diesem Menschen in meinem einsamen großen Zimmer sei. Was würde er in der nächsten Minute sagen, was tun? Ich schob meinen Stuhl zurück; ich mußte mich aus dem erschreckenden Banne dieser Augen befreien, und gelähmt von Furcht stand ich unvermerkt, wie ich glaubte, auf. Er sprach indessen einförmig und flüsternd weiter: »Gegen ihn brauche ich Hilfe, gegen meine Gedanken, die sich auf ihn beziehen, nur dafür. Ich sollte einen Menschen finden, der oft lange und freundlich mit mir redet, sich meiner mit Geduld annimmt, sodaß es in meinem Kopfe heller würde, jemand, der mir die schlimmen Gedanken verscheuchte, der mir hülfe, mich vom bösen Einfluß dieses Menschen zu befreien. Ich brauche jemand, der mir meine Gedanken hell und zuversichtlich macht. Das ist's, was mir fehlt. Allein bringe ich es nicht zustande. Dann brauchte ich den Schwarzen nicht mehr zu fürchten. Dann könnte er meinen Glauben nicht hemmen, ich würde dann stark, würde triumphieren und wieder sehend werden. – Sie haben mich rufen lassen. Sie sagten, Sie würden mir helfen. Nun wissen Sie, was ich brauche. Wollen Sie mir helfen?«

Ich hörte seine Bitte wohl. Aber ich entgegnete nichts. Feige und furchtsam hatte ich mich in die Tiefe des Zimmers geflüchtet und war neben dem Bücherschrank stehn geblieben. Von meinem Winkel aus beobachtete ich sorglich den Blinden. Seine Augen schienen mich im Zimmer zu suchen. Jetzt stand er unsicher vom Stuhle auf und wartete.

»Werden Sie nichts für mich tun?« fragte er ins Zimmer hinein. »Vielleicht können Sie die Aufmerksamkeit der Behörden auf meinen Nachbar lenken, damit man ihn unschädlich macht? Dann stände nichts mehr zwischen mir und Gott. Dann könnte ich wieder sehend werden. Ich weiß das. Werden Sie mir dazu helfen?«

Er war tastend, sorgsam Fuß vor Fuß setzend, nach der Mitte des Zimmers vorgeschritten, blieb dann stehn und hob suchend das Antlitz in der Richtung, wo er mich vermutete. Ich hätte ihm als schalen Trost keine Unwahrheit sagen können. Und indem ich mich bang und feige, an die Seitenwand des Büchergestells gedrückt, vor dem Unglücklichen verborgen hielt, hörte ich mich mit grausamer Ehrlichkeit laut und hart sagen:

»Nein, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Unschlüssig blieb er stehn und sah sich mit den blinden Augen suchend um. Dann kehrte er sich von mir hinweg. Er tastete sich zurück zu dem Stuhl, auf dem sein Hut lag und setzte die schwarze Brille wieder auf. Ich sah, wie er mit gesenktem Kopfe der Türe zuschritt und die Klinke suchte. Ich rührte mich nicht. Noch einmal blickte er suchend nach der Ecke, in der er mich vermutete, und ich glaubte die Worte zu vernehmen: »Warum haben Sie mich kommen heißen? Sie wollten mir doch helfen?«

Ungeschickt öffnete er die Türe und ging ebenso armselig, wie er gekommen, von mir weg.

Kaum waren seine Schritte verhallt, kroch ich aus meinem Winkel hervor. Ich atmete wie befreit auf, öffnete das Fenster und blickte hinaus. Dann begann ich langsam im Zimmer auf und ab zu wandern. Ich kam am Bild der Großmutter vorbei, dann am hohen Spiegel. Darin erblickte ich eine schlanke Mädchengestalt und ein junges Antlitz, das war ohne Güte, feige und verworren. O, kläglich, kläglich bist du, Anna Richter! Hast nicht vermocht, dich über das Häßliche eines traurig entstellten Menschenantlitzes hinwegzusetzen und Worte zu vernehmen, die auf dem Acker des Jammers gewachsen sind? O über die Ohnmacht deiner sehenden Augen und deines kargen Herzens! Du wolltest Opfer bringen, Gutes tun, eine Tat vollbringen. Geh! Mit fremden Flicken hast du dich behängt; denn wo es galt, die trübe Tiefe eines einzigen Seelengrundes liebevoll zu erforschen und mit Geduld und Mut gerüstet dazustehn, da hast du schmählich versagt! Schande über dich. Geh!

*

Ich hatte einen Unglücklichen zum Narren gehalten. Dieser Fehlgriff an mir und ihm war mir ein Beweis der Halbheit und Unzulänglichkeit meines Wesens. Andre Menschen, die guten, die festen, die brauchbaren, die gingen mit Sicherheit ihren Weg, verrichteten ihre Arbeit, kannten ihre Ziele, wußten, was sie von sich halten und fordern durften, erkannten zur rechten Zeit ihre Aufgabe und standen nicht bei jedem fremden Eindruck vor neuen Fragen, die sie in neue Bedrängnis führten. Sicher war ich die einzige, die sich immer von neuem ungeduldig zu fragen hatte: Wer bin ich? Was soll ich? Was darf ich, und wo liegt für mich das dauernd Richtige?

Freudlos begann es in mir auszusehn. Mit aller Einsicht, die mir zu Gebot stand, suchte ich dem Zustand meines Innern, der mich so plötzlich überkommen hatte, ein Ende zu machen. Und es schien mir wieder nach einiger Zeit und Ueberprüfung, daß eine starke Gemütsbewegung, eine rasche, meinem ganzen Wesen in anderm Sinn zuwiderlaufende Tat, etwas außerordentlich Schönes oder außergewöhnlich Häßliches, alles in mir hätte drehn und wenden müssen. Oft kam mich die Lust an, bei einem blutigen Mord mit dabei zu sein, alle Einzelheiten des Grauenhaften in mich hineinzutrinken. Oder ich wollte Feuer sehn, rotes, züngelndes Feuer, das alles um sich herum versengte, das prasselte, spie, um sich griff, fraß und nicht zu bändigen war.

»Reginchen, was ist zu tun, wenn man nicht weiß, wohin mit sich? Wenn einem so zumute ist wie mir und man nicht arbeiten kann?« fragte ich ungeduldig meine Schwester.

»Was sollte ich wissen«, entgegnete mir meine junge Schwester lakonisch. »Auf jeden Fall sich auf andre Gedanken bringen.«

»Eben das. Aber wie?«

»Vielleicht einen langen Spaziergang machen und die Natur genießen, wie die andern sagen. Du hast ja Zeit.«

Die Natur genießen. Genießen ist ein Vorrecht der Ruhe. Ja, ich hatte gehört, daß die Andern, eben diese Andern, durch die Ruhe der Natur selbst ruhig wurden. Also ich tat, wie diese Andern.

Die Hitze der letzten Woche hatte nachgelassen, Wolken zeigten sich endlich am Horizont; aber noch lagen sie dicht an des Himmels Wange und hielten den Regen fest, der der Erde gehören sollte und nach dem sie sich sehnte. –

Ich schlenderte die Stadtgasse hinunter, schaute zerstreut in die Schaufenster der Läden. Da sah ich am Ausgang der Bogenhalle einen Kinderwagen stehn, der mit einem Hinterrad fest gegen die vorspringende Kante der Hausmauer gestemmt war, damit er nicht ins Rollen gerate. Das Gefährt war ohne Obhut, die Mutter des Kindes, das sich darin befand, mußte sich wohl im Laden nebenan aufhalten. Wie entzückend aber war das kleine Wesen, das da kerzengerade, beide Händchen auf den Korbrand seiner Behausung gestützt, unter der weißen Spitzendecke saß! Das Aufrechtsitzen müßte es wohl erst gelernt haben. Das Gesichtchen war rund und fest, mit völlig fertigen und deutlichen Zügen; mit weitoffenen, braunen Augen, ruhig und gut, sah es sich die Welt ringsum an. Nur ab und zu wandte das liebliche Kind den Kopf, um mit stiller und unverdrossener Aufmerksamkeit den Gegenstand seiner Betrachtung zu wechseln, und auf dem Köpfchen drehte sich ein dichter Wirbel braunen Haares wie ein Wedel mit ihm herum. Ich trat hinzu und beugte mich zu dem Kinde nieder, ich sprach zu ihm und lächelte ihm zu. Ohne jedes Befremden betrachtete es nun auch mich, wie es vorher andre Dinge betrachtet hatte, und als es mich lachen sah, begann es mit den Beinen zu strampeln, sodaß die weiße Spitzendecke sich völlig verschob und der Wagen ins Schaukeln geriet.

»Willst du mitkommen?« fragte ich und streckte die Arme nach ihm aus. Sofort erhob sich die reiselustige, kleine Person und stemmte sich gegen die Rückwand des Wägelchens. Aber die Befreiung wollte nicht gelingen; das Kind war mit einem Stoffriemen festgeschnallt. Eine unwiderstehliche Begierde ergriff mich. Sollte ich den Gurt lösen? Das Kind forttragen, dies liebliche, warme, zärtliche und mühefordernde Geschöpfchen?

Ich streckte die Arme nach ihm aus, faßte seine warmen, festen Händchen, ließ es jedoch, mich besinnend, wieder los und lief rasch davon.

Nach zwanzig Schritten aber wandte ich mich um und blickte zurück. Das schöne Kind hatte sich auf seinem Sitz soweit herumgedreht, als es der Gurt gestattete und schaute mit den großen Augen unverwandt und still nach mir hin. Da lief ich wieder zu ihm zurück. Ich legte meine Wange an sein samtweiches Gesichtchen, umfaßte den süßen, kleinen Leib, ein warmer Strom aufbrechender Zärtlichkeit floß aus meinem Herzen auf das liebliche Wesen über und von ihm zu mir zurück, und ich hörte mich sagen: »Kind, du herziges, liebes Kind, ich möchte, möchte, daß du mich liebst!«

Da ging die Ladentüre, eine Dame trat heraus. Ich riß mich hastig los und lief auf die andre Seite der Straße, um den kleinen Wagen nicht mehr zu sehn.

Ich lief die Stadt hinunter, trat aus ihr heraus unter die hohen Bäume, die zu einem der Vororte führten.

Da begann träg und langsam der Regen aus der Schwüle der Luft herniederzukollern. Ich lief immer geradeaus. Am Ende des Dorfes, dort, wo der Weg nach der Flußtiefe hin abzweigt, sah ich in einem abseits gelegenen vernachlässigten Garten, der nun als Acker zu dienen schien, eine Laube stehn. Sie war mit wildem Wein und großblättrigem Efeu dicht bewachsen und bot Schutz. Kaum hatte ich mich hinein geflüchtet, fuhr auch der Regen wild hernieder. Aus der brennenden Schwüle herunter fielen große, ungefüge, polternde Tropfen. Die Erde öffnete den Mund und trank sie leidenschaftlich mit geschlossenen Lidern. –

Nach einer Weile fiel der Regen senkrecht, in raschen schmalen Tropfen. Er warf die Blätter zu Boden, rollte die zusammengefalteten auf, raubte ihnen die Farbe und legte sie hin, mit dem Gesicht gegen die Erde. Als gelbe, braune, rötliche, rote Tupfen lagen die Blätter herum und hatten keine Flügel mehr für den kommenden Wind.

Neben der Laube stand ein junger Pflaumenbaum. Von dem prasselten die Regentropfen unaufhörlich zur Erde. Ein Brombeerstrauch fing sie auf. Dabei erzitterten seine Blätter heftig, schaukelten sich auf und nieder und gaben die Tropfen weiter; jetzt rollten sie auf die Erde und verloren sich in einem Loche, das sich zwischen den Steinen auftat, und dort sickerten sie langsam in die lechzende Erde hinein.

Wie ich dasaß und dem Regen zusah, fiel ein winziges Tierchen vom Laubendach auf meine Hand. Es war eine Spinne mit rotem Samtleib. Dann fiel ein zweites Tierchen aus dem Efeu über mir, das war noch kleiner denn die Spinne, war ein rasches, grünes Ding und trug einen braunen, runden Fleck auf dem Rücken. Und nun kam über meinen Aermel her ein drittes, weißes Lebewesen gegangen, das war langsam und träg, stand alle Augenblicke still und besann sich. Eine Meise begann auf einmal zu singen, lauter, immer lauter, und ihr Frohlocken übertönte den Regen. Hinter der Laube hervor kam ihr die Antwort. In der Gabel eines Rebenastes regte es sich. Und wie ich hinsah, entdeckte ich zwei Marienkäfer. Mit den beiden Vorderfüßchen, die es wie zwei Klammern vorschob und rasch bewegte, suchte das männliche Tierchen den Leib des Weibchens zu umfassen. Aber die Geliebte widerstrebte, bäumte sich auf, und die Arme des Werbenden glitten ab an ihrem roten, glatten Schuppenkörper. Das Männchen aber ward nicht müde, sie zu umfangen, sie zu umschlingen, bis es sie in seine Umarmung zwang.

Wie das alles um mich herum lebte, sich band, löste, sich wandelte und formte, die Winke der Natur und ihre Gesetze entgegennahm und ihren Geist befolgte! In mir aber war es leer, leer, ohne Ruf, ohne Gehorsam, und in mir saß die Not und die Einsamkeit. –

Als der Regen langsam nachließ, stand ich auf und ging wieder der Stadt zu. War ich ruhiger geworden? Nein. Es war mir nur schmerzvoll das erste Mal der Gedanke aufgetaucht, daß jedes Wesen in seinen eignen Leib und Geist hineingeboren sei und daß darum keiner den andern ganz fassen, lieben und umhüllen könne bis zur letzten Verschmelzung ...

*

Ich hatte am schwarzen Brette der Universität einen Zettel befestigen lassen, auf welchem ich mich für Sprachunterricht und Abschreiben von Dissertationen eindringlich empfahl.

Gerade hatte ich eines Nachmittags meine Edelsteine aus dem Kasten geholt und auf ein weißes Blatt Papier geworfen, um allerhand Fassungen und Rahmen um sie herum zu zeichnen, die ich je nach Form, Farbe, Schnitt des Steins zu variieren suchte, als es klopfte. Das war etwas so Ungewohntes in meiner Einsamkeit, daß ich zurückfuhr, dann aber rasch zur Türe eilte und sie öffnete.

Vor der Türe stand ein junger Mann mit starr aufragendem blondem, kurzem Haar, der in notdürftigem Deutsch fragte, ob ich die Dame sei, die Sprachunterricht erteile. Es war Vitia, Viktor Konstantinovitsch Milski, Student der Chemie, gebürtig aus Mittelrußland. Ich bat ihn einzutreten. Was er mir bei unsrer darauffolgenden Unterredung als Lohn für meine künftigen Bemühungen anbot, kam ungefähr einem Trinkgeld gleich. Ich nahm das Anerbieten aber dennoch gerne an, weil ich die anständige Armut und den bescheidenen Ernst des Fremden nicht verletzen wollte und vor allem, weil er ein lebendiger Mensch war aus Fleisch und Blut, der dreimal wöchentlich mit regelmäßiger Genauigkeit die Stille der hohen Mädchenstube unterbrechen und während einer ganzen Stunde darin atmen und sprechen würde.

Bevor ich ihm andern Tages seine erste Stunde erteilte, hatte ich mich ohne eigentliche Notwendigkeit so gewissenhaft und gründlich vorbereitet, daß ich schon daraus ersah, wie stark mein Bedürfnis war, meine lebendige Kraft an etwas Lebendigem zu messen und auf irgend eine Weise zu erproben. Und als sich mein Schüler nach beendeter Stunde erhob und verabschiedete, mußte ich mir Gewalt antun, ihn nicht zu bitten, mir seinen dürftigen Mantel dazulassen, damit ich ihn flicken könne. –

Jedoch kaum war Vitia in meinem und meiner Schwestern Gesichtskreis aufgetaucht, geschah noch etwas: Es streifte mich das Leben einer schönen, seltsamen Frau.

Wie ich einst, als es zu dämmern begonnen, meinen gewohnten Weg von der Universität her kam, sah ich sie. Sie trug ein graues, seidenes Kleid, auf dem Haupte einen breitrandigen Hut mit rotem Mohn. Sie war größer denn alle Frauen ringsum, ihr Gang war ein langsames Wandeln, müde und willenlos. Ich blieb stehn und blickte ihr nach. Ein alter Mann und ein junges Mädchen mit hellen, wachen Augen waren gleichfalls stehn geblieben, und ihre Blicke und Gedanken wanderten eine Strecke weit hinter der Unbekannten her.

Am folgenden Tage wurde ich in der Universität von meiner Nachbarin gefragt, ob ich eine Schülerin annehmen könnte; es handle sich um eine Dame, die bis vor kurzem im Ausland geweilt und die dadurch ihrer Muttersprache entwöhnt und nicht mehr völlig sicher sei.

Der Vorschlag rüttelte mich auf; er war mir in dem Gemütszustand, in dem ich mich befand, freudige Aussicht und Ausweg zugleich. Vielleicht bot sich mir hier endlich Gelegenheit, irgend etwas im besten Sinne zu bedeuten, mich nutzbringend in lebendigem, freundschaftlichem Austausch zu betätigen, meine brachen Kräfte auszugeben, mich zu schenken und selbst verlangt zu werden.

Die Villa, die man mir bezeichnet hatte, war ein großes Haus aus grauem Stein, mit breiten Seitenflügeln; sie lag hinter einem hohen Gitter in einem verschlossenen Garten. Man führte mich über eine Marmortreppe empor, durch einen lautlosen Korridor, in ein weites, helldunkles Gemach. Das war mit kostbarer Prächtigkeit fein und vornehm ausgerüstet. Während ich so dasaß und wartete, dachte ich, wie still dieses Haus sei, kein Schritt, kein Tritt, kein Gewand, das rauschte, keine Stimme, die klang, keine Diele, die knarrte; es lebte nichts und atmete nichts. Die Türe hinter mir ging auf und schloß sich wieder. Der Diener war zurückgekommen. Er führte mich nochmals durch die Gänge, eine zweite Treppe hinunter ins Freie. Jetzt erst gewahrte ich, daß das Haus nach seiner Gartenseite hin auf einer kleinen Anhöhe liegen mußte; denn alle Wege führten in die Tiefe, wo ein großes Wasserbecken unbeweglich in der Mittagssonne dalag. In großen Büschen blühten im Kreise weiße und violette Malven, schwerblütige Gladiolen, umhüllt von ihren dolchförmigen Blättern und eine Menge fremdartiger gelber und roter Blumen mit kleinen Blütentrauben, auf denen honigtragende Bienen summten. Dort, wo der Garten ein Ende zu nehmen schien und mit einer grauen, hohen Mauer abschloß, sah ich einen Hain junger, rotbrauner Buchen. Durch eine Lücke im Laubwerk erblickte ich, gleichsam in der Luft schwebend, eine kleine Silberkugel, die durch eine feine Wassersäule emporgetrieben wurde und beständig auf und ab hüpfte. Nun vernahm ich in nächster Nähe einen Schuß aus einer leichten Flinte, die Silberkugel flog herunter und zerbrach. Kurz darauf trat aus dem rotbraunen Dunkel der Büsche eine hohe Frauengestalt im weißen Mullkleid. Sie kam mir entgegen, und ich erkannte in ihr sofort meine schöne Unbekannte von der Straße.

»Ich übe mich im Schießen«, sagte sie lächelnd und führte mich hinter die Bäume. »Ich muß mir die Zeit vertreiben, sonst wird der Tag zu lang. Ernsthafteres wird erst noch kommen.«

Sie wies mir einen Korbsessel an und setzte sich mir gegenüber. Aus dem blassen Gesicht, dessen Haut von weicher Klarheit war, schauten blaue, vage Augen, die von dunklen Wimpern halbzugedeckt waren; die Brauen waren ruhig und leicht darübergelegt. An der linken Hand trug die junge Frau einen Ring mit einem Rubin, mild und groß, von der Farbe jungen Taubenbluts. Und als sie zu sprechen anhub, war es, als ob irgendwo ein leise glimmendes Licht aufflackere und erlösche.

»Ich habe Sie herbitten lassen,« begann sie, »weil ich etwas aus mir machen will. Ich möchte mich bilden, wenn wenigstens es nicht zu spät ist. Ich habe viel nachzuholen, Vergessenes und Niegelerntes. Ich lerne auch Latein, um später vielleicht eine Prüfung bestehen zu können. Mit Ihnen möchte ich gute, gescheite Bücher lesen und in Aufsätzen und Uebungen meine Gedanken bilden und zusammenlegen. Ich habe Zeit zu allem und auch den Willen. Das bedeutet natürlich nicht, daß ich etwas erreichen werde. Wahrscheinlich das Gegenteil. Ich bin wohl zu töricht dazu.«

Sie schwieg und blickte eine Weile auf das Rohr der Flinte, die auf dem Gartentischchen lag. Dann ertönte ihre leise klingende Stimme wieder: »Man sollte doch einen Lebenszweck haben, nicht wahr? Sonst kann das Leben ebenso gut heute wie morgen zu Ende gehn. Meinen Sie nicht auch?«

Ich wurde verwirrt. Die Frage kam so unvermutet und schien ein Geheimnis zu bergen, das unbewußt und hilflos preisgegeben worden war. Ich besann mich, was ich antworten sollte, dann fielen mir die Worte ein, und ich sagte, mit all dem Eifer, den auszugeben ich willig war, daß ich gerne bereit sei, für sie zu tun, was in meinem Wissen und meinen Kräften liege.

»Wollen Sie mir behilflich sein, meinen Lebenszweck zu suchen?« fragte sie mich, und in ihre unschlüssigen Augen trat ein Ausdruck scheuer Freude. »Wenn es mir möglich ist, dann sehr gern«, versicherte ich sie, vergaß meine eigne Verworrenheit und war völlig überzeugt, für sie das Richtige finden zu können. Eine Aufgabe schien hier meiner zu warten, die meiner Neigung und meinem müßig daliegenden Liebeswillen entsprach.

Ich ging aus dem Garten hinaus, an dem großen Wasserbecken und den Blumen vorbei, sang leise vor mich hin, freute mich über mich selbst und hatte das Empfinden, daß ich einen Teil meines Wesens auf irgend eine Weise wiedergefunden habe. Bis in den Schlaf hinein folgten mir meine Gedanken an die schöne Frau.

*

Der Unterricht, der dieser ersten Unterredung folgte, begann schon am folgenden Tage. Er fand in einem Zimmer statt, das dank der hellen, blumigen Tapeten größer erschien, als es war und das sein Licht von einer hohen Balkontüre erhielt. Ein Spiegelschrank befand sich schräg in der Ecke. Diesem Spiegel gegenüber, der ihre ganze, hohe Gestalt wiedergab, wählte Helene von M. ihren Platz an unserm gemeinsamen Arbeitstisch. Aber schon nach dem ersten Beisammensein wurde ich gewahr, daß mir hier wieder eine Illusion zerstört wurde und daß eine Enttäuschung meiner harre. Mein rascher Betätigungswille wurde allmählich zurückgedrängt, ich verlor nach kurzer Zeit schon Einfluß und Führung, wurde zum Zuschauer und Zuhörer gemacht und in den Zauberkreis einer Persönlichkeit hineingezogen, deren Wesen mich gerade darum festhielt, weil es unbestimmt und ungreifbar, fein und poetisch war, eine Art Reiz, der man sich am leichtesten und unbedingtesten hingibt. Wer zeigt uns je das Bild eines Menschen vollendet? Wohl leuchten uns Farben auf zu diesem seinem Bilde, wenn er an uns vorüberwandelt, Farben und Lichtstreifen; aber wenn wir näher zusehn, haben wir kaum an den Saum seines Gewandes gerührt.

*

Helene brachte schon zur ersten Stunde einen ganzen Stoß Hefte und Bücher mit und belud mit ihren langsamen, weißen Händen den Tisch. Die erste Viertelstunde schien sie in angestrengtem Nachdenken zu verbringen und schrieb ohne eigentliche Notwendigkeit mit großen Buchstaben alles, was ich sagte, in ein dickes, schwarzes Heft. Dann aber hob sie plötzlich wie aufhorchend den blonden Kopf, besann sich auf etwas und blickte über meinen Scheitel hinweg in den Spiegel. Und nun spielte sich die Szene ab, die sich auch später während jeder Unterrichtsstunde regelmäßig wiederholte: Sie stand langsam vom Stuhl auf, trat vor den hohen Spiegel und schaute ohne jede Koketterie und ohne die leiseste Bewegung zu machen, ernst und lange hinein, wie eine Königin, die in stolzer Selbstgefälligkeit den Spiegel nicht nur um das Geheimnis ihrer Schönheit, sondern auch um die befremdenden Träume ihrer sehnsuchtsschweren Seele befragt.

Helenens Seele, Helenens Träume. Wie waren sie, und wo kreisten ihre Schwingen?

»Sind Sie nicht auch romantisch veranlagt?« fragte sie mich einst, »ich meine, voller Träumereien? Zuviel träumen ist ungesund, nicht wahr, und macht matt und schlaff und die Romantik auch. Und doch bin ich aus lauter Träumen zusammengesetzt gewesen und bin es beinah auch heute noch. Das kommt von der Jugendzeit her und vom vielen Kranksein. Meine Lunge war von jeher schwach. Da lag ich tagelang, wochenlang allein, die Hände unter dem Kopfe. Meine Mutter war früh gestorben. Der Vater kümmerte sich wenig um uns, um mich und meine jüngere Schwester. Meine liebste Gefährtin war eine weiße Ziege, der ich ein silbernes Glöckchen an blauem Band um den Hals gehängt hatte. Sie war immer um mich. Man ließ uns den größten Teil des Tages allein. Da gingen die sehnsuchtskranken Träumereien bei mir ein und aus wie die Bienen im summenden Stock. Meine Schwester hat sich kürzlich vermählt und ist weggezogen; mein Vater lebt für sich auf unserm Landgut. Ich bin hier in dem großen Haus allein mit der Dienerschaft. Was soll ich da andres tun als mich einspinnen in meine bunten Gedanken, die mich emportragen in Fernen und Weiten, in denen ich immer am liebsten geatmet hätte und gewandert wäre?«

In silbernem Rahmen stand ein Männerbildnis auf Helenens Toilettentisch. Das war er, dem heute ihre Träumereien galten. Die großen, erregten Augen schienen aus dem Rahmen heraus mit ungelöschter Leidenschaft nach der Geliebten zu rufen, ihren schimmernden, schlanken Leib zu fordern. Und Helene träumte von diesem stürmischen Drängen, von diesem heißen Fordern. Das war das Einzige, dessen sie sich vollkommen bewußt war: daß sie nach unsäglichem Liebesglück verlangte, daß sie in bebender Demut unterjocht, in unsinniger Glut begehrt sein wollte und in unerhörte Lust und unerhörten Schmerz unterzutauchen willig war.

Sie wollte nicht wissen, daß ihr Leben bereits zerstört war, weil sie ihre Ehe gebrochen und ohne Scheu am helllichten Tage mit dem Manne davongelaufen war, der ihr als erster mit dem Taumel seiner wildsüßen Zärtlichkeiten die reifenden Sinne vergiftet. Sie wollte es nicht mehr wissen und wußte es jede Stunde des Tages und der Nacht. Sie wollte auch nicht wissen, daß dieser Mann, um den sie Tat und Ruf gewagt, sie verlassen und preisgegeben hatte. Sie wollte es nicht wissen, daß die Gesellschaft ihrer kleinen Vaterstadt, in die sie zurückgekehrt war, sie mied. Sie war sich mit der Sicherheit der reizvollen Frau bewußt, daß es ein leichtes war, diese Gesellschaft, besonders ihren männlichen Teil, für sich zurückzugewinnen. Aber sie war zu stolz und auch zu träge, den Versuch zu machen. Dem demütigenden Werbegang zog sie die freiwillige Absperrung des großen, stillen Hauses vor, und statt um Gnade zu bitten, trug sie sich mit der neuen Schuld. Sie würde ein zweites Mal davonlaufen, wenn der Vater ihren Fortzug nicht haben wollte. Und so überließ sie sich mit der Ausschweifung ihrer müßiggehenden Gedanken, dieser entwürdigenden, vernunftlosen Liebe, die zu feiern sie im stillen Vorbereitungen traf. Der Geliebte fast noch ein Junge, mit dem ersten Bart um die Lippen, sie ein reifes, geprüftes Weib. Wenn die lähmende Vergangenheit mahnte und der warnende Verstand, dann sprach sie, die Unvermögende, von Anstrengung, ernster Beschäftigung, von nutzbringendem Dasein und pflichteifrigem Tun, von Zweck und Sinn der Tüchtigkeit. Aber während die Lippen redeten, hörten die Ohren zu und die Gedanken gingen zu den Truhen und Kasten, und den hohen, eingelegten Schränken, welche die vielen feinen, stilvollen Kleider bargen, die für die Liebesfeier bereitlagen. Es waren leichte, fließende Gewebe, spitzenüberschimmert, süßen Geheimnissen gleich. Ob es irgendwo in der Welt ein dauerndes Glück gebe, fragte sie mich oft mit der Bangigkeit eines im Walde verlaufenen Kindes und was eigentlich das Leben sei und was der Tod. Ob Selbstmord Sünde und Sterben Verwandlung sei und die Menschen recht daran täten, zu beten und zu verehren.

»Lieben Sie die Sonne?« meinte sie einst. »Ich liebe sie nicht nur, ich bete sie an. Ich habe sie schon als Kind angebetet. Man wollte mir das immer ausreden, und man zerstörte mir meinen Steinaltar, den ich ihr einst an der Gartenmauer errichtet. Wie oft habe ich zu ihr gebetet! Ich erinnere mich, daß einst im feuchten Moosboden einer Villa das Steinbild eines Sonnengottes gefunden wurde. Alle Leute liefen hin, es zu sehn, auch die Gelehrten. Ich wäre auch gern hingegangen, man verbot es mir. Ich wäre davor niedergekniet. Mein Vater und andre Menschen würden mich dann wohl mit mehr Grund als bisher für unwirsch erklärt haben. Und doch finde ich die Sonne das Anbetungswürdigste, was die Welt besitzt. Ich meine damit das Licht, von dem wir alle abhängig sind. Ich liebe das Licht und fürchte und hasse das Dunkel. Sollte man dem Licht keinen Hymnus singen dürfen?«

»Sehn Sie, das Bedürfnis, zu verehren ist stark in mir. Das kommt daher, weil ich in meinem eignen Herzen so schwach bin. Darum ist auch das Suchen nach Kraft und kraftvollen Menschen meine heftigste Begierde. Ich denke, Zuverlässigkeit ist Kraft, und Treue ist Kraft. Auch der Glaube ist Kraft. Mir scheint aber, man sollte vielem in der Welt keinen Namen geben müssen, um das Schweben des Gefühls rein zu erhalten. Das Wort Treue kommt mir in der Welt der Gefühle vor wie ein Stein, eine Ruhebank. Treue ist Ruhe in dem steten Wandel. Wir fühlen, daß wir heute nicht mehr sind, was wir gestern waren, und morgen werden wir wieder anders sein. Ist es nicht so? Da benötigen wir etwas, das den Weg weist, wie im Märchen die Kieselsteine, die Hänsel auf den Waldpfad streute, um sich mit Gretel zurückzufinden. Die Treue ist gleich diesen Kieseln, damit wir des Weges zu uns zurück nicht verlustig gehn. Mein Gott, wir leben ja unausgesetzt in den Tag hinein. Und wir tragen unser Geschick in uns und bereiten es in uns vor wie einen guten oder bösen Zaubertrank. Wenn ich allein durch den Garten gehe, die Sterne über mir und ringsum die Nacht, da scheint mir oft, ich stehe mitten drinnen in meinem eignen, unaufhaltsamen Schicksal, mitten drinnen in den Räumen jener großen Zeit der Ewigkeit und meiner mir zuerteilten engen Spanne Zeit, die mir für meinen Leib und meinen Geist gewährt wurden. Und ich möchte dann diese Spanne ausfüllen bis ans äußerste Ende mit einem starken, großen, treuen Dasein. Aber ich kann es nicht, mir ist zu viel gegeben und zu viel vorenthalten worden.«

Dann lächelte sie: »Ich muß ja gestehn, daß mir unter ganz starken Menschen stets unbehaglich zumute ist. Und daß ich trotzdem überall Stärke und Treue suchte, hat mir das größte Leid eingetragen. Ich bin oft bitter enttäuscht worden. Enttäuscht werden, heißt Herabwürdigung. Ich mag dann nicht mehr zu den Menschen, traue mich nicht mehr an sie heran. Und vor allem mag ich das Suchen nicht nach Recht und Unrecht. Das mag ungerechtfertigter, unklarer Stolz sein. Ich verteidige mich nie ... Sie werden mich auch enttäuschen, Sie auch. Sie sind die Stärkere von uns beiden.«

Während einer ganzen Woche mußte ich bald darauf die Stunden mit Helene unterbrechen; die Vorgänge in unserm Mädchenzimmer verlangten es so.

*

Viele Krankheiten kommen aus dem Herzen. Tragen wir ein gefestigtes, glückliches Herz in der Brust, so sitzt es in uns wie ein Wächter, der das Böse nicht zuläßt; sind wir aber ungefestigt und banger Wünsche, zitternder Hoffnungen voll, dann wehrt es dem Uebel nicht und läßt es ein in unsern Leib. – Regine hatte oft über Müdigkeit und Kopfschmerz geklagt in der letzten Zeit. Ihr Teint jedoch blieb rosig und frisch; nur unter den schweren Lidern blickten die Augen, als ob sie ihr Tagewerk fürchteten, und um den Mund lag ein Zug nervöser Aengstlichkeit, der dem jungen Gesicht den Ausdruck von Schwere und Besorgnis verlieh. Als ich eines Spätnachmittags von meiner Stunde bei Helene zurückkehrte, fand ich Regine zu ungewohnter Zeit auf unserm Sofa vor. Sie hatte Kragen und Gürtel ihrer weißen Bluse gelöst und lag, beide Hände unter den Hüften verborgen, mit geschlossenen Augen da. Der Zug tiefer, leidender Bekümmernis, der ihr in letzter Zeit eigen war, prägte sich in dem rosigen Gesichtchen deutlicher aus denn sonst.

Sie öffnete die Augen, als sie mich eintreten hörte.

»Mein Kopf tat so weh«, sagte sie. »Ich bin furchtbar müde, ich konnte nicht mehr weiter arbeiten, da ging ich fort.«

»Und was sagte dein Chef dazu?« fragte ich nach einer Weile. Sie verzog den Mund und antwortete nicht gleich.

»Es ist gleichgültig, was er jetzt sagt«, meinte sie hierauf. »Ich werde es doch nicht mehr aushalten können im Kontor. Mein pflichttreues Wollen wird für nichts erachtet. Auch Selbständigkeit bei der Arbeit gibt es und braucht es bei uns nicht. Ich kann diesen Klatsch, diese beständige Kontrolle und die demütigende Herabsetzung, die Gemeinheit im Tone, die dort herrschen, nicht länger ertragen. Alles wird dem Chef hinterbracht und er hört auf alles und alle. Ich kann nicht mehr hingehn. Ich kann nicht. Mein Gott, ich bin doch jung, und das Leben könnte so anders sein!«

Ich setzte mich zu ihr auf den Rand des Sofas, kühlte ihr die Schläfen, bereitete Kaffee und brachte Pläne vor, die auf den notwendigen Wechsel ihrer Stellung abzielten. Mit geschlossenen Augen hörte die völlig Erschöpfte zu, schien sich allmählich zu beruhigen und ging früh zur Ruhe.

In der Nacht erwachte ich; ein ungewohntes Geräusch war in meinen Schlaf gedrungen. Ich richtete mich in den Kissen auf. Da sah ich, daß Regine die Kerze anzündete. Sie tat es mit geschlossenen Augen. Dann zog sie das Schubfach des Nachttischchens heraus und schien angestrengt etwas darin zu suchen.

»Was ist dir, Reginchen, was suchst du?« fragte ich. Die Schatten des Lichts streiften ihr Gesicht, die geschlossenen Augen; müder Ernst und der Ausdruck aufhorchenden Erschreckens lagen darauf.

Sie suchte eifrig weiter. »Ich weiß nicht, wo die Schnur hingekommen ist«, sagte sie mit leiser, verschüchterter Stimme. »Das Paket muß fort heute und der Brief auch, sonst schimpft er.«

»Könntest du es nicht morgen erledigen, Reginchen?« fragte ich. »Willst du nicht lieber die Kerze löschen und schlafen? Das ist dir zuträglicher. Morgen trage ich die Sachen mit dir zusammen auf die Post.«

Sie schien sich zu besinnen. Dann ertönte ein leises, demütiges Ja. Mit geschlossenen Augen löschte sie die Kerze.

Ich blieb noch lange wach. Aber erst als ich wieder im Dunkel lag, kam mir in den Sinn, daß Suses Bett leer gestanden hatte. Wo mochte sie weilen?

Schon war Mitternacht vorbei.

Ich konnte den Schlaf nicht finden. Ich war besorgt um Regine und dachte an Suse. Wo war sie? Und vor allem: Wer war sie? Ich sah sie auf einmal vor mir, wie ich sie letzthin gesehn, als wir ein kleines Festmahl im Mädchenzimmer veranstaltet hatten, weil Vitia, der unser gemeinsamer Freund geworden, Geburtstag feierte. Suse trug ein leichtes Sommerkleid aus grauem, weichem Stoffe, nicht sehr geschmackvoll; aber die Farbe stand ihr gut und verlieh ihrem schmalen, hellen Gesicht sanfte Durchsichtigkeit. Ihr Lächeln, ihr Gehn und Stehn und Sitzen, die erregten kurzen und unnötigen Bewegungen, all das fiel mir jetzt deutlich ein, auch ihre hübschen, beweglichen Hände und Füße. Es fiel mir auch ein, daß alles, was sie an jenem Abend getan oder unterlassen hatte, nur einem Zwecke dienen mußte und der war: Vitias Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ohne laut oder aufdringlich zu sein, war Suse doch von der unbewußten Absicht geleitet worden, diesem gesunden, jungen Manne zu dienen, sich ihm in eifrigem Bemühn unterzuordnen, ihm beizustimmen, wenn er sprach, beizulächeln, wenn er lächelte. Etwas Törichtes, Kindischklägliches und Mägdisches hatte in ihrem Verhalten gelegen, eine Herausforderung, die zu rasch und zu viel darbot und zu wenig für sich und die persönliche Würde forderte.

Das alles ging mir durch den Sinn, als ich wach dalag. Eine Stunde mochte vergangen sein.

Auf einmal regte es sich wieder im Dunkel. Ich fuhr empor und gewahrte, wie sich Regine aufrichtete, die Decken zurückwarf und vom Bett aufstand. Schnell zündete ich die Kerze an. Da sah ich meine Schwester bereits im weißen, langen Nachthemd durchs Zimmer schreiten, die kurzen blonden Zöpfe auf den Schultern, die Augen fest geschlossen. Die Arme weit vor sich hingestreckt, das Gesicht nach oben gerichtet, mit den nackten Füßen die Diele abtastend, so ging sie der Türe zu.

»Reginchen! Wo willst du hin?« rief ich erschrocken. Sie schien mich nicht zu hören. Da sprang ich aus dem Bette, lief zu ihr hin und umfaßte mit beiden Armen die weiße Gestalt, gerade in dem Augenblick, als sie die Türe nach dem Flur aufmachte. Sie erschrak, öffnete die Lider und sah mich mit verwirrten, gläsernen Augen an.

»Reginchen, wo wolltest du hin?«

Sie fuhr sich ein paarmal mit der Hand über Stirn und Augen.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie kleinlaut und atmete tief auf. »Wo bin ich denn? Ach ja, ich wollte etwas suchen gehn, das mir immer wieder verloren ging. Aber ich weiß nicht, was es ist. Siehst du, schon viele Nächte quält es mich, nein, schon viele Monate, Jahre. Es ist als ob mir auf dem Estrich oder im Keller oder sonstwo etwas geraubt werde, immer ein und dasselbe; aber ich weiß nicht was und weiß nicht von wem. Wie quälend das ist! Und ich weiß, es ist etwas Köstliches, Schönes, das Beste, was ich besitze, das ich nicht entbehren und ohne das ich nicht leben kann. Ich wollte es eben wieder suchen gehn!« Sie war völlig wach geworden und blickte wie suchend in schmerzhafter Erinnerung im Zimmer umher.

Im selben Augenblick wurde draußen im Korridor die Eingangstüre behutsam aufgemacht. Leise Tritte näherten sich dem Schlafzimmer. Es war Suse. Meine Kerze schien ihr voll ins Gesicht, als sie vorsichtig eintrat. Sie war in Strümpfen. In der rechten Hand hielt sie ihre bunten Seidenschuhe, über dem linken Arm hing zerrissen die rote Korallenkette, die sie um den Hals zu tragen pflegte. Das Gesicht war erhitzt, die Lippen feucht und rot, und aus Haar und Kleidern floß ein starker Duft süßlicher, parfümierter Zigaretten. Ueberrascht und betreten blieb sie neben der Türe stehn, als sie uns beide erblickte und bückte sich rasch nach ihrer Korallenkette, die ihr vom Arm geglitten war und am Boden aufschlug. Regine schaute wortlos zu ihr hin, und völlig klar, mit ihrer gewohnten hellen Stimme sagte sie zu ihr: »Suse, du bist spät. Du bist in letzter Zeit immer spät. Sieh an die Uhr! Es geht dem Morgen zu. Ich glaube, du willst ein ganz gewöhnliches und schlechtes Ding werden.«

*

Das Ueberraschende war, daß nach dieser nächtlichen Szene Suse nicht etwa Regine, sondern mir zürnte. Sie setzte in meiner Gegenwart ein schmollendes Gesicht auf, ließ die Unterlippe hängen, was ihr einen so komischen Ausdruck gab, daß ich stets für mich lachen mußte. Wenn ich sie ansprach, antwortete sie nicht; da schwieg auch ich.

Auf vieles Zureden hin hatte die völlig erschöpfte Regine sich entschlossen, ein paar Tage zu Hause zu bleiben. Sie hütete das Bett, war matt und niedergeschlagen, und so stark schmerzte ihr Kopf, den sie bis an die Nasenspitzen mit Tüchern umwickelt hatte, daß sie jammernd behauptete, ihr Gedächtnis zu verlieren, und sie würde wohl nie mehr imstande sein, irgend etwas Tüchtiges zu erreichen.

Ich begab mich selbst in ihr Kontor, um sie bei ihrem Arbeitgeber zu entschuldigen, und als ich den mürrischen Mann gesehn, mit dem breiten, fleischigen Gesicht, und für einen Augenblick bloß die Atmosphäre des Druckes und der Enge, die er um sich schuf, eingeatmet hatte, begriff ich den Zustand meiner Schwester und ihre Erkrankung.

Nach ein paar Tagen fühlte sie sich jedoch besser, und als ich eines Nachmittags von einem Ausgang zurückkehrte, fand ich sie zu meiner Ueberraschung draußen auf dem Balkon; aus dreien unsrer großen Lehnstühle hatte sie sich mit Kissen und Decken eine Lagerstätte gebaut, lag da und schlief. Als ich mich leise zu ihr hin schlich, bemerkte ich, daß ihre Hände gefaltet waren, als ob sie gebetet, bevor sie entschlummert war. Sie erwachte beim Geräusch meiner Schritte und sagte leise: »Bin ich eingeschlafen? Ich wollte ja gar nicht schlafen, sondern Pläne machen. Weißt du, Anna, ich werde ganz bestimmt einmal eine große Reise unternehmen. Ich muß es. Ich weiß allerdings noch nicht wohin, aber gewiß führt sie mich einst an den See Genezareth, an dessen Ufer Jesus wandelte. Schon als Anstaltskind stellte ich mir diesen See vor, wie er im ewigen hellen Sonnenlicht daliegt, in ruhigem, reinem, blauem Licht, und allen, die an ihm vorüber wandeln, muß aus seinen heiligen Wassern unvergängliches Glück und Gedeihen hervorbrechen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine nichts, ich weiß es«, entgegnete sie mit Sicherheit.

Als ich bei einbrechender Dunkelheit die improvisierte Lagerstätte auf dem Balkon ins Zimmer räumte, fand ich Reginens kleine Konfirmandenbibel mit den Messingbeschlägen zwischen den Kissen. Ein Zettel lag darin. Darauf fanden sich mit Bleistift die Worte:

..........................einsam
Lieg ich viele Stunden,
Glücklichsein und Jugend
Sind darob entschwunden.
Senkt auch Liebe Blumen
In die Gruft hinab,
Bleibt nicht Sterben Sterben?
Bleibt nicht Grab doch Grab?

Armes Reginchen, wie trüb und trostlos sind auch deine Gedanken!

*

Es war ein drückend heißer Tag, als ich wieder zu Helene ging. Die Luft flimmerte vor Wärme und war ganz still. Auf Bäumen, Blumen und Hecken, die am Wege standen, lag der Staub. Er bewarf mit grauem Puder die kleinen, roten Rosen, die über die Gartenzäune hingen und machte sie müde und schwer.

Als ich mich der Villa näherte, sah ich sie im Sonnenbrand daliegen. Hinter den grünen, geschlossenen Jalousien lag sie wie zugeriegelt vor der sengenden Hitze. Das Haus schien wie gestorben. Und wie ich die Treppe hinanstieg, da bemerkte ich, daß alle Türen, die in den dunkeln Vorsaal führten, offen standen, als ob sie die kühlende Luft hineinlassen sollten. Ich schaute in alle die schweigenden, großen Zimmer und rief leise Helenens Namen. Nichts regte sich. Da kam ich an ein Gemach, das ich vorher nie betreten hatte. Ich blickte hinein; der Raum war dunkel, die Jalousien heruntergelassen. Ein Lichtstreifen fiel quer durch eine Spalte vom Fenster her auf eine rote Blume des Teppichs. Im Zimmer stand ein hoher Spiegel und in der Mitte ein runder Tisch. Darauf erblickte ich den Käfig mit dem grünen Papagei Helenens; er hockte auf seiner Stange und schlief. Im Raume schwebte jenes matte, ungreifbare Parfüm, das überall da war, wo Helene sich gerade befand. Also mußte sie in der Nähe sein. Und erst jetzt erblickte ich sie im schwülen Dunkel des Zimmers. Sie saß auf dem Fensterbrett, ganz in der Tiefe, nur mit einem weißen Rock bekleidet, die nackten Füße hingen vom Fensterbrett hinunter, sie steckten in blauen Seidenpantoffeln, die sie nervös mit den Zehenspitzen festhielt.

»Sie sind es?« meinte sie gleichgültig und fremd und hob kaum die Lider. »Sie haben mich lange allein gelassen.« Dann fügte sie hinzu: »Es ist sehr schwül heute.«

Sie bot mir die Hand nicht, hieß mich nicht Platz nehmen, achtete meiner weiter nicht. Verdrossen über diesen Empfang trat ich von ihr zurück, stellte mich ans andre Fenster und wartete. Helene schob indessen lautlos mit den Fingern ihrer rechten Hand die Sprossen der Jalousie auseinander und schaute mit so viel neugieriger Spannung in den Hof hinunter, wie ich sie bisher nie an ihr bemerkt hatte. Im Hofe befanden sich die Stallungen. Ich vernahm Pferdegetrappel und Männerstimmen. Ein gesatteltes Pferd stand vor der Stalltüre. Der Reitknecht rückte etwas am Sattelzeug zurecht. Vor ihm stand ein schlanker, junger Mann im Reitanzug.

»Ist sie oben?« hörte ich ihn fragen, und mit dem starken Kinn machte er eine Bewegung gegen das Fenster hin, hinter dem Helene saß.

»Ja«, gab der Reitknecht zur Antwort.

Da hob sich der Blick des jungen Mannes empor zu der unbeweglichen, dichten Jalousie. Sein Auge glitt suchend, hartnäckig, groß dorthin, wo Helene saß. Es schien, als ob er ihren müßigen, weißen Leib da oben errate. Unbewegt verharrte sie indessen in ihrer Stellung; einer ihrer blauen Seidenschuhe fiel zur Erde und schlug mit klatschendem, kurzem Laut auf. Nervös zog sie den Fuß hoch, schloß die Augen, lehnte einen Moment den Kopf an den Fensterrahmen. Dann schob sie rasch die Finger wieder zwischen die Sprossen und blickte von neuem hinunter in den von der Sonne beschienenen Hof. Ich hörte ihren tiefen Atem, das verhaltene, durstige Schlucken ihrer Kehle. Jetzt schwang sich der junge Mensch unten aufs Pferd, ergriff die Zügel, riß am braunen Lederhandschuh. Von der Sonne geblendet, die über den Dachgiebel daherkam, duckte er den Kopf und schaute nochmals ungeduldig und dringend zu den verschlossenen Läden empor. Dann riß er den Blick zögernd los und drückte mit den Schenkeln die Weichen des Pferdes. Er ritt aus dem Hof hinaus. –

Nun herrschte wieder tiefe Stille. Unten hatte der Reitknecht das hohe Tor geschlossen, dann die Stalltüre; er ging aus dem Hof hinaus. Es regte sich nichts mehr.

Da atmete Helene tief auf. Sie glitt vom Fensterbrett hinunter, schlüpfte in den blauen Pantoffel und streckte, sich dehnend, die nackten Arme weit von sich.

»Das war mein Vetter,« sagte sie dann, sich meiner erinnernd, »er benutzt unsre Reitpferde. Er ist arm und schön.«

Ich glaubte etwas sagen zu müssen. »Sehn Sie ihn nie bei sich?« fragte ich. Sie blickte mich aus ihren vagen Augen mit einem flüchtigen, halben Blicke an. »Er gehört zu der Sippe meiner Verwandten, die über mich den Stab gebrochen haben. Dies genügt. Die Verwandtschaft, die der Meinung ist, eine geschiedene Frau habe keinen Anspruch auf Glück und müsse sich lebendig vergraben ... Früher war er mir in leidenschaftlicher Schwärmerei zugetan.«

»Ich denke, er ist es heute noch«, warf ich ein.

Sie schien meine Bemerkung nicht zu hören.

»Würden Sie nicht so freundlich sein und den untern Laden dort ein wenig öffnen?« bat sie mich.

Langsam ging sie auf und ab. Ihre nackten Arme und Schultern, die nur von der schmalen Spitze des Hemdes gestreift wurden, trug sie vom schwülen Halbdunkel ins Licht und wieder zurück, und Schatten und Licht umspielten die weiße, matte Haut, verhüllten sie und gaben sie frei. Sie schien meiner wieder vergessen zu haben, auf und ab ging sie mit gesenkten Lidern. Dann trat sie zum Käfig des grünen Papageis und nahm den schlaftrunkenen Vogel heraus. Nun saß er auf ihrem ausgestreckten, nackten Arm und schüttelte die Federn. »Küß mich, Deheb!« bat Helene, »Küß mich!« Der Papagei begann langsam den weißen Arm zu erklettern, halb flatternd, halb rutschend. Und überall wo er mit seinen Krallen zu sitzen kam, erschienen tiefe, rote Punkte im Fleische, die brannten wie kleine, lebendige Narben. Nun saß er bereits oben auf der Schulter seiner Herrin und lehnte seinen grünen Kopf an ihre Wange.

Ich sah schweigend zu; das war alles so reizvoll und beängstigend zugleich in der Schwüle des verdunkelten Raumes, daß ich, ohne zu wissen warum, unwillig wurde, unmutig, so unmutig, daß ich Helene hätte schlagen mögen oder gerade in diesem Augenblick ohne Abschied davonlaufen, ohne meine Zeit weiter an unnütze, kleine Schauspiele zu vergeuden. Ich ging zur Türe und wollte mich sachte entfernen; denn man schien meiner nicht zu achten. Da hob aber Helene die schmalen Brauen und sah mich rasch und erstaunt an. »Sie wollen gehn? Ich bitte Sie, dazubleiben. Wir lesen noch zusammen. Auch habe ich Ihnen einen Aufsatz geschrieben. Ich bin außerdem heute einsamer denn je. Ich habe die Dienerschaft ausgehn heißen. Ich bitte Sie, bleiben Sie da.«

Sie hatte den Arm um meinen Nacken gelegt; ich blieb.

Wieder begann sie im Zimmer auf und ab zu wandern. Dann stand sie vor dem Spiegel still und schaute, ohne eine Bewegung zu machen, ernst und lange hinein. Und wie zu ihrem Bilde redend, sagte sie:

»Das ist es. Ich soll hier bleiben, darben und mich kasteien. Ich soll nicht hören, daß ich schön bin. Alle beißen das Wort, das mir zukommt, in sich hinein. Auch Sie ... Die Menschen draußen machen mir Angst, ihr Raunen und Flüstern dringt bis an meine Türen. Die Stille hier im Hause macht mich glauben, daß ich schlafe, träume und einst aufwachen muß. Ich fühle, wie mir diese Stille in Fleisch und Blut eindringt und mich matt und krank macht. Und ich möchte nicht einen einzigen Tropfen des Lebens verlieren, der noch in mir ist. Die Zeit rauscht vorbei, und man will mir einreden, ich müsse auf das Glück verzichten. Und doch ist in mir eine verzehrende Sehnsucht nach Glück. Glück? Das ist nicht Glück, was ich jetzt suchen gehe. Von dem hat meine Sehnsucht ausgeträumt. Sehnsucht ist ein nutzloses Schoß und taugt nicht. Die Menschen der Tat, die kräftig sind und treu, die sehnen sich nicht bloß, die handeln. Es ist ein schales Ding, was ich von meinem Leben noch abheben möchte. Ich möchte bloß noch sehn, wie weit es geht und dann ... aber ich hasse und fürchte den Tod. Er ist tiefdunkel. Und ich liebe das Dunkle nicht. Ich kann schwarze Kleider nicht leiden und weinte als Kind, wenn mir die Kinderfrau schwarze Schuhe an die Füße zwang ... Der Tod ist tiefschwarz ... Ich werde das Leben noch einmal suchen gehn. Und der Rausch, der uns emportragen wird, wird vorbeigehn. Wir werden uns voneinander abwenden. Die Ernüchterung wird kommen, der Ekel und die Scham. Ich werde mich wieder schämen müssen. Der Tag wird kommen. Und ich werde mich nie mehr aufschwingen können. Dann stürzt alles über mir zusammen. Glauben Sie, daß es schwer ist, einem Leben ein Ende zu machen, das in die Irre geführt hat?« Sie wandte sich nach mir um und blickte mir angstvoll ins Gesicht. –

*

Ich habe Helene noch ein einziges Mal gesehn. Es war drei Tage später. Kleinmütige Verzagtheit, bange Angst hatten aus ihrer Stimme geklungen, als sie mich bat, den Abend mit ihr zu verbringen.

Nachdem wir im dunkelgetäfelten Speisezimmer das Abendbrot eingenommen hatten, gingen wir hinüber in ihren Schlafraum. Sie war blasser als sonst und sprach nicht viel, auch schien mir ihre Stimme leiser als sonst zu klingen.

Sie zog das unterste Schubfach einer dunkeln, mit Bronzeadern verzierten Kommode heraus und sagte, sie möchte wissen, ob mir ihr Kleid wohlgefalle, das da unten eingebettet liege. Ich kniete auf den Boden, sie an meiner Seite. Die silbernen Leuchter hatte sie neben uns auf die Diele gestellt. Oben an der Decke wechselten die Schatten, formten sich, blähten sich, lösten sich auf, schwammen und flossen rieselnd die Wand entlang und huschten in die Ecken.

Das Kleid war fein und duftig, von mattem dunklem Rosa, Spitzen und Seide gingen ineinander über wie Ton und Farbe, schimmerten, schwebten wie ein kunstvolles, zartes Gemälde vor dem Auge und lebten still für sich wie etwas Geheimnisvolles, das nicht laut von sich reden will.

Helene hob den Arm und nahm etwas vom Toilettentisch. Es war ihre Perlenkette. Sie lehnte sie gegen die Spitzen des Kleides und prüfte blinzelnd die Wirkung des Ganzen. »Perlen werden dazu sehr gut stehn«, meinte sie. »Perlen sind immer rein und schön und haben ihren eignen süßen Duft.«

Sie hielt plötzlich inne und starrte erbleichend auf einen Fleck an der Wand. Auf der hellen Tapete kroch etwas Unheimliches, unendlich Bewegliches herunter. Es war eine große, schwarze Spinne. Wir sprangen beide empor. »Das bedeutet Unheil,« meinte Helene und schüttelte sich vor Grauen, »welch häßliches, scheußliches Tier!«

Ich nahm den blauen Seidenpantoffel, der unter dem Toilettentisch lag und machte mich bereit, die Spinne totzuschlagen. Wir knieten wieder am Boden. Helene hatte die Röcke hochgenommen und wartete vornübergebeugt, die Kerze in der Hand. Die Spinne war hinter der Kommode verschwunden und mußte jeden Augenblick hervorkriechen. Und endlich kam sie, hochbeinig, häßlich, mit großem, schwarzem, rundem Leib. Pfeilgerade schoß sie auf uns zu, hielt inne und wollte eben zwischen mir und Helene durchschlüpfen, als ich den blauen Pantoffel hob. Was war das? Wir vernahmen einen winzigkleinen, heisern, dünnen Schrei, der wie in Todesangst ausgestoßen war. Er kam von der Spinne. Entsetzt blickten wir uns an. Ich ließ den Schuh fallen, meine Hand sank herab, und nun sahen wir, wie die Spinne in rasender Geschwindigkeit, einem geretteten Flüchtling gleich, über den Fußboden davonlief.

Helenens feines Gesicht war totenblaß geworden. »Das war die Angst vor dem Tode. Armes Tier. Was das wohl bedeuten mag?«

Und wie ich wieder zu ihr hinsah, erblickte ich Tränen in ihren Augen.

*

Wieder vergingen ein paar Tage. Eben wollte ich mich aufmachen, um zu Helene zu gehn, da schellte der Postbote und überbrachte mir ein großes Paket. Die Adresse war von ihrer Hand.

Obenauf lag ein Brief.

»Die Zeit ist gekommen,« hieß es darin, »ich gehe. Mein Vater weiß nichts davon. Ich finde keine Ruhe mehr in dem großen, stillen Hause. Auch ist mir, als ob ich die Stimme der klagenden Spinne überall vernähme, als wohne sie neben mir im Zimmer und rede zu mir. Ich halte es nicht länger aus. Wenn Sie dies Schreiben erhalten, bin ich schon fort. Es ist meine zweite Flucht, mein letzter Versuch einer Befreiung, mein letzter Versuch um mein Glück. Ich gehe nach dem Süden, wo ich erwartet werde. Die Sonne scheint auch dort, nur milder, klüger und verschwiegener als hier. Sie kennt die Liebe und segnet sie, auch eine verzweifelte. – Alle meine Bücher nehme ich mit, vielleicht gelingt es mir später, mein Leben doch noch nutzbringend zu gestalten, vielleicht. Leben Sie wohl!«

Es lag vieles in dem Paket. Die doppelte Summe dessen, was ich für meinen – ach so nutzlosen, verlorenen – Unterricht verlangt hatte. Dann folgten Handschuhe, feine Taschentücher, eine silberne Börse, eine kleine, eingelegte Schachtel aus Rosenholz, in der ein dürres Rosenzweiglein lag, eine Schale aus mattgrünem Kristall mit goldenem Laubgewind und eine zierliche Bronzestatuette, eine Frauenfigur darstellend, die eine Kugel auf der Schulter trug und in deren Sockel mein Namenszug als Siegel eingelassen war. Zu unterst lag in schmalem Silberrahmen Helenens Bild: Groß, schlankhüftig, im Schleppkleid, den anmutigen Kopf leicht zurückgelehnt, die Lippen durstig geöffnet. Unter dem lockern Haar die süßen, vagen Augen, die jetzt die Straße ihres bangen Schicksals suchten.

Hatte ich Helene geliebt? Würde ich sie vermissen? Würde ich ihrer gedenken mit Sehnsucht in einsamen Stunden? War sie nicht vielmehr an mir vorbeigeglitten wie ein fremder, hoher Klang, der durch die laue Dämmerung bricht, du weißt nicht woher und weißt nicht wohin ihn der Wind weiterträgt?

Ich betrachtete mit Entzücken all die Geschenke und schämte mich ihrer.

Arme Helene!

*

Helene war gegangen. Vitia war geblieben. Und Regine hatte eine andre und diesmal angenehme Stelle gefunden, viel leichter als sie geglaubt.

Sehr schnell hatte sich zwischen uns Schwestern und Vitia Milski eine gute Freundschaft gebildet.

Wenn ich heute diesen Namen nenne, ergreift mich Wehmut. Wo bist du wohl jetzt, lieber, treuer Freund? Lebst du noch, oder bist auch du unter die Toten gegangen, die Toten dieser letzten Jahre? Hast du in der Heimat dein Grab gefunden, oder ruhst du in fremder, ungeweihter Erde?

Während Reginens Krankheit kam Vitia oft ins hohe Mädchenzimmer. Er brachte trotz seinen bescheidenen Mitteln immer etwas mit, Obst, Schokolade, weiße Brötchen. Offenbar fühlte er sich wohl in unsrer Nähe und fand es ganz selbstverständlich, daß er seine freien Stunden bei uns verbrachte. Er gehörte einfach zu uns, machte Besorgungen, holte Brot, trug Briefe auf die Post: dafür teilten wir mit ihm unser Abendessen, flickten ihm seinen Mantel und seine Strümpfe und halfen ihm mit Rat und kleinen Geldvorschüssen aus. In der Sofaecke, am Fenster, beim Kachelofen unten war seine gute ehrliche Figur ansässig, ein stiller Betrachter, der zum vornherein guthieß, was in diesen Räumen getan oder unterlassen wurde.

Wenn ich heute sage, Vitia sei in Rußland, bevor er als Student zu uns kam, auch unter den Revolutionären gewesen, so scheint mir das kaum denkbar und lächerlich. Die Revolutionäre des alten Rußland sahen so ganz anders aus als er. Es fehlte ihm, um den Zündfunken in andre zu werfen, Schwungkraft der Gedanken, Gewandtheit, Rednergabe, und auch das anziehende Aeußere. Er war unschön mit seinem gesunden, starkknochigen Bauerngesicht und der Brille vor den schielenden Augen. Aber über seiner ganzen Erscheinung lag der Ausdruck, der mit keinem andern verwechselt werden kann: Der Ausdruck unbedingter zuverlässiger Güte. Auch seine Hände waren zuverlässig wie er selbst und dazu weiß und schön, sodaß man diese kostbaren Hände gern in den seinen fühlte. Vitia war auch kein Redner, er, der kaum sprach und dessen Gegenwart sich selten anders als durch den aufsteigenden Rauch einer billigen Zigarette kundgab. Er war dem dunkeln, schweren Boden Mittelrußlands entwachsen, und seine Interessen waren größtenteils einfach vernünftiger und praktischer Natur. Als ein Unbemittelter, der sein Studium selbst bestritt und es auch zu Ende führen wollte, zielten seine Bestrebungen hauptsächlich auf seine persönliche materielle Unabhängigkeit ab. Wohl hatte er in revolutionären Epochen, die es in seiner Heimat zur Genüge gab, ein brandrotes Hemd getragen und hatte mit falscher Stimme und verkehrten Worten die Marseillaise mitgeschrien, wenn es galt. Er hatte dafür auch monatelang im Gefängnis gesessen. Aber das alles war nicht aus dem hellen Zorn lodernden Empörtseins geflossen, dem unersättlichen jungen Durst nach der umstürzlerischen Tat, oder aus dem Gefühl seines zertretenen Menschenbewußtseins – nein, es war bloß das eifrige getreue Mitgehen mit denjenigen gewesen, die von den Rechten höhern Menschentums feuersprühend brodelten, die ihn, den schwerfälligen, leidenschaftslosen mit in ihre eigne Leidenschaftlichkeit hineinrissen, und in deren rhetorischen Zaubermantel er sich gutwillig einwickeln ließ.

Es gab nur einen Gegenstand, der Vitia aus seiner Wortkargheit heraustreten ließ: Das waren seine Bienen.

Aber willst du nicht selbst zu erzählen beginnen, Vitia, wie du es oft und gern getan, du Getreuer? Wie du ganz allein mit dem alten Wächter, dem zahmen Raben, dem Hund und deinen Bienen am Rande des großen Waldes in deiner Heimat gehaust? – Am Waldrand, der nach der Mittagseite schaute, da lag das kleine weißgestrichene Haus, das dein Vater dir geschenkt, und die wellige Wiesenmulde, die es umgab. Hier in dieser Mulde standen deine Bienenhäuser, die dein Leben fristeten und dir dein Studium ermöglichten. Sie waren alle blendend weiß gestrichen und aus der Ferne wie eine Reihe weißer Fenster auf grünem Grunde anzuschauen. Mitten durch die summende Kolonie zog sich eine Wasserrinne, die du mit eignen Händen gebaut, und auf der obersten Höhe deines Bienenhügels stand ein Heiligenbild, das den Bienenfleiß segnend überwachen sollte. Und wenn der Frühling kam, packtest du deine hundert Bienenkörbe auf Wagen und brachtest sie hinaus an den Rand der Steppe, wo die Linden standen, damit die Tierchen die jungen Blüten umschwirrten. Und sie brachten dir später den flüssigen, goldgelben Honig der Linden, der wonnig duftete, den du in Töpfe, Gläser und Fässer fülltest, verkauftest, und der dir dein Studium ermöglichte.

Denkst du noch, Vitia, an deine Sommernächte unter den Sternen? Du hattest dir für diese Nächte ein eignes Schlummerhaus gebaut, mitten unter deinen im Schlafe leise brummenden Bienen. Dies Haus war aus Stroh, glich einem Termitenbau und ragte mit seiner Spitze weit über deine Bienenkörbe hinaus in die rauschende Melodie der russischen Sommernächte. Ich weiß, du hast oft, obwohl kein Träumer, vor deiner Strohhütte im Grase gelegen und hast den wandernden Sternen zugesehn, wie sie durch die tiefblauen Wände der Himmelsglocke klirrten und in den Räumen des Horizonts versanken. Du hast zugehört, wie deine schlafenden Bienen im Stocke knisterten, und du hast auch in dich hinein gehorcht auf die ruhig klopfenden Pulse deines eignen Lebens.

Das alles hast du uns oft erzählten müssen, Vitia, uns Mädchen in der großen Stube, nachdem wir Freunde geworden. Und immer, wenn wir dich hörten, da horchte nicht nur unser Ohr auf, auch unser Blut und unsre Seele. Und die Sehnsucht wurde wach nach deinem weiten, reichen Mutterlande, in welchem aus unversiegbaren Quellen tausendfach fließendes und brennendes Leben sprang.

*

Vitia blieb uns ein ergebner Freund. Obwohl nicht älter als wir, ging von seiner Erscheinung eine wohltuende, durch seinen soliden, hartknochigen Körper gemeisterte Ruhe aus, die der schützenden Väterlichkeit gleichkam. Dadurch, daß er uns alle drei mit demselben wohlwollenden Behagen behandelte, bald bei mir, dann bei Regine vor dem Fenster der Druckerei oder vor dem Geschäft Suses auftauchte und bei jeder Begegnung dasselbe stillvergnügte Gesicht zeigte, gab er uns allen dreien verstärktes Selbst- und Wertgefühl, das wir gut brauchen konnten und das uns drei auch näher zusammenbrachte. Ohne jede Eifersucht tat eine jede von uns alles, um Vitias Freundschaft nicht zu verscherzen. Es kam vor, jetzt wo Regine eine angenehmere und nicht so anstrengende Stellung hatte und deshalb abends nicht so müde war, daß wir alle vier beisammen saßen, arbeiteten, lasen, plauderten. Das Gefühl der Einsamkeit wurde durch diese gemeinsamen, trauten Abende schwächer in mir und wohl auch bei meinen Schwestern; ich konnte wieder ersprießlicher studieren, bekam neue Lust an meinen Büchern, und die kleine, grüne Kupferlampe, um die wir uns jeweilen des Abends scharten, wurde uns zum Sinnbild des so schmerzlich vermißten Heims.

Auch Suses flackerndes Wesen schien dank Vitias zuverlässiger Freundschaft nach und nach Boden zu gewinnen, und es überraschte uns nicht, als sie uns auch von denjenigen Menschen zu sprechen begann, die zu ihrem eignen und uns fremden Bekanntenkreis gehörten. Was mir jedoch immer auffiel, sobald Suse vertrauter wurde, war, daß ihr jeder Sinn und jedes natürliche Unterscheidungsvermögen für Menschen völlig abzugehen schien. Sie schien sich keineswegs des Ueberspannten und Unzulänglichen ihrer Natur bewußt zu sein, und ohne auch nur zu ahnen, daß ihr Instinkt für die Menschen ein dürftiger war und das Maß, das sie an sie legte, ein sentimentales und oberflächliches, überließ sie sich völlig ihrem starken Bedürfnis des erhöhten Mitgefühls und umkleidete ihre augenblicklichen Auserwählten stets mit dem Mantel höchster menschlicher Tugenden.

Eines Abends versammelten wir uns wieder um die grüne Kupferlampe. Vitia las uns ziemlich einförmig eine übersetzte Novelle seines Landmanns Leonid Andrejeff vor. Suse saß mit vorgebeugtem Kopfe dicht neben Vitia und stopfte ihre garstig zerrissenen dunkelgrünen Strümpfe mit den roten Punkten, die sie nur am Sonntag zu tragen pflegte. Sie hörte nicht, was Vitia las, blickte zerstreut ins Licht der Lampe und schien stark mit ihren eignen Gedanken beschäftigt zu sein.

»Suse, was ist dir?« unterbrach Regine und hob mit zwei Fingern ihren Kopf unerwartet rasch in die Höhe.

Mit einer ungeduldigen Gebärde schüttelte Suse die Hand Reginens ab, und sich zu mir wendend, meinte sie: »Du, Anna, kennst du einen Studenten mit Namen Rudolf Meiner?«

»Nein, du weißt, daß ich niemand kenne auf der Universität«, entgegnete ich. »Hört er dieselben Vorlesungen wie ich und wie sieht er aus?«

Suse beschrieb ihn mir, und ihrer Beschreibung nach mußte es wohl derjenige junge Mensch sein, der dreimal wöchentlich im großen, amphitheatralisch in die Höhe gebauten Hörsaal seinen Platz dicht hinter mit hatte. Ich erinnerte mich, sein gewöhnliches, rundes Gesicht, in dem eine alberne, kleine Nase wie aufgeklebt saß, oft flüchtig gesehn zu haben.

»Nun, was ist's mit ihm?« fragte ich.

Suse legte den grünen Strumpf hastig in den Schoß, und Vitia klappte das Buch zu.

»Rudolf Meiner ist der Bruder meiner einstigen Arbeitskollegin, weißt du, die nun nicht mehr bei uns im Seidengeschäft ist. Durch sie lernte ich ihn kennen. Er ist der beste Mensch unter der Sonne; auch seine Professoren sind des Lobes voll; denn er ist einer der fleißigsten Studenten. Was er am meisten liebt, sind Bücher. Und die bereiten ihm jetzt die bittersten Stunden.«

»Warum?« fragten Regine und ich zur selben Zeit überrascht.

»Siehst du, ein alter Onkel Rudolfs bestreitet größtenteils sein Studium«, fuhr Suse zutraulich fort. »Jeden Monat schickt er ihm pünktlich seinen Zuschuß. Diesmal hat er ihm aber aus irgend einem Grund das Geld noch nicht geschickt. Und dabei droht der Buchhändler, weil der brave Rudolf, der aus purer Vergeßlichkeit seine alte Rechnung nicht bezahlt hat, er werde ihn beim Rektorat der Universität einklagen. Ist es nicht grausam, was diesem armen, herzensguten jungen Mann von einem gemeinen Krämer da angetan wird? Vielleicht kostet ihm sogar das Vorgehn des Buchhändlers das Studium; denn sein Onkel will nichts Nachteiliges über ihn hören, und leider hat Rudolf da und dort noch andre Schulden.«

»Das haben die meisten armen Studenten«, warf Vitia nachsichtig ein.

»Und nun?« fragte Regine neugierig und lächelte.

»Jetzt erwartet Rudolf jeden Tag sein Geld,« fuhr Suse unbeirrt und nun schon mit besorgtem Gesicht und Tone fort, »es ist ihm gelungen, dem Buchhändler noch eine Wartefrist von ein paar Tagen abzugewinnen. Das Geld des Onkels ist aber noch nicht gekommen. Nun läuft der Arme wie ein Gehetzter in den Straßen umher, kann auch den Mietzins für seine Bude natürlich nicht bezahlen, hat buchstäblich seit zwei Tagen nichts gegessen und sieht so blaß und vergrämt aus, daß es ein Jammer ist.«

»Du übertreibst, Suse!« rief Regine mitten in die Rede hinein.

Suse wurde vor Aerger rot übers ganze Gesicht.

»Nein,« rief sie laut, »ich übertreibe nicht. Ich weiß es genau, seit zwei Tagen hat er nichts zu essen gehabt, und seine Wirtin droht, ihn auf die Gasse zu werfen, weil er den Mietzins nicht bezahlen kann. Von allen Seiten fällt man über den Armen her!«

Suses Stimme klang weinerlich und hoch.

Wir wurden alle drei nachdenklich. Es machte unwillkürlich doch einen tiefen Eindruck auf unsre empfänglichen Gemüter, daß dicht in unsrer Nähe ein strebsamer, junger Mensch leben sollte, der wie Vitia und ich, aus geringen Mitteln sein Studium bestritt, der wahrhaftig hungern sollte und bald nicht mehr wußte, wo sein Haupt hinlegen. In der Trautheit unsrer großen, schönen Stuben und der ruhigen Geborgenheit unsres augenblicklichen Beisammenseins vergrößerten sich unsre Vorstellungen vom Elend des Unbekannten, wir blickten uns alle ratlos an und sannen, wie ihm zu helfen sei.

»Hat er wirklich nichts zu essen?« fragte Vitia über seine Brillengläser hinweg.

»Er sagt es,« entgegnete Suse, »und er spricht die Wahrheit.«

»Da muß man zu helfen suchen«, schlug Vitia vor, stand auf und ging nachdenklich, die Hände in den Hosentaschen, im Zimmer auf und ab.

»Ja, da müssen wir helfen,« stimmte auch Regine mit besorgtem Gesicht bei, »wenn vielleicht auch Suses Phantasie mehr sieht als die Wahrheit. Aber wie? Es ist ungerecht und grausam, zuzusehn, wo man beistehn sollte. Könnten wir ihn nicht wenigstens einladen, mit uns jeweilen das Abendbrot einzunehmen, bis sich seine Verhältnisse gebessert haben?«

»Das wird er nicht wollen!« rief Suse dazwischen.

Wir rieten hin und her.

Da kam mir ein Gedanke. In meinem Kästchen mit den Edelsteinen lag noch ein Teil des Geldes, das Helene von M. mir für die nutzlosen Stunden bezahlt und das ich für die bald fällige Miete zurückgelegt hatte.

»Welche Summe braucht dein Freund augenblicklich?« fragte ich Suse.

Sie nannte einen Betrag. Ich überlegte. Frohlockend konnte ich dann mitteilen: »Gut, mit soviel kann ich ihm aushelfen.«

»Wirklich? Wolltest du das, Anna?« rief Suse und sprang so rasch auf von ihrem Stuhl, daß der grüne Strumpf zu Boden fiel und die Stopfkugel davonrollte.

»Ja«, entgegnete ich und ging nach dem Wandschrank. Mit einem Schlag war die Sorgenfalte auf Suses fliehender Stirne verschwunden, die Brauen stoben links und rechts auseinander, und die ganze Suse stand strahlend vor uns, nur noch mit einem kleinen, verlegenen Lächeln auf den Lippen.

»Es kann sich natürlich nur um ein Darlehn auf kurze Zeit handeln, Suse, das weißt du ja,« bereitete ich die Zufriedene vor, »in vierzehn Tagen ist unsre Miete fällig, und du wirst deshalb deinem Freund sagen, daß ich mein Geld zurückhaben muß, sobald sein Onkel ihm den Zuschuß geschickt hat.«

»Gewiß«, meinte sie langsam, fügte aber nachsinnend hinzu: »Ich fürchte bloß, Rudolf Meiner wird es bei seiner Feinfühligkeit schwer fallen, von dir, der völlig Unbekannten, so ohne weiteres Geld anzunehmen.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Das ist doch so arg nicht unter Studierenden«, warf Vitia ein. »Bei uns in Rußland hilft man sich aus, ohne sich zu kennen, und keinem Armen fällt es bei uns ein, sich der Hilfe zu schämen.«

»Könntest du ihm nicht ein paar Worte schreiben, Anna,« beharrte Suse, »er möge deine Gefälligkeit ohne weitere Nebengedanken annehmen?«

»Gewiß, das kann ich!«

»Gut, gut,« rief Suse erfreut, »wenn wir ihm das Geld nur schon heute abend zustellen könnten!«

»Warum nicht morgen? Es ist doch schon spät!« meinte Regine. Aber Suse setzte sofort die besorgte Miene wieder auf.

»Weil heute der letzte Termin ist, den der Buchhändler ihm gesetzt hat. Wir könnten ihm das Geld doch samt deinem Brief in einem versiegelten Umschlag in seinen Briefkasten werfen, das wäre ihm in der Morgenfrühe eine feine Ueberraschung!«

»Gut, dann laß mich aber erst den Brief an deinen Freund schreiben!«

Und während Suse ihre ungeflickten grünen Strümpfe in den Schubkasten warf und dabei ungeduldig über den Schlüssel schimpfte, der stets im Schlüsselloch unbeweglich stecken blieb, schrieb ich an den mir Unbekannten den wohlgemeinten Brief, der mir bald darauf zu Leid und Zorn gereichen sollte.

Geld und Brief wurden in einen Umschlag gesteckt, und dann zogen wir alle vier Arm in Arm, ohne Hut, viel zu laut plaudernd, trotz der vorgerückten Abendstunde, die Stadt hinauf, um dem Bedrängten die rettende Botschaft zu bringen.

Als wir uns dem von Suse bezeichneten Hause näherten, trat gerade ein junger Mann aus dem dunkeln Flur. Der Kragen seines Mantels war hochgestülpt, und den schwarzen Filzhut trug er so auffallend tief ins Gesicht gedrückt, daß seine Züge nicht zu erkennen waren. Suse aber lief auf den Verhüllten zu, legte ihm die Hand auf den Arm und rief: »Da bist du ja, Rudolf!«

Der Angeredete schob den großen Hut zurück und blickte uns alle der Reihe nach an. Ich erkannte in ihm sofort den Studenten, der im Hörsaal an bestimmten Tagen seinen Platz stets hinter mir hatte, und den ich nach Suses Beschreibung vermutete. Während ich ihn nun auch mündlich herzlich bat, das Geld von mir anzunehmen, steckte Suse lächelnd den Umschlag mit dem rettenden Inhalt in seine Manteltasche. Merkwürdigerweise konnte ich auch nicht die Spur verschämten Zögerns, von dem Suse geredet, bei Rudolf Meiner wahrnehmen. Mit rascher Selbstverständlichkeit nahm er das Geld entgegen, zog es bloß hastig aus der unsichern Manteltasche hervor und barg es im Rockinnern. Dann legte er den hochgezogenen Mantelkragen hinunter, schob den Hut noch mehr nach hinten, wie einer, der sich wieder sehen lassen darf, dankte kurz und verabschiedete sich. –

Ich weiß nicht warum ich kurz nach diesem Ereignis mit dem unruhigen Gefühl herumging, daß wir Schwestern in den nächsten Tagen in die Nähe menschlicher Gemeinheit und Niedertracht zu stehen kämen. Feinere Naturen fürchten sich und schaudern zusammen, wenn sie diese beiden rohen Gesellen Schritt um Schritt sich nahen fühlen, weil sie sich ihnen gegenüber zum vornherein wehrlos wissen. Und wenn sie sich aus zorniger Not und empörtem Willen dennoch zu behaupten versuchen, so geschieht es oft auf Kosten einer Kraft, die sie im Grunde ihres Wesens als ein fremdes Schoß erkennen, die rasch im ungewohnten Hassen erlahmt, rasch in sich zusammenbricht, um einen kranken Leib und eine wunde Seele hinter sich herzuschleppen.

Ja, wäre ich damals nicht jung, ungeduldig und unberaten gewesen, ich hätte wohl aus Selbstschonung und Eigenschutz den kommenden Ereignissen auf irgend eine Weise zu entgehen gesucht. So aber riß mich meine Natur in die volle Mitte jedes Erlebens hinein, und, mir selbst unbewußt, drängte es mich immer stärker dem vielfältigen Leben entgegen, am Hohen und am Niedrigen vorbei. Wer aber ertrüge in jungen Jahren das bloß Niedrige und Erniedrigende und seine Gefolgschaft ohne Empörtsein und hellen Zorn?

Es war mir aufgefallen, daß Meiner während der ganzen Woche, welche auf unsre Bekanntschaft folgte, nicht mehr im Hörsaal der Universität erschien. Und als ich mich über sein Fernbleiben bei Suse erkundigte, wähnend, es sei ihm dennoch etwas Widerwärtiges zugestoßen, wurde mir von meiner Schwester der etwas zögernde Bescheid, Rudolf sei verreist, er mache eine kleine Rundreise zu seiner Erholung.

Ich stutzte. »Brauchte er am Ende dazu das Geld, und das andre war nur ein Vorwand, um deine Leichtgläubigkeit zu täuschen und dein Mitleid zu wecken?« fragte ich.

»Nein,« warf mir Suse rasch und wie beleidigt hin, »dazu braucht er dein Geld nicht, sein Onkel hat ihm schon tags darauf seinen monatlichen Zuschuß geschickt.«

Ich blickte meine Schwester groß an. »Warum hat er mir denn mein Geld nicht wieder zugestellt, du hast ihm doch sicher gesagt, daß unser Mietzins fällig ist und daß ich es dringend brauche?«

»Warum er es dir nicht zurückschickte? Das allerdings weiß ich nicht,« meinte Suse gelassen, »warte ab. Zweifelst du am Ende an seiner Ehrenhaftigkeit? Du hast keinen Grund dazu; denn Rudolf ist der vortrefflichste Mensch der Welt!« –

Ein paar Tage später fiel es Regine beim gemeinsamen Mittagessen auf, daß Suse die hübsche Korallenkette, die sonst immer ihren schmalen Hals schmückte, nicht mehr trug. Wie beraubt sah ihr Hals aus, so, als ob man an einem schlanken, wiegenden Aste die roten Aepfel herausgebrochen.

»Was ist mit deiner Kette geschehn?« forschte Regine, »ist sie zerrissen?«

»Nein,« plauderte Suse gedankenlos, »Rudolf hat sie mir vorgestern, als er mich um die Mittagszeit allein im Geschäft traf, zum Scherz gelöst und seither nicht mehr zurückgebracht. Er sagte, er behalte sie als Andenken. Aber natürlich scherzt er bloß.«

»Ist er denn wieder zurück von seiner Reise?« fragte ich verwundert.

»Ja, gewiß, seit ein paar Tagen.«

»Warum besucht er denn die Vorlesungen nicht?« fragte ich weiter, »ich dachte doch, er sei ein so fleißiger Student?«

»Das ist er auch«, entgegnete bereits schmollend Suse.

»Oha!« spottete Regine. »Aber was will er denn mit deiner Kette?«

Die Röte des Aergers stieg in Suses Wangen; aber sie lachte doch leise auf.

»Mich bloß ein bißchen necken«, antwortete sie schnell, und Sinn und Geist waren bei der süßen Neckerei. »Laßt doch euer Verhör. Rudolf benimmt sich oft wie ein Kind und macht so gern törichtes Zeug!«

Ein häßlicher Gedanke stieg in mir auf, den ich später Regine und Vitia mitteilte. Mir schien nämlich, als ob Suses hübsche Kette bereits zu Geld gemacht und ins Pfandhaus gewandert sei.

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken, Anna?« fragte Vitia, und man sah ihm deutlich an, daß er mich heimlich als zu mißtrauisch beurteilte. Als ich aber mit Energie und sicherm Instinkt auf meiner Mutmaßung beharrte, nahm Vitia stillschweigend seine Mütze und ging fort. Nach einer Stunde kehrte er an die stille Gasse zurück, gestand mir, daß er unter einem Vorwand im Pfandhaus nach einer roten Korallenkette gefragt und daß man ihm erwidert habe, eine Kette, die auf seine Beschreibung passe, sei tatsächlich am vorigen Nachmittag eingeliefert worden ...

Zu ungewohnter Stunde im Laufe des folgenden Nachmittags kam Suse ins Mädchenzimmer gerannt, wo ich mit der Abschrift einer Dissertation beschäftigt war, die mir kürzlich ein Kandidat der Rechte auf meine Empfehlung hin gebracht hatte. Ihr Gesichtchen mit den leichtverwischbaren Zügen sah wie verwelkt aus, ihr schmaler Körper schien sich unruhig und heftig in den Kleidern wie in einer leeren Hülle zu bewegen.

»Um Gottes Willen, was soll ich tun?« rief sie schon beim Eintreten mit völlig veränderter Stimme und schleuderte ihr kleines Ledertäschchen aufs Sofa. »Was soll werden? Was soll jetzt werden?«

»Was ist?« fragte ich erschrocken und trat zu der Erregten hin. Sie setzte sich auf die Lehne des Sofas, und während ihre Finger hastig den Mantelkragen lösten, rief sie mit weinerlicher Stimme: »Ach Gott, dieser Rudolf! Schrecklich, schrecklich! Heute ist er nach dem Mittag wieder ins Geschäft gekommen, weil er weiß, daß ich zu hüten habe und allein bin. Da hat er mir, allerdings im Scherz, erklärt, er verlasse den Laden nicht eher, bevor ich ihm fünfzig Franken eingehändigt. Ich lachte, und er lachte auch. Dann aber verriegelte er die Ladentüre, und als ich den Riegel zurückschieben wollte, stellte er sich mir mit ausgebreiteten Armen in den Weg und erklärte, er lasse mich nicht los, bis ich seinem Wunsch entsprochen habe. Ein Käufer kam, fand die Ladentüre verschlossen und entfernte sich. Weil man uns von außen nicht sehn sollte, verbarg ich mich endlich hinter dem Kleiderständer, Rudolf neben der Kasse. Als die Zeit verging, als noch andre Käufer sich unverrichteter Sache von der verriegelten Türe entfernten, stieg meine Angst; denn ich fürchtete, der Prinzipal selbst komme im nächsten Augenblick und meine Kollegin. Er aber hielt die Türe verriegelt. Da wußte ich mir nicht mehr zu helfen, ich habe das Geld aus der Kasse genommen und gab es ihm!«

»Du Unglückselige!« rief ich, als Suse soweit erzählt hatte, »und nun?«

»Nun muß das Geld bis heute abend wieder in der Kasse sein, sonst bin ich die Diebin, das kannst du dir ja denken! Ach, dieser dumme, unbedachte Rudolf, warum benimmt er sich auch so unvernünftig!« schloß sie in klagendem, hohem Ton.

»Bloß unbedacht ist er, Suse!« rief ich da, »bloß unvernünftig? Ein Schuft ist dieser Rudolf Meiner, ein ganz gemeiner, niederträchtiger Schurke!«

Erstaunt und hilflos blickte mir Suse ins erregte Gesicht.

»Weißt du, wie man solche »Unbedachte« nennt, die sich bei Wehr- und Gedankenlosen wie du, auf diese Weise Geld verschaffen? Weißt du's? Erpresser nennt man sie, und sie gehören ins Gefängnis. Weißt du auch, daß dein sauberer Freund dir deine Kette gestohlen und ins Pfandhaus getragen hat?«

Ungläubig starrte Suse mir zuerst ins Gesicht, dann erblaßte sie, und ihre Augen begannen zu blinzeln, rasch, ein paarmal nacheinander.

»Mein Halsband, sagst du?«

»Ja, und nun mußt du mir versprechen, Suse, daß du sofort mit diesem Menschen jede Beziehung abbrichst, sofort, hörst du, und daß du ihn nie mehr im Geschäft empfängst ...«

»Wie kann ich das?« unterbrach sie mich, und auf ihrem Gesicht erschien der Ausdruck völliger Ratlosigkeit. »Die Ladentüre ist für jedermann offen und ich darf ...«

»Du mußt!« beharrte ich leidenschaftlich, »du mußt! Sieh, mit solchen Menschen, die uns in einen Diebstahl hineinzwingen, dürfen wir nicht verkehren! Wir drei sind uns der einzige Schutz, wir haben niemand, der uns nahesteht, der uns rät und hilft, keine Eltern, keine Verwandten, die sich unser annähmen. Und zu Vater darf nie etwas dringen, das nicht gut und ehrlich wäre. Ich laufe schnell zu Regine. Ich weiß, sie spart auf dem Bureau Geld für einen neuen Wintermantel. Vielleicht kann ich dir die Summe in einer halben Stunde bringen, dann legst du sie unvermerkt in die Kasse zurück. Versprich mir aber, Suse, daß du mit Meiner brichst! Dann schreibe ich ihm sofort, daß er mir mein Geld und das dir Entwendete unverzüglich zustelle und daß er nicht mehr dein Freund, sondern nur noch unser Schuldner sei!«

Ich glühte vor Erregung und Zorn. Suse nahm ihr Ledertäschchen wieder an sich und erhob sich von der Sofalehne.

»Aber du bringst das Geld?« fragte sie mit banger, scheuer Hast. »Sorg dafür, Anna, daß ich es bis 6 Uhr habe. Ich danke dir.«

Dann knöpfte sie ihren Mantelkragen rasch zu, rückte das verschobene Hütchen mit dem grauen Schleier darüber zurück und lief eilig davon.

Kaum war sie gegangen, holte ich meine blauen Briefbogen hervor und schrieb an Meiner. Dann lief ich zu Regine, die ich zufällig allein in ihrem hellen, angenehmen Bureau traf. Erschrocken und bereitwillig übergab sie mir das Geld, das zum neuen Wintermantel bestimmt gewesen war.

*

Die ganze Angelegenheit hatte mich aber mehr, als mir zum Bewußtsein kam, erregt. Ich witterte die Niedertracht in allen Winkeln. Sie schlich auf mich zu, lauernd, tastend, grinsend. Ich spürte ihren Atem; bald würde sie in unsre Hürden brechen.

Ich schlief schlecht während der Nacht, und als ich gegen Mittag des folgenden Tages in die Vorlesung ging, fühlte ich mich ängstlich und beklommen.

Diesmal saß Meiner an seinem gewohnten Platze dicht hinter mir. Schon von weitem fiel mir sein rotes Gesicht auf, und ich gewahrte auch augenblicklich, daß er einen blauen Briefbogen offen in der Hand hielt.

Kaum hatte ich mich dicht vor ihm niedergelassen und saß, eingeklemmt zwischen lauter Unbekannten, da, vernahm ich hinter mir die absichtlich und sehr laut gesprochenen Worte: »Sehn Sie, so hat eine mir damals unbekannte Dame – ich weiß allerdings nicht aus welchen Gründen und mit welcher Absicht – mir von sich aus Geld angeboten. Und so schreibt mir dieselbe Dame nun heute. Da, lesen Sie den Brief, lesen Sie ihn nur, auch den zweiten. Ich werde ihn allen Leuten zeigen. Ja, so sind sie, diese Art Damen. Wahrscheinlich habe ich ihren Erwartungen nicht entsprochen. Ha, ha! Man kann eben nicht nach allen Seiten genügen. Aber die wird ein schönes Denkzettelchen von mir bekommen!«

Hämisch lachte man hinter mir. Ich fühlte, wie ich erbleichte und zu zittern anfing. Rasch wollte ich mich erheben und hinausgehn, da läutete die Glocke, der Professor trat ein. Hinter mir räusperte man sich, knisterte mit meinen Briefen. Und während Professor B. von Rubens sprach, begann mein Herz so ungestüm und aufgeregt zu klopfen, daß es schien, als ob es sich von seiner Angel lösen und aus der Brust herausstürzen müsse. Um noch ein übriges zu tun, hatte Meiner, der höher saß als ich, seinen Schuh zwischen mich und meinen Nachbar hineingebohrt und streifte von Zeit zu Zeit den Kot an meinem Gewande ab; wenn ich auszuweichen suchte, so rückte der Schuh augenblicklich wieder in meine Nähe. Während einer ganzen qualvollen Stunde mußte ich mir diese empörende und demütigende Berührung, die scheinbare körperliche Vertrautheit mit diesem Menschen gefallen lassen.

Beim Mittag brachte ich keinen Bissen hinunter. Wie war es denn möglich, daß mein Handeln so ausgelegt werden konnte? Konnte es für rasches Entgegenkommen und mitfühlende Hilfsbereitschaft verschiedenartige Deutungen geben? War es möglich, daß es überhaupt Menschen gab, welche die lautersten Absichten derart zu entstellen vermochten? Wie nannte man diese Menschen, und warum duldete man sie und wo? War es genug, daß man sie für sich mit dem Worte Schuft bezeichnete und gelassen tat, als ob sie nicht da wären?

Ich konnte keine Ruhe finden; ich lief den ganzen Nachmittag planlos in der Stadt herum. Unbewußt erwartete ich beständig den versprochenen Denkzettel, und meine Erregung fürchtete sich vor ihm.

Und der Postbote überbrachte ihn mir mit sonderbarem Lächeln in Form einer riesengroßen Postkarte, die ihres Formats wegen nicht in den Briefkasten geschoben werden konnte. Die niedrigsten Dinge standen darauf, alles, was Anstand und Würde einer Frau hohnsprach, und geschrieben waren die Schmähungen mit plumpem Hohn und Spott. Und gegen solche Unbill und solch schändliche Besudelungen gab es für mich keinen Schutz?

Ich ging zu Regine, ich klopfte sie ein zweites Mal aus dem Kontorstübchen heraus, und dann lief ich zu Vitia, der weit draußen am Waldrand in einer Dachstube wohnte. Aber er war nicht da.

Kaum waren aber am andern Morgen meine Schwestern an die Tagesarbeit gegangen, stand der Getreue vor der Türe. »Vitia,« rief ich ihm entgegen und zog ihn ins Zimmer hinein, »das ist grausam, was mir da von einem Elenden angetan wird! Womit habe ich es verdient? Ich kann es nicht ungestraft über mich ergehn lassen. Es ist wie ein Rad, das mir fortwährend über den Rücken läuft und mich erdrückt. Ich kann an nichts andres mehr denken. O wüßte ich mir nur einen einzigen Menschen, der mir vernünftig und ruhig Rat und Beistand erteilen könnte, der mir mit Bestimmtheit sagte, wie ich mich zu verhalten habe. Muß ich denn wirklich alle diese Schmähungen entgegennehmen, ohne mich zu wehren und ohne den Erbärmlichen zur Rechenschaft ziehen zu dürfen?

Vitia nahm meine Hand in seine beiden warmen Hände. »Beruhigen Sie sich, Anna!« beschwichtigte er mich mit seiner guten Stimme, »ich bitte Sie, beruhigen Sie sich. Sicher wird sich eine Genugtuung für Sie finden. Beruhigen Sie sich, Anna!« und wieder nach einer Weile: »Beruhigen Sie sich!«

Ein sonderbarer Ausdruck kam in Vitias unschönes Gesicht, den ich trotz meiner Erregung bemerkte: Um Nase und Mund begann ein unmerkliches Reißen der Haut, als ob sie zu kurz geworden. Nun blinzelten die Augen rasch ein paarmal nacheinander. Dann nahm er mit einer kleinen Grimasse die Brille herunter und begann eifrig an den Gläsern zu putzen, rieb und blinzelte fortwährend. »Es ist mir ein Sandkorn oder sonst irgend etwas ins Auge gekommen«, entschuldigte er sich verlegen, wischte die Augen aus und setzte mit derselben drolligen Grimasse die Brille wieder auf.

»Was soll ich tun?« fragte ich, als sein Gesicht endlich zur Ruhe gekommen war.

Vitia steckte beide Hände in die Hosentaschen. »Verprügeln sollte man einen solchen Schurken!« meinte er mit verbissener Wut. »Wir hatten doch aufrichtig Mitleid mit ihm. – Oder wenigstens zu einem Rechtsanwalt gehn,« fuhr er fort, »ihm alles erzählen und ihn fragen, was in einer solchen Sache eine anständige Frau tun darf und zu tun hat.«

»Das ist beschämend!« rief ich erregt, »man muß sich selber helfen können, und ich möchte diesen Ausweg vermeiden.«

»So schlimm ist das nicht«, beruhigte Vitia. »Diese Leute sind dafür da. Es ist der einzige Ausweg, Anna. Ich als Ausländer kann mich nicht für Sie wehren. Und außerdem wollen solche Schufte anders behandelt sein. Kennen Sie keinen Rechtsanwalt? Ich würde Sie hinbegleiten.«

Ich setzte mich aufs Sofa und sann nach. Nein, ich kannte keinen Anwalt. Vitia redete auf mich ein. Auf seinen Rat und sein Zureden hin, entschloß ich mich doch zu dem mir peinlichen Schritt, einen Rechtsanwalt zu befragen. Ich hatte ja keinen Ratgeber. Ich setzte meinen Hut auf und wir begaben uns auf die Straße.

In meiner Nervosität lief ich rascher als sonst, immer ein paar Schritte voraus, Vitia, seine alte, russische Studentenmütze schief auf dem Kopfe, hintendrein. Bei einem Hauseingang, der auf schwarzer Marmortafel den Namen eines bekannten Rechtsanwaltes trug, machten wir Halt. Ich stieg die Treppe empor. Vitia blieb auf der Straße stehn und wartete.

Der Anwalt war ein sehr großer Mann mit breitem Rücken und einem runden Gesicht, in welchem über einem viel zu kleinen Mund ein winziges, schwarzes Schnurrbärtchen wie aufgemalt saß. Mit nachlässiger Höflichkeit bat er mich, Platz zu nehmen und ihm die Angelegenheit, die mich herführte, zu erzählen. Ich fühlte, wie ich errötete. Sollte ich nicht lieber aufstehn und davonlaufen, ohne ihm diese häßlichen, beschämenden Dinge erzählt und vor ihm ausgebreitet zu haben, wie man einen Fächer ausbreitet?

Aber ich begann zu sprechen, ich legte die beleidigende Postkarte vor ihm auf den Tisch. »Sehn Sie,« so schloß ich meine Erzählung, »ich kann diesen Schimpf weder als Frau noch als Mensch ungesühnt entgegennehmen. Ich meinte es gut mit Meiner. Er ist unbemittelt wie ich, darum wollte ich ihm helfen. Es hieß, er hungere. Aber die Gemeinheit sollte die klare, redliche Absicht nicht auf diese Weise in den Kot ziehen dürfen. Es muß doch für mein geschändetes Gefühl eine Genugtuung geben, einen Ausgleich, eine Gerechtigkeit, nicht wahr?«

Der Rechtsanwalt hatte die Karte zu Ende gelesen und legte sie wieder vor mich hin.

»Wie denken Sie sich in Ihrem Falle die Gerechtigkeit, mein Fräulein?« entgegnete er mit lässigem Spotte. »Ins Gefängnis mit ihm oder an den Pranger?« Er zog eine goldene Uhr aus der Westentasche und steckte sie rasch wieder ein. »Sie sagen, Sie studieren, oder besser, Sie gedenken erst zu studieren. Ja, sehn Sie, Sie sind jung. Meiner ist es auch. Und was dies Dokument da betrifft, kann ich als Vertreter des Rechtes keinerlei Beleidigung oder Kränkung darin finden. Der junge Mann hat sich einen kleinen Scherz erlaubt, sonst nichts, und jeder Unbeteiligte würde das Geschriebene auch bloß als einen vielleicht etwas plumpen Scherz auffassen. Man muß die Dinge nicht so leidenschaftlich anpacken. Es lohnt sich nicht, daraus eine Geschichte zu machen.«

Ein Scherz? Fühlte, empfand ich denn falsch? War denn alles an mir unrichtig und verkehrt im Vergleich mit andern Menschen? Klopfte denn eines geringen Scherzes wegen mein Herz wieder so ungestüm, daß es mir beinah die Brust zerriß?

»Ein Scherz, Herr Anwalt?« brachte ich endlich mühsam hervor, »darf man denn so scherzen? Ist es ein Scherz, wenn Meiner, wie ich gestern erfuhr, meinen Brief in den Wirtschaften herumzeigt, wenn er in der Universität, in der ich täglich ein- und ausgehe, hinter meinem Rücken die häßlichsten Anspielungen macht und mich verunglimpft, wo ich als Frau Achtung beanspruche? Mein Gott, es gibt ja bei uns Menschen genug ohne Urteil und Meinung, die alles bereitwillig glauben, was niedrig und schändlich ist. Sie müssen doch das Unrecht für mich herausfühlen! Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich mir keinen Rat wußte, weil ich sonst keine Freunde und Ratgeber besitze. Ich bin jung, ich bin erst vor ein paar Monaten in meine Heimat zurückgekehrt. Ich möchte hier bleiben und mir mein Leben selbst gestalten und schaffen. Aber mir scheint, gerade weil ich jung bin, darf ich nicht beschmutzt und besudelt werden von einem Nichtswürdigen. Das ist kein Scherz, Herr Anwalt.«

Aber der Mann des Rechtes blickte nochmals rasch auf seine goldene Uhr. Dann erhob er sich und zwang so auch mich zum Aufstehn vom Sessel. Er steckte die Karte in einen Umschlag und überreichte sie mir mit einer kleinen Verbeugung. Lächelnd fügte er bei: »Zu viel Selbstbewußtsein, mein Fräulein! Ich rate Ihnen nochmals, lassen Sie die Sache. Studenten sind lustige Brüder. Ich war auch Student. Wenn Sie jedoch meine Meinung nicht befriedigt, so ziehn Sie einen andern Anwalt zu Rate. Ich bin momentan sehr in Anspruch genommen und habe in einer Viertelstunde eine Konferenz. Aber es kann ja sein, daß einer meiner Kollegen Ihre Angelegenheit so ernst nimmt, wie Sie es wünschen. Nur möchte ich Sie darauf aufmerksam machen – Sie sind ja wohl auf bescheidene Mittel angewiesen – Rechtshändel kosten Geld und das Rechtbekommen auch.«

Sein Ton klang wie mitleidige Geringschätzung, sein Blick streifte mich von Kopf bis zu Fuß. Er verbeugte sich leicht und öffnete mir die Türe.

Geld! Die ganze Bedeutung des unseligen Wortes tauchte eigentlich zum erstenmal in meinem Leben mit aller Greifbarkeit in meinem Bewußtsein empor. Ja, es handelte sich in meiner Sache um keinen Acker, kein Haus, kein Geschäft, kein Gut. Man hatte mir nichts angetastet, nichts weggenommen, das einen materiellen Wert darstellte, ich selbst sah nicht nach Besitz aus, darum lohnte es sich auch nicht, mich ernst zu nehmen.

Im Korridor, durch den ich schritt, hing im Halbdunkel ein schmaler, halbblinder Spiegel. Der Hut, den dieser Spiegel zurückwarf, war mit einem schlichten Bande verziert, und Bluse und Rock waren nicht kostbar. Solch bescheidenes Gewand konnte einem vielbeschäftigten Advokaten wenig versprechen. Dieser Hut, diese Bluse, dieser Rock, die durften sich nicht ernst nehmen und brauchten nicht von junger Ehre, von Zorn und starkem Selbstbewußtsein zu faseln. Aber zwischen Bluse und Hut saß ein blasses Gesicht, das war heute nicht feig und verworren, wie damals, als es sich schmählich vor einem armen Blinden verbarg, sondern die schmerzenden Augen wußten, und das erzürnte Herz fühlte deutlich, daß es ihm mit seiner Sache qualvoller Ernst war.

*

Ich begriff nicht, warum Meiner ohne weitere Veranlassung seinem ersten niederträchtigen Schreiben noch ein zweites folgen lassen mußte, das noch häßlicher war als das erste. Spielte Suse eine Doppelrolle? Und war wohl auch das, was da auf dem Papier stand, nur ein Scherz, Herr Rechtsanwalt?

Der folgende Morgen war regnerisch und kalt. Ich hatte wenig geschlafen. Ich weiß eigentlich nicht genau, warum ich mich schon in der Frühe zum Ausgehn bereitmachte, Hut und Mantel nahm und auf die Straße hinausging. Ich folgte wohl einer Eingebung, die noch verhüllt im Dämmer meiner Seele und meiner Gedanken lag.

Langsam ging ich die Straße hinauf. Es gingen und kamen nur wenige Menschen, man war schon überall an der Arbeit. Bei Meiners Haus angekommen, trat ich in den Hausflur. Warum, war mir nicht klar. Ich stand lange vor den Glockenzügen und las wohl zwanzigmal halblaut und verworren den Namen Rudolf Meiner. Dann schellte ich plötzlich entschlossen und wußte kurz darauf nicht warum und nicht wozu ich geschellt hatte. Eine Frauenstimme, die von oben her erscholl, ließ mich zusammenfahren. Man fragte nach meinem Begehren. Ich rief beklommen die Treppe hinauf den Namen Rudolf Meiner. Er sei ausgegangen, hieß es, er werde aber gleich zurückkehren. Eine Türe ging rasch ins Schloß. Er würde gleich zurückkehren ...

Ich schritt langsam die Straße hinauf. Ich atmete rasch. Da tauchte oben an der Biegung ein rotes, rundes Gesicht auf. Ich erkannte Meiner. Eilig bewegte er sich mir entgegen. Aber als er mich erblickte, machte er halt, wandte sich und trat geschäftig in einen Laden. Ich aber blieb unbeweglich neben einer Säule stehn und wartete sein mit blassem Gesicht und zitternden Knien. Wieder näherte er sich mir um ein Stück Weges, die Entfernung zwischen ihm und mir wurde geringer. Aber jetzt flüchtete er in ein Zigarrengeschäft, als er mich immer noch unbeweglich am selben Flecke stehn sah und trat erst nach einer Weile mit einer dicken Zigarre im Munde wieder auf die Straße. Mit einem dummdreisten Lächeln schritt er mir jetzt direkt entgegen. Schon war er dicht in meiner Nähe, ich roch den Duft der Zigarre. Da wurde mir auf einmal ganz klar, daß ich diesen Menschen in der Morgenfrühe suchen gegangen war, daß ich ihn strafen wollte, züchtigen, eine Züchtigung, zu der ich mir selbst das Recht herausnahm. Ich trat auf ihn zu, den Ekel schüttelte ich ab, und alle Kraft und alle Entschlossenheit nahm ich zusammen. »Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden«, brachte ich mühsam hervor.

»Gut,« sagte er mit der gönnerhaften Aufgeräumtheit, mit der man zu einem unheilbaren Narren redet, »gehn wir zusammen! Wir sind in der Nähe meiner Wohnung.«

»Gehn Sie voran, ich werde folgen«, gebot ich kurz.

Ich schritt hinter ihm her. Ich sah seine Gestalt, seine kurzen Füße, seinen Mantel mit den breiten Rückenfalten, den weißen Strohhut, der den roten Nacken freigab, sah, wie das dunkle Haar auf den weißen Kragen fiel, sah die breite Wange, wenn die Hand nach der Zigarre griff, – sah diesen ganzen erbärmlichen Menschen, der mich ungesühnt beleidigen und erniedrigen durfte, und haßte ihn, haßte ihn mit der brennenden Glut eines empörten, leidenschaftlichen Herzens.

Meiner war in den Flur seines Hauses getreten. Als ich kurz nach ihm eintrat, stand er, an die Wand gelehnt, die Zigarre im Munde, da und lächelte schief.

»Nun?« meinte er halb verlegen, halb spottend, ohne die Zigarre vom Lippenrand zu nehmen, »was haben Sie mir zu sagen, verehrtes Fräulein?«

Wie zündende Lohe schlug mir dieser Ton ins Gesicht. Ich fühlte meine rechte Hand in der Manteltasche lebendig werden.

»Ich wollte Ihnen sagen« – und meine Stimme überschlug sich vor Erregung – »daß ich mich so nicht behandeln lasse, so nicht«, stotterte ich leise, und meine Hand fuhr aus der Tasche und sauste mit aller Kraft auf seine linke Wange nieder, daß die Zigarre in die Tiefe des Flures sprang.

Ich hörte, wie Meiner schnaufte, hörte, wie er mir ein häßliches Wort zuwarf und sah, wie er sich nach mir hinbewegte; aber schon stand ich draußen auf der Straße und eilte so behend wie mich meine Füße trugen, davon, der stillen Gasse zu. Ich lief und lief. Im Mädchenzimmer angekommen, verriegelte ich die Türe und warf mich aufatmend in einen Sessel. »Nun ist es geschehn!« Ich zitterte heftig. Ja, nun ist es geschehn. Das mußte so sein. Das war die Strafe! – Da wurde ich gewahr, daß meine linke Schulter schmerzte. Hatte Meiner mich geschlagen? Oder war ich bei meiner Flucht hart an die Hauswand gestoßen? Ich wußte es nicht. Hastig riß ich die Bluse auf, befühlte und untersuchte die schmerzende Stelle. Auf der Schulter saß richtig ein großer, roter Fleck. Hatte Meiner mich doch vielleicht geschlagen? Nein, nein! Ich lief ins Schlafzimmer hinüber, holte Wasser und Seife, wusch und rieb auf dem bösen Flecke herum. Dann goß ich Eau de Cologne darauf und schlüpfte wieder in meine Bluse. Aber der Fleck ließ mir keine Ruhe. Wenn wirklich Meiners Hand mich berührt, seine schmutzige Hand mich besudelt hätte? Ich riß die Bluse wieder ab und wusch und rieb von neuem die schmerzende Stelle.

*

Ich will nicht mehr von Meiner reden und erzählen, was er unternahm, um meine Züchtigung zu rächen. Die letzte in der Reihe seiner Bosheiten war, daß er sich bei meinem kranken Vater im Irrenhaus melden ließ und sich bei ihm als der Freund Suses einführte. Und als ich ahnungslos und trüben Sinnes kurz darauf Vater besuchte, hielt der Kranke, der sich über jeden Besuch freute und der der Außenwelt entfremdet und in seinem Urteil über die Menschen befangen war, mir im Tone des Vorwurfs mein unschönes Benehmen diesem jungen, strebsamen Manne gegenüber vor. Ich wollte mich nicht verteidigen. Aber Erregung, Gram, Bitternis flossen in meiner Seele zusammen, und laut weinend bin ich durch die einsame Allee meinen Weg zurückgegangen. Am Abend fieberte ich. –

Meiner hat bald darauf Stadt und Universität verlassen müssen. Und Suse kaufte später selbst ihre Korallenkette aus dem Pfandhaus zurück. Sie hat sie von dieser Stunde an ohne Unterbruch getragen. Die roten Perlen lagen noch fest um ihren Hals, als man die kleine, törichte Suse in der fremden Stadt ins Grab bettete ...

*

Was ist das Leben und wie soll man es leben?

Wieder stand ich nach all diesen Ereignissen verwirrt, beklommen da. Ich sah mich um nach rechts und links, und überall gewahrte ich lauter Fratzen. Kein einziges, reines Antlitz, dessen Züge mir Segen verheißen hätte. Rudolf Meiner hatte mir meine ohnehin unklare Welt verpfuscht. Da liefen die Menschen herum und fanden für einander nur Taten widerlicher Bosheit und heimlicher Tücke. Und keiner schien unter ihnen da zu sein, der die Arme hob, weil das Gefühl des Unrechts ihm im Herzen brannte; alles was geschieht, ist nur ein Scherz, ein dummer, sinnloser Scherz, und das Lachen dazu sollte man eben lernen. Man lief umher in den Straßen, tat, als ob man an das Gute, Wahre, Schöne und Gütige glaube, und das Geld bedeutete alles. Es stand aufrecht in den Gedanken eines jeden wie die Schlange in der Wüste, auf die man sein Auge heften mußte, damit einen der Tod nicht befiel. Es war da und dort, es pflasterte den Boden, es flatterte durch die Luft, es kroch den Hecken entlang, es schnürte das Handgelenk ein, Geld! Es bedeutete Recht und Gefühl und war allen Sinnes Sinn. Und ein Scherz war alles, – was nicht Geld hieß.

Ich saß müde am Fenster; am Himmel stießen sich die Sterne und zogen ihre ewigen Wahrzeichen über die wandernde Erde hin. Wozu war das Böse da? Wozu das Gute? Wozu der Böse? der Gute? Wo war das Auge, das da alles richtend maß? Wo die Hand, die prüfte und verwarf? Wo sprang der Quell der unendlichen Weisheit, der Gut und Böse die tiefsten Gründe gab? Was ersehnte ich selbst in dem Gewirr der Begriffe? Und wie weit würden meine Kräfte reichen? Zu welchen unter den Menschen durfte ich selbst mich zählen, zu den Guten oder den Bösen? Ich wußte es nicht, ebensowenig wie die andern draußen es wußten.

Anna Richter, was haderst du? Hast du nicht laut nach dem Leben gerufen, nach dem Erleben in jeder Gestalt? Schon bist du müde. Soll denn dein Leben nicht einst seine eignen festen und reifen Züge tragen?

*

Das Semester ging zu Ende, und bereits war Vitia nach seiner Heimat in die Ferien gereist. Wir hatten ihn alle drei nach einer kleinen gemeinsamen Feier an die Bahn geleitet. Als er uns zum Abschied die Hand reichte, kam ihm unversehens wieder eines jener Sandkörner in die Augen, wie sie dem Gutmütigen auch später noch oft zugeflogen sind. »Wenn der Pächter für meine Bienen gut gesorgt und meine Mutter nicht alles verpfuscht hat,« meinte er verlegen und wischte an seiner Brille herum, »wenn überhaupt das Honigjahr einträglich wird, dann bringe ich zum Wintersemester ein paar Töpfe Lindenblütenhonig ins Mädchenzimmer. Uebrigens kehre ich vielleicht als ein recht wohlhabender Mann zu euch zurück.« –

Nun standen die langen Ferien vor mir. Beinah erschreckte mich der Gedanke daran. Wie sollte ich sie verbringen? Die Stadt zu verlassen, in die Berge oder aufs Land zu gehn, dazu fehlten mir die Mittel. Es hieß in Stille und Einsamkeit ausharren. Glücklicherweise hatte man mir noch knapp vor Semesterschluß eine recht schwierige und umfassende Uebersetzungsarbeit angeboten, auch hatte mir Professor W. einige literarische Aufträge zum Durcharbeiten gegeben. Nach dem schlimmen Erlebnis mit Meiner war ich auch gern wieder zu dem sanften Reichtum meiner Bücher zurückgekehrt, las, studierte mit viel Aufmerksamkeit und Eifer und hoffte, meine Ferien für mein Wissen ersprießlich und erfolgreich zu gestalten.

Jedoch bevor die Pforten der Universität sich schlossen, geschah etwas. Suse, Regine und ich saßen in der sinkenden Dämmerung beim Abendbrot; es war seit langer Zeit das erste Mal, daß wir alle drei unbefangen heiter waren, gut und froh gestimmt, sodaß wir oft grundlos lachten. Unser karges Mahl bestand aus einem Griesbrei, den Suse außerdem hatte anbrennen lassen; um uns über die verdrießliche Kost hinwegzutäuschen, war sie auf den Einfall gekommen, uns auf einer blumenbekränzten alten Menukarte eine wundervolle französische Speisenfolge zusammenzustellen. Mit Appetit verzehrten wir unsre fiktiven Delikatessen und knusperten gerade die feinen petits Pâtés à la reine, als es klopfte.

Ein Klopfen an unsrer Türe aber war immer ein so ungewöhnliches Ereignis, daß wir alle drei aufsprangen und mit Servietten und Löffeln neugierig nach der Türe liefen. Im dunklen Flure standen zwei junge Männer, die bei unserm plötzlichen Erscheinen ehrerbietig den Hut zogen. Erstaunt und verlegen baten wir sie, einzutreten. In der dämmerigen Helle unsrer großen Stube erkannte ich in den Besuchern zwei Studenten, denen ich oft in den Gängen der Universität begegnet und deren Erscheinung und Namen mir vertraut waren.

»Welch prachtvolles Zimmer!« sagte der kleinere der beiden und blieb in der Mitte des Raumes stehn. »Das sind die Ueberraschungen, die einem an solch verwunschenen alten Gassen geboten werden. Wie ich Sie um den Kamin da beneide! Herrlich! Aber die alte Dame dort im Goldrahmen über dem Sofa muß ein bösdenkendes Frauenzimmer gewesen sein. Wohl eine Ahnfrau? Uebrigens heiße ich Willi Matter, und mein Freund da nennt sich Bruno Ott und ist Student der Philologie.«

Mit frohen Augen bat Regine die jungen Leute, Platz zu nehmen, und Suse schob rasch die großblumigen Sessel herbei. Was bedeutete uns dieser ungewohnte Besuch? Willi Matter klärte uns auf. Es sei in letzter Stunde, berichtete er, bevor alle Studierenden sich in die Ferien verlaufen hätten, noch eine Veranstaltung in Aussicht genommen worden, deren Ertrag unbemittelten Studenten fürs kommende Wintersemester zugute kommen solle. Eine schauspielerische und musikalische Vorführung, von Studenten übernommen und ausgeführt, sei im Saale des Kasinos vorgesehn. Allerdings stehe zu Vorbereitung und Uebungen nur eine kurze Spanne Zeit zur Verfügung, und sie beide, sein Freund und er, seien beauftragt worden, in größter Eile das Schauspielpersonal zusammen zu suchen.

Während Willi Matter mit seiner etwas hartklingenden Stimme diese Erklärungen machte, ertappte ich mich selbst und meine zwei Schwestern dabei, daß wir alle drei den jungen Mann mit unverhohlenem und freudigem Vergnügen betrachteten. Wie schön er war! Schon in den ersten Wochen nach meinem Eintritt in die Universität war er mir durch die Feinheit, die geschmackvolle Eleganz und die Gepflegtheit seiner äußern Erscheinung ausgefallen. Jetzt, wo er vor mir saß, gewahrte ich auch die hübsche Hand und den Glanz seiner herrlichen Augen, die wie altes Kupfer leuchteten. Der Mund war groß, die roten Lippen scharf gezeichnet, und der Spott des scharfen Beobachters saß in den Winkeln.

Mit der feinen Hand fuhr sich jetzt Matter durch das lange, kupferbraune Haar. »Fräulein Richter,« sagte er, »wir brauchen für die kleine Komödie, die wir aufzuführen gedenken, eine Dame von Ihrer Größe. Könnten Sie sich entschließen mitzuspielen und vor allem: Hätten Sie Lust dazu?«

»Ich brauche keine Ueberlegung, ich weiß aus Erfahrung, daß ich nicht zur Schauspielerin tauge«, entgegnete ich. »Ich besitze nicht die geringsten schauspielerischen Fähigkeiten. Ich bewege mich so steif und hölzern auf der Bühne, daß ich nicht nur mich lächerlich mache, sondern das ganze Stück störend beeinträchtige. Ich muß deshalb zum vornherein auf ein Mitspielen verzichten. Sollte ich jedoch zu irgend einer andern Art der Beteiligung zu gebrauchen sein, dann stehe ich gern zur Verfügung. Vielleicht als Souffleuse?«

»Schade,« meinte Willi Matter nach einigem Nachsinnen, »sehr schade. Aber schließlich könnte die große schlanke Dame auch von dir gespielt werden, Bruno«, wandte er sich lebhaft an seinen Freund.

Bruno Ott hatte mit gesenkter Stirn in affektierter Nachdenklichkeit dagesessen und war mit großer, langsamer Handbewegung bald über sein langes, schwarzes Haar, bald über seine loseflatternde Halsbinde gefahren. Nun blickte er seinem Freunde neugierig ins Gesicht, und ein unmerkliches, nervöses Zucken glitt über die Lippen seines weichen, weinerlichen Mundes. »Ich, ja – aber was wird dann aus meinen Gedichten?« fragte er. »Die liesest du eben vorher, zum Anfang«, beschwichtigte ihn Matter. »Du trägst zuerst einige deiner tiefempfundenen Liebesgedichte vor und kannst, zwischen zwei verdunkelten Kerzenlichtern stilgerecht dasitzend, durch die lyrischen Ergüsse deiner Seele vorläufig denjenigen Teil der jungen Mädchen für dich begeistern, denen du später in der Komödie völlig den Kopf verdrehst. Du hast prachtvolles Haar, eine schmale Hand, durchgeistigte, feine Züge, eine flatternde Krawatte, deine ganze Erscheinung ist von schwungvoller Zärtlichkeit, und du zeigst dich gern im Profil. Spiel also die Dame, Bruno, und die gesamte Frauenwelt unsrer Stadt wird für dich schwärmen.«

In Matters Ton und Stimme lag offener Spott. Ott fühlte ihn wohl. Da er aber eitler war als sein Freund spöttisch, so holte er sich aus dem unerwarteten Vorschlag für seine Person gerade soviel heraus, als seiner Eitelkeit dienlich war. Er lächelte zerstreut und meinte: »Wenn du glaubst, daß es geht, Willi, zuerst die Gedichte und später die Komödie, ohne daß dem einen des andern wegen Abbruch getan wird, dann spiele ich die Dame.«

»Natürlich wird es gehn, Bruno,« beschwichtigte ihn sein Freund wieder; »also du spielst die Dame, und Fräulein Richter wird zu unsrer Souffleuse ernannt.«

Matter streckte mir seine kleine Hand hin. »Ich danke Ihnen im Namen der gesamten Alma mater«, meinte er mit komischem Pathos und verbeugte sich leicht. »Die Universität und die notleidende Studentenschaft werden Ihnen ein Denkmal setzen.«

Dann ließ ich mich berichten, wo und zu welcher Stunde ich mich einzufinden hätte und fragte, ob meine beiden Schwestern wohl auch am Ballabend teilnehmen dürften.

»Natürlich«, sagte Willi Matter gut gelaunt und streifte uns alle der Reihe nach mit einem großen Blicke seiner kupferbraunen Augen. Und da schien uns Lebensdurstigen plötzlich, als ob eine feine Festmusik in schwindenden Rythmen durch unser hohes Zimmer schwebe, ein seliges, betörendes Schaukeln und Wiegen, und die gedämpften Klänge trugen uns empor in einen blumengeschmückten Saal, wo es aus jedem Winkel verheißungsvoll lockte und wo die Fülle und das Brausen des Lebens wie ein goldenes Rad auf uns zugerollt kam.

Wir geleiteten alle drei in eifrigem Geplauder die beiden Studenten bis in den Flur hinaus, sogar bis zum obersten Treppenabsatz. Und als sie sich verabschiedet hatten, liefen wir eilig ins hohe Zimmer zurück und walzten darin so übermütig herum, wie damals bei unsrer Frühlingsfeier. Dann wurden Schränke und Kommoden durchstöbert und Blusen, Röcke, Strümpfe und Wäsche mit kritischem Auge geprüft. Und als wir in später Nacht vor dem Lichtauslöschen noch plaudernd Rückschau hielten über den entschwundenen Tag, da waren wir alle drei eines Sinnes darüber, daß Willi Matter die herrlichsten Augen besitze, die sich je in unsrer Mädchenstube umgeschaut.

*

Eine ganze Woche lang war die ungetrübte Freude bei uns zu Gaste. Rudolf Meiner war vergessen, und alles, was für mich mit seinem Namen zusammenhing, lag hinter mir. Wir lebten alle drei in einem so süßen Vortaumel des kommenden Geschehnisses, daß es schien, als ob unser Verhältnis keine Erschütterungen und Trübungen kenne und durch herzliche Neigung festgebunden sei. Bei unsrer grünen Kupferlampe saßen wir wieder des Abends, schneiderten, probierten, prüften. Ganze Nachmittage verbrachte ich im rauchgedunkelten Saale des Kasinos, hatte meinen Souffleusenschemel dicht hinter die Kulisse der engen Bühne gerückt und waltete meines Amtes. Daneben half ich aus, wo man meiner Bereitwilligkeit bedurfte, und als einziges weibliches Wesen unter all den jungen Leuten war ich auch überall vonnöten. Ich erteilte Ratschläge, zurückhaltend und scheu zuerst, aber um so sicherer werdend, als ich sah, daß sie befolgt wurden. Immer kühner geworden, widersetzte ich mich zuletzt energisch, als ein plötzlich aufgetauchter, junggenialischer Dichter uns ein von Haß, Mord, Blut und andern Scheußlichkeiten triefendes Gedicht auch noch in unser Programm hineinwerfen wollte. Willi Matter pries das Gedicht, man wußte allerdings nicht, ob es ihm damit ernst war, als ein wundervolles Meisterwerk und trat mit überzeugendem Pathos dafür ein. Da drohte ich unerwartet mit Davonlaufen, falls es dem Publikum zugemutet werden sollte. Weil aber die jungen Uebermütigen ihre Souffleuse nicht gut entbehren konnten, wurde die Dichtung dem Genie wieder zugestellt, was den hübschen und gutmütigen Studenten übrigens keineswegs verdroß. Man übte, sang, repetierte und probierte in allen Ecken Stück, Gewänder und Perücken. Vortrefflich war die schauspielerische Leistung Willi Matters; seine Rolle jedoch wußte er nie. Da er beständig ins Improvisieren geriet, wurde ich ebenso beständig von ihm aus dem Konzept gedrängt, und statt meiner Aufgabe mit eifrigem Bemühn nachzukommen, ließ ich ihn absichtlich im Stich, um mit großem Behagen den völlig verkehrten Reden des begabten Dilettanten zu lauschen, die ihn dennoch mit untrüglicher Sicherheit wieder zu seinem Stichwort zurückführten. Das Ergötzlichste der schauspielerischen Leistung Willi Matters war, daß er von Zeit zu Zeit aus einer Versenkung im Boden auftauchen mußte, um über die Bretter hinweg eine Rede der Weissagung zu halten, die dank seiner etwas harten und schnarrenden Stimme wie trockene Schollen daherkollerte. Auch Bruno Ott hielt sich als Dame ausgezeichnet, sobald er sich an den solid aufgebauten Busen gewöhnt hatte; er lispelte seine Liebesworte voll des süßesten Wohllauts und fand Töne solch sentimentaler Inbrunst, daß wir alle stets in lautes Gelächter ausbrachen. – Ich selbst, die Souffleuse, fühlte mich unter all diesen heitern, jungen Leuten, die alle ungefähr im selben Alter stehen mochten wie ich, wenn auch befriedigt, so doch oft recht schwerfällig und vernunftbehangen. War es Erlebtes, das mich lähmte oder das lange Einsamsein? Manchmal kam mich aber auch die Lust an, Willi Matter oder den kleinen, blonden Mediziner, der unter seinem krausen Stirnhaar so lustig um sich blickte, beim Rockschoß zu fassen und mit ihm in ausgelassener Tollheit durch den großen Saal zu wirbeln, wild und gierig, bis mir der Atem ausging, mein Blut zu tanzen begann und meine Glieder glühten und bebten.

*

Ach, diese letzte, bedeutungsvolle Woche vor Semesterschluß! Wie steht sie hell in meiner Erinnerung!

An der Universität selbst war für mich während dieser Abschlußwoche nichts mehr zu tun gewesen, da einige der Professoren bereits verreist waren. Noch hatte ich in meinem Testierheft die Unterschrift des Dozenten für Geschichte einzuholen, unterbrach deshalb meine Nachmittagsbeschäftigung im Kasino, ging ein letztes Mal hin und setzte mich an meinen gewohnten Platz hinten an der Wand. Ich war sehr heiter gestimmt und sah mich überall um. Aufmerksam betrachtete ich jetzt die eigentümlich geformten, roten Ohren eines dicht vor mir sitzenden polnischen Juden, der schon seit einiger Zeit in einem zitterigen, schwarzen und sehr langen Rocke herumlief, weil sein Abschlußexamen bevorstand. Beinah überkam mich das Lachen, als ich diesen drolligen Kandidaten der Wissenschaft durch seine Angst im Innersten so aufgestöbert und hilflos dasitzen sah. Und nun lachte ich wirklich für mich hin! – Da fühlte ich mit aller Klarheit, daß auch ich beobachtet wurde. Ein großer, fremder Blick drang durch meine gesenkten Lider. Ich brauchte sie nur zu heben und mein Auge nach jener Richtung hin schweifen zu lassen, um meinen Betrachter zu finden und zu stören. Und als ich nach einer Weile die Lider hob, da lief mein Blick von selbst durch eine Lücke in die erste Bankreihe des Hörsaals und traf dort auf ein unbekanntes, schönes, ernstes Männerantlitz, das mir ruhig zugewandt war.

»Wer bist du?« rief es alsogleich in mir ... »Wie kommst du hierher?«

Hatte ich die Worte laut gerufen? Zitterten sie durch die warme Luft? Blieben sie horchend vor dem Fremden stehn und harrten seiner Antwort? O, über mein sonderbares, beklommenes Ergriffensein!

Ich mußte andern Tages nochmals zur Universität; Professor K. hatte nicht die nötige Zeit gefunden, um seinen Namen in all die Testierhefte zu schreiben. Sieh, und kaum saß ich an meinem Platze, da trat der Unbekannte vom vorigen Tage herein und setzte sich vor mich an die Seite des verängstigten Juden. Eine kleine, braune Hand mit stark gebogenen Nägeln stützte die Wange, und wenn diese Hand niederfiel auf den Tisch, wurde ein Profil sichtbar von seltsam schöner Eigenart. Als die Vorlesung begonnen hatte, wandte sich der Fremde langsam nach mir um, mit einer unauffälligen Wendung des Körpers. Ungestört und heimlich betrachtete er mich mit den dunkeln Augen.

Ich habe mich ganz still verhalten während dieser Stunde. Ich wußte es, daß die Augen des jungen Mannes auf mir ruhten, verschwiegen, ungesehn, daß sie meine Stirn und Wangen streiften, meinen Hals und meine Hände, und ich nahm dies stille Schauen entgegen wie eine feine, huldigende Gabe, ohne mich beunruhigt oder geschmäht zu fühlen.

»Wer bist du?« rief es wieder in mir mit seltsamer Ungeduld, und nur zögernd verließ ich Hörsaal und Universität.

*

Unsre Vorbereitungen gingen dem Ende entgegen; der Aufführungsabend war da. Wir drei Schwestern hatten uns fein gemacht. Suse und Regine sahen in ihren einfachen weißen Sommerkleidern mit Nelken und Reseden im Gürtel frisch und hübsch aus. Ich dagegen mißfiel mir. Ich trug ein blaßblaues Seidenkleid mit schwarzen Rüschen, das mir die Mutter meiner Schülerin Monica einst abgetreten und das eine billige Schneiderin mir zurecht verpfuscht hatte. Ich kam mir in dem Kleide wie ausgetauscht vor. Da ich Blumen am Gewand damals nicht leiden konnte, somit nichts besaß, was als Schmuck gedient hätte, begab ich mich an diesen ersehnten Ballabend mit dem peinlichen Gefühl, unvorteilhaft, ja häßlich auszusehn.

Aber der mit Blumen geschmückte Saal, die Lichter, die Stimmen und die Stimmung der versammelten Menschen empfingen uns so gut und machten uns sofort so heiter und gespannt, als ob wir drei die Schönsten wären, drei Königinnen, auf welche Blumen, Musik, Lampenlicht und strahlende Augen mit pochender Erregung gewartet hätten. Und in unsern Herzen hub darob der Reigen unsrer eignen Jugend zu summen und zu klingen an und trug uns fort in das Reich übergroßer, glücklicher Erwartungen.

Unser Programm spielte sich ordnungsgemäß ab. Man sang, man führte auf, man überbot sich an gutem Willen und bester Kunst. An einem runden Tischchen, das mit einer schweren, schwarzen Samtdecke behängt war, saß, zwischen zwei brennenden Kerzen auf verdunkelter Bühne unser Lyriker Bruno Ott und trug mit seiner hohen, extatischen Stimme seine eigne Liebesgeschichte in Versen vor, von der jedes von uns wußte, mit wem er sie erlebt und welchen Ausgang sie für ihn genommen.

Zum Schlusse folgte unsre Aufführung. Schon stand Willi Matter in roter Perücke und grünem Fracke hinter der Kulisse und rief mir zu, ob ich den wundervollen Souffleurkasten eigentlich bemerkt, den man mir heute zurechtgestellt habe. Ich solle mich darin vorläufig häuslich niederlassen; denn auf der Bühne sei nichts mehr zu tun.

Rasch lief ich über die kleine Stiege hinunter in den Zuschauerraum, um von da zu dem Kasten zu gelangen. So hastig war mein Rennen, daß ich beinah über einen ausgestreckten Männerfuß gefallen wäre, der, in elegantem Lackschuh, sich von der ersten Sitzreihe aus gegen die Rampe stemmte. Der Fuß wurde rasch zurückgezogen, und ich hörte, wie eine weiche Männerstimme dicht in meiner Nähe für den kleinen Schaden, den man mir zugefügt, um Entschuldigung bat. Ich blickte rasch auf und schaute verwirrt in ein Paar große, dunkle Augen. Ich kannte diese Augen –

Der Vorhang ging in die Höhe, unser Stück nahm seinen Verlauf. Es gelang vortrefflich. Wir ernteten geräuschvollen Beifall, jenen Beifall des wohlwollenden Behagens, wie man ihn in kleinen Städten gern den Unternehmungen der akademischen Jugend entgegenbringt. Nach der Vorstellung ließen sich Professoren, Behörden, Väter, Mütter, Onkel, Tanten gutwillig auf die Seite schieben, in die Ecken drängen, verschupfen und herumstoßen, bis mit viel Lärm und Liebenswürdigkeit der Konzertsaal in einen Ballsaal umgewandelt war, bis die Stuhlreihen sich zu Gruppen formten, die Tanzmusik sich eingerichtet und der erste Walzer dahergefiedelt kam. Da aber fuhr auch die glückselige Stimmung wie ein rauschender Schwarm junger Vögel über Köpfe und Schultern daher. Man holte sich an den Blumenständen weiße Rosen, rote Nelken, man trug sie im Gürtel, im Knopfloch, steckte sie ins Haar. Junges Lachen, junge Augen tauchten ineinander, und scheue Hände suchten sich in rascher, erster Berührung. Man fühlte sein Jungsein, seine Schönheit und Kraft und drängte mit ungestümer Heftigkeit in den engsten Kreis dieses flüchtigen, klirrenden Rausches.

Noch war ich in meinem Souffleurkasten sitzen geblieben und schaute durch ein herzförmiges Loch in seiner Seitenwand in die bunten Vorbereitungen im Saale. Ich spähte aus nach den beredten, dunkeln Augen. Wo waren sie hingekommen? Im Lärm und Getümmel waren sie aus meiner Nähe verschwunden. Da versetzte jemand dem Souffleurkasten einen mächtigen Stoß, sodaß ich unversehens mit dem strandkorbartigen Gehäuse auf die Seite herumfuhr. »Wie lange wollen Sie denn noch soufflieren, Fräulein Richter?« rief der kleine, blonde Mediziner übermütig. »Stehn Sie doch auf! Die Vorstellung ist ja längst vorbei. Der Kasten muß weg, bevor der Tanz beginnt!« Und der Kasten flog auch, sobald ich ihn verlassen, über das Parkett hin und tanzte in eine Gruppe junger Mädchen hinein, die erschrocken auseinander stoben.

Ich stand neben Willi Matter, der die weißen Handschuhe über die Finger streifte, und dem kleinen Mediziner in der Nähe der Bühne und sah einen Augenblick dem Gewoge zu. Bruno Ott hatte eben Regine engagiert und spazierte mit ihr, weit über ihren blonden Kopf hinausragend, Arm in Ann durch den Saal. Suse saß nicht weit von uns an einem Tischchen und schrieb mit vergnügtem Lächeln und eiligen Fingern einen Zettel. In den Saalecken hingen buntbemalte Briefkasten, in die man hineinstecken konnte, was der Augenblick an Uebermut eingab, und frische, junge Gymnasiasten trugen als Postboten die heitre Ballkorrespondenz aus. –

Mir war noch eine andre Beschäftigung für den zweiten Teil des Abends zugedacht worden. Unter der Empore des Saales hatte man eine Art Karzer eingerichtet, in dessen dunkeln Tiefen ein roter düstrer Lampion baumelte. Vor dem Karzergitter, das mit drohenden Hellebarden überkreuzt war, stand ein Tisch. Hier sollte ich sitzen, das Publikum überwachen, und fanden sich solche, die in übergroßer Vergessenheit zu innig miteinander tanzten oder sich sonst unterhielten, so hatte ich einen der als Polizeisoldaten verkleideten Gymnasiasten mit einem Haftbefehl abzukommandieren und die Schwelger zu verhaften. Eine kleine Geldbuße gab die Häftlinge nach ein paar Minuten wieder frei.

Mit schadenfrohem Entzücken ließen Willi Matter und ich auch die harmlos herumsitzenden Professoren arretieren, und während die Gefangenen unter dem roten Lampion ihre Unschuld beteuerten, wußten wir beide genau, daß der Bestrafte Buße tat für ein griesgrämiges Kolleg, für steife, engbrüstige Pedanterie, für schlechte Launen, für Ueberforderungen und Parteilichkeit bei den Examen, sogar für einen guten Schluck oder stadtbekannte Liebesaffairen. Wir sperrten aber auch Professor W. ein, bloß, um unsern hochverehrten Lehrer volle fünf Minuten dicht in unsrer Nähe zu haben. –

Als ich während einer Tanzpause an meinem Polizeitisch lehnte, bemerkte ich, wie Suse unten im Saale Willi Matter eine rote Nelke ins Knopfloch steckte. Gerade war ich im Begriff, einen Haftbefehl an die beiden ergehn zu lassen – da überbrachte mir der Postbote einen Brief. Ich machte den Umschlag auf, ein schmaler Bogen, aus einem Taschenbuch herausgerissen, fiel mir entgegen:

In den Lüften erstirbt
Leise verhaltenes Bangen,
Streicht mit müder Hand,
lieber Stirne und Wangen.
Horch! Auf dem Berge ertönt
Mächtiges Glockengeläute,
Kündend des Lebens Kraft,
In die unendliche Weite. –

Keine Unterschrift, nur unten in der Ecke ein kleines Fragezeichen. –

Ich faltete das Blatt zusammen, langsam, nachdenklich, öffnete es wieder und las die Worte von neuem.

Horch! Auf dem Berge ertönt
Mächtiges Glockengeläute –

Was bedeuteten mir diese Worte? Ich stemmte mich mit dem Rücken gegen den Tischrand und schloß für eine Sekunde die Augen. Wo erscholl mir jene mächtig kündende Glocke, die bis vor die Pforte meines Lebens drang? Was sollte diese köstlich klingende Weissagung mir, der Anna Richter, und wie hieß Er, der meiner Sehnsucht solch lockenden Ruf entgegenwarf?

Ich verließ meinen Platz und trat aus dem Schatten der Empore hervor an die Helle. Nun stand ich umflossen vom Licht und Gewirr des Saales und überschaute prüfend die vielen Menschen, von Schulter zu Schulter, von Kopf zu Kopf. Da traf mein Blick den Unbekannten, den ich vom Souffleurkasten aus gesucht hatte.

Er lehnte neben einem der Fenster der gegenüberliegenden Wand und blickte so offen und ruhig zu mir hinüber, als ob er mich erwartet hätte.

Ich hob das Blatt in meiner Hand unmerklich empor, und meine Augen fragten tapfer: »Haben Sie mir diese Worte geschrieben?«

»Ja, ich habe sie geschrieben«, entgegneten mir die seinen.

»Was bedeuten sie?« fragten meine Augen weiter.

»Sinn und Bedeutung für Sie –« so kam mir die Antwort, »für Sie allein, werde ich Ihnen einst erklären ...« –

»Könnte es nicht jetzt geschehn?«

»Ich will damit sagen« – er umhüllte mich mit seinem großen Blicke – »daß es Menschen gibt, denen das Sehnen und Bangen nach irgend etwas Großem, Unbestimmtem, Unsagbarem, – nennen wir's das Leben – sowie die aus diesem verhaltenen Bangen entspringenden Seelenkämpfe auf Stirn und Wangen gezeichnet stehn. Mir will es scheinen, als ob dies Lebensbangen in Ihnen ersterben wolle, und als ob seine Zeichen auf Ihrer Stirn und Ihren Wangen schon müde wären. Da wollte ich Ihnen nur mit meinen Worten sagen, daß auf dem Berg oben, auf jener Höhe, wo man über seinem Schicksal steht und sein Herr ist, man sich abzufinden und sein eignes Leben zu leben hat ...«

»Sind Sie selbst auf der Höhe des Lebens?«

»Ich suche danach ...«

»Ich möchte mehr von Ihnen wissen.«

»Und ich möchte alles, alles von Ihnen wissen.«

Leise, den Umstehenden nicht bemerkbar, nickten wir nach dem Zwiegespräch unsrer Augen einander zu, der Fremde und ich. Dann trat ich aus der Lichtfülle wieder zurück ins Dunkel der Säulen und an meinen Tisch.

War das Wahrheit? Atmete unter all den Hunderten von Menschen einer, der, ohne daß ich es ahnte, längst in der Nähe meiner Seele geweilt hatte, der meine Stirn und Wangen kannte, dem mein Geist und Wesen vertraut schienen, der mir die scheuen, unbetretenen Pfade meines Bewußtseins öffnete und den Inhalt und die Leere meines Lebens für mich selbst begriff?

Ich fühlte, wie mir von dem Unbekannten drüben an der Wand ein mächtiger Zauber ausging, und ich hätte um ihn herum, um seine Gestalt, seine redenden Augen, seine Gedanken, sein Lächeln, einen Kreis ziehen mögen, den zu überschreiten nur mir in Zukunft das süße Vorrecht zukam.

Da erscholl die Musik von neuem. Der Fremde war von seinem Platze neben dem Fenster verschwunden, und kurz darauf sah ich ihn an Suses Seite durch den Saal schreiten. Ich bemerkte, wie Suses Mund lächelte, wie ihre mir so vertrauten Gesichtszüge den Ausdruck huldigender Weichheit annahmen. Und hierauf sah ich, wie die beiden sich im Tanz umschlangen und leise wiegend sich in einem langsamen, breiten Walzer durch den Saal bewegten.

Da kam mit glänzenden Augen Regine auf mich zugestürzt und flüsterte eifrig: »Du, Anna, tanze ich schlecht? Bruno Ott behauptet, es gehe wirklich ganz gut. Nur tanzt er selbst herzlich ungeschickt, scheint mir. Aber er macht mir ein wenig den Hof. Das ist furchtbar angenehm, weißt du, obwohl er soeben die Geschichte seiner unverbrüchlichen und ewigen Liebe allen vorgetragen hat. Er ist nicht ernst zu nehmen, denke ich. Mit der Saalpost hat er mir übrigens ein reizendes, kleines Gedicht gesandt. Ich zeig's dir dann. Er will mir auch einmal etwas aus andern seiner Dichtungen vorlesen, sagt er. Der kleine Mediziner – ich vergesse seinen Namen immer – gefällt mir übrigens auch gut. Er ist so witzig. Und alles ist rund in seinem Gesicht, hast du's nicht bemerkt? Augen, Nase, Mund, auch sein Lachen klingt rund. Es rollt so lustig daher. – Wieviel Uhr ist es übrigens? O wenn diese köstliche Nacht doch nie zu Ende ginge! Gottlob gibt es keine Nachtwächter mehr, sonst würden sie mir mit jeder Stunde meine goldige Freude wegblasen. Wenn ich nur diese flüchtigen Stunden mit mir nehmen könnte aufs Bureau oder wenigstens zu uns an die stille Gasse! Ich würde sie an der Wand festnageln wie einen Spiegel und Tag um Tag daraus neue Bilder herauswünschen – Nicht wahr, mein Kleid steht mir ganz nett? Schade, daß du nicht zum Tanzen kommst, Anna!«

»Das tut nichts, Reginchen,« entgegnete ich zerstreut und blickte an der Seligen vorbei, »ich mache mir heute nicht so viel aus dem Tanzen. Weißt du aber, wer jener Herr ist, der soeben wieder mit Suse tanzt?«

»Nein, ich kenne ihn natürlich nicht. Er ist mir aber auch schon aufgefallen. Sieh, wie Suse ihn bereits mit den Augen liebkost ... Ihre Gefühle läuten Sturm. Der Fremde muß wenigstens ein Göttersohn sein. Aber halt, da kommt sie ja mit ihm auf uns zu. Schweig still, mein Herz!«

Regine schlug sich leicht mit der flachen Hand auf den Mund und stemmte sich mit komischer Steifheit neben mich an den Polizeitisch.

Schon stand Suse mit dem Fremden vor uns. Sie stellte ihn uns vor als Hans Weeger.

Eine plötzliche Stille entstand um mich und in mir. Zu unterst im Saale, ganz in der Tiefe, sah ich einen Strauß roter Rosen stehn, die leuchteten wie eine große brennende Muschel. Und nun fing mein Herz in kleinen Schlägen zu hämmern an.

»Sie scheinen nicht zu tanzen, mein Fräulein?« wandte sich Hans Weeger an mich.

»Nein, man hat mir eine Aufgabe zuerteilt«, entgegnete ich viel leiser, als ich sonst zu sprechen pflegte und ärgerte mich sofort über mich selbst. Er lächelte. »Wissen Sie, woraus die Verse sind, die ich Ihnen vorhin sandte?« fragte er hierauf unvermittelt.

»Ja, ich glaube aus der »Versunkenen Glocke«.

»Und kennen Sie ihre Bedeutung?« fragte er weiter dicht neben mir.

»Ich glaube ja.«

Er blickte mich mit aufmerksamem, freudigem Staunen an.

»So gut haben Sie mich vorhin verstanden?« meinte er leise.

»Ja.«

Er nahm einen Stuhl, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Und nun fing er zu erzählen an, daß er bereits ein Semester hier sei, die Vorlesungen aber höchst selten besucht habe, weil er an seiner Dissertation arbeite. Er gedenke zu Beginn des Wintersemesters zum Doktor der Philosophie an unsrer Universität zu promovieren. Die notwendigen Semester habe er in Berlin, Heidelberg, München bereits absolviert und habe sich nun in unsrer kleinen, fleißigen Stadt vergraben wollen, um seine Arbeit zu vollenden und sich ruhig auf die Prüfung vorzubereiten. Aber wie es scheine, könne man sich auch bei uns ganz ausgezeichnet amüsieren.

Er blickte auf Suse mit vergnügtem Lächeln, und diese erwiderte dies Lächeln, indem sie eine kleine, kindische Grimasse machte und dabei die schmalen Schultern hochzog.

»Also unterhalten Sie sich gut bei uns, Herr Weeger?« fragte Regine.

»Heute ja, ganz ausgezeichnet,« entgegnete er, »sonst aber lebe ich sehr zurückgezogen. Ich möchte bis Weihnachten mein Studium abgeschlossen haben, es hat lange genug gedauert. Und übrigens ist mir bereits in Wien eine mir passende und auch angenehme Stellung in Aussicht gestellt.«

»An welcher Straße unsrer Stadt wohnen Sie denn, Herr Weeger?« erkundigte sich Suse nach einer Pause.

»An der Schattenhalde«, gab er zuvorkommend zur Antwort.

»Also gar nicht weit von uns«, rief Suse erfreut. »Dann werden Sie uns besuchen und recht oft zu uns herüberkommen!«

Weeger verbeugte sich. »Recht gern, wenn Sie gestatten«, wandte er sich an mich, als ob meine Antwort für ihn die ausschlaggebende und wichtigste sei. – Da hüpfte ein entzückender Walzer aus den Geigen in den Saal. Wie der Purzelbaum eines geistreichen Kobolds, so kam er daher. Alles wurde lebendig. Suse legte die Hand auf den Arm ihres Tänzers. »Gehn wir ihn tanzen!« bat sie.

Der kleine Mediziner holte Regine auch aus ihrem Versteck hervor, und so stand ich bald darauf wieder allein an meinem Amtstisch. Aber die Lust an meiner mutwilligen Aufgabe war mir auf einmal vergangen. Mattigkeit überfiel mich. Ich blickte auf die Uhr, es war zwei Uhr morgens. Müde lehnte ich mich an die Wand. Da kam Willi Matter daher und überbrachte mir als Dank für mein Mitwirken einen Strauß schöner, roter Nelken. Ich dankte; aber die Blumen schienen mir schal und ohne Duft. Mich verlangte heftig nach Schweigen und Stille. Immer wieder sah ich Suse mit ihrem Tänzer sich im Tanze drehn. Und ich fühlte mich als Aschenbrödel, das tief in der grauen Asche saß; die Erbsen kollerten durch meine Finger zurück in die Asche, und vorbei an meiner Türe fuhr ein prächtiger Wagen; darin saß der Prinz, und der fragte alle Nachbarn, ob sie nicht wüßten, wem der goldene Schuh gehöre, den er in der Hand hielt. Aber auf mein Haus und meine Türe wies niemand, und keiner fand sich, der ihm sagte, daß mein Fuß schmal und fein und voll glühender Lebendigkeit war ...

Ich übergab meine Verpflichtungen Willi Matter, holte meinen Mantel aus der Garderobe und stahl mich fort aus dem Saale. Die Musik ging mit mir eine Strecke Weges, dann verkrochen sich die Töne in den Häusermauern. Allein ging ich meine Straße. Wie eine feine, glitzernde Palette hing der abnehmende Mond am Himmel und goß sein schmales, kühles Licht über die Giebel der Dächer und die schlummernden Gärten.

Mond, der du da oben einsam gehst in der festlichen Schar deiner großäugigen Sterne, sag, wer bin ich eigentlich? Wozu wandle ich da unten? Was darf ich glauben, was hoffen? Und weißt du mir niemand auf der ganzen Erde, um die du in nächtlicher Verschwiegenheit deine schimmernden Bogen ziehst, weißt du mir niemand, den ich lieben könnte, so lieben, wie ich es will?

*

Suse und Regine sind in der Morgenfrühe an die stille Gasse zurückgekehrt. Ich wachte auf aus leichtem Schlummer. Durch das offene Fenster des Schlafzimmers, das nach der Straße ging, hatte ich das Gewirr verschiedener Stimmen vernommen. Ich richtete mich auf im Bett und horchte hin: Abschiedsworte, Lachen, das Verhallen auseinanderstrebender Schritte drangen zu mir empor. Dann ging die schwere Haustüre auf und schloß sich wieder. Meine Schwestern kamen halblaut flüsternd durch den Flur gelaufen. Als sie mich aufrecht in meinen Kissen dasitzen sahen, rief Regine mit ihrer hellen Stimme: »Guten Morgen! Da sitzt sie ja! Sag mal, Anna, warum bist du denn so unvermutet davongelaufen? Wir sind bis zum Morgengrauen geblieben, und je mehr die Menge sich verlief, desto köstlicher wurde das Vergnügen!«

»Ja,« rief Suse dazwischen, »und hier läßt dir Herr Weeger, der ganz bestürzt war, dich nicht mehr an deinem Platz unter den Säulen zu finden, diese Rose schicken als Morgengruß! Er wird uns übrigens im Laufe des Nachmittags besuchen, um zu erfahren, wie uns die Ballnacht bekommen ist.«

In hohem Bogen kam eine schwere, rote Rose gegen mein Bett geflogen und klatschte an meine Stirn; die prunkende Blüte löste sich, zersprang, und fiel von meinem Antlitz nieder auf die weiße Decke. Gierig griff ich in die duftenden Blätter. Etwas Wildes, Süßes, Neues stieg mir aus ihnen empor, und ich fühlte bange voraus, daß etwas in meinem Herzen erblühn werde, welken und vergehn, bevor es ganz aufgebrochen und daß dabei mein Herz zerstieben müsse, wie diese zersprungene Rose.

Im Spätnachmittag klopfte es an unsre Türe. Es war Hans Weeger.

Schon hatten meine Schwestern die goldrandigen Tassen herbeigetragen und deckten sorgfältig den Tisch für den Tee. Und während sie sich mit dem Gast über die Ballnacht und ihre Ereignisse lebhaft unterhielten, bewegte ich mich in unsern Stuben umher, ungeschickt, linkisch, als ob ich an einem fremden Orte wäre. Und dabei lauschte ich auf unsern Gast, auf jedes Wort, das er redete und fühlte deutlich, wie dies Lauschen zu einer Art schwellender Sehnsucht wurde nach ihm, damit er sich an mich wende, nur nach mir schaue, nur zu mir rede.

Wir beschlossen, einen Spaziergang zu machen nach dem Botanischen Garten. Wir beschauten den Teich mit den flinken Goldfischen, das hohe, rauschende Schilf, die weißen Seerosen. Wir traten auch in die Treibhäuser, bewunderten die Mannigfaltigkeit der Blätter und Blüten, die Fremdartigkeit der Gewächse. Die Luft war unerträglich heiß.

Ich stand vor der berühmten Königin der Nacht, die alljährlich einmal ihre Blütenkrone öffnet und äußerte, die Pflanze sehe auch gar zu harmlos und unscheinbar aus für eine Königin. Da gesellte sich Hans Weeger zu mir. »Warum, Fräulein Richter,« fragte er, »sind Sie eigentlich heute Nacht vom Tanze weggelaufen? Seien Sie ehrlich!«

»Weil ich mir unnütz und – auch etwas hilflos vorkam«, entgegnete ich und blickte an ihm vorbei.

»Wahrhaftig,« sagte er und senkte die Stimme, »und ich hätte über so vieles mit Ihnen reden mögen.«

Eine kleine, eifersüchtige Bosheit schlüpfte mir auf die Zunge. »Da haben Sie wohl alles indessen meiner Schwester Suse gesagt.«

Er biß sich auf die Lippen. Dann lächelte er: »Mit Ihrer Schwester habe ich nur getanzt. Und übrigens wollte ich Sie strafen, Fräulein Richter.«

»Mich strafen? Wofür?« Erstaunt, seltsam benommen, warf ich die Frage hin.

»Für all die Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit, die Sie mir angedeihen ließen.«

Der Ausdruck seines Gesichts war ernst und offen. Gierig horchte ich hin.

»Fräulein Richter,« sagte er, »ich habe Sie oft auf der Straße gesehn, ohne daß Sie mich beachten wollten. Ich sah Sie auch auf der Universität, aber Sie schenkten mir auch da keine Beachtung. Ich habe einmal an einer öffentlichen literarischen Diskussion das Wort ergriffen, nur damit Sie auf mich aufmerksam würden, und ich habe mir sogar erlaubt, eine Narzisse, die ich im Knopfloch getragen, neben Sie auf die Bank zu legen. Aber Sie ließen Sie achtlos liegen. In die letzten Vorlesungen bin ich bloß Ihretwegen gekommen, um mein Glück nochmals zu versuchen. Ja, wie soll man sich denn in einer kleinen Stadt wie die Ihre, ohne eigentliches gesellschaftliches Leben, einer Dame nähern können, die einem selbst keine Gelegenheit dazu bietet? Da bin ich endlich an den Ballabend gekommen, weil ich genau wußte, Sie würden dort sein. Bloß Ihretwegen kam ich her. Aber als ich Sie gesehn und gesprochen und Ihnen den Vers zugeschickt hatte, und Sie durch eine Pflicht festgehalten wußte für den ganzen Abend, festgenagelt an Ihrem Amtstisch, als ich Sie so sicher in meiner Nähe wußte, da regte sich meine ein wenig gekränkte Eitelkeit doch, und ich habe mir herausgenommen, Ihnen die lange Nichtbeachtung ein wenig heimzuzahlen. Heimlich jedoch habe ich mich fortwährend nach Ihnen umgesehn. Als Sie dann so plötzlich verschwunden waren, fühlte ich mich wie verurteilt, und es war mir für meine Absicht eine große Enttäuschung.«

Durstig hatte ich jedes Wort in mich hineingetrunken. Aber wieder schlich mir eine kleine, eifersüchtige Bosheit auf die Lippen: »Und sind doch bis zum Morgengrauen geblieben?«

»Warum denn nicht?« entgegnete er, und sein großer Blick umfaßte mich. »Erst recht. Ihre Schwester Suse tanzt gut und war sehr liebenswürdig zu mir. Aber der Abend hatte Ihnen gegolten, nur Ihnen.«

Die feuchten Moose des Treibhauses hingen in schweren Ranken bis auf unsre Köpfe herab. Suses Stirn war voll perlender Wassertropfen. –

Dann traten wir in die größte der Hallen des Gartens mit dem gewölbten Glasdach. Da badete der Papyros seinen Fuß im schlammigen Wasser, und die Palmen reckten ihr üppiges Haupt bis hinauf an die höchste Wölbung des Daches. Vögel flirrten zur offenen Türe ein und aus und wiegten sich in den riesengroßen fächerförmigen Blättern.

Hans Weeger redete jetzt nur noch zu mir und für mich mit seiner weichen, ausdrucksvollen Stimme. Ich hörte zu mit meinem ganzen Sein und Wesen, und während er so an meiner Seite schritt, siehe, da fing es leise in mir zu klingen an, aus den verborgenen Tiefen meines Wesens quoll es empor, ungestüm und geheimnisvoll, voll süßen, unerträglichen Bangens. Mir war, als ob mein mit halber Kraft gelebtes Leben aufhorche und als ob mein großer Tag anbreche, meine Macht und auch mein Traum.

Da sah ich plötzlich Suses Gesicht, wie es sich jäh nach uns zurückwandte. Ihre Augen blinzelten stark, ihre schmale Gestalt wurde stumm und verlegen und bewegte sich ungeschickt und hilflos zwischen den Palmen und vor uns beiden her.

*

»Liebe! Soeben hat es 1 Uhr in der Nacht geschlagen. Es ist ganz still um mich, nichts ist zu hören, als das leise Ticken der Uhr. Eine halbe Stunde schon sitze ich auf meinem Lehnstuhl und träume in dem wohligen Rauche meiner Zigarette von Dir. Nun bin ich ganz voll von Dir, so voll, daß ich mit Dir sprechen muß, wenn ich Dich überhaupt aus meinen Gedanken losbekommen soll. Du böses, liebes Geschöpf Du! Ich weiß nicht, was ich Dir jetzt sage und sagen werde, vielleicht wirst Du sogar, wenn Du den Brief am hellichten Tag erhältst, darüber lächeln. Möge es drum sein. Ich weiß nur: Mein Gefühl wäre mir heute selbst Deines Spottes wert. Ich weiß ja, daß es nicht kraftvoll und mächtig und weise ist, das Beste und Heiligste, das man hat, das man sonst aus Scham und Angst tief drinnen verbirgt, zu lösen und offen hinzulegen, und es ist lange, lange her, seit ich es einmal tat. Aber ich will glauben, daß Du auch am Tag eine jener gottbegnadeten Naturen seiest, die eines vollen Menschen vollstes Leben aufzusaugen und als ein einziges bis auf die Neige zu kosten verstehn.

Nun bist Du bei mir. Ganz nahe fühle ich Dich. Kein Wort fällt. Wir brauchen der Worte nicht. Ich sitze bei Dir und umkose mit meinen Händen Dein Gesicht, langsam, leise, sanft, ununterbrochen; denn ich kann der Schönheit und Güte nicht genug bekommen. Dein Kopf ist ein wenig zur Seite geneigt. Aus den Mundwinkeln ist der bittere Zug verschwunden, der dort oft zuckt, der herbe, traurige, liebe Zug, und du lächelst. Und Dein schmales Gesicht wird so hübsch, wenn es lächelt. Es mag reiches, inniges Gefühl sein, das Dich beseelt! Oder lachst Du über den Toren? Nein, nein, in Dir lebt sicher alles, was eines Menschen warme Brust bewegt! Aber das ist ja wohl alles noch tief vergraben, und Du warst zu lange einsam und allein, um es rasch erwecken zu können und zu glühender Blüte zu bringen. Ich liebe Dich. Und wenn Du mich heute noch nicht so liebst, wie mein Gefühl für Dich es heischen möchte, so werde ich dennoch jetzt zu dieser Stunde meines Gefühls für Dich ganz allein froh. Es liegt Zuversicht in diesem Frohsein und Erwartung dessen, was der Tag bringen wird. Schlaf wohl!« ...

*

Ich saß im Mädchenzimmer hinten beim Kachelofen auf dem niedern Stühlchen, las diesen Brief Hans Weegers und trank jedes Wort mit tausendfacher Beglückung in mich hinein.

Meine Welt war anders geworden. Es war so seltsam, daß Dinge, von denen ich verwischt, nebelhaft geträumt, die ich, ohne es zu wissen, brennend gewünscht, hundertmal durchkostet und bebend vorausgelebt hatte, ihre phantastische Gestalt ablegen und zur Wirklichkeit werden sollten. Aus dem Dämmer meiner Seele schwang sich jetzt etwas empor, das Musik war, oder Bild oder Farbe, das Hoffnung hieß und Glauben ward und für Stunden unerschöpfliche Begeisterung und Ueberschwang. Das Gefühl des Einsamseins ward von mir hinweggehoben, ich wuchs aus mir selbst heraus, schien doppelt, vielfach, wurde größer, stärker, reifer, und fing an, mir bewußt zu werden, daß ich fruchtbare Erde sei, aus der die roten Blüten duftend und berauschend steigen sollten.

Ich habe irgendwo gelesen, daß die männliche Schönheit noch nicht genug gezeichnet worden sei von den Händen, die allein berechtigt wären, es zu tun – den Händen der Frau. Aber wäre es nicht ein müßiges Unterfangen?

Ich liebte an meinem Liebsten den Gang, seine Gestalt, die Linien seiner Stirn und Schläfen, das dunkle Auge. Ich liebte seinen Mund, wenn er lachte, und liebte ihn auch, wenn seine Lippen festverschlossen, einem Riegel gleich, vor dem Antlitz lagen. Ich liebte seine Stimme, die kleine, braune Hand mit den stark gebogenen Nägeln, und ich liebte seine Umarmung und seine Liebe ...

»Du, Anna!«

»Ja, Hans?«

»Weißt Du, daß mir das Leben anders ist heute? Als ich hierher kam in eure Stadt, da war ich voll vom Zynismus meines Lebens, den man in Großstädten holt, von spöttischer Verachtung – auch für die Frau – voll Vorsicht und höhnischem Mißtrauen. Wenn Du wüßtest, wieviel du mir heute bist und bedeutest! Die trüben Geister hast du aus mir verscheucht. Seit ich dich habe, kann ich auch ehrlich und richtig arbeiten, so wie ich's gern habe, volle zehn Stunden. Während der ganzen Zeit der Arbeit verläßt mich der Gedanke an dich nie. Es kommt mir vor, als ob du mir beim Arbeiten zuschautest, zunicktest: »So ist's recht!« Ich spüre dann immer neuen Mut, und ich stürze mich kopfüber wieder in meine krausen, unleserlichen Schriftzüge. Manchmal glaube ich – gewöhnlich so um 11 Uhr vormittags – nun werdest du kommen, an der Klingel ziehn und mich auf ein Plauderstündchen herunterrufen in den Garten. Und ich warte auf die Klingel wohl eine halbe Stunde lang. Du aber kommst nicht. Da setze ich mich ruhig wieder hin, ersticke in mir meine Sehnsucht, denke, du habest nicht kommen können und arbeite ruhig weiter. Ach, siehst du, Geliebte, ich wollte in dein Leben jene tiefe Freude hineintragen, die du in das meine hineinträgst. Wenn ich dich gestern bei mir gehabt hätte – ich hatte eben einen schwierigen Abschnitt meiner Arbeit beendet – ich wäre auf die Knie gesunken vor dir und hätte bewußtlose, trunkene Worte von Liebe und Dank gestammelt. Lach mich nicht aus. Und ich hätte dich geküßt, du Liebe, daß dir und mir der Atem vergangen wäre. Ich kann dir ja nicht sagen, was ich jetzt alles empfinde, wie eine mächtige Welle ursprünglichen Fühlens in mir aufwallt und all mein Bewußtsein, mein Denken und Reflektieren in brausender, siegender Kraft erdrückt. Ich lechze immer nach dir, und meine Seele dürstet fortwährend nach einem Trunk aus der deinen.«

So sprach Hans zu mir.

Und ich?

Ich habe alle Glut und alle Güte mir aus Leib und Seele herausgeholt und vor meinem Liebsten ausgebreitet. Nicht dazu rief mich die Liebe, damit ich mich vor ihr verhülle. Nicht dazu fährt sie uns bebend in Herz und Sinne, daß wir uns neben ihr schlafen legen und über ihren Leib hinweg ein blasses Schlummerliedchen trällern. Die Liebe ist der schimmernde Hauptaltar unsres Lebens, uns Frauen, an dessen Stufen wir singend die Opferspende niederlegen sollen, auf daß wir den Gott verehren lernen, der in uns Wunder tut. Vom Herzen zum Munde soll es uns strömen, dies höchste Lied, und jeder Atemzug soll ein Trunk sein aus dem Borne dieses stärksten Gefühls. Wir sollen es lernen, dies tiefste Geheimnis als das schönste der Wunder hinzunehmen und alle Verschwendung und alle Bereitschaft, die es erfordert, in uns empfangen als Beseeligung und unendlichen Genuß.

*

Eine neue Zeit war für mich angebrochen. Unser Mädchenzimmer war jetzt hell, voll Klarheit und Reichtum. Wie früher um Vitia, unsern bescheidenen Freund, so gruppierten wir drei uns nun um Hans Weeger. Er war älter als wir und hatte Erfahrung, Kenntnisse und Einsicht vor uns voraus. Seine Art, sich in unsre Verhältnisse und bescheidenen Lebensbedingungen einzuleben, wirkte wohltuend auf uns, gab uns Behagen und weckte in uns das Vertrauen zu ihm selbst. Widerstrebend zuerst, mit Befremden und wortlosem Staunen fügte sich auch Suse den neuen Verhältnissen. – Wieder saßen wir oft des Abends um die grüne Kupferlampe, lasen und arbeiteten. Und wenn Vitia uns mit den Dichtern seiner Heimat bekannt gemacht hatte, so wies uns Hans andre, neue Wege, auf denen uns Weite und Fülle des Lebens und alles Lebendigen entgegenkam. Er führte uns an Dinge heran, die kaum den Kreis unsres Interesses gestreift hatten. Probleme des Mannes, der Gesellschaftsordnung, der Geschichte und ihrer Bewahrheitungen, an Fragen bestehender und zu erhoffender künftiger sozialer Verhältnisse. Er las uns auch ein von ihm begonnenes Schauspiel vor, das »Die sieben Höhlen« hieß, und das, soweit wir bloß mit dem Verständnis des Empfänglichen uns als urteilsfähig erachteten, mit viel Talent und Geist geschrieben schien. Mit mir zusammen besprach er auch seine Dissertation, die mir wieder neue Gebiete eröffnete, und die ich ihm Seite um Seite sauber ins reine schrieb, was keine Kleinigkeit war, denn er hatte eine alte, eigentümliche krause Schrift. Allerlei Betrachtungen und lebhaftes Diskutieren der verschiedensten Gegenstände waren mit Hans ins hohe Mädchenzimmer eingezogen und faßten da festen Boden. Dann kam es vor, daß er uns von seiner Familie erzählte, die außerhalb unsres Landes ansässig war, von seinen Brüdern, seiner einzigen Schwester und vor allem von seiner abgöttisch geliebten Mutter, die seit langer Zeit krank lag und von der der Sohn immer mit leiser, ehrfürchtiger Stimme sprach, als ob er sich im Vorhof eines Heiligtums bewege.

Unsre schönsten Stunden aber waren, wenn Hans uns aus der Bibel las. Da er dank seiner Dissertation augenblicklich stark unter dem Eindruck und Einfluß Nietzsches stand und dessen hohe Begeisterung für das alte Testament miterlebte und teilte, so geschah es wie von selbst, daß er eines Abends das Buch Hiob aufschlug und uns daraus zu lesen begann. Und in einer Aufwallung flammender Begeisterung fing er an zu uns zu reden, was er dabei unvermittelt und heiß empfand. »Nehmt,« so rief er, »das Judenvolk und die großen Gestalten der Patriarchen aus dem Ringe der Völker heraus, was bleibt dann noch? Eine erschreckende Leere und ein erschreckender Abgrund, um den Roheit und brutale Körperkraft, Augenblicksleidenschaft und Tyrannei einen wahnsinnigen Tanz aufführen. Griechen, Römer, Goten sind gestorben und verdorben, und ihre Werke in Kunst und Literatur, in Politik und Wissenschaft klingen heute bloß noch wie Märchen an die Ohren weniger Auserlesener. Doch an jedem Sonntag singen Millionen und Millionen allüberall dort, wohin europäische Kultur gedrungen ist, die gewaltigen, schlichten Gesänge des alten Testaments. Und so ihnen ein Leides widerfährt, sagen sie die Worte Hiobs: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Die übergroße Masse meinte den Riesen bändigen zu können, feig und brutal, wie der Pöbel immer ist und schlug ihn in jahrtausendelange Knechtschaft. Aber furchtbar hat sich das Verbrechen an Europa gerächt. Denn all seine schlechten Säfte goß der Gewaltige über die Völker aus. Immer wieder stößt er eines seiner kranken Glieder ab, kraft- und marklose Zweige, »welke Blätter vom gesunden Stamme«, die, zu schwach für ihre eigne Größe und doch zu stark im Geiste für vernunftloses Glauben, Europa mit ihren schwächlichen und doch ätzenden Zweifeln durchsetzen und es mit ihrem Weh und Schmerz, mit ihrer Sehnsucht verseuchen, bis es – wie Nietzsche sagt – dem Stamme selbst wie eine reife Frucht mühelos in den Schoß fällt. Und auf der andern Seite reckt sich im Laufe der Geschichte der Riese selbst. Dann erscheinen Geister auf der Erde, die durch ihre grandiose Gewalt im Denken und Fühlen alles mit sich fortreißen und die Bahnen der Kulturvölker in selbstherrlicher Gottähnlichkeit bestimmen. Und Europa beugt sich knirschend. So wird der Olympier Goethe ein Spinozist, der gewaltige Nietzsche ein glühender Verehrer des alten Testaments, der tiefe Ibsen ein heißer Freund der Juden.

Und so verehrt man Jesus Christus.

Und denkt euch nun, denkt euch, daß dieser Riese mit einem Male erwachte, sich reckte, streckte, sich seiner Kraft bewußt würde, mit überlegener Gelassenheit und eisigem Gefühl nach dem verlangte, was ihm noch fehlte – der bewußten Herrschaft in Freiheit! Ihn selbst aber gelenkt durch einen Geist, einen Mann. Müßte der nicht einem Gotte gleichen, von dem sich kein Bild machen läßt, weder in Stein noch in Holz, der glühend liebt und entsetzlich rächt bis ins siebente Geschlecht? – Mädels, Mädels, ein berauschendes Ziel, wert, sich dafür zu begeistern und daran zu glauben.« –

Gerade in die Zeit der flammenden Begeisterung Hansens für die historische Größe und Tragik des Schicksals der Juden, fiel der Kongreß der Zionisten in B. Es war jener Kongreß, der auf das furchtbare Morden hin folgte, das Rußland seinen Juden angeschehen ließ, als es sie zu Hunderten erschlug und die Toten in die Straßen warf gleich Bündeln zerstampftes Stroh.

Hans äußerte den Wunsch, an diesem Kongreß teilzunehmen und lud mich ein, mitzukommen. Die Abwechslung einer kleinen Reise mit ihm zusammen war mir willkommen, auch war ich gespannt auf die außergewöhnlichen Dinge, die uns bevorstanden.

*

Der Kongreßsaal war schon dicht voll von Menschen, als wir zwei in B. ankamen. Mit Mühe gelang es uns, oben auf der Galerie noch einen schmalen Sitzplatz für mich zu finden. Hans mußte stehn und lehnte dicht neben mir an der Wand.

Als ich Theodor Herzl, den Führer der zionistischen Bewegung, sah, mit dem prächtigen, männlichen Antlitz, das vom langen Bart umwallt war, da kam er mir vor wie jener König, von dem Hans gesprochen. Er schien der König der glühenden Liebe allein, ein Tröster seinem Volke. Es deuchte mich ein Leichtes und Vernünftiges für ein Volk, aus den Händen dieses Mannes die Losung seines Geschicks entgegenzunehmen.

England hatte den Juden damals als zeitweisen vorläufigen Aufenthalt, an Stelle der ersehnten Erde ihrer Väter, Palästina, ein wirtliches und bebaubares Land in Afrika angeboten, wie es einst Gosen gewesen war. Und Herzl hatte die Aufgabe, seinem soeben wieder heimgesuchten Volke den Gedanken an dies »Nachtasyl«, wie er es nannte, nahezulegen. Wenn er sich erhob, den kleinen silbernen Hammer niedersausen ließ, um Ruhe zu heischen, wenn er sprach oder Schweigen gebot, dann schien es, als ob er alle Macht und Liebe in sich vereine und das unglückliche Volk zu seinen Füßen, wie einst Moses getan, auf seinem inbrünstigstarken Herzen trage.

Aber als er es endlich gewagt hatte in der Glorie und Vernunft seiner führenden Stellung, den Mühseligsten unter ihnen, den Juden des Ostens, das sogenannte Nachtasyl vorzuschlagen, da fühlte ein jeder von uns Zuhörern voraus, daß der Augenblick in der Wende eines großen Geschicks gekommen sein mußte.

Unten im Saal erhob sich alsbald ein Jammern und Wehklagen, wie es einst wohl an den Mauern Jerusalems geweint worden war. Klagend liefen sie aus dem Saale hinaus, die Kinder Israels, die sich festklammerten an den spröden, kindlichen Besitz eines einzigen Olivenbaums im Land ihrer Väter und sich durch diesen geringen kostbaren Reichtum um so tiefer in ihren heiligen Rechten und Ansprüchen gekränkt fühlten. Sie hielten sich die Ohren zu und wollten nichts hören von einer fremden, rettenden Erde, die nicht einstmals der Fuß ihrer Väter berührt.

Hans stand blaß an die Wand gelehnt, mir liefen die Tränen der Ergriffenheit über die Wangen.

Herzl klagte nun sein Volk der Halsstarrigkeit an und der Verblendung, wie es auch einst Moses getan. Er sprach auf sie ein, legte klar und bewies. Aber seine Worte fanden keinen Glauben. Und als die Klage kein Ende nahm, da suchte er sie zu beschwichtigen und redete zu ihnen wie zu einem fiebernden Kinde. Es war die vierte Stunde nach Mitternacht, als es ihm gelang, die Unglücklichen wieder in den Saal und zu sich und seiner Person zurückzuführen.

»Gehn wir fort!« flüsterte mir Hans ganz erschüttert zu, »die Nacht ist bald vorbei, du bist müde, und ich möchte meiner Mutter noch über das Geschaute schreiben, bevor der Tag anbricht.«

*

Müde, aber innerlich bereichert durch die ungewöhnlichen Eindrücke, bin ich wieder ins Mädchenzimmer zurückgekehrt. Auf dem Tische fand ich vier Briefe vor. Sie waren alle vom selben Format und alle ohne Marken. Auf der Rückseite trugen sie das feingestochene Wappen meiner einstigen Schülerin, Helene von M.

Die vier Briefe bildeten zusammen einen einzigen Bericht von vierzig Seiten in der großen, verschwenderischen Handschrift Helenens; jeder Brief enthielt die unmittelbare Fortsetzung des andern. Helene erzählte mir von ihrem Leben am Lido, von Venedig, seiner Kunst und glühenden Pracht. Sie sprach auch von ihrer Liebe. »Mario küßt mich noch zu Tode« – so lauteten die letzten Worte des vierten Briefes.

Ich faltete die blauen Bogen zusammen und kehrte auf einen Augenblick zu ihr zurück, der schönen, seltsamen Frau mit den vagen Augen. Aber aus solch weiter, weiter Ferne blickte heute schon ihr Bild zu mir herüber, daß weder meine Gedanken, noch mein Gemüt sie innerlich erreichen konnten. Hatte sie nicht einmal gesagt, ich würde sie auch enttäuschen und vor der Zeit von ihr gehn?

*

Ich habe in dieser ersten Zeit unsrer Liebe in einer für mich bedeutungsvollen und erfrischenden Sorglosigkeit dahingelebt. Die schöne Gegenwart riß alles in mir fort, was dunkel und traurig gewesen. Ich kam auch bei meiner Arbeit leicht und rasch vorwärts und fühlte förmlich mein geistiges Vorschreiten. Ja, ich war oft so ausgefüllt, daß ich in den Stunden des völligen Alleinseins die Trauer meiner frühern Einsamkeiten nicht mehr begriff und die tiefe, ruhige Fülle meines jetzigen Einsamseins im hohen Mädchenzimmer als etwas Selbstverständliches hinnahm. Nur ein einziges Mal fiel ein Wort Hansens beunruhigend in meine klare Stimmung; es war während eines gemeinsamen Spaziergangs gewesen. Er war mitten auf einer Brücke, die wir eben durchschritten und von welcher aus wir lange in die Tiefe geblickt hatten, plötzlich stehn geblieben und meinte: »Anna, im Grunde kennst du mich noch lange nicht. Nur meine Mutter kennt mich völlig; sie allein auch versteht es, die bösen Geister in mir zu bannen.«

»Böse Geister?« hatte ich mit Befremden gefragt und forschend in meines Freundes Antlitz geschaut. Und da fand ich auch dies Antlitz seltsam verändert; es trug einen starren, unbekannten Ausdruck, der der Verzweiflung glich; die Lippen lagen festverschlossen wie ein Riegel davor.

»Böse Geister?« wiederholte ich nochmals.

»Ja, Anna, und sie trieben mich schon oft in Kleinmut und Verzagtheit hinein. Du weißt ja auch nicht, daß ich meiner Mutter Sorgenkind bin?«

Als Hans jedoch bemerkte, wie ich mir das absonderliche Geständnis nicht zurechtzulegen vermochte und wie ich nachdenklich und stumm neben ihm einherschritt, meinte er beschwichtigend: »Denk nicht mehr daran, an das, was ich eben redete. Es wird schon alles vorbeigehn.«

Welche Kämpfe durchfocht er, von denen meine Erfahrung und mein Gefühl nichts ahnten?

*

Indessen neigte sich der Sommer seinem Ende zu. Bereits hatte auch Vitia fürs Wintersemester in einem vierzeiligen Brief – denn er war ein ebenso phantasievoller Korrespondent, wie er ein Redner war – seine Rückkehr angemeldet. Er schrieb, sein Honigjahr sei sehr gut ausgefallen, und schon zimmere er das Holzgestell, in welchem er die uns versprochenen Honigtöpfe herbringen werde.

Wer sich herzlich auf Vitia und auch auf seine Honigtöpfe freute, war Regine. Meine jüngste Schwester war überhaupt, seit sie ihre Stellung vertauscht, beinah immer von einer stillen, heimlichen Freude erfüllt. Da ihre Kraft nicht mehr mißbraucht wurde und ihre Arbeit Selbständigkeit und Verantwortung forderte und gewährte, fühlte sie sich körperlich frischer, freier, und es war manchmal sogar ergötzlich, mit welchem Heißhunger sie sich jetzt geistige Genüsse zu verschaffen suchte. Sie besuchte Vorträge, las, holte sich bei Hans eifrig allerhand Aufklärung zu besserm Verständnis und sprach ab und zu triumphierend von ihrem Sparheft, das einst die geplante große Reise verwirklichen sollte. Nur ging diese Reise nicht mehr an den See Genezareth, sondern nach Rußland, das Vitia uns nahegebracht und liebgemacht hatte.

Eines Abends saßen Regine und ich in der Dämmerung am Fenster. Sie hatte eben »Juliens Tagebuch« von Peter Nansen zu Ende gelesen. Nun klappte sie das Buch zu und streckte beide Arme in die Luft, sodaß ihre Hände ganz blutlos und bleich wurden. Dann meinte sie sinnend: »Da, durch Hände und Arme fließt das Blut, mein eignes, warmes Blut –« Und nach einer Weile: »Es muß doch etwas unerhört Schönes sein, wenn man liebt und geliebt wird. Sag einmal, Anna, liebst du Hans eigentlich gerade so, wie du hättest lieben mögen?«

»Ja, Reginchen, ich wüßte mir keine bessere Liebe«, entgegnete ich ohne Besinnen.

»So, nun will ich dir was gestehn, Anna: Vitia hat mir kurz vor seiner Abreise – damals am Abend, als wir so spät heimkehrten – eine regelrechte Liebeserklärung mit einem darauffolgenden, verkappten Heiratsantrag gemacht.«

»Oho! Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Ich erzählte es dir nicht früher, Schwester, weil es mich nicht arg beschäftigt hat. Viel mehr interessierten mich damals am Balle meine beiden Kavaliere, Bruno Ott und der kleine Mediziner. Aber sie haben sich als zwei Treulose erwiesen, vergaßen mich, obwohl Ott mir sogar aus seinen Manuskripten vorlesen wollte, wie du weißt. Vitia aber ...«

»Ich habe unbedingtes Zutrauen zu Vitia«, kam ich ihr zuvor.

»Ich auch, Anna«, versetzte Regine eifrig, »aber das ist doch noch kein Grund, warum man einen Mann liebt.«

»Natürlich nicht. Nur die Treue, wollte ich sagen, wie Vitia sie besitzt, ist schon etwas Gutes, Reginchen, ...«

»Gewiß. Aber sie allein soll kein Grund sein, warum man ein Geständnis erhört, denke ich. Ich habe Vitias Treue immer im Verdacht, einfach Schwerfälligkeit zu sein. Und so rührend und zuverlässig sie auch ist, gerade diese Art Treue würde mir, so wie ich heute bin, überall im Wege stehn. Du weißt ja, wie wenig er spricht. Er handelt und redet am meisten und besten mit seinen guten, schielenden Augen. Wenn er da abends vor meinem Bureau auftauchte, um mich abzuholen, so empfand ich seine brave Figur als etwas ungemein Wohltuendes, Beruhigendes, das man gerne vor sich stehn sieht. Aber wenn er dann in der Straße längere Zeit neben mir einherging und schwieg, alles an mir kritiklos guthieß, mich überhaupt hinnimmt wie eine nicht zu tadelnde Gottesgabe, und ich alles auf ihn hinüberwerfen kann, Gutes und Böses, ohne daß er einen Einwand für nötig hält, dann fühle ich, daß er im Grunde nur einen Zehntel dessen verlangt, was ich zu geben imstande wäre. – Sieh, dann empfinde ich mich nach kurzer Zeit schon als umgestülpten Korb, den man aus einem hohen Fenster auf die Straße hinuntergeworfen hat. Glaubst du denn, Anna, daß aus einer solchen Grundstimmung einem Manne gegenüber je einmal Liebe entstehn könnte? Glaubst du das ernstlich?«

»Nein, sicher nicht«, entgegnete ich überzeugt und blickte lächelnd Regine ins liebe Gesichtchen.

»Eben drum. Aber nun sage mir, Anna, wann liebt man ernstlich? Ich habe einmal Vitia einen Kuß auf die Wange gegeben, bloß einen, nur um zu wissen, wie das ist. Ich wollte einfach einmal einen Mann küssen. Ich hätte diesen Kuß aber ebensogut dir verabreichen können oder Suse, so wenig hat er mir Eindruck gemacht. Woran erkennt man denn, daß man einen Mann wirklich und wahrhaftig liebt? Braust es da nicht in einem? Denn wisse, ich will doch auch einmal absolut lieben und heiraten.«

»Da hast du Recht, Reginchen«, lachte ich. »So tapfere, liebe, gesunddenkende Mädchen wie du, die müssen auch heiraten und können sicher glücklich machen.«

»Und wenn ein Mann eine Frau ernstlich liebt, dann spricht er ihr von der Ehe, nicht wahr, Anna?«

»Ja gewiß, denke ich mir«, entgegnete ich. »Denn wenn der Mann uns Frauen nur von seiner Liebe, nicht aber von einem dauerhaften Zusammensein mit ihm spricht, wird das für uns immer einen schmerzlichen Verzicht bedeuten. Es will eine jede von uns auch vor aller Welt dem Mann ihrer Liebe angehören, auch die geringste. Und ich denke mir, die andern Wege, die durch die Liebe führen, werden mit der Zeit immer dornenvoll sein, und das verwundete Selbstgefühl der Frau wird den Grundton des Verhältnisses bilden. Was wird wohl heute meine einstige Schülerin, Helene von M., durchkostet haben? Ja, ja, Reginchen, ich denke, da hast du Recht; der Mann muß uns von der Ehe reden, wenn er uns liebt; es ist das beste, das er uns zu bieten vermag ...«

»Hat Hans dir schon davon gesprochen, Anna?« fragte meine Schwester mit großen, neugierigen Augen.

»Nein,« entgegnete ich mit froher Offenheit, »Hans und ich stehn erst im Anfang unsrer Liebe. In mir ist nichts verwundet, nichts gekränkt. Alles ist in mir hell und zuversichtlich. Hansens Liebe ist mir so kostbar und so notwendig, daß ich – scheint mir – sie überallhin suchen ginge, falls ich sie verlieren sollte.«

Regine schaute mich an, und ihre Lippen öffneten sich zu neuen Fragen. Da kam jemand durch den Flur. Es war Suse. Sie trat ein. Als sie den großen Hut löste und in den Bereich der grünen Lampe trat, die wir indessen angezündet hatten, da bemerkten wir beide, Regine und ich, daß Suse sehr blaß aussah und daß ihr Gesicht einen traurigen und verstörten Ausdruck trug.

*

Ja, Suse war in der letzten Zeit eigentümlich still geworden. Ihr schmales Gesicht mit den leichtverwischbaren Zügen hatte etwas nach Innengewandtes angenommen, und die Augen blickten ohne Helle. Sie kam und ging und war doch nicht bei uns. Und am Abend, wenn Regine und ich uns zur Ruhe gelegt hatten, saß sie oft noch lange allein drüben im Mädchenzimmer, und wir wußten nicht, was sie dort zurückhielt. Zu Hans Weeger verhielt sie sich zu Zeiten fremd, seltsam störrisch und abweisend, dann wiederum brachte sie ihm jene devote, nachgiebige Unterwürfigkeit entgegen, die ihr Männern gegenüber eigen war und die dem herrischen oder schwachen Manne immer schmeichelt. Hans war an solchen Tagen der weichen und beinah mägdischen Unterordnung Suses unter seine kaum geäußerten, geringsten Wünsche aufmerksamer zu ihr, schien ihr mehr Entgegenkommen und Interesse zu schenken als sonst und erlaubte sich ihr gegenüber allerhand kleine Neckereien und Vertrautheiten.

»Könntest du nicht einmal mit Suse einen Abendspaziergang machen, Hans?« schlug ich bald darauf vor. »Regine und ich finden, sie sieht angegriffen aus, und dir würde die frische Luft auch nicht schaden.«

»Und du, Anna, kommst du nicht mit?« fragte er sofort.

»Nein. Ich bin ja tagsüber frei und kann mich bewegen, soviel ich will. Uebrigens eilt es mit der Abschrift deiner Dissertation. Bald ist der letzte Termin für dich, um sie einreichen zu können.«

Hans schaute mich mit einem eigentümlichen Blicke lange an.

»Bist du denn gar nicht eifersüchtig, Anna?« fragte er hierauf.

Ich lachte. »Eifersüchtig? Das war ich im Anfang unsrer Bekanntschaft ab und zu ein bißchen, wie du weißt. Aber heute nicht mehr. Oder erachtest du es als notwendig, daß ich auf Suse eifersüchtig sei? Ich liebe dich ja.«

Er legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mir in die Augen.

»Eben darum«, meinte er ernst.

»Gehört denn die Eifersucht unbedingt zur Liebe?« fragte ich.

Er antwortete mir nicht sofort, strich nur mit der Hand ein paarmal über mein Haar. »Eifersucht ist vielleicht eine Schutzvorrichtung gegen allzu große Sorglosigkeit«, entgegnete er langsam und lächelte schwach, »sie entspringt wohl der Furcht zu verlieren und ist darum berechtigt und natürlich.«

»Mag sein. Aber sieh, Hans, jedes starke Gefühl ist doch sein eigner Schutz. Es selbst schafft sich Anerkennung und das nötige Vertrauen, in dem man wie in einem Schoße ruht.«

Hans biß sich auf die Lippen.

»So empfindet ihr Frauen«, meinte er dann.

Ich lachte wieder. »Nun, und ihr Männer etwa nicht? Mir ist heute alles so sieghaft. Und es scheint mir, eine als wahr erkannte, echte Liebe sollte man doch stets aus jeder Fährlichkeit hinüber retten können ans andre Ufer, meinst du nicht auch?«

Hans ließ die Arme von meinen Schultern niedersinken und ergriff meine beiden Hände.

»Glaubst du, daß du es könntest, Anna?« fragte er.

»Natürlich. Du etwa nicht?«

»Du hast Recht«, sagte er langsam. »Nur solch fester Glaube versetzt Berge.«

Er wandte sich zum Gehn, kehrte aber rasch wieder um. »Bei dir ist alles so einfach«, sagte er mit gesenktem Haupte.

»Nicht so einfach wie du glaubst«, entgegnete ich ihm. »Nur mein Gefühl für dich ist einfach, offen und klar. Glaub aber nicht, du Törichter, daß ich dich zu jeder Zeit in gleichem Maße liebe, nein, nein, denn mein eignes Blut und mein eignes Leben klopfen auch mit. Aber was sich immer in mir unverrückbar gleich bleibt, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht: das ist mein Glaube an dich, Hans.«

Da nahm er meinen Kopf zwischen seine beiden Hände und küßte mich mit stürmischer und dankbarer Liebkosung.

*

Eine Woche war vergangen. Es war des Abends. Von den Türmen schlugen die Glocken eben die zehnte Stunde. Wir waren alle drei eben im Begriff, uns zur Ruhe zu begeben, und schon flocht Regine im blauen Nachtjäckchen, vor dem Spiegel des Mädchenzimmers ihr blondes Haar in zwei Zöpfchen, als es an die Türe klopfte. Wer meldete sich so spät?

Im Flur draußen trällerte eine hübsche, weiche Tenorstimme eine Melodie aus der »Fledermaus«: »Täubchen, das entflattert ist, komm, und laß dich fangen ...«

Es war Hans. Suse eilte zur Türe, schob den Riegel zurück, und herein trat der Sänger, den Hut hinten am Kopfe, ein Paket unter dem Arme. Da er mir durch Suse die Botschaft hatte zukommen lassen, er würde am selbigen Tage nicht mehr zu uns kommen, weil er bis in die Nacht zu arbeiten wünschte, war ich verwundert, ihn nun doch und zu so später Stunde bei uns zu sehn.

»Bist du erstaunt, Anna?« fragte er sofort, als er ins Zimmer getreten war. »Bitte, laß das Wundern! Man macht eben Ausnahmen«, und er warf seinen Hut hastig aufs Sofa. »Nun setzt euch aber alle drei her zu mir, ich hab' euch was mitgebracht.«

Er löste die Papierhülle des Pakets, das er unter dem Arme getragen und stellte zwei Flaschen auf den Tisch.

»Wie fein! Champagner!« rief da Suse sofort mit ausbrechender Munterkeit, und sie lief nach dem Schranke, um die Gläser zu holen.

Ich betrachtete indessen Hans. Er sah erhitzt aus, und seine dunkeln Augen hatten nicht den Ausdruck, der ihnen sonst eigen war, wenn sie auf stiller Arbeit zufrieden geruht.

»Hans, wo kommst du denn her?« fragte ich ihn.

»Ich bin zuerst in Regen und Nebel herumgelaufen zwei volle Stunden«, entgegnete er mir zerstreut. »Ich mußte an die Luft und unter die Menschen. Da kam ich bis vor die Wirtschaft da oben an der Ecke und trat ein. Ich trank zuerst ein paar Gläschen Kognak, um mich zu erwärmen, und dann kam mir die Lust nach Champagner. Da bin ich nun. Euer Haus fand ich zufällig noch offen. Ist es dir nicht angenehm, Anna, wenn du mich übermütig siehst?«

Er hatte sich aufs breite Sofa niedergelassen und Regine im blauen Nachtjäckchen neben sich gezogen. Nun setzte sich auch Suse an seine linke Seite, und behaglich eingenistet zwischen meinen beiden Schwestern, saß er jetzt da. Er bastelte an den Flaschen herum, der Propfen sprang in die Höhe, und hierauf goß er den Wein in die Gläser, so ungeduldig und heftig, daß der Schaum in breiten Strömen auf den Tisch floß.

»Stoßen wir an!« rief er erregt und hob sein Glas. »Trinken wir auf unsre Freundschaft, auf die Liebe, jeder Art Gelingen und eine gute Zukunft!«

Er legte den Kopf zurück an die Sofalehne und trank rasch ein Glas aus. Einen Augenblick schloß er die Augen. Dann füllte er es von neuem, hob es nochmals empor, und indem er über den Rand des Glases zu mir hinüberblickte, rief er: »Anna, ich trinke dir zu!« und leerte es bis zur Neige.

Ich saß im tiefen Sessel auf der andern Seite des Tisches, dem Sofa gegenüber. Ich sah, wie Hans den Arm um Regine legte, wie er ihr die blonden Zöpfchen hinters Ohr strich und hörte, wie er ihr halblaut immer dieselben Worte zusang, mit denen er eingetreten war: »Täubchen, das entflattert ist, komm, und laß dich fangen« – dann lachte Regine ihr frisches Lachen, stimmte ins Lied ein, und Hans lachte mit ihr laut und übermütig.

Was bedeutete das alles? Ich mußte Hans immer wieder im Verstohlenen betrachten. Und es schien mir, als ob sein Blick irgendwohin gerichtet sei, glühend, nervös, als ob er nur für sich selbst rede, für sich selbst lache, bloß notgedrungen hier vor uns sitze und dabei nach seinem eignen Herzen hinlausche, über das er einen dünnen, fadenscheinigen Vorhang geschoben, und als ob er hinter diesem fadenscheinigen Dinge sich und uns mit schlechter Mimik eine sinnlose und flaue Komödie vorspiele, in der er selbst Schauspieler und auch Zuschauer war ...

»Anna!«

»Nun Hans?«

»Sei doch nicht so schweigsam! Bist du am Ende doch eifersüchtig? Mir ist so behaglich, siehst du, und wohl zumute«, lachte er zu mir herüber.

Suse war ganz lebendig und eifrig geworden; sie hob Hans ab und zu das Glas an die Lippen, fuhr mit den schmalen Fingern durch sein dunkles Haar und streichelte seine kleinen, braunen Hände. Und er legte seinen Arm um ihre Hüften.

»Anna, was ist dir? So sing doch mit: »Täubchen, das entflattert ist ...«!

Zurückgelehnt in meinen tiefen Sessel, saß ich immer noch still da und fühlte qualvoll und verworren, wie etwas von mir hinwegglitt und sich von mir wandte. Der dunkle Geist meiner einstigen Einsamkeit deckte mich wieder zu. Wie in einer finstern Kammer war ich eingesperrt, in die kein Lichtstrahl fiel. Und mit aller Heftigkeit sehnte ich mich plötzlich nach einer Liebkosung meines Freundes dort drüben und hätte sie doch jetzt nicht von ihm empfangen mögen ...

Es ging gegen Mitternacht, als Hans sich vom Sofa erhob. Suse nahm rasch die kleine, grüne Lampe vom Tisch und schickte sich an, unsern Gast die Stiege hinunterzugeleiten. Aber ich warf mein Wolltuch um die Schultern und kam ihr zuvor: »Ich werde Hans noch ein Stück Weges begleiten«, erklärte ich rasch.

»So spät?« rief Suse verdrossen.

Ich ging mit Hans die Treppe hinunter und schloß mit dem schweren Schlüssel die Haustüre auf. Wir traten auf die Straße. Ein feiner, rieselnder Regen fiel vom Himmel und bildete eine dünne, flimmernde Wand um die düster brennenden Laternen. Hans drückte ungestüm meinen Arm: »Anna, Liebste, gib mir bald Gelegenheit, mit dir allein zu sein, hörst du? Ich muß dich sprechen und muß dich nach Herzenslust liebkosen dürfen.«

»Hans, was war das heute mit dir?« entgegnete ich aufatmend, »was focht dich an, du bist nicht du selbst gewesen!«

Er blieb stehn. Beim Laternenschein gewahrte ich, wie seine Brauen sich heftig zusammenzogen.

»Wie war ich denn?« fragte er nervös.

»Fremd warst du, unehrlich und gekünstelt.«

Er biß sich hart auf die Lippen, wie das seine Gewohnheit war, und antwortete nicht. Arm in Arm schritten wir dahin, fest aneinandergedrückt. Schweigend kamen wir hinauf bis zum Kirchplatz. Er lag nachtleer da, öde, kein Laut ließ sich vernehmen, und kein Lichtschimmer fiel darüber hin. Im Schatten der uralten Kastanien ließen wir uns auf eine Bank nieder. Hans stocherte, zuerst mit dem Stock im Kiese, dann zündete er eine Zigarette an.

»Also, was ist dir, Hans, sprich!« bat ich.

Ein leiser, zitternder Seufzer drang aus seiner Brust. Dann wandte er sich mir zu und sagte leise, zögernd: »Siehst du denn nichts?«

»Ich sehe, daß du unruhig bist, umgewandelt, fremd«, sagte ich. »Aber ich weiß mir keinen andern Grund für dein verändertes Wesen, als die Ueberanstrengungen der letzten Zeit, dein Nachtarbeiten und die begreifliche Spannung auf dein Examen hin. Mir wird es wohl noch am richtigen Blicke für dich fehlen, Lieber. Du wirst schon selbst reden müssen, wenn ich alles in dir richtig deuten soll. Ich kenne dich ja auch nur seit einer verhältnismäßig so kurzen Zeit.«

»Ja, bloß ein paar Monate«, meinte er halblaut.

Wir schwiegen wieder beide. Auf der andern Seite des Platzes erhellte sich plötzlich ein Fenster. Eine Hand schob einen dichten Vorhang vor. Zerstreut blickten wir beide zu dem Fenster empor, bis das Licht jählings erlosch. Jetzt saßen wir wieder eingehüllt in tiefes, mitternächtliches Dunkel.

»Ach,« begann Hans endlich, »es ist so vieles, das mir keine Ruhe läßt, gerade jetzt, wo ich dieser Ruhe am meisten bedürfte. Siehst du, ich träume meine Träume wie jeder junge Mensch. Ich bin nach außen hin, glaube ich, kaum ehrgeizig, desto mehr aber nach innen. In mir lebt ein hohes, ja das höchste Ideal, und in meinen besten Stunden – versteh mich wohl – wähne ich, einst etwas leisten und erreichen zu können, mir einen Namen zu schaffen, der vielleicht etwas taugen wird. Als ich in Weimar war, kurz bevor ich hierher kam, an der heiligen Stätte, wo sich erhebende und wehmütige Erinnerungen häufen, was ist da alles in mir aufgequollen, und wie hat es mich durchschüttelt! Wie ich alle diese kleinen und großen Stätten durchmaß, vom ärmlichen Sterbelager Schillers bis zur guten und behaglichen Schlafstätte Goethes – da habe ich gefühlt, daß ich das Höchste erreichen möchte. Aber es wurde mir auch klar, daß das »Erkenne dich selbst« als ein heiliges Gebot befolgt werden muß. Es ist die unerläßliche Voraussetzung für Größe und Bestimmung eines Lebens. Das weiß ich alles wohl. Aber siehst du, wie ein Keil bohrt es sich mir in Kopf und Brust, das, von dem ich nicht sprechen kann, gerade zu dir nicht sprechen kann, Anna. Ich sagte dir schon, daß ich meiner Mutter Sorgenkind bin. Du schienst erstaunt. Aber sie, meine Mutter, kennt auch die dunkelsten Stellen in meinem Gemüt, und nur zu ihr kann ich von allem reden.«

Durch die Kastanien fuhr ein harter Windstoß und warf dürre Blätter und einen kurzen Regenschauer aus uns hernieder. Hans hüllte mich fester in mein Wolltuch, dann fuhr er fort: »Etwas in mir hält nicht Schritt mit dem Ideal, das ich erreichen möchte, erreichen könnte. Ich bin ein Schwächling, ein elender Feigling, und du weißt nicht, wie klein und gering ich zuzeiten bin. Ich könnte ebensogut ein Trinker sein, wie ich ein geistiger Arbeiter bin, ebensosehr ein Nichtstuer und Müßiggänger, wie einer, der sein Leben nach Richtlinien lebt. In mir ist nicht ein Zehntel der Kraft, die es braucht, um sich selbst zu gehorchen und sein oberster Richter zu sein, glaub es mir. Ich weiß es auch heute wieder ganz genau, daß das Leben, das ich einst führen werde, mag es sich nach außen gestalten wie es will, niemals nach innen meinen Träumen entsprechen, sondern ihnen zuwiderlaufen wird. Ich werde es an mir selbst erleben, daß ich alles Große, alles Gute, alles Hohe und vor allem alles heiß Ersehnte in mich hinein versiegeln lasse, als ob es nie dagewesen. Und alles, was ich bis heute gedacht und an Wissen in mich hineingelegt habe in bald eifrigem, bald lässigerm Studium, das wird alles zusammenbrechen vor der unseligen Kleinheit, die in mir wohnt. Meine Fähigkeiten täuschen mir etwas vor, das die andre Seite meines Wesens wieder in Stücke reißt, die Hälfte, die alles nicht gutheißt, was mein Geist sich errungen. Ich drücke mich vor der letzten Selbsterkenntnis herum wie ...«

»Hans,« unterbrach ich seine leidenschaftliche Selbstanklage, »sprich so nicht mehr weiter. Du siehst zu schwarz. Klag dich nicht in dieser Weise vor mir an, bevor ich die letzte Ursache dazu kenne. Hast du etwas getan in deiner Vergangenheit oder jetzt, das du nicht verantworten kannst, und was ist es? Vertrau dich mir an!«

Er antwortete nicht auf mein unruhevolles Drängen, sondern fuhr, wie zu sich selber redend, fort: »Es muß Menschen geben, bei denen die Höhe des Geistes, die Tiefe des Gefühls und die Gewalt der Leidenschaft gleichmäßig über Leib und Seele verteilt sind. Ich aber bin ein Widersinn. Ich bin ein Unding, das in seiner eignen Stickluft zugrunde gehn wird, und die Träume und Sorgen meiner Mutter und dein gutes Denken über mich werde ich eines Tages zuschanden machen, Anna!«

Seine Stimme zitterte. Als ob er mehr zu sagen fürchte, erhob er sich von der Bank und fügte ruhiger hinzu: »Komm, es ist spät. Du mußt nach Hause. Ich werde noch arbeiten, vielleicht bis zum Morgen. Und was nützt das Reden? Ich rede von etwas, und du denkst dabei etwas andres, weil du doch nicht wissen kannst, was ich meine. Die wirklichen Dinge bleiben doch verborgen.«

Er nahm meine Hand, legte sie fest in seinen Arm, und immer wieder fuhr er mit seiner Rechten über meine kalten Finger. So schritten wir die stille Gasse hinunter, und der feine Regen netzte meine Stirn. –

Auf meine roten Blüten war ein schwarzer Schatten gefallen.

*

Ich sah Hans von diesem Tag an immer gedrückter und unruhiger werden. Er vermied es, von sich selbst zu reden und wich meinen aufmerksamen Augen und meiner verdoppelten Feinhörigkeit aus. Seltener kam er ins Mädchenzimmer und holte mich nicht mehr zu Spaziergängen ab. Für sein Fernbleiben hatte er ja auch die berechtigte Erklärung seines bevorstehenden Examens. Wir sprachen nicht mehr von uns, wie früher, wenn wir uns trafen, wohl aber eifrig über Stilfragen seiner Dissertation, deren Abschrift ich ihm besorgte und zu Ende führte. Hans reichte sie beinah in letzter Stunde ein, und ein Glück war es für ihn, daß sie vorbehaltlos angenommen wurde, sodaß seiner Prüfung nichts mehr im Wege stand. Noch blieben zwei Wochen bis zu dieser Prüfung übrig. Da er die feste Absicht hegte, nach bestandenem Examen sofort zu verreisen, zuerst zu seiner kranken Mutter und hierauf nach Wien, wo die ihm angetragene Stellung seiner harrte, so blieb uns zu ruhigem Beisammensein nur noch eine kurze Spanne Zeit übrig. Gemeinsam hatten wir alle vier bereits die Abmachung getroffen, das glückliche Ereignis des Examens im Mädchenzimmer mit einem reichen Abendessen zu feiern und hofften, daß auch Vitia vielleicht bis dahin mit seinen Honigtöpfen zurückgekehrt sein werde.

Da erhielt ich eine überraschende Botschaft. Meine einstige Schülerin Monica, die ich im Frühjahr so unvermutet verlassen, war mit ihrer Mutter in Z. eingetroffen. Das Kind war beim Reiten gestürzt und schien eine schwere Verletzung des Knies davongetragen zu haben. Die sie behandelnden Aerzte hatten sich dahin geäußert, daß die Verletzte nach der Schweiz gebracht und von einem unsrer ersten Chirurgen operiert werden möchte. In der innigen und vertrauensvollen Art, die mir Monica einst so liebgemacht, schrieb sie mir jetzt mit zitternden Händen und bat mich, herzukommen und mich an ihr Bett zu setzen, wenn sie nach der Operation die Augen aufschlage. Ihre Mutter hatte dem Schreiben die herzlichste Einladung beigefügt.

Was sollte ich tun? Ich besprach mich mit meinen Schwestern, mit Hans. Alle drei rieten mir, nach Z. zu gehn und lächelten über meine Besorgnis, daß Hans mich notwendig gerade in dieser für ihn wichtigen und bewegten Zeit brauche.

»Du telegraphierst mir sofort, wie du durchgekommen bist, nicht wahr, Hans?« bat ich ihn und fühlte in diesem Augenblick deutlich, daß ich ihn zögernd und ungern verließ.

»Natürlich«, erwiderte er mit dem ihm neuen, merkwürdigen Ausdruck der letzten Zeit, »bleib aber nicht zu lange fort, Anna, und teile mir die Stunde deiner Rückkunft mit, damit ich dich abholen kann. Du weißt, ich habe im Sinn, ein paar Tage nach meiner Prüfung zu verreisen, und ich möchte noch mit dir zusammen sein.« –

Erst nach einer Woche kehrte ich zurück. Monicas Befinden und Bitte hatten meine Abreise nicht früher gestattet. Am Frühnachmittag stieg ich in der Bahnhalle aus. Aber Hans war nicht da zu meinem Empfang, wie er es versprochen. –

Mit aller Sehnsucht drängte es mich zu meinem Liebsten. Ich wußte, er habe sein Examen mit außergewöhnlichem Erfolg bestanden, und rasch, rasch wünschte ich ihn zu sehn. Ich eilte die Stadt hinunter, ging schnell Reginchen zu grüßen, die ich unten im Erdgeschoß ihrer neuen Arbeitsstätte fand, wo sie mit vor Eifer rotglühendem Köpfchen gerade mit dem alten Ausläufer über Packpapier verhandelte. Von ihr lief ich zu Suse ins Geschäft, um den Schlüssel zu unsrer Wohnung zu holen.

»Hans ist fein durchgekommen«, teilte mir Suse neben der Türe flüsternd mit, »er hat mich zu einer Wagenfahrt abgeholt, denk dir!«

»Und Regine? Nahmt ihr sie nicht mit?«

»Sie konnte nicht«, erklärte Suse ausweichend. »Ich aber vermochte mich an jenem Nachmittag frei zu machen. Ich habe vorgegeben, der Arzt verlange, daß ich mehr an die Luft komme, und du, Anna, hast ja auch dafür gehalten, spazieren sei mir zuträglich.« –

Ich trat in das Haus, in welchem Hans wohnte und stieg die Treppen empor. Auf den Fußspitzen schritt ich durch den dunkeln Flur, der zu seinen Zimmern führte. Ich klopfte. Niemand gab Antwort. Da drückte ich sachte auf die Klinke und fühlte dabei, daß der Schlüssel im Schloß steckte und die Türe offen stand.

»Hans!« rief ich leise und trat ein. Niemand kam. Ich durchquerte das Zimmer und schob die Portiere beiseite, die den anliegenden Schlafraum verdeckte. »Hans!« rief ich nochmals. Nichts, niemand. In der Luft lag der warme Duft seiner Zigaretten, sein Stock mit dem Silbergriff lehnte in der Ecke unter dem braunen Mantel. Eine Schranktüre stand weit offen, auf dem Tische lagen unordentlich durcheinander geworfen eine Anzahl Bücher der Universitätsbibliothek, und neben der Kommode befand sich ein mit schwarzem Wachstuch bezogener, großer, bestaubter Koffer, auf dessen Grunde bereits einige Bücher eingepackt lagen. Da ergriff mich auf einmal der Gedanke, daß mein Freund ja gehe, wirklich gehe, daß dieser helle Sommer für mich zu Ende, und daß mit ihm ein Teil meines Lebens sich von mir wende, jener Teil, der zu Hans gehörte, Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blute war. Es wurde mir schmerzlich bewußt, daß die Atmosphäre, die mich hier umhüllte, ein Teil meines Daseins überhaupt gewesen sei und daß nun alles wieder verwandelt würde, zaghaft und einsam, ungesättigt und entbehrend, ohne die sichere Gewißheit, die die Liebe und ihre lebenspendende Gegenwart verleiht. Ich sah mich in dem Raum um, durchmaß ihn ein paarmal vom Fenster bis zum Ofen, trank einen Schluck Wasser aus dem Glase, das auf dem Tische stand und legte für einen kurzen Augenblick meine Wange an den braunen Mantel, der in der Ecke hing. Meine ganze Sehnsucht rief nach Hans, nach seiner Umarmung, unsern gemeinsamen Erinnerungen, unserm sich Nahesein. Und es kam mir vor, als ob vor meinen Augen schon alles zur Vergangenheit geworden sei, als ob die Erinnerung körperliche Gestalt annehme, zur Türe gehe und sich nicht mehr nach mir umwende.

Hans aber kam nicht.

Da schrieb ich mit Bleistift ein paar Worte auf einen Zettel und legte ihn auf den Tisch. Enttäuscht, traurig, als ob ich von ihm beleidigt und gekränkt worden sei, lief ich hinunter ins stille Mädchenzimmer.

Kaum hatte ich mich des Hutes und Mantels entledigt, hörte ich, wie der Wind im Schlafzimmer nach der Gasse ein Fenster zuwarf. Ich ging durch den Korridor und war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, als ich auf der Straße einen Mann gewahrte, der aufmerksam unser Haus betrachtete. Ein großer, schwarzer Filzhut beschattete seine Stirne. Wer war es? Eine mir wohlbekannte Gestalt – jedoch in einer ungewohnten Umgebung. Nun kam der Unbekannte näher, blickte zu meinen Fenstern empor und schob den Hut zurück. Da erkannte ich ihn: »Vater!« rief ich laut, »Vater, bist du's wirklich?« Ein leiser Ruf freudigen Erkennens tönte mir von unten her entgegen. Und ich lief rasch die Treppe hinunter. Da fand ich meinen Vater bereits unten im Hausflur. Er kauerte am Boden und wischte mit einem großen, roten Taschentuch den Staub von seinen Schuhen. »Ich darf dir meinen Anstaltstaub nicht ins Haus bringen«, lächelte er und putzte sorgfältig weiter. Aber ich zog ihn empor und führte ihn die Treppe hinauf in unser Zimmer. Er nahm den Hut ab, blieb verwundert stehn, als er die Größe des Raumes überblickte, in dem er das erste Mal stand. »Da wohnt ihr!« meinte er verwundert, offensichtlich angenehm berührt und streichelte mir zärtlich die Wange. »Da habt ihr's wenigstens schön und hell.«

»Aber wie kommst du hierher, in die Stadt, Vater?« fragte ich voll Freude. »Das ist ja seit Jahren das erste Mal!«

»Ja«, nickte er, »ich hatte so starke Sehnsucht nach euch, meinen Kindern, da habe ich es einfach durchgesetzt. Der Oberarzt wollte zuerst nichts davon wissen und gab mir eine böse Antwort, als ich ihn um den Besuch in der Stadt ersuchte; aber schließlich erlaubte er es doch. Der Wärter wird mir entgegenkommen, wenn es dunkelt.«

Vater ging langsam durch unsre großen Stuben. Er schob die Brille an die Stirn hinauf und betrachtete jeden Gegenstand genau. Er kannte ja alles, was wir besaßen. Ich sah deutlich, wie Wehmut und Freude auf seinem Antlitz wechselten, und wie die Erinnerungen Schatten warfen über sein verdüstertes Gemüt. Da blieb er vor dem großen Bilde seiner Mutter stehn und lächelte, während in seine schwermütigen Augen der Ausdruck der Verschmitztheit trat: »Siehst du, Kind,« hub er an, »ich möchte dir deine Großmutter nicht herabsetzen. Aber sie war eine böse, herzlose Frau, und besser hätte sie zu einem Polizeisoldaten getaugt, denn zur Frau deines Großvaters, meines herzensguten Vaters. Man kann nie genug Güte und Liebestüchtigkeit in eine Familie hineinheiraten, glaub es mir! Ihre Ungüte und Schroffheit für mich haben mir die Jugend verdorben,« setzte er hinzu, »vielleicht auch mein Leben.«

Ich versuchte zu scherzen. »Ja, Vater, sieh, wenn der Rahmen nicht so schön wäre und das Bild selbst nicht eine gute Arbeit, ich hätte es längst gegen die Wand gekehrt. Ich habe selbst das Gefühl, die böse Alte bringe uns Unglück in unsre Stuben.«

Vater hatte sich ans Fenster gesetzt und blickte zuerst lange hinunter auf den Strom und die Bäume, die an seinen Ufern standen. Ich bereitete den Tee, und nun verfolgte er alle meine Bewegungen mit seinen umflorten Augen. Er fragte nach meinem Arbeiten, nach meiner Lebensführung, und ich sprach zu ihm so offen, wie ich nie sonst zu jemand sprach. Er fragte auch nach Hans, von dem ich ihm erzählt hatte; jedoch, als ich ihm von meinem Freunde reden wollte, überkam mich das Gefühl einer unerträglichen Bangigkeit, und ich mußte abbrechen.

Nach dem Tee geleitete ich Vater hinauf zu Suse und Regine. Dort war die Ueberraschung groß. Der Kranke ging gebückt und alt, und erst jetzt gewahrte ich, wie mühselig und beladen sein Schritt geworden war. Er blieb oft stehn, sprach sehr laut, wenn er Häuser oder ganze Straßen sah, die ihm völlig unbekannt waren und beugte sich alle Augenblicke zur Erde, um mit dem roten Taschentuch den störenden Staub von den Schuhen zu wischen. Die Leute blieben stehn und schauten verwundert seinem sonderlichen Gebaren zu. Ich blickte mich indessen heimlich überall um, ob ich Hans nirgends kommen sehe.

Es dunkelte bereits, als ich Vater über die Brücke begleitete, der Anstalt zu. Die Luft war feucht, und ein Nebel, der immer dichter zu werden begann, senkte sich um uns. Ich hatte meine Hand in den Arm des Kranken geschoben, und so schritten wir zusammen ins Dunkel hinein.

Als wir unter die großen Bäume kamen, von denen das herbstliche Laub uns knisternd auf Hut und Schultern fiel, blieb Vater plötzlich wie erschrocken stehn. »Siehst du die Lichter dort draußen?« meinte er bitter. »Dorthin gehe ich, und dorthin gehöre ich, und das ist mein Heim und Haus seit bald zwanzig Jahren, das Irrenhaus.« Ich schwieg und drückte ihm fest den Arm. »Es ist grauenhaft, grauenhaft«, fuhr er fort und schritt hastig dahin. »Du sprachst mir heute wieder von deinem Leben, Anna, und hältst es hoch. Ja, schütze es, hüte es, bewahre es vor allem Bösen, soweit es in deiner Kraft liegt. Denn sieh, der Gott, an den ich glaubte, den ich predigte und von der Kanzel verkündete, den ich rief in meiner Not, siehst du, der hört nicht; der hat keinen Schutz, keine Erlösung, keine Barmherzigkeit, der schickt nicht einmal den Tod dorthin, wo er tausendfach erfleht wird und wo er nicht vom Uebel wäre. Was laufen sie da alle herum, die dort draußen, diese Hunderte von Ausgestoßenen aus seiner Gnade? – Laufen sich selbst über die Füße, im Kreise herum, blöd, geschändet, mehr Tiere als Menschen? Da trat mir letzthin einer entgegen und rief mir zu, er sei der liebe Gott, und ich solle ihm Platz machen, wenn er daherkomme. Ueberall in den Köpfen spukt es, das Gespenst dieses Gottes! Der eine verflucht ihn, der andre höhnt ihn, der dritte hat seinetwegen den Verstand verloren, und der vierte bildet sich ein, Er selbst zu sein. Keiner kann ihn vergessen, keiner kann an ihn glauben, und keiner kann von ihm loskommen. Er ist wie ein Nagel, den man der armen Menschheit in den Kopf gebohrt hat.«

Vater schritt immer hastiger in den Nebel hinein, und immer lauter wurde seine Stimme. »Warum zündet man nicht eines Tages den ganzen Bau da drüben über unsern Köpfen an und flieht in den Wald, um das Gewinsel unsres Todes nicht zu hören? Wäre es nicht ein Trost für alle die, welche hinter uns in der Welt zurückbleiben und denen dies Haus wie ein ständiger Mahnruf in die Ohren gellt? Sieht nicht jeder im Stillen sein eignes Fenster darin erleuchtet? Hat nicht jeder, der da sinnt über sich und das Dasein, nicht bereits diese Furcht in Gedanken miterlebt? Und an den Sonntagen, wenn das Volk am Irrenhaus vorbeispaziert, klettern nicht die Neugierigen auf die Mauern, um mit erschrockenen Mienen unsre Grimassen zu sehn und unser Schreien zu hören? Und uns läßt man zu Tausenden Tag um Tag am faulen Strick unsres Lebens schleppen, und niemand ist da, der ihn uns vom Halse nimmt, nicht einmal im Namen der Menschlichkeit, um derentwillen so viel Worte fallen! Nicht der Staat, nicht die Kirche, nicht die Wissenschaft, nicht das menschliche Herz, nimmt sich unsrer ernstlich an. Man füttert uns, sorgt für uns, quält uns, martert uns weiter, weil man sich vor uns fürchtet, wir, die Gemeinde des Elends, die qualvolle Erinnerung eines Lebens. Wo bleibt er da, der Gott, an den ich glaubte? Wenn ich früher bei meinen Krankenbesuchen als Pfarrer Menschen traf, die mit halbblinden Augen auf ihre Bibel gebückt dasaßen, da habe ich das laut gutgeheißen und habe sie ruhig ihrem Gott und ihrem Glauben überlassen. Aber heute weiß ich, daß wir hilflos sind, wir Menschen, armselig, voll Drangsal, geringer als das geknechtete Tier. Eine Lüge ist es, eine protzende, gräßliche Lüge und ein Selbstbetrug ohne Gewissen, die Geschichte von einem Gott im Himmel, der sich der Menschen hilfreich erbarmt. Und wenn ich dir heute etwas sagen kann, Kind, so suche ihn nicht, diesen Gott, glaube nicht an ihn, deine Gebete werden verhallen, er wird sie alle zuschanden machen!«

Vaters Stimme war immer erregter geworden; die letzten Worte hatte er laut in den finstern Nebel hinein geschrien. Ich hatte seine Hand fest umklammert, »Schrei nicht so, Vater!« bat ich ihn, »ich bin ja da und höre dich.«

»Halt mich nicht,« rief er drohend, »ich will es laut rufen, ich will schreien, es tut mir gut! Ich habe auch laut seinen Namen verkündet von der Kanzel herunter, und er hat meine Stimme hingenommen und mein lautes Gebet und meine gefalteten Hände. Er, er versteht nur zu schweigen, darin besteht sein göttlicher Beruf; dafür sollen die reden, die von ihm gemartert werden. Ja, die sollen reden. Ich gehöre zu ihnen.«

Die Stimme des Kranken überschlug sich, und sein Atem keuchte. Eine Laterne stand am Wege. In ihrem Lichtkreis blieb er kurz stehn. »Die Menschen sind grausam,« fuhr er leiser fort, »noch grausamer als Gott, grausamer als die Tiere. Dort im Irrenhaus, da haben die Aerzte wohl Wissen, Bücherweisheit, Methode. Aber keiner versteht sich auf ein gequältes, menschliches Herz. Wenn wir endlich sterben, abtreten von der schalen Bühne, wir armseligen Schauspieler, da nehmen sie uns das Hirn aus dem Kopf und legen es in Spiritus. Aber was unser Herz litt, das kümmert sie wenig; das Hirn ist der Sitz allen Uebels gewesen, so meinen sie. Ja, so ist's. Als ich letzthin einem der Aerzte von euch, meinen Kindern, sprach und von eurer Mutter, und wie ich sie liebgehabt und sie wert gehalten, weißt du, was er mir entgegenhielt mit grausamer Bosheit? Er meinte, das glaube er mir nur zur Hälfte; er wisse es aus meiner Krankengeschichte, daß ich deine Mutter geschlagen habe.«

Mit gespannter Aufmerksamkeit blickte er mir nach diesen Worten ins Antlitz. Ich sah im Scheine der Laterne deutlich sein erregtes, gequältes Gesicht, sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen und sein Kinn zu zittern begann. »Vater, laß das jetzt!« bat ich ihn. »Wozu soviel Trübes heraufbeschwören? Mutter ist ja seit langem tot und« – »Nein, Kind, nein«, rief der Kranke mit erneuter Heftigkeit. »Ich durfte mir das vom Arzte nicht sagen lassen; denn es ist eine Lüge. Und die Lüge habe ich mein Leben lang an mir und den andern verabscheut. Und jetzt will ich dir etwas gestehn, etwas, das die Wahrheit ist und das du als Erste wissen sollst: Es gab einst eine böse Zeit zwischen mir und deiner Mutter, das war die Zeit meiner Erkrankung. Da verlor sie die Geduld, glaubte mich züchtigen zu müssen und hat mich einst hart geschlagen, mitten ins Gesicht; das ist die Wahrheit.«

Ich hörte, wie in Vaters Kehle ein Schluchzen aufstieg, jenes schwermütige Schluchzen, das ich von früher her an ihm kannte, und mein Herz zog sich bang zusammen. Wie sollte ich ihn beruhigen? »Vater,« rief ich voll Angst, »komm, laß uns gehn, es wird immer dunkler; komm, gehn wir rascher, komm!« Und ich zog ihn fort, faßte seinen Arm fester und hörte, wie das Schluchzen ihn würgte und wie er es mühsam hinunterzuzwingen versuchte. Da nahten sich Schritte. Jemand blieb dicht vor uns stehn. »Guten Abend, Herr Pfarrer«, sagte eine Männerstimme. Es war der Wärter, der uns entgegengekommen war. Ich atmete auf.

Vater küßte mich zum Abschied. Ich fühlte, wie seine Hände, seine Schläfen kalt waren und feucht vom Nebel. – »Leb wohl, mein Kind, und vergiß meiner nicht!« sagte er und streichelte mir die Wange.

Schon hatte ich mich zum Gehn gewandt und war ein paar Schritte in der Richtung der Stadt hin gegangen, da hörte ich mich beim Namen rufen. Hastig lief der Kranke hinter mir her. »Anna,« sagte er weich und gütig, zog den alten, abgegriffenen Lederbeutel hervor und streckte mir das so wohlbekannte, glänzende Silberstück hin: »Willst du das Geld? Kannst du es brauchen? Oder glaubst du, daß Regine und Suse es nötig haben? Dann nimm's, bring es ihnen. Vielleicht brauchen sie etwas, das dringend notwendig ist. Da, sag ihnen, sie möchten es nehmen.« Und er drückte mir das Geld in die Hand. Aber natürlich nahm ich das Silberstück nicht, und ich erriet nur zu wohl auch im Dunkel den kindlichen Ausdruck der Genugtuung in Vaters Gesicht, daß man ihm sein Kapital unangetastet zurückgab. Dann hörte ich ihn rasch hinter seinem Wärter herlaufen. »Leb wohl, mein Kind!« rief er noch einmal durch den dichten Nebel.

Nun war ich allein. So schnell ich konnte, lief ich der Stadt zu. Mich verlangte mit doppelter Sehnsucht nach Hause. Tränen liefen mir über die Wangen. Was hatte Vater gesagt? Mutter hatte ihn geschlagen, ihn, den Armen, Kranken, mitten ins Gesicht? O, über all den Jammer, der da heraufquoll aus den Tiefen, o, über all die Anklage, die ich meiner toten Mutter wieder entgegenwarf! Hatte ich es nicht geahnt? Du hättest es mir nicht sagen sollen, Vater, um deinetwillen und des Andenkens meiner Mutter willen, das immer mehr sich im Dunkel des Bösen verliert!

Ich lief, das Finstere der Bäume lag hinter mir, der Nebel wich, Lichter nahten. Schon kam ich an die Brücke, lief rasch die Straße hinauf und stand atemlos vor unserm Hause. War Hans da? Hatte er mein Schreiben gefunden und wartete mein? O, dann würde alles gut.

Im Schlafzimmer gegen die Gasse hin war Licht; meine Schwestern schienen oben zu sein. Ich lief durch den Hausflur, die Treppe hinauf und trat rasch ins Schlafzimmer. Da standen Hans und Suse neben dem hohen Kachelofen. Sie lächelten beide, als ich eintrat. Vor ihnen auf dem Ofenvorsprung brannte die Teemaschine und warf kleine, blaue Flammen um sich. »Hans!« rief ich wie befreit auf, »Hans, da bist du ja endlich! Ich habe dich so lange nicht gesehn!«

Ich nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinüber ins Mädchenzimmer, wo die kleine, grüne Kupferlampe brannte. Dort warf ich mich in seine Arme. Seine Hand fuhr durch mein feuchtes Haar. »Anna, Liebste«, flüsterte er mir zu und hielt mich fest.

»Hans, ich habe dir so vieles zu sagen, so vieles, das mich bewegt. Laß uns allein sein. Aber was ist mit dir? Du siehst angegriffen aus!« »Nicht daß ich wüßte,« entgegnete er, und besah sich rasch in einem kleinen Taschenspiegel, »mein Examen verlief gut und hat mich nicht sonderlich angegriffen. Aber vielleicht ist es, weil du so lange fortbliebst, Anna«, fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu. »Du hättest mich doch nicht allein lassen sollen, gerade in dieser Zeit. Ich brauchte dich täglich, stündlich, mehr als du glaubst.«

Suse trat ins Zimmer. Sie brachte das Teebrett mit den Tassen und begann den Tisch zu decken. »Hans ist heute unser Gast,« bestimmte sie mit Entschiedenheit, »das ist längst so abgemacht gewesen zwischen uns, gelt Hans? Regine kommt gleich. Ich höre ihren Tritt schon auf der Treppe.«

Die Türe ging auf, und die Erwartete trat ein. Wir setzten uns um den Tisch und aßen unser Abendbrot. Aber ich fühlte bald, wie ich von den Eindrücken des Abends müde und matt wurde und wie eine große Traurigkeit meine Seele füllte. Ich hätte den Kopf an Hansens Brust legen und ihm erzählen mögen, was Vater mir da draußen im Nebel gestanden. Aber es bot sich keine Gelegenheit zu einer Aussprache mit meinem Liebsten. Wohl saß er an meiner Seite; aber er schien weit weg von mir zu sein. Er unterhielt sich mit meinen Schwestern, laut, zerstreut. Ich lehnte den Kopf in die Sofaecke und schloß die Augen. Aber da sah ich vor mir die erhobene Hand meiner Mutter, wie sie niederfuhr in das arme Antlitz meines Vaters, und erschrocken fuhr ich zusammen. – Nur eine halbe Stunde mit Hans allein sein! Verlangte ihn denn nicht nach diesem Alleinsein mit mir nach unsrer Trennung? Es blieben ja nur noch ein paar karge Tage vor seiner Abreise. Was war mit ihm geschehn? Warum war er so verändert und ohne Teilnahme an mir?

Der Tisch wurde abgeräumt. Meine Lider wurden immer schwerer. Eine unendliche Müdigkeit überkam mich. Ich konnte sie nicht mehr bannen, trotz aller Anstrengung. Ich erhob mich und wünschte gute Nacht, auch Hans, der erstaunt, aber ohne Frage zu mir emporsah, und ging hinüber ins Schlafzimmer. – Ich mußte geschlafen haben, fest geschlafen, wie lange weiß ich nicht. Auf einmal erwachte ich jäh, als ob ein böser Traum mich geschreckt. Es mußte wohl nach Mitternacht sein. Ich fühlte mich mitten in eine feindliche Wirklichkeit hineingetragen, und der letzte Gedanke vor dem Schlafengehn, der Gedanke an meinen Vater und meine Mutter, stand wieder vor mir, wie etwas, das meiner im Dunkel harrte, etwas Ungesagtes, Ungelöstes und Grausames. Es war mir, als ob irgendwo etwas Unwahrscheinliches und Ungeheuerliches geschehn sein müsse von zwei Menschen, die ich gekannt und geliebt.

Ich machte Licht. Regine schlief, den Kopf tief verborgen in ihren Kissen. Aber Suses Bett war leer.

Ich schlüpfte in mein Morgengewand, warf ein Tuch um die Schultern und ging auf nackten Füßen zur Türe, nach dem Mädchenzimmer hin. Ich machte lautlos die Türe auf und streifte die Portiere auseinander, die darüber hing. Das Gemach schien leer. Auf dem Tische brannte noch die kleine, grüne Lampe. Sie war tief heruntergeschraubt und beleuchtete matt nur die braune Fläche des Tisches. Das breite Sofa lag im Schatten. Und von diesem Sofa her vernahm ich jetzt ein Flüstern, kaum gestammelt, verwirrt, erschrocken, vernahm das Geräusch von aufgewühlten Kleidern, über welche rasche Hände erschrocken fuhren. Und dann erblickte ich Hans und Suse, die sich langsam vom Sofa erhoben, über dem die Großmutter in starrer Bosheit hing ...

*

Ist das der Schmerz, wenn du einen Wehruf in dir bis in alle Poren hinein vernimmst? Ist das der Schmerz, wenn jeder Gedanke, den du denkst, ein Wundmal in deinem Herzen bedeutet und jeder Atemzug, den du tust, eine Narbe im Fleisch? Ist das der Schmerz, wenn etwas wie ein Riesenleib sich vor dich hinstellt und wenn dein eignes Blut durch deine Adern zieht, wie ein tosender Strudel und dir in Herz und Hirn strömt, wie eine einzige Welle, die ein zermürbtes Leben speist, so wie die Brandung den Felsen bespült? Wenn es um dich herumstreift, als ob ein Tier in dumpfer Finsternis sich einraschelte! Ist das der Schmerz, wenn es in dir wiederkehrt, wie eine Uhr so scharf, so ausgerechnet pünktlich, wo du genau weißt, jetzt wird es wieder rufen in dir, schreien und seine mitternächtliche Stunde dir ins Gesicht hämmern, sodaß du darob erschrecken wirst bis in die letzte Kammer des Gefühls und blaß wirst und zu zittern beginnst? Ist das der Schmerz, wenn du dich jammernd unterzuordnen beginnst unter eine furchtbare Notwendigkeit, wenn du das Aufrechtschreiten als Drohung empfindest, weil dir besser wäre, am Boden zu kriechen und keine Sprache zu besitzen?

Ich bin in mein Bett zurückgekrochen. Ich sah Suse mit ihrem zerknitterten Gewand und ihrem aufgewühlten Haar bald darauf rasch eintreten und sich zu Bett legen. Ich hörte, wie sie sich auf ihrem Lager einnistete und wie sie bald darauf ruhig einschlief. Ich aber blieb in meinen Kissen aufrecht sitzen und wartete. Und mein Herz begann zu hämmern, als ob es ein selbständiges Wesen wäre, das sich in meinem Leibe losgerissen von seinen Angeln. Dann aber wurde es in mir ganz still und starr.

Ich sage, ich wartete. Worauf? Auf das Anbrechen des Morgens wohl? Oder wartete ich auf jemand? Sollte ich überhaupt auf irgend jemand in der Welt noch warten? Mein Gott, ich wartete doch nicht etwa auf Hans?

Ja, ich wartete auf ihn. Wohl hatte es keinen Sinn mehr, weder für mich noch für ihn, zu warten, keinen. Und dennoch wartete ich. Es konnte für mich keine Erklärung, keine Genugtuung geben, nichts, nichts, das hier rechtfertigen oder trösten konnte, keine Reue, keine Sühne. Da war nichts, das unauslöschbarer und unverrückbarer festgenagelt gewesen wäre in meinem Geiste, als das Geschehnis der letzten Nacht, dieses Verbrechen an mir, meiner Liebe und meinem Leben. Und doch wartete ich, wartete auf Hans.

Kurz nachdem meine Schwestern am Morgen an ihre Arbeit gegangen, brachte mir ein Bote ein Schreiben. Die Schrift war unleserlich, so hatte die Hand gezittert. Hans fragte, ob er mich nur auf einen Augenblick noch sehn dürfe; er werde sofort nachher abreisen.

Ich schüttelte meine Starrheit ab. Mechanisch kleidete ich mich an, steckte mein Haar auf und ging hinüber ins Mädchenzimmer. Im hohen Gemach war es kalt und frostig, draußen prasselte der Regen hart an die Scheiben. Ich blieb hinten beim Kachelofen stehn, rührte mich nicht, wartete, und in mir setzte sich die Stille der Nacht fort, jene hartnäckige, innere Stille, die so war, als ob ich mich selbst in einen unheimlichen Bann gelegt und weit weg von mir selbst durch leere Felder wandelte.

Da klopfte es. Es war Hans.

Ich hatte bis zu diesem Tage nicht gewußt, daß ein paar Stunden genügen, um ein menschliches Antlitz so vollständig zu verändern. Hans war unkenntlich. Sein Gang war gebrochen. Er trug Kopf, Arme, Schultern völlig anders als sonst, seine Stimme war die eines Kranken, und seine dunkeln, schönen Augen schienen in der Totenblässe seines Antlitzes versinken zu wollen.

Ich hatte mich auf den Stuhl niedergelassen, der neben der roten Portiere stand und blickte zu ihm hin, wie auf etwas Fremdes, Ferngerücktes, Gleichgültiges, an dem ich nie teilgehabt und von dem ich heute nichts mehr zu wissen schien.

Da kam er auf mich zu; sein Mund und Kinn begannen heftig zu zittern. Und nun sank er vor mir in die Knie, er barg seinen Kopf in meinem Schoß, und seine ganze Gestalt bebte in Schluchzen.

»Anna, Anna,« stöhnte er, und seine kleinen, braunen Hände warfen sich um meine Hüften, »Anna, arme, liebe Anna!«

Ich rührte mich nicht, ich hörte mit meinen Ohren und sah mit meinen Augen, wie ein ungestümer Schmerz den Mann, den ich vor langer Zeit einmal geliebt, durchschüttelte und ich fühlte, wie das heftige Zittern seiner Arme auch mich ergriff, wie meine Hände und Lippen erkalteten.

»Anna,« schluchzte er, »nur das laß mich dir sagen, nur das, auch wenn ich kein Recht mehr dazu habe: Ich liebe dich, heiß und innig. Und ich habe nur dich geliebt. Ich weiß, es gibt heute keine Brücke mehr von dir zu mir, keine. Es muß so sein, ich weiß es. Das ist meine Strafe. Ich werde mein Leben lang daran zu tragen haben, weil ich mein Leben mit dir verbringen wollte und so gern mit dir verbringen möchte. Ich weiß, dein Gefühl ist bis ins Innerste verletzt und verwundet, und ich kann dir nichts zur Sühne geben, als das Bewußtsein, daß es das Schwerste ist, das mich treffen kann, dich zu verlieren.«

Unbeweglich hörte ich zu. Dicht in meiner Nähe redete eine vertraute Stimme, sie weinte und brauchte das Wort Liebe. Wer war es? Mein Geliebter? Ein Fremder? Einer, der seine häßliche Rolle nicht lassen konnte, der gekommen war, hier auf meinen Knien das hohe Wort zu mißbrauchen und lächerlich zu verzerren? – Nein, in diesen Räumen sprach man nicht von Liebe. Still, still, nicht weiter lügen. Das Wort gehört nicht hierher, hat nie hierher gehört. Still. Im Namen des Schmerzes sollte jetzt die Wahrheit geredet werden. Nicht lügen, jetzt nicht mehr lügen.

Ich legte meine Hand auf sein tränenüberströmtes Antlitz. Ich löste seine Hände von meinen Hüften. Nicht von Liebe reden, heute nicht, morgen nicht, in alle Ewigkeit nicht. Und das ist auch so grauenhaft, daß dieser fremde Mann da so klein und jämmerlich kindisch war vor sich selbst, einer, der Trost brauchte, weil er sich selbst verstoßen hatte.

Ich stand auf vom Stuhl. Ich ging durchs Zimmer, trat ans Fenster, habe in den Regen hinausgesehn und mich nicht gerührt und keine Worte gefunden. Da hörte ich Hans Weeger in der Tiefe des Zimmers leise sagen: »Ich gehe, Anna, leb wohl.«

»Geh,« sagte ich, »lebe wohl, Hans!« Ich hörte, wie er die Türe aufmachte und schloß. Er war aus dem Zimmer hinausgegangen. Seine Schritte verhallten im Korridor, leise, zögernd. Und hinter ihm her ging meine Liebe, mein Glaube und mein kurzes Glück.

*

Wie aber erträgt man die Tage solchen Elendseins? Und wie vergehn die Stunden vom Morgen bis zum Abend und von der Nacht wieder in den Tag? O diese zitternden Qualen, die Stunden des nutzlosen Sichaufraffens, wo man den Feind doch immer auf der Lauer weiß, wo die Sehnsucht nach der Schönheit des Erlebten die Anklage überflutet und zudeckt, wo nur die Leere zurückbleibt, der Hunger und die Oede, und wo man sich seine Himmel wieder tiefer hängen muß, so tief, daß ihre Sterne die Gasse berühren! Furchtbar ist solche Vergewaltigung des Geschicks.

Ich hätte Trost gebraucht, mich verlangte, das Schicksal eines Menschen zu hören, das dem meinen ähnlich war und das mir als bloß äußerliche Erklärung hätte dienen können für das, was geschehn. Aber woher sollte mir Trost kommen? Der einzige Mensch, dem ich hätte klagen können, war Regine. Aber es war Scham und Stolz, die mich gerade ihr gegenüber schweigen hießen; ich brachte es nicht über mich, die Schande meines Freundes und den Verrat, den er an mir begangen, vor die Augen meiner jungen Schwester hinzulegen. Mit Suse sprechen, sie anklagen – bot mir das etwa Trost? Sie zählte in diesem Geschehnis überhaupt nicht mit, spielte für mich und mein Gefühl keine Rolle. Meine Klage und Anklage betraf nur Hans, dem eine hohe Intelligenz auch die hohe Verantwortung des Tuns hätte sichern sollen. So schleppte ich mich mit meinem Leide herum, einsam und allein und rief nach Tröstung und einer einzigen weichen und verständnisvollen Liebkosung, die mir, wie mir ein tiefes Bedürfnis zuflüsterte, von Rechts wegen zuzukommen schien.

Zufällig bin ich einmal an einer katholischen Kirche vorbeigegangen. Ich trat ein. Katholische Kirchen sind mildtätig und sanft, und ihre Türen stehn dem Bedrückten allezeit offen. Ich schlich mich in eine Seitenkapelle und kniete nieder an den Stufen des Altars. An silberner Kette hing die Ampel von der Decke herunter und beleuchtete die Gottesmutter, die unter ihrem Herzen den Heiland getragen, der der ganzen Welt ganze Schuld auf sich genommen. – Der ganzen Welt Schuld. – Lange blieb ich auf meinen Knien liegen. Aber es kam mir von nirgendsher Trost. Beklommen erhob ich mich und ging hinaus.

Da traf ein Brief ein. Er war von Hans. Ich habe ihn immer wieder gelesen und mir blasse, zitternde und ach, so sinnlose Genugtuung daraus geholt – um mich seiner Liebe zu mir nicht verlustig erklären zu müssen.

Auf der Reise zu seiner abgöttischgeliebten Mutter hatte er in einem kleinen Dorfgasthaus haltgemacht, um in den einsamen Wänden des Hauses mit sich selbst ins reine zu kommen, bevor er vor ihre Augen trat. Er legte es sich als freiwillige Buße auf, ihr seine ganze Niedertracht einzugestehn. Und mir gegenüber wolle er teilweise wenigstens den Versuch machen, die innern Ursachen seines unsühnbaren Fehltrittes zu erklären, obwohl es nichts gebe, das ihm in meiner Nähe das Recht erteilt hätte, ein Elender zu werden. Es gebe auch keine Rechtfertigung und Absolution für das, was er verschuldet.

»Siehst Du, Anna«, so schrieb er, »ich bin, wie ich Dir schon früher sagte, voll des Zynismus der Großstädte, mißtrauisch und vorsichtig, wie alle, die sich bereits zur Genüge kennen, in eure Stadt gekommen. Nachdem ich Dich kennen gelernt und Du mir Deine Liebe geschenkt, habe ich das erste Mal seit Jahren in zielbewußter Arbeit mir meine nächste Zukunft abgesteckt. Das hat so fortgedauert, bis zu jenem Abend, wo Du mich mit Suse zum Spaziergang batest. Ich habe in allen Fibern meine körperliche Ohnmacht vorausgespürt. Suses Bereitwilligkeit fand mich schlaff, unsicher, schwach. Nur mit äußerster Anstrengung und Aufbietung allen Willens, auch aus reiner Not und Schutzbedürfnis habe ich noch arbeiten können und mein Studium zu Ende führen. Ich könnte, wie ich Dir auch einmal andeutete, meiner Natur nach ebenso ein blinder Spieler, ein periodischer Trinker oder sonst ein Schandgeselle sein, wenn nicht von außen der Zwang an mich herantritt, eine fremde Kraft, die mich hält. Diese Kraft war meine Mutter, dann Du. Glaub mir, ich hatte Angst vor dem Augenblick, der mich wieder einmal aus meiner Höhe riß. Meine Mutter kennt diese Unrast an mir, dies rein physische Ungestüm, das mich ohne Intelligenz, ohne Urteil, ohne Gedanken, auch ohne jegliches Gefühl, nur mit verstörten und abgewandten Sinnen den Phantomen einer rein körperlichen Leidenschaft zutreibt. Es war eine liebeleere Spielerei. Ich habe Suse nie das geringste Gefühl geheuchelt, habe unter der Lüge und Verstellung unsäglich gelitten und doch nie die Kraft des Neinsagens gefunden. Das Bewußtsein des erniedrigenden Geheimnisses mit Suse ist mir eine Zeitlang die einzige Genugtuung gewesen. Wenn dies alles geschehen konnte vor Dir, um Dich, beinah unter Deinen Augen, was dann? Wie steht es um einen solchen Menschen? Und doch wollte ich in Dein Leben, Dein heutiges und das Leben Deiner Zukunft nur Glück und Freude hineintragen, Anna, damit Du mit einem Lächeln auf den Lippen des Morgens erwachest. Aber das sind heute eitel Phrasen. Es ist wohl ein Unding, wenn Menschen es versuchen, ausgleichend das in sich hineinzulegen, was ein innerer Widerstand ihnen doch versagt. Es gibt für mich Zeiten, wo ich emporschnelle und mich über mich selbst zu erheben scheine, wie damals in Weimar, als die Nähe der großen Toten mich beeinflußte. Ich sprach Dir davon. Aber das Geheimnis meiner Kraft ruht nicht in mir, die Kraft muß mir von andern kommen. Da liegt der Grund meines Wesens. Ich selbst fühle mich als ein Schwacher, der der freien Verwendung seiner Kräfte nicht fähig ist. Heute, Anna, in der Verfassung, in der ich mich befinde, ist mir der Sinn meines Daseins völlig abhanden gekommen, und ein Schrei der Verzweiflung gellt durch meine Brust. Ich bin in Wut und Qual über mich selbst und kann doch nichts ungeschehn machen. Und ich vergehe vor Scham vor Dir und vor Sehnsucht nach Dir und wage nicht, Dir davon zu reden.« –

Ich habe diesen Brief immer mit mir herumgetragen. Krank vor Sehnsucht war auch ich. Und ich empfand diese Sehnsucht als Schuld und Schmach.

*

Jetzt fing ich an, alle die Andeutungen, die Hans mir damals gemacht, zu begreifen. Wie hatte ich so sorglos sein können? Aber ist das tiefste Vertrauen nicht gerade gut genug für ein ebenso starkes Lieben?

Heute, wo Jahre verflossen sind seit diesen Ereignissen und wo ich des Lebens schwere Tritte noch oft vor meiner Kammer vernommen, heute weiß ich mehr von mir und den andern Menschen, den Männern und Frauen. Ich weiß heute, daß unsre träumebeschenkte Jugend aus Bedürfnis ihrer selbst sich von Phantasiebildern nährt, und zwar dann am stärksten, wenn die erste Jugend uns vieles versagt und die Zeit kommt, wo wir nach der Liebe greifen. Wir sehnen uns alle, besonders aber wir Frauen, nach dem Bild unsrer Phantasie mehr, denn nach der Wirklichkeit. Und wir schmücken uns gegenseitig aus, wir Jungen, mit all dem, was wir an uns sehn möchten; denn mir müssen voreinander stark und groß und von betörender, geheimnisvoller Kraft sein, um unsre Gefühle in der Schwebe erhalten zu können. Einfach, klein, gering, schwach, so dürfen wir in der Jugend nicht voreinander erscheinen, und wir versagen uns grausam das Recht auf Fehler, Widersprüche, Gegensätze, weil wir noch nicht wissen können, daß gerade die Gegensätze die Umrisse bilden, hinter denen sich unser eigentliches Wesen birgt. Wir bauen uns Altäre, machen uns blind, um unser Lieben erhalten zu können, und es wird wohl so sein müssen und in der Natur der Liebe liegen.

Das alles aber wußte ich damals noch nicht. Ich ahnte auch nicht, wie tief und verborgen das Tier in uns allen raschelt. Es hat auch mit Hans Weegers Schuld – denn seine Tat und ihre Folgen ist noch heute in meinem Empfinden eine ungeschwächte, unwiderrufliche, menschliche Schuld – nichts zu tun. Zum ersten Male hatte ich erkannt: Daß der Mann kindisch, klein und triebhaft werden kann. Diese Erkenntnis machte mich umso unseliger, als uns allen, besonders aber uns Frauen, die Natur den Streich gespielt hat, daß wir nicht nur lieben, sondern auch bedingungslos verehren wollen. Und es ist die unglücklichste und entscheidende Stunde unsres Lebens, wenn wir durch eigne, schmerzgetränkte Erfahrung uns um den Sinn des Wortes bereichern müssen: Du sollst dir kein Bildnis machen ...

*

Das Wintersemester hatte bereits begonnen. Ich wollte arbeiten; es ging nicht. Wohl saß ich unter den Hörern in den Sälen der Universität, nur weil ich die schreckliche Einsamkeit und Stille unsrer großen Stuben nicht ertrug; aber ich sah über die Köpfe aller der Lerneifrigen hin, hörte zu und vernahm nichts. Ich schrieb auch mechanisch auf, was gelehrt wurde und suchte gewaltsam Interesse dafür aufzubringen. Aber wie hätte es mir gelingen sollen?

Einst am Abend bin ich über die Brücke zur Stadt hinausgegangen und stieg zu der Anlage mit den hohen Linden empor. Es war finster und schon rauh draußen, und die letzten herbstkranken Blätter fielen kraftlos von den Bäumen. Die Promenade schien leer. Wen zog es an solch unwirtlichem Abend ins Freie außer mir?

Da sah ich auf einer der letzten Bänke, in eine Ecke gedrückt, jemand sitzen. Ein kleiner, weißer Hund hockte am Boden. Im Dunkel hielt ich die Erscheinung für einen Mann; denn der Mantel mit der Kapuze, der die Gestalt verhüllte, war der Mantel eines Mannes, jedoch Umrisse und Bewegungen verrieten die Frau. Als ich mich näherte, bellte das weiße Hündchen zornig auf mich ein. Da kam eine dunkle, warme Frauenstimme unter der großen Kapuze hervor und beschwichtigte das Tier. »Fino, halt dich still! hörst du, Fino?« Und als das Hündchen sich nicht beruhigen wollte, strenger: »So schweig doch und sei vernünftig! Hörst du, Fino!«

Ich näherte mich der Bank. »Der Hund tut nichts«, tröstete mich die Stimme, »er muß nur ein wenig aufbegehren.«

»Ich fürchte mich auch nicht vor ihm«, entgegnete ich.

Ich konnte mir nicht erklären, was mich plötzlich zu dieser einsamen Unbekannten hindrängte. Was konnte auch sie veranlassen, in der barschen Rauhheit dieses Abends hier allein zu sitzen? Schleppte sie etwas mit sich herum wie ich?

»Guten Abend«, wünschte ich und setzte mich auf die Bank, nachdem mein Gruß freundlich erwidert worden war.

»Man sitzt nur unter außergewöhnlichen Bedingungen heute abend auf einer Promenade«, meinte die Unbekannte »und nur ein guter Mantel kann einen vor Erkältung schützen. Es ist übrigens der Mantel meines Mannes«, fügte sie mit kurzem Auflachen hinzu.

Ich versuchte in das Gesicht der Frau zu blicken, die zu mir mit solch gütiger, schützender Stimme wie zu einer längst Vertrauten sprach. Ich sah unter der Kapuze nichts als den untersten Teil eines Frauengesichts, einen dunkelgefärbten, beweglichen Mund.

Das weiße Hündchen hatte sich indessen zwischen uns beide auf den Boden gesetzt und blickte im Schutz unsres wärmenden Gewandes mit gespitzten Ohren auf die Stadt zu unsern Füßen, auf die Lichter und Laternen.

Nun begannen wir miteinander zu sprechen, die Frau in der Bankecke und ich. Wir redeten zuerst über gleichgültige Dinge, Wetter und Jahreszeit, Stadt und Leute. Dann merkte ich plötzlich, daß nur noch ich allein redete, und zwar viel mehr und lebendiger, als ich in den letzten Wochen im Zusammenhang gesprochen. Die Unbekannte hörte unter ihrer Kapuze voll Anteil auf alle meine Worte, und wenn sie mit ihrer ruhigen Stimme mich unterbrach oder eine Frage beantwortete, wünschte ich, sie möchte mir noch lange ihre freundliche Gegenwart schenken, neben mir sitzen bleiben und mir zuhören, was ich bereitwillig vor sie hinlegte.

Die rasche Vertrautheit zwischen uns schien auch sie angenehm zu berühren: denn unvermutet gestand sie mir: »Ich sollte eigentlich nach Hause zurückkehren. Ich will Ihnen nämlich sagen, daß ich eine Entlaufene bin, eine Frau, die ihrem Manne heute abend davonlief. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, er und ich, und da traf es sich, daß ein Wort fiel, das ich glaubte nicht so hinnehmen zu müssen, ohne etwas Besonderes in Szene zu setzen. Aber es ist mir nicht so ernst mit meiner Flucht. Nur ein wenig außerhalb meines Hauses und ganz still über mich und ihn und unsre Ehe nachdenken, das wollte ich eigentlich. Und damit meine Flucht mich nicht zu weit führe, habe ich seinen alten Kapuzenmantel übergeworfen. Sehn Sie, wenn eine sonst glückliche Frau in den vertrauten Tabaksduft eines lieben Mannes so eingewickelt ist wie ich eben, dann springt sie nicht weit. Er hat vielleicht mein Durchbrennen nicht einmal bemerkt, der Gute. Und darum möchte ich zu Hause sein vor ihm, jetzt wo ich wieder zur Vernunft gekommen bin.«

Aber ich bat sie noch zu verweilen. Ein breiter Strom der Beruhigung schien mir von dieser Frau auszugehn, ich fühlte mit sicherm Instinkt, daß da eine unerschöpfliche, menschliche Güte in einem Herzen zusammengedrängt wohnen mußte.

Von neuem begann ich zu reden und empfand immer deutlicher die wohlwollende Aufmerksamkeit, die man mir entgegenbrachte. Jetzt sprach ich auch von meiner Jugend, meinen Jahren des Auslands, vom Vorbereitungsjahr und meinem kurzen Studium. Alles, was ich in meinem Leben als schwer und drückend empfunden, kam dahergeschwommen und meldete sich ungerufen in meinem Gedächtnis zum Worte. Dann wartete ich. Und da die Unbekannte sich nicht erhob und nicht Miene machte, sich zu entfernen, drängte sich zaghaft auch mein Kummer auf die Lippen. »Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte ich leise. »Erzählen Sie!« bat sie.

Sie saß still da unter ihrer Kapuze und rührte sich nicht. Da tauchte ich unter in die jüngsten schmerzvollen Ereignisse und sprach von dem, was mir angetan worden durch den Mann, den ich liebte. Wie ich da befreit aufatmete! Ich fühlte endlich, wie die Worte sich von mir wohltätig lösten, wie eine hohe Mauer in mir niederbröckelte. O, ich war ja willens, alles preiszugeben, eifrig, leidenschaftlich. Wie ich hungerte, alles wegzuwerfen und niederzulegen in einen fremden Schoß! Und während ich so dahersprach, schien es mir, als ob mein Leid nun nicht mehr so unaufhaltsam mit mir davoneile, und als ob ich mit meinem mich Mitteilenkönnen auch endlich aus dem engsten Kreise der Bitternis langsam herausgetreten sei. Und nun brach ich in unaufhaltsames Schluchzen aus. Mein Gott, wie sehnte ich mich jetzt wieder nach der geringfügigsten Liebkosung, nach der ich seit Wochen rief. – Aber die Unbekannte war ruhig in ihrer Ecke sitzen geblieben. Ich hörte bloß, wie ihre warme Stimme mir tiefbekümmert zusprach, fühlte wie ihre Worte sich um meinen Gram legten, wie ein weiches, seidenes Tuch.

»Das haben Sie alles schon erlebt in Ihren jungen Jahren«? sagte sie, »ja, das will mit Mut und Geduld zu Ende getragen sein. Sie Arme!«

Dann schwiegen wir beide. Wir schauten hinunter auf die Stadt und ihre zitternden Lichter. Meine Tränen versiegten. Ich fühlte mich freier, leichter; aber es schien mir dennoch, als ob meine Stimme immer noch forttöne in den leichten Nebel hinein und sich im kalten Hauche des Abends verliere. Da erhob sich plötzlich der Wind und schüttelte heftig an der Linde, die unsre Bank überragte. Das weiße Hündchen bellte auf, und unter der Kapuze hervor hörte ich meine gütige Frau husten.

»Sie dürfen nicht länger verweilen!« rief ich erschrocken, »ich habe Sie zu lange aufgehalten. Verzeihn Sie! Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung zugezogen.«

»Nein, nein,« tröstete mich die Fremde, »machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. – Ist Ihnen nun ein wenig leichter? Ja? Das ist die Hauptsache.« – Aber da hustete sie schon wieder. »Was sind überhaupt meine kleinen Kümmernisse im Vergleich mit Ihrem Kummer!« fuhr sie fort. »Aber Sie haben recht, es ist wohl gut, wenn ich jetzt nach Hause gehe, damit mein Mann mich nicht vermißt.«

Wir erhoben uns gleichzeitig von der Bank und schritten Seite an Seite den dunkeln Weg hinan bis dort, wo der Pfad nach der Allee hin abzweigte. Das weiße Hündchen lief eilfertig neben uns her. Oben am Weg angekommen, streckte mir die Unbekannte aus dem Mantel heraus ihre Hand zum Abschied hin; diese Hand war nicht weich, aber fest und warm. »Leben Sie recht wohl,« sagte sie, »und seien Sie tapfer und stark, das andre heilt nur die Zeit.« Ich vergaß zu danken, unterließ es, um ihren Namen zu fragen, ich suchte unter der Kapuze mit meinen Augen bloß wieder nach dem Antlitz, um es dankbar festzuhalten. Aber ich bekam nur den Mund zu sehn, der sich in der Dunkelheit allein mit seinen beweglichen Linien abhob. Dann eilte ich den Weg hinunter durch die leere Promenade der stillen Gasse zu.

Als ich in unserm Hause die Treppe hinaufgestiegen war und durch den Korridor nach dem Mädchenzimmer schritt, vernahm ich hinter mir eilige Schritte, die von einem leichten Schnaufen begleitet waren. Ich wandte mich um und erkannte Vitia. Er trug einen neuen, schönen Mantel und schleppte mühsam einen schweren Gegenstand. Rasch machte ich die Türe auf und schob den Bepackten ins Zimmer. Aber bevor er mich begrüßte, löste er zuerst die vielen Tuch- und Papierhüllen seines Pakets. Vier große, bauchige Glastöpfe mit goldgelbem Lindenhonig kamen aus den Vertiefungen des Holzgestells hervor und wurden mit geschäftigem Ernst auf den Tisch gestellt. Dann erst streckte er mir seine schöne, weiche Hand entgegen, und ich blickte wieder in sein festgefügtes Bauerngesicht, in dem die schielenden Augen hinter der Brille rasch zu blinzeln begannen. »Sie sehn nicht gut aus, Anna«, erklärte er, als er mein Antlitz geprüft hatte. »Ich bin glücklich, daß Sie wieder bei uns sind, lieber Vitia«, entgegnete ich ihm. »Und außerdem habe ich soeben auf der Straße nun doch einen Menschen gefunden.« »Wirklich?« fragte er und begriff nicht, was ich meinte.

Ich habe in der darauffolgenden Nacht das erste Mal seit langer Zeit wieder ruhig und gut geschlafen.

*

Auch der Schmerz hat seine verborgenen Gesetze und will allein in die fürsorglichen Falten der Zeit gebettet sein. Und diese Zeit hütete meinen Weg.

Suse war indessen Tag für Tag wie bisher in das Seidengeschäft gegangen. Der Name Hans Weeger kam nie über ihre Lippen. Auch ich hatte ihn das letzte Mal genannt, als ich Regine und ihr die beschleunigte Abreise Hansens mitgeteilt mit der Erklärung, daß der Gesundheitszustand seiner Mutter sich verschlimmert und er deshalb beinah fluchtartig davongelaufen sei. Suse hatte mich bei dieser Mitteilung mit einem merkwürdig fragenden Blicke gestreift und war dann rasch aus dem Zimmer gegangen.

Seither betrachtete ich sie oft im Verborgenen. Sie war seit der Abreise Hansens ganz still und scheu geworden und erschien mir wie jemand, der wie auch ich, etwas Unbegreiflichem und Unfaßbarem nachsinnt, niemand darüber befragen darf und doch das Planlose und Zweckwidrige einer erlittenen Unbill nicht zu fassen vermag. Sie kam oft in meine Nähe, in ihrem Verhalten zu mir lag jetzt keine Abwehr mehr wie früher, und ich ahnte, daß sie über die Bangigkeit in ihrem Innern hätte zu mir und nur zu mir reden mögen. Aber ich wich ihr aus; ich vermied jedes Alleinsein mit ihr. Und immer deutlicher prägte sich auf ihrem schmalen Gesicht der Ausdruck der Verzagtheit und sorgenvollen Bekümmernis aus, und oft erklärte sie kurz, daß sie sich nicht gut fühle und begab sich bald nach dem Abendbrot zur Ruhe.

An einem Samstagabend hatten wir im Mädchenzimmer unser erstes Kaminfeuer angezündet. Die rotgelben Flammen fuhren zornig hinauf in den Schlot, als ob sie sich dem Sturme, der sich eben draußen erhob, beigesellen wollten. Suse war ihrer Gewohnheit gemäß bereits schlafen gegangen. Ich hatte die grüne Lampe angezündet und auf den Boden gestellt und lag in ihrem Lichtkreis auf dem Teppich. Ich studierte, auf die Ellenbogen gestützt, eine Karte Rußlands. In einiger Entfernung von mir lag Regine, müde ausgestreckt, auf zwei übereinandergeschichteten Kissen. Ihre alte Mattigkeit war wieder über sie hergefallen; sie beschattete mit der Hand die Augen, um sich vor dem schmerzenden Schimmer der Lampe zu schützen und blickte mit herabgezogenen Mundwinkeln hinauf an die Zimmerdecke.

»Hast du's gefunden, Anna?« fragte sie nach einer Weile müde, ohne sich zu rühren.

»Ja«, entgegnete ich, über die Karte gebückt, »da ist die Eisenbahnlinie, hier das Gouvernement, hier der Bezirk, auch die großen Kohlenbergwerke sind verzeichnet, sogar der Wald, in dessen Nähe das Dorf liegen muß. Aber das Dorf selbst ist nicht vermerkt.«

»Es wird zu klein sein.«

»Wahrscheinlich. Und Vitia wohnt ja außerhalb des Dorfes, sagt er. Seine Bienenkolonie ist ziemlich weit von der Station entfernt. Man fährt zwei volle Stunden durch die Steppe, um zu seinem Häuschen zu gelangen, erklärte er mir.«

Regine fuhr empor. Sie erhob sich von ihren Kissen und stemmte beide Hände auf den Teppich. »Die Steppe«, meinte sie langsam, »o, ich kann das Wort nicht hören. Weißt du, es gibt Namen, die durch ihren Klang allein einen betören. Wenn ich denke, was mir Paris, das ich nicht kenne, durch seinen Namen allein verspricht! Bei uns in unsrer engen Heimat ist alles so abgezirkelt, berechnet auf Ertrag und Nichtertrag, jedes Fleckchen Erde ist zu Papier gebracht und jedermann kennt es. Aber Heide, Steppe, Prärie, das ist das Grenzenlose, Unendliche, Unbekannte. Wenn die Berge die Jugend der Erde bedeuten, den Kampf und die Leidenschaft, so sind diese ungeheuren Ausdehnungen die Güte, Milde, das ruhige Alter und die Weisheit der Erde. Glaubst du nicht, Anna, daß es herrlich sein muß, in eine solch unermeßliche Ausdehnung wie die Steppe ist, hineinzukutschieren?«

Sie seufzte und legte sich wieder hin.

»Reginchen!«

»Ja?«

Wieder hob sich der blonde Kopf. »Nächsten Sommer kutschierst du ja hin!«

»O ja,« kam es voll beseligten Triumphes von den Kissen her, »da kutschiere ich hin, zu Vitias Bienen! Und wenn ich nicht gestern im Bureau unglücklicherweise die Lampe zerschlagen hätte, so kutschierte ich heute schon um eine Station weiter. Diese dumme Lampe kostete so viel Geld. Ich bin überzeugt, mein jetziger Chef würde mir die Lampe erlassen haben, wenn er um meine Ungeschicklichkeit gewußt hätte. Aber ich mag mir nichts schenken lassen. Der Ausläufer ist von Geschäft zu Geschäft gerannt, um die Zerschlagene sofort ersetzen zu können, damit mich kein böses Wort treffe. Er ist ein rührend guter, alter Mann, der sich um mich wie ein Vater müht.«

Ich schürte das Feuer. Mit verbissener Gier riß der Schlot Flamme und Rauch hinauf, als ob auf dem Dache der Sturm mit aufgerissenem Rachen kauere und das aufsteigende Feuer fressen wolle.

»Das wird eine häßliche Nacht«, sagte ich.

Regine rückte mit ihren Kissen in den Bereich der Lampe. »Anna, du und ich, wir haben schon einmal über Vitias Treue gesprochen. Ich glaubte damals, es sei kein Tüpfchen Verdienst dabei. Bei beweglichen Naturen muß einfach der Wille zur Beständigkeit diese selbst ersetzen, denke ich mir. Aber sei dem heute wie ihm wolle, ich habe immer mehr guten Glauben in Vitia, und eine große Zuversicht geht mir von ihm aus.«

»Ja. Ich hoffe er bleibt uns Freund unser Leben lang.«

»Das wird er gewiß.«

Wir schwiegen eine Weile. Dann fügte Regine unvermittelt und rasch hinzu: »Er wird uns besser und aufrichtiger zugetan sein, als Hans Weeger.«

Ich fuhr zusammen. »War denn Hans schlecht zu uns?« fragte ich, und mein Herz begann zu klopfen mit kleinen harten Schlägen. Ich senkte den Kopf tief auf die Karte und wartete bebend. Nun würde sie kommen, die Anklage, die nur ein feiner, untrüglicher Instinkt dem Herzen meiner jungen Schwester zugeflüstert haben konnte, die Anklage eines dunkeln Gefühls bloß, die ich aber heute schon aus niemandes Mund hätte entgegennehmen können. Aber im selben Augenblick, als Regine den Mund zum Reden öffnete, vernahmen wir vom Schlafzimmer her ein kurzes polterndes Geräusch.

»Suse!« rief Regine durch die offenstehende Türe in den Korridor hinaus, »Suse! Was ist geschehn? Bist du aus dem Bett gefallen?«

Wir erhielten keine Antwort. Durch den Flur fiel ein ganz schwacher Lichtstrahl vom Schlafraum her bis an unsre Schwelle. Da erhob sich Regine vom Boden und ging hinüber ins andre Zimmer. Kurz darauf rief sie mit angstvoller, ungeduldiger Stimme: »So komm doch schnell her, Anna!«

Vor der Kommode am Boden lag halbentkleidet Suse, neben ihr auf dem Teppich stand ein brennendes Kerzenstümpchen. Mit der Rechten hielt sie ihr sauberes, weißes Nachtjäckchen auf der Brust fest, das sie wohl soeben dem Schubfach entnommen.

»Suse scheint krank zu sein«, flüsterte Regine besorgt. »Was ist auch das mit uns drei dummen Mädels? Die eine ist momentan schlimmer dran als die andre. Du bist auch so blaß, Anna. Du solltest mit Suse zum Arzt gehn. Da ist etwas nicht in Ordnung.«

Wir hoben Suse aufs Bett. Bald darauf öffnete sie die Augen. Regine strich ihr das Haar aus der Stirn, bettete ihren Kopf bequem in die Kissen. »Was ist das mit dir, Suse?« fragte sie zärtlich. »Du bist nicht wohl. Dummes du. Anna wird nächstens mit dir zum Arzte müssen. Sag, was fehlt dir? Fühlst du dich schwächer als sonst und bist arg müde?«

»Zum Arzt gehn?« gab Suse kaum vernehmbar zur Antwort und schloß wieder die Augen. »Wozu? Nein. Ich will nicht zum Arzt. Nein, nein. Gute Nacht. Mein Kopf ist bloß elend und schwach. Gute Nacht.«

*

Der brave Vitia gebärdete sich seit seiner Rückkehr als Millionär. Er nahm jetzt drei Privatstunden bei mir in der Woche und zahlte mir das Doppelte für meine Mühe. Da seine Wortkargheit mich nicht zum Reden zwang, war seine Nähe mir besonders wohltuend. Auch brachte er oft allerhand Leckereien ins Mädchenzimmer, suchte uns auf seine Weise Freude zu machen und aufzuheitern. An einem Sonntagmorgen holte er uns zu einer Kunstausstellung ab, die in unsrer Stadt viel von sich reden machte. Suse wünschte zu Hause zu bleiben, um ihre Strümpfe zu stopfen, wie sie das oft in der Frühe des Sonntagmorgens vornahm. Vitia selbst verstand von Kunst nichts, er besaß kein Empfinden für sie, keine Neugier und keine Empfänglichkeit.

Ein französischer Maler hatte ausgestellt. Nie war mir Aehnliches bisher zu sehn vergönnt gewesen. Im Blute dieses Künstlers dämmerte die Mystik. Sie war es, die ihm aus dunkler Geheimnistiefe den Gegenstand wählte, dessen Behandlung und Farbenstimmung. Frauen, Blumen, Muscheln bildeten das Dargestellte. Dem Dufte großer, betörender Blüten, deren Atem man zu spüren wähnte, entstiegen in schweigenden Nächten geheimnisreiche Frauengestalten, traten aus dem schillernden Gehäuse der Blumenkelche wie sinnende Elfen, die mit dem ersten Morgengrauen sich in Hauch auflösen. Oder einem Halbkranz schimmernder Mohnblüten entschwebte das Antlitz einer Frau von wundervoller ernster Reine, sodaß man glaubte, das Unirdische aller Schönheit habe irdische Gestalt angenommen. Und in Muscheln lagen Frauenleiber als die Seele der Muschel selbst, wenn sie an unserm aufhorchenden Ohre zu rauschen und pochend zu rufen beginnt. Von Saal zu Saal wurden die Eindrücke stärker. Wie haben wir geschaut, Regine und ich! Ich ahnte jetzt auch das erste Mal mit aller Deutlichkeit, daß Kunst lieben heißt, nicht nur mit blinder Hingabe an die bunte Lust der Phantasie, sondern liebend wählen, ausscheiden, wieder lebendig machen. Kunst will sagen, mit sicherer Hand in die Welt des bereits Erschaffenen sein eignes Geschöpf hineinstellen, auf dem Wege der edelsten Zuchtwahl, im Sinne der Natur sein Kind zeugen. Und ein Meisterwerk nennen es unsre höchsten Anforderungen, wenn das neue Geschöpf atmet, als ob es dem Schoße der Erde selbst entsprossen, sodaß man in dem Nachbildner den Urschöpfer zu erkennen vermeint.

Wie bezauberten uns auch die Farben dieses Künstlers vor uns! Hingeschütteten Edelsteinen glichen sie, Smaragden, Rubinen, Opalen. Sie waren singende Farbenträume, mitten in die Dämmerung all der herrlichen Phantasiegebilde verstreut, die eine zarte und generöse Hand aus einem unsichtbaren Füllhorn hatte hervorrieseln lassen.

In einem andern Raum im Erdgeschoß des Hauses bekamen wir noch allerhand Kunstgegenstände zu sehn, Platten, Teller, Humpen, Tafelaufsätze in Gold und Silber mit Edelsteinen geschmückt. Ein Armring mit fünf prachtvollen Topasen versetzte mich in Entzücken. Er war für das Handgelenk einer hohen, berühmten Frau bestimmt und die Steine knisterten wie hellgoldene Seide.

Edle Metalle versetzten von jeher meine Seele in eine ganz besondere köstliche Heiterkeit, die dem Berauschtsein glich. Und so barg sich heute für Stunden wie hinter einer dunkeln Wand alles Leid und Düster der Vergangenheit, das mich sonst immer gefangen hielt. Viele Menschen werden still und geberdig bei den Klängen der Musik, andre im Zusammensein mit der Natur, der wohltuenden Größe der Felder und Wasser. Mich aber, so schien mir heute, zwang die Kunst allein zu gesammelter Ruhe. An ihrer Schulter nur fühlte ich mich wahrhaft geborgen, unmittelbar berührt von der Nähe des Schönen und Großen, wohin mein tiefstes Sehnen unaufhörlich drängte.

Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, holte ich das erste Mal seit langer Zeit mein Schatzkästlein aus dem Schubfach, meine bunten Steine. Wie sie vor meinen Augen rauschten und wogten, die Mondsteine, und wie die Achate mit ihren Flammenzeichen loderten! Der dunkle Ametyst flimmerte still und schien sich sinnend immer noch an die Erde zu lehnen, der er einst entnommen.

*

Schon waren zwei Monate vergangen, seit Hans Weeger von uns geflohen war. Er hatte noch oft an mich geschrieben, aber ich hatte keine Antwort für ihn finden können. Jetzt tauchte sein im Grame langsam verblassender Name grausam wieder auf in unsern Stuben, vergrößert, vergröbert, schrieb sich selbst mit schwarzen Lettern an die Wand, wurde zum Unheil und zur feindlichen Macht.

Suse war zusehends bleicher geworden, und ihre rotgeränderten Augen brannten in dem schmal gewordenen Gesicht. Aber ich empfand kein Mitgefühl für sie, meine Gleichgültigkeit ihr gegenüber zögerte und hielt mich von jeder Fürsorge für ihre Gesundung zurück. Da legte sich jedoch Regine beim Mittagessen, als Suse, ohne die Speisen zu berühren, dasaß, Strenge auf und befahl kurzerhand: »Nun gehst du heute in der Mittagsstunde mit Suse zum Arzt, Anna. Du hast Zeit, und sie soll nicht allein hingehn. Ich habe heute vom Bureau aus bereits an Doktor H. telephoniert. Er empfängt seine Patienten im Spital selbst, während der Mittagsstunde. Also geht zusammen hin. Und dann such mich schnell auf in der Druckerei im Vorbeigehn. Ich möchte wissen, was mit unsrer Suse los ist.«

Da geleitete ich Suse zum Arzte des Krankenhauses.

Ich saß allein im Warteraum und wärmte meine Hände am weißen Kachelofen. Im Zimmer nebenan vernahm ich durch die gepolsterte Türe dumpf die Stimme des Arztes, eine Frage, dann Suses halblaute, unverständliche Antwort. Es verging eine Viertelstunde. Da hörte ich Suse auf einmal ganz laut sprechen mit heftiger, unkenntlicher Stimme. Und bald darauf öffnete sich die Türe wie von selbst, und sie stürzte ins Wartezimmer, verstört, wirr, mit brennend roten Flecken auf den schmalen Wangen. In wortloser Erregung schlüpfte sie in ihren Mantel, setzte den Hut auf, umklammerte dann meine Hand und riß mich fort durch den langen, teppichbelegten Flur ins Freie. Vor dem Portal blieb sie einen Augenblick atemlos stehn, öffnete den Mund, wollte etwas sagen, schob aber nur ihren kleinen Samthut zurecht und hakte den Mantelkragen ein. Dann faßte sie mich wieder bei der Hand und eilte mit mir davon, den Weg hinunter der Brücke zu.

»Was ist mit dir, Suse, so sprich doch endlich, was hat der Arzt gefunden?« fragte ich ungeduldig. Bei einer Gruppe junger Bäume, die dicht mit Schnee überhangen waren, machte sie halt und stieß rasch und mit zornigem, fassungslosem Unmut, als ob sie eine unverdiente Schmähung zurückwiese, hervor: »Weißt du, was er sagte, dieser läppische Arzt? O, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!« und ohne ihre Rede zu beenden, umklammerte sie von neuem meine Hand und zog mich hinter sich her an eine einsame Stelle neben dem mächtigen Brückenpfeiler. Hier endlich hielt sie erregt inne. Aus ihrer Stimme klang es wie erschrockenes, kindliches Weinen: »Weißt du, was er sagte, Anna? Er behauptet, ich sei schwanger; aber es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!«

Fassungslos starrte ich ihr ins Gesicht. Jeder Gedanke verließ mich, nur eine unsagbare, dumpfe Angst und Qual ließen meinen Körper erzittern. »Nein, nein, das kann nicht sein, das darf nicht sein, Suse!« rief ich laut, »das ist eine Lüge! Komm, komm rasch!« und wir liefen Hand in Hand den Weg hinan über die Brücke, wo der kalte Wind uns unbarmherzig ins Gesicht schlug. Und während ich mühsam den Atem suchte und nur irgend einen festen und haftenden Gedanken, hörte ich, wie Suse immer wieder in unvernünftigem Zorne gegen den unberechtigten Ankläger laut wiederholte: »Er lügt, er lügt, es ist nicht wahr, er lügt.« –

Sie ging an die Arbeit ins Seidengeschäft, ich zu Regine.

Aber wo führte denn heute der gerade und kürzeste Weg zu ihr durch? Warum schauten mich die Vorübergehenden so zudringlich an? Kannten sie mich? Wußten sie um das Unerhörte, das ich soeben vernommen? – Ich kannte doch alle Straßen unsrer Stadt. Dahinunter mußte der Weg zur Druckerei führen. Ja, dort auf dem Platz erhob sich das große Steingebäude. Richtig dort ... In der Wirrnis und Leere meines Kopfes suchte ich mit aller Anstrengung nach einem Worte. Aber das Herz, das riß sich in meiner Brust wieder los von seinen Angeln. Es riß auch das Wort mit sich fort, nach dem ich suchte und das mir soeben wieder entfallen war. Es war ein Wort voll dumpfer Bedeutung, das ich irgendwo gehört oder gelesen hatte, das jemand, sich selbst richtend, gesprochen, an dessen Klang und Sinn ich mich in einer unglücklichen Stunde verstört geklammert. Ja, jemand hatte es für mich erfunden, und es war in mir unbewußt zu beruhigender Versicherung und Sicherheit emporgewachsen. Wie hieß es? Wo stand es? Da fiel es halblaut von meinen Lippen, wie eine Frucht, die vom Baume fällt mitten in der Nacht ... Eine liebeleere Spielerei! Das war es. So hatte es in jenem Briefe gestanden. Mir allein zum schalen Troste. Hans, diese Spielerei hättest du uns nicht antun dürfen, mir nicht, dir nicht, Suse nicht, uns allen nicht, die wir einsam und ratlos waren. O, es wächst deine Schuld von Stunde zu Stunde. Nun gibt es keine Brücke mehr von dir zu mir. Eine Spielerei. Und den Jammer der Verantwortung, der auf dem Fuße folgt? Das ist Sünde. Das ist Sünde ... Aber war ich denn blind gewesen, ohne Augen, ohne Sehen, ohne Gedanken, diese letzten Monate? Ach, da lag es, ich hatte nur an das gesonnen, was Anna Richter mit ihrem Liebsten durchlebt; was ihrer Schwester widerfahren, das trieb fernab an einer fremden Küste und wollte nicht ergriffen werden. –

Ich trat ins große, massige Haus, in dem Regine arbeitete. Ich klopfte an die erste Türe oben an der Treppe. Regine streckte den blonden Kopf vorsichtig in den kalten Korridor hinaus.

»Ich komme sofort«, rief sie mir zu, als sie in mein Gesicht geschaut, »warte.«

Und sie huschte bald darauf, ihr rotes Wolltüchlein über den Schultern, in den Gang hinaus zu mir. »Gehn wir hinunter, über den Platz unter die Bäume, Anna«, riet sie, eine Viertelstunde darf ich schon wegbleiben. Der alte Ausläufer wird mich rufen.«

Seite an Seite schritten wir hinter der Häuserreihe durch, unter den kalten, geborstenen Bäumen. Ein böser Wind blies aus der Tiefe herauf, wo der Fluß träge rauschte.

»Was ist geschehn?« fragte Regine mit angstvoller Spannung, »ist etwas mit Suse?« Da mußte ich all die innere Not von mir wälzen, und ich rief es hart heraus, daß Suse schwanger sei. Und als sie mich ungläubig und ohne Verständnis anstarrte, kam ich jeder ihrer Fragen ohne Schonung zuvor, gab den Namen des Unseligen preis und nannte Hans Weeger.

Regine wandte sich heftig um. Eine Weile blickte sie mir ins Gesicht, fassungslos, als ob ich mit fremden Zungen unbegreifliche Dinge rede. Dann warf sie beide Arme ungestüm um meinen Hals und schmiegte voll zärtlichen Ueberschwangs ihre kindliche Wange an die meine: »Armes du,« klagte sie, »nun begreife ich alles, alles. Meine Ahnung war also kein Trug. O der Erbärmliche, Abscheuliche! Armes du. Was mußt du gelitten haben!« Und Tränen liefen aus ihren blauen Augen und netzten meinen Hals.

Da, da war sie nun endlich, die Liebkosung, nach der ich gerufen, der Ton inniger, mittragender Liebe, der längst in meiner Seele vorausgeklungen und auf den ich voll Entbehren gewartet hatte. Ich weinte mit Regine zusammen, das erste Mal offen und geduldig, wie ein Kranker, der seine geheime Wunde nicht mehr zu verbergen braucht und der ein altes Recht hat auf seine Tränen.

»Was soll werden? Um Gottes Willen, was soll nun werden?« jammerte Regine, und ich wußte ihr darauf keinen Bescheid. Arm in Arm schritten wir auf und nieder, dicht aneinander geschmiegt, als ob die Häuser uns belauschten, und sprachen ganz leise. Und siehe, in dieser bangen Viertelstunde fühlten wir, daß dies das Erwachen einer echten, innigen Geschwisterliebe war, die das erste Mal ganz ihr Herz verraten, die sich selbst unentbehrlich würde, eine Liebe, die steigen, wachsen und sich ausbreiten würde über die kleinste Regung im Leben des andern, die wohltätig sein würde und zuversichtlich, einfach und gut, eine Phalanx, die wir gemeinsam allen Wechselfällen des Daseins entgegenzusetzen hatten.

»Es kommt eine böse Zeit auf uns zu«, sagte endlich Regine schaudernd und drückte meinen Arm fest.

»Wir werden sie gemeinsam und geduldig aufnehmen und zu ertragen suchen«, gab ich mit plötzlicher Zuversicht zur Antwort und wußte im Grunde doch nicht, was ich mir und ihr da vortäuschte. So schritten wir engverschlungen unter den nackten Winterbäumen auf und nieder und schienen in der ganzen Welt die einzigen zu sein, die das Unglück kannten.

Da tauchte vor dem Druckereihof der alte Ausläufer auf und machte heftige Bewegungen mit den Armen. »Ich muß gehn«, sagte Reginchen, »der Alte winkt!« und sie trocknete ihre Augen, zog ihr rotes Wolltüchlein dichter um den Hals und eilte an ihre Arbeit.

Wie tapfer sie war, meine junge Schwester! Ich wußte nicht, daß, als alle Angestellten das Kontor der Druckerei verlassen und Regine allein zurückgeblieben war, sie über ihr Schreibpult hingeworfen, in fassungslosem Jammer schluchzte, bis der graubärtige Ausläufer, der zufällig noch etwas zu ordnen kam, sie allso fand. Ich wußte nicht, wie kindhaft rührend der alte Mann sie zu trösten versuchte, wie er ihre Hände streichelte und immer dringender wiederholte: »Fräulein Reginchen, weinen Sie nicht so. Weinen Sie nicht so. Was ist auch mit Ihnen? Ich bringe Sie hinüber nach Amerika; dort werde ich für Sie schaffen und schuften wie ein Neger. Sie können's dann wunderschön haben, Fräulein Reginchen. Sie werden auf einer großen Terrasse sitzen in einem Schaukelstuhl, zusehn, wie ich für Sie arbeite und werden schaukeln, schaukeln ...

*

Jedes Unglück läßt dich allein in der Welt zurück. Alle Fäden sind zerschnitten, alle Quellen verstopft. Wenn aber ein guter Mensch an deiner Seite geht, dem du dich offenbart, dann ist es, als ob von Stunde zu Stunde dir deine verlorenen Hände, Arme, Schultern zurückkehrten und deine Füße wieder den festen Boden gewännen. Dieser geheimnisvolle Vorgang in deinem Leib und deiner Seele ist der Vorbote einer teilweisen Beschwichtigung des erschütterten Gemüts und das erste erwachende Verlangen nach der befreienden Regung.

Suse kehrte am Abend nicht rebellisch und empört, sondern verschüchtert, still und demütig ins Mädchenzimmer zurück. Sie schien jetzt von der Gewißheit ihres Zustandes überzeugt zu sein und wie ein scheuer, getroffener Vogel schlich sie durch die hohe Stube an mir vorbei und legte sich geräuschlos zu Bett.

Regine und ich aber blieben lange wach bei der grünen Kupferlampe, berieten, erwägten, besprachen Vergangenheit und Gegenwart. Was tun? Wie uns helfen? Wie das Geschehene verbergen in der kleinen Stadt, wo wir keinen Schutz, keinen Rat, keine Freunde besaßen? Wo es soviele wachsame Augen gab, die mit dem Blicke des Bösen auf den Fall des Nächsten warteten, um ihn vor dem Nachbar gering und niedrig zu machen? Wo sollten wir die Mittel hernehmen, um Suse zu entfernen, ihren Unterhalt zu bestreiten und die Bürde des schweren Nachher auf uns zu laden? Wie konnten wir die nächste Zukunft überhaupt uns und Suse erträglich gestalten?

Der Name Hans Weeger wuchs und wuchs. Siehe, vor der Schwelle deines Kindes, Hans, liegt alles Böse aufgehäuft. Lug und Trug, Verrat und Schande, die offenbar gewordene Strafe für die Stunde der buhlerischen Lüge am Leibe der ungeliebten Frau. Es wäre das Nächstliegende und Natürlichste gewesen, dich für deine Schuld verantwortlich zu machen. Aber wenn das Schuldig über den Mann ausgesprochen wird dadurch, daß man ihn materiell zur Verantwortung zieht und wir ihm wenigstens äußere Verpflichtungen auferlegen, so fühlen wir dennoch, daß das bloß ein Versuch des Ausgleichs ist im Sinn einer höhern Gerechtigkeit, den die grausame Natur selbst für uns Frauen zu schaffen unterließ. Wohin aber mit denjenigen unter uns, denen das Geld, das ihnen gereicht wird, die Schmach vergrößert und nicht verringert? Wohin mit denen, die sich schämen, gerade von dem Manne Geld für das Leben des Kindes entgegenzunehmen, dessen Mutter von vornherein durch das Gefühl verleugnet ward?

Suse gehörte zu ihnen. Wenn sie auch den Namen Hans Weegers nie mehr nannte, wenn er aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht schien, so muß er dennoch in schlaflosen Stunden in ihrem Ohre fortgetönt haben in dumpfer, langsamer Erbitterung. Aber ihr willenslahmer Instinkt verwarf jede Art des Zorns und gebot aus dem Gefühl völliger Wehrlosigkeit heraus auch für sich nur das zulässigste: Den völligen Verzicht und die Unterordnung unter ihr Geschick.

Als Suse einst auf dem Stühlchen hinten beim grünen Kachelofen saß und Reginens Wäsche flickte, da gestanden wir ihr, Regine hätte an Hans geschrieben und ihm das Unglück gemeldet. Aber da blickte sie von der Arbeit auf und sah uns mit einem Ausdruck unverhohlenen Schreckens an, ohne sprechen zu können. »Hans Weeger hat sofort geantwortet und die flehentliche Bitte hinzugefügt, uns helfen zu dürfen, man möge ihn nicht zurückweisen, so sagt er«, brachte Regine vor.

Da stand Suse von ihrem Stühlchen auf, und ihr weißes Gesicht färbte sich mit brennender Röte: »Nein, Hans Weeger darf mir nicht helfen ...«

»Aber wie soll denn das werden, Suse?« fragte Regine voll Schonung. »Wie sollst du durch deine schwere Zeit durchkommen und wie denkst du dir deine Zukunft? Wir sind ja arm alle drei.« Da entgegnete Suse, und ihr kleiner Mund bebte: »Ich werde im Geschäft bleiben, solange es geht. Dann verreise ich außerhalb des Landes in eine große Stadt, wo mich niemand kennt. Dann ...« Sie brach ab. »Und dann, Suse?« fragte ich. »Es wird schon gehn«, meinte sie leise. »Nur von Hans Weeger will ich nichts annehmen. Er ist mir ein völlig Fremder, ich habe ihm nie etwas bedeutet, er hat keinen Teil an mir gehabt!« – Und dann verließ sie das Zimmer.

Suse ist von diesem Tag an uns gegenüber immer gefügiger geworden. Sie duckte sich gleichsam vor uns und nahm stumm unsre Ratschläge und Meinungen entgegen, als ob wir zwei Unerfahrene, Unberatene, einen Quell aller Weisheit bedeutet hätten. Sie widersetzte sich nicht mehr, beugte sich duldsam vor unsrer Ueberlegenheit und zeigte uns eine dankerfüllte Demut, die uns rührte und beschämte.

Wir durchdachten indessen die nächste Zukunft und sannen auf einen Ausweg. Wir kauften uns jetzt oft ausländische Zeitungen, durchstöberten sie und forschten nach einem Zufluchtsort für Suse. Da fand sich einst ein Inserat. Darin suchte eine Witwe in D., die ein kleines Stickereigeschäft betrieb, eine junge Gehilfin gegen Wohnung und Kost und einen geringen Entgelt. Das paßte auf Suse, sie besaß geschickte Hände. Ich schrieb sofort an die mitgeteilte Adresse und als ich zu meiner freudigen Ueberraschung ein paar Tage später Antwort erhielt, wagte ich es, der Unbekannten auch unsre Verhältnisse und Suses Lage darzulegen. Voll Bangen, die Antwort würde diesmal ausbleiben, schickte ich diesen zweiten Brief ab. Aber sie kam und war zusagend, und es hieß, meine Schwester werde wohlaufgehoben sein, und man erwarte sie kurz nach Neujahr. –

Wie atmeten wir da auf! Wie unser kleiner Mut sich hob! Langsam fanden wir uns wieder ein wenig zurecht. Auch Suse lächelte schwach. Wir wagten es wieder dreister, uns im Hause und auf der Straße zu zeigen. Wir nötigten uns sogar gegenseitig zum Ausgehn, nahmen Suse in die Mitte und führten sie an den Sonntagen spazieren, vom kindischen Wunsche geleitet, die Vorübergehenden möchten sich mit eignen Augen überzeugen, daß bei uns nichts sich verändert, und alles in bester Ordnung sei. Aber wie wurden wir unsicher, wenn jemand uns länger als üblich betrachtete oder sich nach uns umwandte! – In den Vorlesungen, die mir nichts einbrachten an Kenntnissen, die ich jetzt aber nie versäumte, weil mir daran gelegen war, heiter und sorgenlos vor den Leuten zu erscheinen, knüpfte ich Bekanntschaften an mit Menschen, die mir mißfielen, nur um während den Pausen in den Gängen nicht allein und leer einhergehen zu müssen. Einige neue Privatstunden führten mich auch in fremde, verwöhnte Häuser, die in schmerzlichem Gegensatz standen zu unsrer Bedrängnis an der stillen Gasse, und ich zeigte mich dort aufgeräumt und gesprächig.

*

Weihnachten nahte heran.

Vitia und ich hatten auf dem Markt einen kleinen Christbaum besorgt und ihn in der Mitte des Mädchenzimmers auf den Tisch gestellt. Regine hatte aus der Bodenkammer den Kasten mit dem Christbaumschmuck heruntergeholt, und nun suchten Vitia und ich die noch unversehrten, bunten Kugeln aus den Schachteln heraus, knüpften die Silberketten, flickten das Goldpapier der Nüsse, banden Aepfel an die rasch sich senkenden Arme des Baumes und behängten sie mit Silberfäden, steckten die Kerzchen in die Behälter und zuoberst an der Tannenkrone den rosenroten Engel mit den dicken Backen und dem blauen Flitterröckchen.

Es war ein schmucker, freudvoller Christbaum, der da vor uns auf dem Tische prangte. Die Gaben jedoch, die darunter zu liegen kamen, waren bescheiden. Vor allem sollte Suse beschert werden, die so manches bedurfte. Auch Vitia wurde einiges zugedacht. Er erhielt Taschentücher, ein Lehrbuch der Chemie, das er sich längst gewünscht. Er sollte das Christfest in der Heimat nicht vermissen.

Regine hatte in ihren kurzbemessenen Mußestunden Zeit gefunden, ein Kinderjäckchen und zwei Paar Strümpfchen zu stricken, und ich hatte ein Stück weißen Flanells verarbeitet und ein Häubchen beigefügt. Dies Spezialpaket für Suse, zusammengebunden mit einem gelben Büchlein, welches das enthielt, was wir beide ihr nicht zu geben vermochten, »Ratschläge für junge Mütter«, wurde unter ihre andern Geschenke gelegt. Sie nahm die Gaben scheu in Empfang. Das verschlossene Paket öffnete sie jedoch nicht, befühlte es bloß von außen flüchtig mit den raschen Händen und legte es zur Seite.

Unfroh saßen wir beisammen, wir drei und unser Freund Vitia. Wohl versuchten wir uns zu unterhalten; aber die Worte verkrochen sich vor den Gedanken zurück ins Gehäuse der verängstigten Herzen. Wir knackten Nüsse, schälten Orangen und sprangen eifrig auf, wenn eine Kerze zu tropfen begann, als ob es gälte, eine drohende Feuersbrunst abzuwehren. – Die Lichter waren kaum zur Hälfte heruntergebrannt, als Vitia sich verabschiedete und davonschlich. Jetzt begann Regine die Kerzen auszublasen.

»Laß noch einige brennen«, bat Suse, »ich möchte meine Sachen wegräumen«. Und sie blieb allein zurück im Mädchenzimmer.

Regine und ich standen indessen im Schlafraum gegen die Gasse und blickten durchs Fenster hinauf zur Mansarde eines Nachbarhauses, wo bei dem armen Maler mit den trübsinnigen Augen ein Christbaum zu brennen schien.

»Geh, Anna, hol Suse herüber«, mahnte Regine. »Was tut sie so lange noch drüben? Sie kam mir heute so betrübt und zertreten vor. Unser trostloser Baum und unsre eigne Stimmung sind natürlich auch nicht angetan, sie zuversichtlich zu machen.«

»Wir haben ja selbst nicht viel Mut und Zuversicht«, gab ich zurück. –

»Woher sie nehmen?« seufzte Regine, löste ihre Bluse und fing an sich auszukleiden. »Ich denke nur ab und zu, ob Suse auch wahrhaftig klug genug ist und sich nicht etwa selbst ins Gerede bringt. Du weißt ja, bei uns zu Hause war sie von jeher anders als mit fremden Menschen, vor allem ist sie dort gesprächiger und mitteilsamer. Das wäre schlimm für uns alle drei und für Vater. Es könnte ihm eines Tages ein leidenschaftlicher sogenannter Wahrheitsträger, wie es bei uns so viele gibt, die Botschaft selbst hinter seine Mauern tragen.«

»Das verhüte Gott«, gab ich erschrocken zurück und ging schnell hinüber zum Mädchenzimmer, um Suse zu holen. Aber im dunkeln Flur machte ich halt und blieb an die Wand gedrückt stehn. Die Türe des Mädchenzimmers war offengeblieben, so wie wir sie gelassen, und das Licht der Christbaumkerzen fiel in den schmalen Gang mir entgegen. Ich sah, wie Suse eben aus der Tiefe des Zimmers langsam daherschritt und sich dem Baume näherte. Auf den Fußspitzen reckte sie sich in die Höhe und zerdrückte mit den schmalen Fingern den Docht eines qualmenden Kerzchens, das schief in seinem Behälter saß. Und bei dieser Bewegung bemerkte ich das erste Mal, daß ihr Leib mit den engen, kindhaften Hüften sich bereits verändert hatte und daß über ihrer ganzen Gestalt jener rührende Ausdruck banger Ergebenheit lag, der schwangern jungen Frauen eigen ist. Nun öffnete sie die Schnur des Pakets, das wir unter ihre andern Gaben verborgen hatten. Sie legte das winzige Wolljäckchen über die Hand, hielt das Häubchen gegen das Kerzenlicht, prüfte das Geflecht der Maschen, band und löste die seidenen Bänder, strich mit dem Handrücken über den weißen Flanell, steckte zwei Finger in die Strümpfchen, wie um sie auszuweiten und legte dann plötzlich, mit einer fluchtartigen Bewegung, das mollige Jäckchen an die Wange wie zur kurzen, raschen Liebkosung, indem sie dabei die Schultern hochzog. So blieb sie einen Augenblick stehn. Und unter der weichen Berührung des Jäckchens zogen sich ihre Stirn und ihr Mund klagend zusammen. Das mühsam beherrschte Gesicht, das sie die letzten Wochen immer zur Schau getragen, wurde klein, brach zusammen und verschwand hinter einem Geriesel unaufhaltsamer, lautloser Tränen, die sie, still dahinschluchzend, über sich ergehen ließ, als ob sie den stummen Jammer ihres beschämten Leibes überfluten wollten. Unaufhörlich weinend sah sie sich nach allen Seiten im Zimmer um, horchend, schauend, mit aller Inbrunst wartend, als ob irgendwo jemand stände, an den sie sich wenden könnte, um ihre Tränen niederzulegen. Aber sie schien nichts zu finden. Da hörte ich sie halblaut flüstern, wie jemand, der nicht das erste Mal so dasteht und also fleht: »Vater im Himmel ... Gott ... Vater im Himmel ... hilf du. Hilf ...«

*

Das neue Jahr war eingezogen. Suse hatte ihre Stelle im Seidengeschäft gekündet. Ihre Abreise stand bevor. Vorher aber wollte sie von Vater Abschied nehmen. Da wir alle drei vor dem Kranken ein schlechtes Gewissen hatten, begingen wir überflüssige, vorsorgliche Ungeschicklichkeiten, über die ich heute lächeln muß. Obwohl Suses Gestalt für ein argloses Auge kaum verändert war und nur der hilflose Ausdruck ihres Gesichts von ihr redete und sie verriet, glaubte unser ratloser Unverstand dennoch ein übriges tun zu müssen. Wir hatten im Schrank einen alten, faltenreichen Mantel unsrer Mutter gefunden und Suse übergeworfen. In diesem grotesken Aufputz brachten wir sie vor Vater. Die Arme, die nicht wagte gegen unsre Maßnahmen zu protestieren, schleppte mit hochrotem Gesicht den schweren, häßlichen Mantel den weiten Weg. Vater machte eine lächelnde Bemerkung über das absonderliche Kleidungsstück, meinte aber, es werde schon recht sein, denn er verstehe ja von der Mode nichts mehr.

Ein paar Tage später verreiste Suse. Sie stieg des Morgens in aller Frühe in einen ungeheizten Wagen dritter Klasse und fuhr der großen, fremden Stadt und ihrem Schicksal entgegen.

Dann waren Regine und ich allein in unsern großen Stuben mit den alten, kostbaren Möbeln. O diese unheimliche Stille, die uns jetzt umfing!

Bange fing ich jetzt an, mich nach dem greifbaren Resultat meines kostbaren Vorbereitungsjahres zu fragen. Meine Bücher sah ich wie Verdrängte herumliegen, und meine Mittel gingen zur Neige. Die Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis, mein heißer Wunsch, dicht in der Nähe des Großen und Schönen zu stehn, erschien mir jetzt oft wie eine verirrte Phantasie, die in einer müßigen Stunde in mich gehuscht, mir längst entrückt und nun völlig verstummt war vor der schwermütigen Melodie des Lebens. Und immer noch ging bei uns die graue Sorge um und kauerte in den Winkeln unsrer Stuben, die Sorge um die arme, vertriebene Suse.

*

Der Januar ging zu Ende. Der Februar brach an. Er war ein häßlicher Geselle, der wenig Gutes versprach. Der Himmel hing trüb herunter bis auf die Kamine der Dächer, ein kalter, schwarzer Regen verstieß den weißen Schnee und machte die Straßen und Häuser frostig und unbehaglich.

Von Suse trafen Briefe ein, die nie an mich, sondern an Regine gerichtet waren. Der Ton dieser Briefe klang zuerst matt und betrübt, wurde jedoch bald freier und zuversichtlicher. Suse schien sich aufrichtig wohl und geborgen zu fühlen in ihrer neuen Umgebung, besser als unter unsern Blicken und in der Atmosphäre unsrer kleinen Stadt. Die Briefe berührten jedoch kaum das Hauptsächliche, erzählten aber sehr ausführlich allerhand nichtige und absehbare Nebendinge, wie das in der Art der Schreibenden lag. Vor allem sprach sie mit Begeisterung von der fünfzehnjährigen Zilli, dem Patenkind Frau Pachs, ihrer Wirtin, der sie mit der ihr eignen, unterschiedslosen Ueberschwänglichkeit rasch zugetan schien.

Obwohl diese Berichte Suses uns nach und nach zu beruhigen vermochten, blieb in unsern Herzen dennoch eine leise, vibrierende Unruhe zurück, die einem uneingestandenen geheimen Selbstvorwurf gleichen mochte, darum, daß wir die Widerstandslose für uns und unsre Verhältnisse so unerreichbar weit hatten ziehen lassen. Aber wir verbargen uns voreinander, Regine und ich, täuschten uns sorglosen Gleichmut vor und sogar Frohsinn, der uns manchmal, aus einem ganz natürlichen Bedürfnis unsrer Jugend heraus, auch aufrichtig glückte. Es war so wohltätig, ab und zu wieder lachen zu dürfen!

Einst brachte uns Vitia zwei Theaterbillette. Es wurde »Romeo und Julia« gespielt. Vitia selbst sah sich im letzten Augenblick am Theaterbesuch verhindert. Wie wir uns freuten und wie die Lust uns ankam, uns von allem Gram und fruchtlosen Nachsinnen für ein paar Stunden zu befreien und uns schön zu machen!

Ich kann mich nicht mehr erinnern, auf welche Weise es geschah, daß wir, statt am vorgesehenen Platz auf der Galerie, uns in einer Loge befanden. Eine alte, dicke Schließerin mit einer runden Brille auf der Nase schob uns kurzerhand in diese Loge hinein, wohl weil sie Gesellschaft zu haben wünschte. Das Theater war alt, eng und häßlich, in unsrer Loge hing die Tapete stellenweise in kleinen Fetzchen von der Wand, und die roten Plüschpolster waren zerschlissen und verfärbt. Im Hintergrund brannte eine trübe Gasflamme, darunter saß die dicke Schließerin und strickte mit gutmütiger Unablässigkeit an einem schwarzen Wollstrumpf. Das Geräusch der klirrenden Nadeln drang zu uns hervor bis an die Rampe, wo wir beide auf Taburetten saßen und rasselte hell in das Spiel hinein, das auf der Bühne jetzt anhub. Das Theater war schlecht geheizt, und man fror. Das Publikum hatte sich wenig zahlreich eingefunden, ganze Sitzreihen blieben leer. Aber mit neugierigem Interesse blickten Regine und ich uns um, betrachteten die fremden Gesichter und streckten die Köpfe über die Rampe.

Ich hatte im Ausland gute Theater und gute Schauspieler gesehn. In unsrer Stadt war alles damals noch kümmerlich und dürftig, die Darstellenden nicht mehr als gute Dilettanten, die Szenerien unzureichend und die Kostüme abgenutzt und von fadenscheiniger Pracht. Aber ich fand heute zuerst keine Kritik und kein Urteil, schaute nur immer voll Interesse hinunter auf die Bühne, wo heute fremde Menschen ihre fremden Geschicke fernab von uns durchkosteten.

Im Zwischenakt spazierten Regine und ich in dem schmalen Foyer auf und ab. Da erblickten wir Bruno Ott, Reginens Tänzer vom Ballabend der Studenten. Er grüßte. Wie weit das alles hinter uns zurücklag!

Aber vom zweiten Aufzug an kam mir plötzlich alles in dem kleinen Theater komisch und von wichtigtuerischer Nutzlosigkeit vor. Dies Hin und Her auf der Bühne, die rasche Bewegung der Geigenbogen im Orchesterraum, die Gesten, Rufe, Liebe, Haß, Zorn, die ganze Unwahrhaftigkeit der Mimik, des bloß Nachgeahmten, Nachempfundenen, alles erschien mir in der Enge und Dürftigkeit dieses Rahmens und meiner Seelenstimmung ein so bunter Widersinn, daß ich das Lachen kaum mehr zurückdrängen konnte. Als dann die Szene auf dem Balkon gespielt wurde, über welchem in trauriger Farblosigkeit ein alter Schal gebreitet hing, als Romeo in der Strickleiter hängend, zum letzten Male seine Geliebte mit heißen Liebesworten umschlang, da rutschte noch die alte, dicke Schließerin hinter uns mit ihrem Strickzeug und ihrem Stuhl ganz in unsre Nähe, um besser zu sehn. Und als Romeo die Leiter hinuntergeglitten war und Julia noch einmal zuwinkte, schossen der Alten dicke Tränen über die Wangen, und sie schluchzte voll Rührung: »So wie im Leben, ja, so wie im Leben!«

Da stieß mich Regine unmerklich mit dem Ellbogen an, und wir brachen in ein so ausgelassenes Lachen aus, wie zwei Schulmädchen, die eine Rüge fürchten. Eine unbändige Lustigkeit überkam uns, die sich nicht mehr dämmen ließ. Wir wagten uns nicht mehr ins Gesicht zu sehn; denn immer wieder kehrte das unbegründete Lachen zu uns zurück und belegte die ganze Aufführung vor unsern Augen und unsre Umgebung mit unfreiwilliger Komik.

Lachend sind wir auch nach dem Schlusse der Vorstellung die enge Theatertreppe hinuntergestiegen. Da stand unten an einer Säule ein junges Mädchen in einem grauen Mantel. Sie näherte sich uns. »Sind Sie nicht Fräulein Richter?« fragte sie mich, »Suses Schwester? Ich bin ihre einstige Kollegin vom Seidengeschäft. Ich habe mich seit ihrem Weggang oft gefragt, wie es ihr gehe und wo sie sei. Dürfte ich um ihre Adresse bitten? Ich möchte ihr einmal schreiben.«

Da verstummte unser Lachen, und wir standen wieder mitten drinnen in der untrüglichen Wirklichkeit.

*

Auch der Monat März war unwirtlich und böse. Schon ging er seinem Ende zu. Da gab es einmal eine solch furchtbare Sturmnacht, daß Regine und ich vom Bett aufstanden und das Licht in beiden Stuben anzündeten.

Der Sturm rüttelte an den Fenstern vorbei, seine Flügel hoben das lose Schindeldach des Sommerhäuschens unten im Garten empor und warfen den kleinen Pflaumenbaum um, der in der Mitte des Rasens stand. Wie ein Betrunkener fiel er zur Erde. Der Wind zischte vor Wut, die mächtigen Zweige der alten Tanne schwangen wie riesige Federbüsche durcheinander. Dann warf er sich in kreisendem Wirbel aufs Dach, zerrte an den Schloten, löste die Ziegel und warf sie weit von sich weg ins Dunkel hinaus. Als wir das schlechtsitzende Fenster im Mädchenzimmer öffneten, um es besser zu schließen, da fegte der Sturm den leichten, weißen Vorhang von den Haken und riß ihn in die Tiefe der Nacht. Durch den Schlund des Kamins ging ein Räuspern und Rasseln wie der Atem eines Lindwurms; der schwere Teppich am Boden hob sich, vom Hauch des Kamins berührt, und keuchte leise über der Diele. Und als wir zum Bilde der Großmutter aufblickten, da sahen wir, daß die alte Frau mit den über der Brust gekreuzten weißen Händen, beim Erzittern der Wände sich langsam in ihrem Rahmen hin- und herschaukelte ...

Der Tag brach endlich an, viel zu spät, als daß man ihn für den Tag hielt. Er war düster, lichtlos und abgehetzt von dem Ungestüm der Nacht. Er drückte sich den Hausmauern entlang, ein blasser Schatten, der alle die Verheerungen der vorausgeeilten Stunden mit matten Händen aufdeckte.

Gegen Abend dieses Tages pochte es bei uns an die Türe. Man überbrachte uns ein um viele Stunden verspätetes Telegramm. Entsetzt riß Regine es auf. Man rief die Angehörigen zu Suse ...

Was war geschehn? Wir durften uns die Frage nicht stellen, nicht auf sie zu antworten versuchen. Als grausam, leichtsinnig, feig schalten und verurteilten wir uns, daß wir Suse, die Hilflose, um der Leute und unser selbst willen, so weit fortgenötigt hatten. Regine deckte ihre Augen mit den Händen zu und weinte vor sich hin.

Zu Suse rief man uns. Wo aber sollten wir heute schon wieder das Geld hernehmen zu der langen Reise und all dem, was bevorstehn mochte?

Reginchen sprach bereitwillig von ihrem Sparheft, in dem sie Franken um Franken für ihre große Reise zusammengetragen hatte. Nein, nein, Schwesterchen, daran darf nicht gerührt werden. Ich besaß ja eine Schachtel mit nur schönen, aber nutzlosen Edelsteinen. Die Reihe war an ihnen.

Ich nahm die Achate heraus, den Mondstein und den Labradoriten, dessen Farben wanderten, meine Lapiskugeln und den stillen Ametyst. Ich trug sie zu Moekel, dem Juwelier, der in einer der Hauptgassen ein großes Gold- und Silbergeschäft betrieb und sehr reich war. Ihm hatte ich einst, kurz nach meiner Rückkehr aus dem Ausland, meine Steine gezeigt und sie auf ihren Wert hin prüfen und abschätzen lassen. Von ihm wußte ich, daß es gute, farbenschöne Exemplare waren.

Aber geh, geh! Schau dir deinen Mitmenschen, den sogenannten tüchtigen Kaufmann an, wenn die Rollen vertauscht werden, wenn du der Verkäufer bist und er zum Käufer gezwungen wird. Schau ihn dir an, wenn er die Schwermut der Not und die Abspannung seelischer Qualen hinter dir und den Dingen wittert, die deine zitternde Hand ihm hinhält! Unmutig, verdrossen wird er in deinen bangen Augen alles entwerten, heruntersetzen, was er einst guthieß und wird sich so gehaben, als ob du bereits der Bettler wärest, als den er dich fühlt! – Ich sah, wie die Angst um das bißchen Geld diesen Mann da häßlich machte, lauernd, wie es ihn erregte, wie er seine heimtückische Macht hinter sich fühlte, und meine Hände begannen zu zittern.

Und endlich händigte er mir eine Summe ein, viel zu gering, die in keinem Verhältnis stand zu dem Preise, den er selbst mir einmal genannt.

Noch am selben Mittag verreiste ich. Regine geleitete mich mit kummervollen Augen an die Bahn.

*

Ich bin frühmorgens um 6 Uhr, nachdem ich Tag und Nacht gereist, in der mir völlig fremden Stadt angekommen. Ich nahm einen Wagen und fuhr an die Straße, in der ich Suse wußte. Zwei Häuser von ihrem Wohnort entfernt, entdeckte ich ein kleines, schmalfenstriges Hotel mit engen Balkonen nach der Straße hin. Ich ließ den Kutscher halten, mir ein Zimmer anweisen und lief dann dem Hause zu, wo ich meine Schwester finden mußte. Ein Mann in brauner Samtjoppe trat mir im Flur entgegen und als ich ihm den Namen der Wirtin Suses nannte, wies er mich ins vierte Stockwerk. Die drei ersten Treppen des Hauses, die ich erstieg, waren aus Stein, die vierte aber erwies sich als eine enge Holzstiege, die zur Bodenkammer zu führen schien. Sie war sehr dunkel. Nur die zweitoberste Treppenstufe, aus neuem, weißem Holze, leuchtete mir aus dem Dämmer als heller Streifen entgegen. Ich weiß nicht warum ich dieser zweitobersten Stufe in meinen Gedanken sofort eine außergewöhnliche Bedeutung beimaß, die mit Suse im Zusammenhang stand.

Oben an der dämmerigen Treppe erweiterte sich der Raum zu einer großen Diele mit verschiedenen Türen. An einer der Türen hing ein Zettel, darauf stand mit Bleistift: Frau Wwe. Pach. Ich klopfte. Niemand öffnete. Da klopfte ich stärker; aber man schien mich nicht zu hören. Durch das Schlüsselloch fiel ein schwacher Lichtschimmer. Da öffnete ich behutsam die Türe und blieb auf der Schwelle stehn. Eine heruntergebrannte, flackernde Kerze stand auf einem kleinen Tische und mischte ihr trübes Licht mit dem grauen Schimmer des Morgens, der vom Fenster her über die Dächer geschlichen kam. Das stumpfe Flackern der Kerze reichte bis halb hinauf an eine leere, blaßblaue Tapete und fiel in zuckenden Gebilden auf ein hohes, sehr großes Bett, auf dem jemand, wie der tiefe Atem mir verriet, in notwendigem Schlafe fest schlief. Zwei Beine in zerrissenen, schwarzen Strümpfen hingen über den Bettrand hinunter, über die Knie fiel zerknüllt ein dunkelblauer Rock, den ich sofort als Suse gehörig erkannte. Geräuschlos hob ich die Kerze, um die Schlafende zu beleuchten. Da sah ich, daß sie auch Suses rotgetupftes Morgenjäckchen trug, in das sie sonderbarerweise vorn im Ausschnitt ihre zwei dicken, schwarzen Zöpfe mit hineingesteckt hatte.

Leise stellte ich die Kerze wieder auf den Tisch. War ich eigentlich am rechten Orte? Und wo war Suse?

Einen Augenblick stand ich ratlos in dem engen Raum und wagte nicht, mich zu rühren. Da vernahm ich aus dem Nebenzimmer, dessen Türe nur angelehnt war, ein kurzes, knisterndes Geräusch, als ob jemand mit heißer Zunge über dürre, trockene Lippen fahre, und dann hörte ich einen wimmernden Klagelaut. So undeutlich und schwach diese Geräusche auch geklungen hatten, jetzt wußte ich doch, daß ich am richtigen Orte war und daß hinter jener Türe Suse liegen mußte. Ich nahm die Kerze wieder vom Tisch und wollte eben leise die Türe des Nebengemachs öffnen, da regte sich die Gestalt oben auf dem hohen Bett, erschrocken wurden die baumelnden Beine hochgezogen, und mit weitaufgerissenen, schlaftrunkenen Augen fragte die Erwachende: »Wer sind Sie?«

»Ich bin Anna Richter«, entgegnete ich halblaut, »ich bin eben mit dem Zug angekommen und fand die Eingangstüre offen. Wo ist meine Schwester?«

Die Gestalt auf dem Bette richtete sich auf und rutschte, eingehüllt in den feuchtwarmen Duft des jungen, heißgeschlafenen Leibes, vom Bette hinunter. »Suse? Sie ist nebenan. Ich habe schon die zweite Nacht bei ihr gewacht. Nun bin ich gegen Morgen eingeschlafen. Verzeihen Sie! Ich bin Zilli.«

In ihren schwarzen, zerrissenen Strümpfen stand neben mir ein ungefähr fünfzehnjähriges, sehr hübsches Mädchen. Mit raschen Händen knüpfte sie das getupfte Jäckchen Suses über der jungen Brust zu. Dann öffnete sie die Türe, während ihre schönen Augen mich betrachteten. Wir traten ins Nebenzimmer. Hier hatte sich der Morgen durch das große Fenster fahl und blaß eingefunden. An der weißgetünchten Wand erblickte ich ein Bett; darin lag Suse. Ihr kleines Gesicht war mir zugekehrt. Es war völlig verändert, obwohl nicht schmaler als früher; aber jeder Zug darin ein andrer, ganz glattgezogen unter der unsichtbaren Glut des sengenden Fiebers. Die Augenlider glänzten, unaufhaltsam bewegte sie die Lippen und fuhr mit der Zunge darüber, als störe sie ihr Trockensein.

Auf den Fußspitzen trat ich zu ihr hin. Ich beugte mich über sie und strich über ihr feuchtes Haar. »Suse, liebe Suse«, flüsterte ich ganz nah an ihrem Ohre.

Das leise Wimmern, das mir entgegenkam, sollte wohl eine Antwort bedeuten. Aber die Kranke öffnete die Augen nicht, faßte bloß mit den schmalen Händen zuerst an die rote Korallenkette, die sie immer noch am Halse trug, dann an die Bettdecke. Hierauf machte sie eine taumelnde Bewegung in die Höhe, als ob sie sich erheben möchte, schaukelte ein paarmal den Oberkörper hin und her und fiel darauf kraftlos zurück in ihre heißen, zerknüllten Kissen.

Die Tränen traten mir in die Augen. »Was ist denn da geschehn?« fragte ich die neben mir stehende Zilli und setzte mich neben die Kranke. Und sie erzählte mir, daß ihre Patin, Frau Pach, letzte Woche zu einer Verwandten verreist sei. Da habe Suse sie in ihrem Geschäft an der St. Johanngasse ersetzen wollen; Suse habe das schon früher einmal getan; denn sie habe sich bereits gut in allem ausgekannt. Aber wie sie beide, Zilli und Suse, am frühen Morgen die dunkle Holztreppe hinuntergestiegen seien, an deren unterm Ende man der Kälte wegen die Türe immer geschlossen halte, da sei Suse an der zweitobersten Treppenstufe, die der Hausbesitzer nie habe reparieren wollen, mit dem Fuße hängen geblieben und sei, man wisse nicht wie es gegangen, auf dem Bauche die ganze Treppe hinuntergerutscht und mit dem Kopfe gegen die Türe gestoßen, daß diese aufgesprungen und Suses Leib hart auf die Steinplatte davor aufgeschlagen habe. Als man sie hinauf und ins Bett getragen, sei der Arzt gekommen, dann auch die Hebamme; denn bald darauf hätten die Schmerzen im Leibe begonnen. Natürlich habe das Kindchen nicht leben können. Zuerst habe man geglaubt, es werde sich für Suse selbst alles zum Guten wenden; denn sie habe ganz still und bewegungslos dagelegen und fast ohne Schmerzen. Aber am dritten Tage gegen Abend habe es sie plötzlich stark geschüttelt im Bette, daß ihre Zähne laut zusammenschlugen, immer ärger und ärger, und die Hebamme habe erklärt, das sei das Fieber, und da werde nicht mehr viel zu machen sein. Der Doktor sei wieder gekommen, habe auch nicht viel gesagt, bloß gemeint, man müsse abwarten, nichts Gutes verheißen, und da hätte die Patin das Telegramm geschickt. Wo die Patin jetzt sei, fragte ich Zilli. »Sie ist ins Geschäft gegangen«, antwortete sie, »sie muß immer früh fort, denn das Geschäft ist an der St. Johanngasse und man hat mehr als eine Stunde mit der Elektrischen bis dahin zu fahren. Es tut der Patin sehr leid, daß es mit Suse so geht; denn sie hat sie gern und ich auch. Und darum hat man die Kranke nicht ins Spital bringen wollen, obwohl der Doktor gemeint, es wäre das beste, aber wir wollten zusehn, was sonst für sie geschehn könnte ...«

*

Suse ist nicht mehr zum Bewußtsein gekommen. Noch sechs Tage und sechs Nächte mußte sie dies furchtbare Fieber über sich ergehn lassen, bis das abgehetzte Herz endlich versagte. Ich habe oft versucht, zu ihr zu reden und mit meiner rufenden Stimme bis zu jenen Schatten zu dringen, in denen ihr Geist wie in einem rastlosen Wirbel kreiste. Aber ich wußte, sie lauschte bereits nicht mehr nach dem Orte hin, an dem ich wartend stand, sondern sie war schon nahe dem Ufer jenes Stromes, der alles Lebendige fortspült. Nur einmal, es war in der dritten Nacht, als ich ihr einen Löffel verdünnten Weines reichte, machte sie die Augen weit auf und richtete sie verstört auf mich. »Suse!« rief ich, »Suse, kennst du mich?« Aber die Sterne ihrer Augen lagen weit nach hinten gedreht unter den Lidern, sodaß aus ihnen kein Blick kam, kein Sehn und Vonsichwissen. Und der kleine Mund lag verdorrt wie eine versengte Blüte; es gab immer einen kurzen, trockenen Laut, wenn der lohende Atem sich über die Lippen Bahn brach. –

Als die sechste Nacht dem Morgen entgegenging, da waren die wilden Herzschläge stiller geworden und vermochten das Laken nicht mehr zu heben. Unter der Korallenkette sammelten sich keine feuchten Tropfen mehr, und die Hände wurden still. Da wußte ich, daß Suse Richters vergeudetes, junges Leben zu Ende ging. Ich bin an ihrem Bette niedergekniet und habe meinen Kopf neben sie aufs Kissen gelegt, bis alles vorüber war.

Um sechs Uhr des Morgens ist sie gestorben.

Ich weiß nicht mehr, was alles nachher vor sich ging. Ich erinnere mich, Zilli ist auf die Post gegangen und hat Regine Suses Tod gemeldet. Frau Pach hat ein dunkles Tuch um meine Schultern gelegt, hat mich in das kleine Hotel nebenan gebracht und ist nicht von mir gewichen, bis sie mich fest eingeschlafen sah. Und als ich gegen Abend erwachte, vom Schlagen einer nahen Turmuhr geweckt und mich im dämmerigen Zimmer umsah, da fiel mein Blick auf Zilli, die in einem roten Plüschsessel mit hochgezogenen Beinen zusammengekrochen dasaß und mir mit verweinten Augen traurig lächelnd zunickte.

*

Wir haben Suse schön gemacht und in den Sarg gelegt.

Als ich ihre Kleider aus dem Kasten räumte und ihre Habe ordnete, da fand ich auch alle die Jäckchen, Windeln und kleinen Hauben, die sie gefertigt, und ich sah, daß alles bereit gewesen wäre zum Empfang ihres Kindes, wie eine sorgsame Mutter es tut. Da fing der Name Hans Weegers in meinem Gemüt zu brennen an, und er trat mir auf die Lippen wie eine böse Verwünschung. Warum ihm vorenthalten, was geschehn und woran er die größte Schuld trug? Warum ihm das Wissen um die Härte dieses Abschlusses ersparen, die Pein dieses nutzlosen, gewaltsamen Todes? Sollte er diese Stunden nicht mitkosten, auf daß das Bewußtsein seiner menschlichen Schuld in ihm weiterspuke und ihn nicht vergessen lasse, was die buhlerische Lüge bedeutet am Leibe auch der geringsten unter uns Frauen? Eine liebeleere Spielerei war es gewesen. Ja, und dieser Spielerei gedient zu haben, lag nun diese zerschundene, ungeliebte Tote vor mir im Sarge, eine Unvermögende, die keinen sichern Willen gehabt, keinen starken Instinkt und in ihren törichten Sinnen keine Wehr und Waffen.

Hans Weeger sollte herkommen. Er sollte dieser Toten Ehre erweisen, die erste und letzte Ehre. Er sollte hinter diesem Sarg einhergehn und seinen Fuß mit Ehrfurcht auf die Erde setzen, über die man meiner Schwester tote Hülle trug.

Ich habe an die Adresse seiner Mutter telegraphiert und Hans Weeger herbeigerufen.

Dann suchte ich in mir nach Ruhe, Ruhe. Aber es kam nur jene schmerzliche Spannung, die erst nach und nach in eine gleichgültige, dumpfe Mattigkeit überzugehn pflegt, hinter der sich die Erschütterungen des Gemüts und alle Gedanken wie darniedergehaltene, stumme Hunde an die Kette legen.

Es kam der Tag des Begräbnisses. Ich schreckte zusammen, als ich auf der Stiege Schritte vernahm, die niemand gehörten, den ich im Hause bei Frau Pach bereits kannte. Und als es klopfte und die Türe aufging, da mußte ich meine zitternden Hände auf die Tischkante stützen, und mein Mund wurde kalt. Aber es war der junge Pfarrer, der gekommen, um an Suses Sarg die letzten Worte zu sprechen. Frau Pach, die weinende Zilli, zwei Nachbarsfrauen, denen Suse Dienste erwiesen, und ein kleiner Junge in einer weißen Pelzmütze folgten dem Sarg. Es war während der Nacht viel Schnee gefallen, und wir legten meine Schwester in die schwarze Erde, wie in eine offene dunkle Wunde.

*

Hans war nicht gekommen.

Ich wollte am andern Morgen in aller Frühe verreisen. Ich hatte die Habe der Toten geräumt, Frau Pach bezahlt und beschenkt und von ihr und Zilli Abschied genommen.

Nun saß ich in dem kleinen Hotelstübchen auf dem Rande des Bettes und wartete auf die Nacht. Mit aller Macht sehnte ich mich fort aus diesem Zimmer, dieser Stadt, heim zu Regine, in unsre stillen Stuben, die mich fest umschließen sollten, sanft und beruhigend umhüllen. Ich war unendlich müde. So fernab getrieben, feindselig alleingelassen kam ich mir jetzt vor, wie losgelassen zwischen Himmel und Erde und weder dahin noch dorthin gehörig, ein Gegenstand, den eine sorglose Hand im Getriebe verloren. Die Vergangenheit schien mir wie zugeriegelt, und in die Zukunft führte keine Straße. Und dann befiel mich die Angst, ich könnte nicht mehr zurückgelangen in die Heimat, zu Regine.

Meine Augen brannten. An seidener Schnur in der Mitte des Zimmers hing unter rotem Schirme mit kleinen Silberperlen die elektrische Lampe. Ihr Licht tat mir weh. Ich löste den Knoten der langen Schnur, tanzend sprang die Lampe hinunter und blieb dicht über dem Boden schwebend hängen; ihr Schimmer stob zu einem matten Lichtkreis auseinander, an dessen Rändern die abgenutzten Füße der Stühle und der graue, zerschlissene Teppich in ungewohnter Beleuchtung zum Vorschein kamen. Dann setzte ich mich wieder auf den Bettrand und blieb mit geschlossenen Händen lange sitzen.

Da klopfte es. Und auf meinen Ruf trat eine Gestalt im dunkeln Mantel ins Zimmer, den Hut in der Hand und blieb neben der Türe stehn. Es war Hans.

»Guten Abend, Anna«, sagte er halblaut.

»Guten Abend, Hans«.

Ich stand auf, machte ihm zwei Schritte entgegen und setzte mich wieder hin. »Du bist zu spät gekommen«, sagte ich dann.

»Ich weiß es«, kam es von der Türe her mit leiser Stimme. »Dein Ruf ist zu spät an mich gelangt. Ich war nicht dort, wo du mich suchtest. Es ist nicht meine Schuld.«

»Ja. Du bist zu spät«, hörte ich mich sagen. »Suse ist tot, gestorben, verdorben. Dein Kind verscharrt. Mein Vater hat seine Tochter verloren. Regine sitzt voll Kummer über ihrer Arbeit, und ich, ich bin hier, muß all das über mich ergehn lassen und weiß kaum mehr, wie ich's ertragen soll. Und du, der du an all dem Unglück schuldig bist, dich habe ich tausendfach in mir geschmäht und verwünscht, und ich habe dich nur deshalb hergerufen, damit du der Toten Ehre erweisest. Du bist zu spät gekommen. Nun kannst du wieder gehn.«

Ich suchte nach harten Reden, wie man Stacheln aus einem Dornbusch bricht. Die Brust war mir wie zugeschnürt, und jedes Wort, das ich sprach, tat mir hinten im Halse weh. Ich litt unsäglich. Und ich wußte auch, daß alles und jedes, was jetzt gesprochen und geschehn würde, über meine Kräfte ging, Böses und Gutes, daß ich unfähig sein würde, ein Glied zu rühren, bis an jene Grenze jedes Gefühls getrieben, wo jede Steigerung unmöglich wird ...

Hans hatte sich nicht gerührt, im rötlichen Lichtkreis der leise schaukelnden Lampe sah ich nur die Spitzen seiner Schuhe. Seine Gestalt und sein Antlitz lagen im Schatten. Nun aber machte er eine Bewegung nach vorn, legte schweigend Hut und Mantel ab und fuhr sich mit der Hand über Stirn und Haar. Dann kam er auf mich zu, auf den Fußspitzen, sachte, so wie man durch ein Krankenzimmer schreitet. Er blieb vor mir stehn. Mit einem unwillkürlichen Erschrecken raffte ich mein Gewand zusammen. Da biß er sich, seiner Gewohnheit gemäß, so heftig auf die Lippen, daß die Unterlippe im Munde verschwand. Und hierauf begann er zu mir zu sprechen, leise, langsam, wie zu einer Kranken: »Ich habe euch helfen wollen, Anna«, sagte er. »Ich habe oft an dich geschrieben und euch meine Hilfe angeboten, ihr aber habt mich zurückgewiesen. Und doch war das für mich und euch das Geringste, was ich hätte tun können.«

Er schwieg und wartete. Und da ich stumm dasaß, fuhr er fort: »Ich habe diese ganzen letzten Monate an nichts andres denken können, denn an das, was ich dir, was ich Suse, was ich euch angetan. Ich habe mein Unrecht meiner Mutter gestanden, wie ich dir damals schrieb. Mutter ist bald darauf gestorben.« – Ich schauerte leise und sah zu ihm empor.

»Deine Mutter ist gestorben?« hörte ich mich fragen.

»Ja«, entgegnete er.

Ich sah sein beschattetes Gesicht, das leise über mich geneigt war; es war blaß, aber von jener eigenartigen, ernsten Schönheit, die mich damals so stark ergriffen hatte und auch jetzt bestrickte. Draußen im Korridor ertönte schrill die Klingel dreimal nacheinander. Jemand schob ein schweres Gepäckstück über den Teppich. Laute Worte klatschten wie Steine gegen unsre Türe; dann wurde alles wieder still.

»Darf ich reden, Anna?« hörte ich Hans sagen. »Ja? Gibst du mir das Recht dazu? Du sollst wissen, wie auch ich gelitten habe, wie ich dich vermisse, wie ich dich entbehre.«

Ich saß mit gesenktem Kopf auf dem Bettrand, die Hände fest aufgestützt auf die Kante und ließ seine Worte über meine Stirn hinunterrieseln, meinen Nacken, meine Wangen, und irgendwo in der Tiefe klang es mir entgegen wie aus einer offengebliebenen Türe.

»Sieh, Anna, von gleichgültigen Dingen können wir zwei nicht reden«, sagte er leise und mühsam. »Ich bin nach Mutters Tode nicht in W. geblieben. Meine Brüder sind mir nie nah gestanden, und meine Schwester hat sich vermählt. Da habe ich mir eine Stellung gesucht auf dem Lande, in einer ganz kleinen Stadt. Ich habe mich in diese Stellung hineingeflüchtet, in eine Beschäftigung, die mir nicht entspricht, die mich drückt, die ich aber aushalten will. Ich bin sehr allein und von Menschen umgeben, die mir fremd bleiben. Alles, woraus ich lebe, borgte ich bis heute aus der Vergangenheit ...«

Ich atmete tief auf und hörte, wie mein Atem zum Seufzer wurde, der in der Luft hin und her zitterte.

»Es scheint«, so redete er leise, mit Trauer weiter, »als hänge ich seit Monaten zwischen Himmel und Erde. Ich will dir ja heute nichts vorphilosophieren. Aber sieh, ich habe so vieles gewollt, mit dem geringen Ehrgeiz, den ich an mir kannte. Ich weiß es genau, da scheitern die meisten. Und vor allem habe ich mir, und früher auch meiner Mutter, die ernsthaftesten Versprechungen gemacht. Ich habe sie kindlich glauben heißen an eine ruhmüberfließende Zukunft für ihren Sohn. Sie hat gelächelt und gehofft und geglaubt, den Himmel ihrer Träume immer für mich offen gehalten. – Und heute scheint mir meine Zeit vergeudet. Wohl arbeite ich. Aber die Tage gehn vorbei, die Wochen und Monate. Du kennst den Druck, der auf mir lastet. Es scheint mir, ich bringe keine Kraft mehr in mir auf, um mich durch einen Anlauf von diesem Schlaffsein zu befreien ...«

»Hans,« unterbrach ich ihn, »sprich nicht so, fasse Mut, versuch es wieder, an dich zu glauben ...«

Um Gottes Willen, was redete ich da? Tröstete ihn, den Fremden? Den Schuldbeladenen?

Von weit, weit her kam etwas auf mich zu. Das war alles so unsagbar nah und vertraut, überwunden und frisch aufgewühlt und ich selbst so unsäglich müde all der Qual dieser Zeiten, so wehevoll und jammermürbe, daß keine Fiber am ganzen Körper sich widerstrebend in mir aufwerfen konnte, nichts, das sich sträubte, stemmte, imstande gewesen wäre, sich zu sträuben, sich zu stemmen. Und jedes leise Wort, das jetzt fallen würde, dicht in meiner Nähe, war aus jener Zeit, die nur mir gehört, die die ganze Last und Schwere des Später noch nicht gekannt. Und ich durchstreifte mutlos, wie aus weiter Ferne, jenes Land, wo unter düstern Schleiern nur noch die Erinnerung flatterte.

»Hans«, brachte ich mühsam hervor, »sprich nicht von dir und mir –«

»Du hast meinetwegen viel gelitten, Anna«, fuhr er wieder dicht in meiner Nähe fort, und seine Augen blickten zu mir nieder. »Ich glaube, ich habe, ohne es zu wissen, von der Liebe allein das Geschenk und den Schwung meines Daseins erwartet. Mit dem Gerümpel in mir hoffte ich einen Turm bauen zu können. Von der Liebe habe ich alles erwartet, wie ihr Frauen. Da zersprang sie schon auf dem Boden wie eine klirrende Scherbe.«

»Die Liebe ist auch nur rinnender Sand«, hörte ich mich sagen. »Sie gerade ist kein fester Grund. Das schwimmt alles von uns hinweg und macht traurig und elend.«

»Ja,« sagte Hans wieder mit seiner halblauten, auf mich niedergesenkten Stimme, »Armes du. Aber entsinnst du dich noch unsrer gemeinsamen Stunden? Weißt du noch den sommerlichen Weg, den wir gegangen, am Tannenwald vorbei, mitten durch das Aehrenfeld? Und unser Abendgang, hoch über der Stadt, unterhalb der Mauer des alten, vergessenen Kirchhofes? Wir lebten von unsrer Liebe allein, Anna, und hörten keine Schritte, vernahmen keinen Laut, fühlten nur den Himmel, der zwischen den Sternen dunkle, weite Räume auftat, die in das Allerheiligste der Himmelstiefen führen mußten. Und wir sprachen nur von uns und unsrer Liebe und liebten nur uns und liebten nur sie. Weißt du noch – Anna, Anna, entsinnst du dich? Kennst du noch den hohen Baum, der vor den Lichtern der Stadt stand und uns, und ein kleiner, lauter Vogel saß in seinen mondbeschienenen Aesten ... Anna, liebe Anna, sag mir nur das eine: Wenn das alles nicht geschehn wäre, was geschah, durch mich geschah, wärest du mein Weib geworden?«

Da war etwas ganz an mich herangekommen und klang und tönte, schien Musik und Klänge, schwamm in mein Herzblut hinein, ging in mir um und brachte in die Mattigkeit meines Leibes und meiner Seele noch diesen neuen, alten verklungenen Ton ... »Wärest du mein Weib geworden, Anna?«

Da erhob ich mich vom Bettrand. Wie beschwörend hielt ich beide Hände auf meine Brust gedrückt. »Hans!« rief ich, und heiße Tränen stiegen mir in die Augen, »Hans, geh, geh! Ich bin unglücklich. Das darf ich nicht hören. Hab Mitleid mit mir. Ich leide unsäglich. Geh, geh.« Und da er langsam zögernd nur sich wandte: »Ich bitte dich, geh. Siehst du denn nicht, daß ich leide und daß dies alles über meine Kräfte geht? Bleib nicht länger hier!«

»Anna«, sagte er, stand immer noch vor mir und fuhr mit der Hand über Stirn und Haar, »weine nicht so, Anna, Liebste. Glaub mir, ich bin auch nicht einer der Glücklichen –«

Dann durchschritt er den mattroten Lichtkreis der Lampe und warf den Mantel um. Er kam noch einmal auf mich zu. »Leb wohl«, sagte er. Einen Augenblick lag meine Hand in der seinen. Sie hatte nicht verlernt, darin zu ruhn. Wir blickten einander ins Gesicht wie zwei Vertriebene.

»Leb wohl, Hans!«

Dann ging er. Ich hörte auf seinen Schritt, wie er sich der Treppe näherte, vernahm ihn auf der Treppe, auf der Straße und unterschied ihn von den andern Schritten, die da gingen. Dann machte ich die Vorhänge dicht zu. Vom Nacken bis zu den Füßen durchlief mich ein unaufhaltsames, rieselndes Zittern. In meinen Kissen suchte ich das Schluchzen zu ersticken. –

Es war eine lange, unbarmherzige Nacht. Die Turmuhren redeten in die Halbstille hinein und schlugen mit straffen, bösen Lauten an die Fenster. Erst gegen Morgen deckte ein quälender Schlummer meine brennenden Lider. Ich hatte einen Traum: Von meinem Bett aus sah ich, wie die Klinke der Türe sich hob und senkte. Dann sprang die Türe auf, und Suse kam herein. Sie trug ein Nachthemd, das sie in langen Falten über den Teppich schleppte. Die Schleppe wuchs und wuchs und raschelte hinter ihr her durch die offengebliebene Tür. Und am äußersten Ende der Schleppe lag ein totes, nacktes Kind, das trug die Züge Hans Weegers. Und Suse zog das tote Kind hinter sich her durchs Zimmer. Als sie an meinem Bette vorüberschritt, da blieb sie stehn und öffnete die Lippen. Ich hörte ihre Stimme nicht, sah nur, wie ihre Lippen sich regten und flüsterten: »Du hast meinen Mörder begnadigt!« Und sie nestelte die Korallenkette los, die sie am Halse trug und warf sie mir ins Gesicht. Und die scharfkantigen Korallenkugeln stachen tief in meine Augenhöhlen hinein, als ob sie dort mein Augenlicht treffen wollten, sodaß ich laut aufschrie vor Schmerz. Und als ich so schrie, da schwamm mein Schrei hinüber in einen harten schnarrenden Laut, und es war Reginens kleiner Taschenwecker, den sie mir mitgegeben und der auf dem Nachttisch stand.

Dann bin ich verreist.

Unterwegs, auf der Strecke, war tiefer Schnee gefallen, sodaß der Zug dicht vor einem Tunnel stehn bleiben mußte. Die wenigen Passagiere, die sich mit mir im kalten, schmutzigen Wagen dritter Klasse befanden, stiegen aus und bewarfen sich, rasch vertraut, mit großen Schneeballen. Ich blieb allein im Wagen zurück, lehnte ans Fenster, ohne mich rühren zu können, und angstvoll rief es in mir nach Regine und dem heimatlichen Boden, der alles, was jetzt in mir schluchzte, in sich aufsaugen sollte.

*

Vitia und Regine standen an der Bahn, als ich endlich im heimatlichen Bahnhof ausstieg. Sie führten mich hinunter an die stille Gasse. Und während meine Schwester und ich verabredeten, kein Trauergewand um Suse zu tragen, damit ihr Tod und seine Ursachen verborgen blieben, kochte Vitia auf dem Spirituslämpchen Tee und stand sorgend und voll Teilnahme in allen Ecken herum.

Nun umhüllte mich wieder die Stille unsrer großen Stuben.

Leben, Leben, wie habe ich mit lauter Stimme nach dir gerufen und meine Arme nach deinem verhüllten Bilde ausgestreckt! Was habe ich getan, daß du mich so hart empfangen?

Ich wurde bald gewahr, daß ich aus D. einen Zustand fortwährender heimlicher Aufregung mitgebracht hatte. Ich lebte in beständiger Angst, in der nächsten Minute würde jemand an die Türe klopfen und mir eine unerhörte Nachricht bringen, die zu ertragen ich nicht mehr imstande sein werde. Ich schien auf diese Nachricht zu warten, lag gleichsam auf der Lauer vor ihr als einer außerhalb mir liegenden Macht. Am Abend, wenn es zu dunkeln begann, schloß ich die Türen ab, zündete eine Kerze an und leuchtete unter die Betten, hinter die Schränke, den Ofen, untersuchte jeden Winkel, und kaum hatte ich den Rundgang beendet, fing ich von neuem damit an, immer wähnend, irgend etwas Erschreckendes übersehn zu haben, und furchtbar müßte es sein, wenn es nun unversehens hervorbräche. Ich redete mir Vernunft zu, ganz laut, in meinen einsamen Räumen, machte Versuche, über mich zu lachen und zu spotten; aber es schien, als ob ich ein zweites Wesen in mir berge, und dieses Wesen begriff und hörte mich nicht. Tief in den Augenhöhlen fühlte ich es wie zwei Nägelmale brennen, dort, wohin Suse ihre Kette geworfen. Ich konnte nichts lesen, mich körperlich nicht mehr betätigen, es war, als ob meine Glieder, eins ums andere, von mir gingen, in einen leeren Raum hinein. In einer sonderbaren dämmerigen Gedankenlosigkeit wich ich hinter mir selbst zurück, und ein flimmerndes Geräusch, sowie ein schmerzender Druck sogen sich mir in Nacken und Schultern fest.

Regine drängte besorgt, ich möchte einen Arzt konsultieren, und Vitia kam so oft des Tages hergelaufen, daß das Gerede in dem vielköpfigen Hause nicht verstummen wollte und in ein böses Klatschen überging, das sich in Blick und Flüstern kundgab, sobald wir uns im Flur sehen ließen.

Vergeblich hoffte ich auf Besserung meines Zustandes, den ich als eine innere Angelegenheit betrachtete und von dem ich glaubte, daß ihm auch nur von innen heraus beizukommen sei. Aber mit dem Herannahen des Frühlings wurden Reizbarkeit und Müde völlig Herrin über meinen Körper, sodaß ich auch die gutmütige Gegenwart Vitias kaum mehr ertrug und oft ohne ersichtlichen Grund in Tränen ausbrach. Und jeden Abend, wenn ich mich zur Ruhe gelegt hatte, stieg derselbe Traum aus der Tiefe meiner erschreckten Seele empor: Eine unsichtbare, zornige Hand schnitt mit einem scharfen Messer in meinen linken Zeigefinger, und zwar so tief, daß ich aus dem roten Fleische den weißen Knochen schimmern sah. Dazu rief eine gellende Frauenstimme von irgendwoher: »Du hast meinen Mörder begnadigt!« Dann fuhr ich auf in meinem Bette, schrie laut, weckte grausam, ohne es zu wollen, die arme Regine und konnte hierauf den Schlaf nicht mehr finden bis zum Morgengrauen.

Da schickte mir eines Nachmittags Regine den Arzt hinunter ins Mädchenzimmer. Sein Rat und seine Verordnungen lauteten kategorisch: Jeden Gedanken an ein Studium vorläufig aufgeben, an nichts, gar nichts denken und während des ganzen Sommers hinaufgehn in die Berge. Das Studium tauge eben nicht für alle Frauen, fügte er noch hinzu. Mit müden, verwunderten Augen habe ich ihn auf diesen Ausspruch hin angeschaut. O, du mein hintangesetztes, armes Studium, jetzt sollst du die Schuldige sein! An nichts denken, ja, das war ein wohlgemeinter und billiger Rat. In die Berge gehn, alles hier hinter mir lassen, in eine neue Umgebung, die alle Erinnerungen von sich wies – o wie gern! Aber wo wieder das Geld zu dieser neugeschaffenen Lage der Dinge hernehmen?

Die schwermütige Mattigkeit, die über mir lag, zeigte mir keine Auswege; alles schien zugeschüttet, vermauert. Aber meine Schwester dachte und handelte für mich. Sie schrieb an die Mutter Monicas, von der sie wußte, daß sie mir jederzeit Beistand versprochen und schilderte ihr meinen Zustand. Und bald darauf erhielt ich von der reichen und gütigen Frau eine ansehnliche Summe Geldes zugeschickt mit der Versicherung, daß sie mir helfen werde, bis zu meiner völligen Genesung. In ihrem Briefe fragte sie mich, ob ich nach meiner Genesung nicht vielleicht mein ohnedies unterbrochenes Studium gänzlich aufgeben, meine Heimat ein zweites Mal verlassen und wieder zu Monica zurückkehren würde. – Ohne Widerstreben, dankerfüllt nahm ich das Geld an. Aber – meine Heimat wieder verlassen? Schweres Ungemach war mir von Jugend an auf ihrem Boden erwachsen; sie war mir kein gütiger Hort, keine gnädige Herrin gewesen. Die Fremde hatte weichere Hände für mich gehabt und einen mildern Blick. Aber hatte denn meine Heimat schon ihr letztes Wort zu mir gesprochen?

Nachdem meine Schwester und ich den Entschluß gefaßt, unsre großen, luftigen Stuben aufzugeben und eine kleinere Wohnung zu beziehn, da wir zwei allein die Miete nicht mehr aufgebracht hätten, und nachdem ich von Vater schriftlich Abschied genommen, weil der Kranke sich wie immer gegen das Frühjahr hin in aufreibenden Erregungszuständen befand – verreiste ich in die Berge in ein hochgelegenes Dorf. Es war Mitte April.

*

Eine kleine noch jugendliche Frau mit roten Wangen nahm mich am Bahnhof in Empfang. – Es regnete stark, und ringsum war alles mit tiefen Nebeln verhängt. Man mußte den aufsteigenden Weg verfolgen, dann bei einer hohen Linde den Fußpfad links einschlagen, der nach der Tiefe führte, um zu dem Hause zu gelangen, in dem ich meine Gesundheit wieder fand. Meine Wirte waren einfache Schreinersleute, ihr Haus klein und peinlich sauber, hoch über dem Flusse gelegen. Wie still es hier war, einfach und gut und vor allem kein Mensch, der mit seinen Blicken in mich drang. Mein Zimmerchen befand sich zuoberst unter dem Giebel. Seine Wände waren braun und unbestrichen, und wenn man über die Dielen schritt, ging durch alle Räume des Häuschens ein langgezogener Ton, der wie das Surren eines alten Spinnrads klang.

Man war liebreich und freundlich zu mir und nahm mich in sorgfältige Pflege. Ich sollte liegen, viel liegen, hatte der Arzt verordnet. Wie froh war ich, gehorchen und mich in dies Geborgensein zurücklehnen zu können. Da lag ich nun in der schmalen Rebenlaube, von Mutter Buchers Händen sorglich in Decken gehüllt und horchte auf das Feilen, Sägen, Hobeln, das von der Werkstatt im Erdgeschoß als einziges Geräusch zu mir heraufdrang. Der Frühling war in dieser Berghöhe noch nicht eingezogen aber die ganze Natur lebte ihm in aufgeregtem Drängen entgegen und schmückte ihre Lampen zu seinem Empfang. Noch hingen an den vorgespannten Drähten meiner Rebenlaube aufgerollte Blattreste vom vergangenen Jahr und hartgefrorene, blauschwarze Beeren an einem erstorbenen Zweige. Aber durch die jüngern Glieder der Rebe rauschte bereits der junge Saft, und die Wurzel eiferte Tag und Nacht.

Um mich herum ragten die Berge. Aber noch bekam mein Auge sie nicht zu sehn, weil Nebel sie umhüllten. Ich erblickte von meiner Lagerstätte aus bloß die Hüfte eines einzigen mürrischen Berges, der sich einem grollenden Bastard gleich, zwischen zwei mächtige Genossen hineingedrängt hatte, und dem das Wasser über Brust und Lenden floß, sodaß er aussah wie ein weinender Turm. Aber ich verschob ihm zu Ehren dennoch ab und zu meine Kissen, wenn er eine magere Lawine durch seine Rinnen springen ließ, deren Ursprung hoch oben am Firn ich des Nebels wegen nicht entdecken konnte.

So lebte ich diese erste Zeit mit halber Kraft dahin. Ich lernte mit der raschen Freiheit meiner körperlichen Bewegungen rechnen, wurde matt von der Unruhe in meinem Innern und hinwiederum unruhig über die Mattigkeit, wollte heute meiner Genesung mit verständiger Geduld entgegenharren und lullte morgen die ungeduldigen Gedanken mit kleinen, feigen Ueberredungskünsten ein. Nicht nur mein kostbares, den Verhältnissen abgerungenes unabhängiges Jahr, mein Studium, auch mein Gefühl, meine Kräfte, mein ganzes Leben schien mir nutzlos vergeudet, und oft kam mir der Gedanke, ob ich vielleicht nicht das bejammernswerte Erbteil meines Vaters von ihm überkommen habe. Dann wünschte ich mir den Tod. Und doch fürchtete ich ihn heute so stark, wie mir nie in den Tagen meiner Gesundheit vor ihm gebangt hatte. Nicht, weil ich jung war, empfand ich den Tod als einen widersinnigen Eingriff in meine Lebensrechte – Suse war auch jung gestorben – sondern weil mir bewußt war, daß ich heute nicht leicht, nicht selbstverständlich, hätte sterben können. Durch den Schleier meines lähmenden Zustandes hindurch fühlte ich, daß ich das Größte und Wichtigste meines Daseins immer noch nicht von fern erfaßt habe, daß mein schmerzlichstes Suchen noch unbelohnt geblieben sei, daß in mir der Grund noch nicht gelegt war zu jenem Glauben, der meine tiefsten Träume guthieß, und daß ich ohne diesen Glauben, unter den weiten Feldern des Todes, dasjenige Land doch nicht finden würde, nach dem mein ahnungsvolles Sehnen gegangen war.

So suchte ich Tag um Tag hinzunehmen und mein Denken nur um die greifbare Axe der nächsten Stunden herumkreisen zu lassen. Später, in den Nächten des einsamen Wachseins schlich ich oft ans Fenster, leise, behutsam, damit meine Dielen nicht knarrten. Und wenn ich hinlehnte am Sims, kamen auch die silbernen Mitternachtsstunden zu mir über die Wiesen gegangen, wo der Klee schlief und das knisternde Gras, und traten unter mein Fenster. Und sie redeten zu mir und wurden zu meinem unveräußerlichen Besitztum. Von ihnen floß in meine Seele Kraft, Mut und Stolz, den mühsamen, unterjochten Tag still zu ertragen. Im Zwiegespräch mit einer dieser Nächte, die so rein war und klingend wie ein Glasbecher, an den weiße Hände rühren, wurde es mir zur Gewißheit, daß ich genesen werde, und daß das Geschick in seinem Schoße mir das noch verborgen hielt, woran ich einst, stille geworden und willig, das Sterben erlernen würde.

*

Allmählich lösten sich die Umrisse des Vergangenen in mildere Linien auf; die Erinnerungen besuchten mich vereinzelt, nicht mehr in unlöslichen Ketten, sie wurden weniger deutlich, und zwischen Vergangenheit und Zukunft schob sich sacht die Gegenwart hinein. Die Stille und Großartigkeit meiner Umgebung fing an, ihre eignen Bilder an meine Wand zu malen. Der Frühling war jetzt da. Unten am Hange, wo Mutter Buchers Krautacker endete, stand ein leeres Scheuerlein. Dorthin trug Ruedi, der Sohn des Hauses, nun oft meinen Liegestuhl. Da lag ich und sah dem Lenz zu, der jetzt großäugig ins Tal hinein schritt. Von dort aus überschaute ich alles weit in der Runde, und der Fluß rauschte herauf hinter dem Gehege der jungen Erlen. Schon schaukelten sich rasch prangende Wiesenblumen im Grün, ein halbes Dutzend vorwitziger, weißer Schmetterlinge schwirrte um ihre gelben Blüten. In der Matte stand ein gestutzter Kirschbaum mit einer spärlichen, ruhmlosen Blätterkrone, die sich an der Sonne keck auszubreiten suchte. In großen Flimmern leuchtete es von der Firnwand, und der weiße Gletscher schob sich vor ins farbenüberschüttete Tal wie eine ausgestreckte Zunge. Da, da ragten sie alle um mich herum, die Berge. Was hatte ich bis jetzt von ihnen gewußt? Meine karge Jugend, später das Fernsein, hatten mir ihre Nähe vorenthalten. Fremdlinge waren sie mir gewesen. Wußte ich, daß die Sonne bei ihrem Aufgang über dem weißen Flimmer der Gipfel jubelnd aus ihrem Hause bricht und bei ihrem Untergang am Rande des Meeres niederkniet, um ihr goldenes Stirnband vor der Majestät der Berge zu senken? Was wußte ich vom Schimmer der Berge meiner Heimat am Mittag und ihrem großen Schweigen um Mitternacht, wenn die Krone der Sterne über ihnen liegt? Was wußte ich von ihrer silbernen Stille und dem frohlockenden Blendwerk des ewigen Schnees? Von den Schatten der Berge, die, weitausschreitenden Riesen gleich, durch die dämmerigen Täler daherkommen bis an die Schwellen der Hütten? Wußte ich, daß die Nacht aus den Schluchten heraufsteigt, einer summenden Harfe gleich, und daß die Wasserbäche, die aus den klopfenden Adern des Bergleibes hervorbrechen, das bröckelnde Gestein unter sich ersäufen? Und was hatte ich vernommen von den Fittigen des umsichschlagenden Windes, der in den Höhlen wohnt wie eine junge Bestie, und vom wütenden Grimm der Berge, wenn der schnarrende Blitz den Schauern des Donners nacheilt?

Ich kannte euch nicht, ihr Größesten meiner Heimat. Wie mächtig und erhaben seid ihr! Das Eingangstor der Veste, die Gott heißt und Gottes ist! Ich erhob meine Augen zu euch, schaute erkennend in euer großes Angesicht und wußte, wußte, daß mir von euch Hilfe kommt. –

Schon unternahm ich jetzt kleine Spaziergänge durchs Dorf, ohne zu stark zu ermüden. Ich bin einst, als es zu dämmern begann, einen der schmalen Fußpfade hinaufgestiegen, die in die Höhe führen, hinter einem unförmlichen, häßlichen Hotel durch und nahm den Weg durch die Wiese. Links oben sah ich ein hübsches Haus. Fest zugeschlossen lag es da, beim Eingangstor ein paar hochgeschoßner, dünner Sonnenblumen. Oben auf der Laube rote und weiße, fremdartige Blüten in bunten Töpfen. Ich wagte mich noch höher hinauf bis zu einer Staude blauen Fingerhuts. Von da führte mich der Weg in eine breite Straße, die mit verkreuzten Pfählen eingesäumt war. Und da breitete sich eine Weide aus, auf welcher in grüner Vertiefung ein paar Hütten standen. Wundervoll still war es da oben. Ich blieb stehn und blickte mich um. O Schönheit, Schönheit, Schönheit! Das war ja die Andachtsstunde der Sonne! Sie kniete zuäußerst am Rande der Meere und senkte ihr güldenes Stirnband vor der Glorie unsrer Berge. Purpurnes Licht wallte vom Scheitel des Mächtigsten unter ihnen, dem großen Donnerer, wie ich ihn benannt hatte. Das Licht rauschte auf und floß wie ein Fürstenmantel aus Gold und Purpur an seiner Schulter hinunter ins dämmernde Tal. Und dann brannte es wieder auf, hier, dort, auf all den Gipfeln ringsum, einer sprühenden Wolke gleich, die Gott zum Schemel diente. Und oben an der Kuppel des Himmels trat jetzt der Abendstern aus seiner Kammer und jauchzte über die Größe und Allmacht des Geschehns zu seinen Füßen. – Ich jauchzte noch nicht. Aber es ging wie ein köstliches Erkennen durch mein Gemüt, und das erste Mal seit langer Zeit bin ich in meine eigne Stille und die Stille der sinkenden Nacht getaucht, meinen Weg gegangen.

*

Von diesem Tag an schritt meine Genesung vorwärts. Ich hatte geglaubt, keinen empfänglichen Sinn für die Natur zu besitzen, hatte nur die Kunst in trüben Stunden als meine einzige, vermeintliche Beruhigerin gepriesen. Und nun genoß ich hier nicht nur die Stille und Größe der Natur, sondern sie selbst, und ein Glanz floß mir von ihr in die Seele, eine schmeichelnde und zugleich kräftigende Beruhigung, die die Gesundung in sich barg.

Ich habe noch ein letztes Mal scheinbar ohne Grund und Zusammenhang geweint. Das war, als ich auf dem Bücherbrett meiner Wirte ein vergilbtes Buch gefunden, in dem die Bilder frommer Heiliger, Kirchen und Grabdenkmäler standen. Ich blätterte darin und fand den heiligen Christophorus, wie er, an seinem Stabe stapfend, das Jesuskind durch den reißenden Strom trägt. Schon früher, wenn ich in Museen oder Kirchen diesen Heiligen getroffen, hatte er mir seines kindlichen Glaubens wegen stets einen starken Eindruck hinterlassen. Heute aber betrachtete ich tief ergriffen die hilflosen Augen des Mannes, dessen außergewöhnliche Körperlichkeit die Fasten und Andachtsübungen der Kirche kurzweg verwarf, er, den alle fürchteten, und der für sich selbst keinen fand, den er in Demut und Ehrfurcht hätte fürchten dürfen und dem er hätte dienen mögen. Bis er eines Tages das kleine Jesuskind durch den Strom trug, das ihm die ganze Last der Welt mitzutragen gab, sodaß der Riese kaum das andre Ufer zu erreichen vermochte. Aber wie das göttliche Kind sich ihm zu erkennen gegeben, da wußte der Sucher, daß er endlich den gefunden, dem er in Ehrfurcht und Demut dienen konnte, und sein Stab fing an, lebendig zu werden und trieb weiße, fromme Blüten. – Ich brach über dem vergilbten Papierbogen in so heftiges Schluchzen aus, daß Mutter Bucher erschrocken an meine Türe klopfte.

Dann aber verbarg sich nach und nach mein schwerer Mut im erstarkenden Herzen, und die Tränen blieben gemeinsam mit den Erinnerungen wie unter einem dunkeln Schleier zurück. Eine erquickende Freude bereitete es mir jedesmal, wenn ein Brief von Regine eintraf. Sie erzählte von Vater und daß sie ihn immer noch nicht besuchen dürfe, weil er aus dem Erregungszustand noch nicht herausgetreten sei. Dann folgte die Beschreibung ihres Umzugs aus den hohen Stuben, die sie ohne Weh verlassen, in die neue Wohnung unter dem Dache. Die Zimmer seien klein, sodaß sie für die größten Möbelstücke eine Extrakammer habe mieten müssen. Dort würden sie wohlversorgt untergebracht bleiben, bis einmal wieder eine bessere und größere Zeit für uns und sie gekommen sei. Das Bild der Großmutter sei mitgewandert in die Finsternis dieser fremden Bodenkammer und ruhe mit dem Gesicht gegen die Wand, in den Tiefen eines großen Schrankes. Dort möge die alte Frau in ihrem schönen, goldenen Rahmen darüber nachsinnen, wie man seine verlassenen Enkelkinder segnet. Vitia habe natürlich beim Umzug brav mitgeholfen und der alte Ausläufer auch. Aber die Leute redeten allerhand närrisches Zeug über sie und Vitia, und das sei dumm von ihnen und grausam und gedankenlos.

Ich hatte die Gewohnheit, erhaltene Korrespondenzen nach geraumer Zeit zu zerreißen. Als ich aber Reginens Briefe zu zerstören versuchte, vermochte ich es nicht. Ich fühlte, daß diese klaren, sorgfältigen Schriftzeichen, hinter denen sich meine Schwester barg, für mein ganzes kommendes Leben, mochte es sich hundertfach verwandeln und wandeln in Glück und Qual und vielleicht wiederum Glück, dabei das Unwandelbare, Dauernde und das Köstlichste für mein Herz bedeuten würden. Der Name Regine war schon heute mein sommerliches Haus, in dem ich künftig mit ruhiger Zuversicht wohnen konnte, und ich wußte, daß ich nie in eines Menschen Nähe so gleichmäßig und andauernd glücklich sein würde, wie bei ihr.

*

Der Juni war gekommen. Schon hatte sich meine körperliche Gesundheit so weit gekräftigt, daß auch mein sich befreiender Geist leise wieder an die Innenwände des neuen Willens zu klopfen begann.

Leben! Da bist du wieder! Langsam schreitest du mir aus dunkeln Tiefen entgegen. Aber mein Auge ist seltsam vertraut geworden mit dir und mein Ohr vernimmt deinen Ruf nur mit verhaltenem Beben. Was willst du von mir? Bist du gekommen, mich endlich zu segnen? Du deutest nieder auf deine Hände. Und sieh, sie reichen mir milde, versöhnende Gaben hin.

Ich fühlte das Interesse an fremdem Geschick wieder in mir erwachen, und ich vernahm es gern, wenn man vom Dorfe, seinen Ereignissen, seinen Bewohnern und ihrem Erleben erzählte. Wenn wir an Regentagen in der kleinen Küche beisammen saßen, Vater Bucher, das linke Bein mit der geschwollenen Ferse, dem weder der heiße, noch der eisigkalte Flußsand helfen wollten, auf der Bank lang ausgestreckt, und die kleine Frau Bucher, die an einem dicken, grauen Socken strickte, wurde allerhand berichtet und durchsprochen, was sich im Dorfe zugetragen und heute noch zutrug. Man sprach vom jungen Pfarrer, der ein ganz absonderlicher Mensch sei, ohne Hochmut und sehr gütig zu den Armen, aber immer zerstreut und mit den Gedanken anderswo, wenn man ihm etwas mitzuteilen habe. Auch hieß es von ihm, er sei ein großer Naturfreund, weile mehr oben auf den Bergen als im Pfarrhaus, und seine Predigten lauteten oft so merkwürdig, daß nur die wenigsten sie verstunden. Und man erzählte mir auch vom fünfundsiebzigjährigen Bergführer, der die goldene Hochzeit mit seiner wackern Lebensgefährtin oben auf dem Donnerer gefeiert; von der blinden Frau, welche auf dem Dorfkirchhof begraben liege, und der eine richtige Königin den marmornen Denkstein habe setzen lassen; von dem trefflichen Arzte, der mit zwei Führern vor vielen Jahren gestürzt und wie der Berg sie für sich behalten und aus Schnee und Eis nie freigegeben habe. Und einmal, unerwartet, erzählte Ruedi beim Halmaspiel die Geschichte vom geheimnisvollen Hause:

Vor ungefähr einem Jahre war eine fremde Familie ins stille Bergdorf eingezogen. Eine schwerkranke Frau, die ganz in ein Tigerfell gehüllt gewesen, sei auf einer Bahre von zwei schweigenden Männern ins Haus gebracht worden. Eine große Menge prachtvoller Spiegel habe man ausladen sehn, und keiner im Dorfe konnte sich vorstellen, wo alle diese Spiegel in dem nicht geräumigen Hause Platz finden sollten. Fenster, Storen, Jalousien des Hauses blieben immer dicht verhängt und verschlossen, und tagsüber schien in den Räumen überhaupt nichts Lebendiges zu atmen. Aber in der Nacht, da sah man stille, langsame Schatten sich bewegen, in den Tiefen der Zimmer brannten matte Lichter. Flötenklänge drangen in die Nacht hinaus, und eine hohe, junge Frauenstimme sang. Die Nachbarn wachten aus dem Schlaf auf, schlichen heimlich und fröstelnd ans Fenster und drangen mit begehrlichem Auge und lauschendem Ohr in das Geheimnis des Hauses. Aber nichts wurde offenbar. Dann sei die Frau mit dem Tigerfell gestorben an einer Krankheit, von der man nie gehört, und der bestürzte Dorfarzt habe flüsternd seinen Bekannten mitgeteilt, die Tote sei ganz schwarz gewesen an Gesicht und Händen, und so etwas Schauerliches sei ihm solang er lebe noch nie vorgekommen. Aber als die Frau tot und begraben war, da habe sich zweimal des Tages die Türe des Hauses wie von selbst geöffnet, und der wunderliche, alte Mann mit dem fettigen, schwarzen Rocke, der jeden Tag auf der Post seine fremdsprachige Zeitung hole, sei hastig herausgetreten und hinter ihm wie willenlose Puppen die zwei Kinder der Verstorbenen, ein junger Mann und ein wunderschönes, blasses Mädchen, beide in schwarzem Trauergewand. Und alle drei hätten sich nach niemand umgeschaut, keinen gebotenen Gruß erwidert, sondern sie seien rasch durchs Dorf geeilt, um hinter der Mauer des Friedhofs zu verschwinden. Und dort habe die neugierige Dorfjugend sie am Grabe der Toten knien sehn, mit gesenktem Kopfe Gebete murmelnd bei Regen und Wind und aufgelockertem, kotigem Boden. So zweimal des Tages während eines ganzen Jahres. Im Zimmer des Sohnes, das wisse die Dorfschneiderin genau, stehe ein großer Kasten, und darin liege ein alter großer, rostiger Schlüssel mit einem sonderlich verschnörkelten Bart ...

Diese wunderliche Geschichte weckte meine Phantasie und rüttelte an ihr. Ich habe mich aufgerafft. Am selben Abend schon, als ich sie vernommen, bin ich wieder hinter dem häßlichen Hotel hinaufgestiegen, um mir das geheimnisvolle Haus anzusehn. Mit verstohlener Neugier blickte ich zu seinen zwei Lauben empor, auf denen rote und weiße Blumen in Töpfen blühten, durchspähte sogar den Bergahorn, der neben dem Hause seine Zweige streckte und wußte jetzt, daß ich an diesem verschlossenen Hause schon einmal vorbeigewandelt und wegen feiner lautlosen, menschenscheuen Stille bereits in Staunen stehn geblieben war. Auch jetzt regte sich nichts, alles schien darin wie hinter einer verzauberten Wand in bösen Träumen zu schlafen. Wer konnten diese Menschen sein?

Da stieg ich den Pfad hinunter wieder in die Tiefe. Kirschbäume standen verstreut in den Wiesen und da und dort eine Hütte. In der Mulde links barg sich ein recht stattliches Häuschen mit einem verwahrlosten Garten, einem Speicher daneben und einem niedern Stall, dessen Türe weit offen stand und einem herrlichen Apfelbaum vor den Fenstern. Behutsam schritt ich auf dem holperigen, schmalen Weglein fürbaß. Und wie ich an dem Häuschen vorbeikam, da sah ich auf der niedern Laube einen hochgewachsenen, städtisch gekleideten Mann stehn, im Reisemantel, den Hut auf dem Kopfe. Er kramte in einer braunen Ledertasche, die auf der Rampe der Laube stand und sprach, nach rückwärts gewendet zu jemand, der sich in der Küche hinter ihm befinden mußte, aus welcher eben durch die offene Türe ein dichter Schwall Rauch daherströmte. Aus den Tiefen der dunkeln Küche antwortete eine Frauenstimme. Sie klang undeutlich und unwillig, schalt das Feuer, und wie ich eben um die Ecke des Häuschens bog am Apfelbaum vorbei, da hörte ich dieselbe Stimme wieder, wie sie durch die Zweige des Apfelbaums bis zu mir klang und in einen Jubelruf ausbrach über die wundervolle Schönheit des Abends und der Berge. Ich hielt inne. Wo hatte ich diese dunkle Stimme, die aus der Tiefe aller Güte zu sprudeln schien, schon vernommen? Sie sank in mein Ohr und blieb vor dem allezeit halboffenen Tore meiner schmerzenden Erinnerungen haften. Es war eine warme, mütterliche Stimme, die ich in einer qualvollen Stunde meines Lebens einst gehört, dicht neben mir – aber wo und wann?

Ich stand mitten im Weglein, lauschte hin und sann nach. Aber der Klang barg sich jetzt im Hause, verlor sich auf den Lauben, in der Küche, zuletzt in den hintern Stuben, die nach der Wiese hin lagen. Ich vernahm bloß eilige Schritte auf den krachenden Dielen, ein Rücken von Möbeln, ab und zu ein lautes Wort, das mir durch die Wand der Dämmerung gedämpft, als ein verborgener, entstellter Laut entgegenhallte.

Da wandte ich mich und stieg dem Tale zu. Aber die Stimme blieb in meinem Ohre zurück. Und durch sie auf rätselhafte Weise wieder mit der Vergangenheit verbunden, quoll es auf einmal empor in meinem hellgewordenen Denken, schwer und dunkel, wie durch einen klaren See die Spur eines fremden Wassers rollt.

Ich fragte später Frau Bucher, ob sie nicht wisse, welch fremde Gäste oben in der Steinmatte eingezogen seien. Aber sie wußte mir keinen Bescheid. Nun hatte auch ich da oben mein geheimnisvolles Haus und nahm mir vor, bald wieder in die Höhe zu steigen, um ihm sein Rätsel zu entlocken.

*

Wie wundervoll beglückend waren diese Sommertage, jetzt wo die Sonne ohne Unterlaß auf unser Dorf herunterschien und die Berge ihr stilles, weißes Leuchten Tag und Nacht zu uns herniedersandten wie die Herolde der Ewigkeit.

Ich saß eines Vormittags im Friedhof auf der Bank, die an die Seitenwand der Kirche lehnte und las. Mit dankbarer Freude stellte ich fest, daß ich wieder lesen konnte, anhaltend lesen, ohne dabei vor Anstrengung Herzklopfen zu verspüren und jene Müdigkeit im Hinterkopf, die mir eine Zeitlang jedes zusammenhängende Denken verunmöglicht hatte. Nun saß ich da, beglückt über die wiedererlangte Fähigkeit des geistigen Aufnehmenkönnens und ließ mir die Sonne über Gewand und Hände fließen, über Scheitel und Stirn. Wie ich sie wohltuend empfand, diese warme Sonne der hohen Bergtäler, die sich am Schnee der Firnen den Atem gekühlt! Zu meinen Füßen wölbte sich ein Grab, darauf stand ein Rosenbusch, in dem ein paar kräftiger, hochroter Rosen blühten. Jetzt setzte sich auch ein Fink auf den funkelnden Messingknopf der Einfassung und sang so laut, als er mit seiner kleinen Kehle vermochte. Ueber den Grabhügeln raschelte das Gras. Auch die Grillen durchbrachen jetzt die Stille der Toten und surrten und feilten wie eine aus der Ferne klingende Sägemühle.

Ich hatte im Sinne, gegen Mittag wieder hinanzusteigen zur Steinmatte zu meinem geheimnisvollen Hause. Noch aber wollte ich mein Buch und die wundervolle Ruhe dieses Morgens genießen und blieb in stillem Behagen sitzen. Da vernahm ich Schritte; sie erklommen hastig die Stufen zum Friedhof, der etwas höher denn die Landstraße lag, und näherten sich der Kirche. Der Schlüssel wurde in die Türe gesteckt und umgedreht. Jetzt schritt ein fester Fuß durch das Innere der leeren Kirche, ein ungestümer, rascher Fuß, sodaß mein an die Kirchenwand lehnender Rücken eine kleine Erschütterung spürte. Eine Weile war alles still. Dann erhoben sich Orgelklänge. Jetzt erst wurde ich gewahr, daß das runde Kirchenfenster über meinem Kopf offen stehn mußte; denn die gewaltigen Töne der Orgel brausten über meinem Scheitel dahin in die helle Luft wie der Rauch eines Weihopfers. Andächtig hörte ich zu; die Kirchenwand schien zu beben, und über den kleinen Friedhof schwangen sich die Melodien bis tief hinunter ins Tal und hinüber an die Bergmauern. Plötzlich, mitten in einem Satze, brach die Orgel jählings ab. Ich hörte denselben festen Schritt wieder die Kirche durchqueren und sich der Türe nähern. Wenn ich den Kopf vorbog, konnte ich den Orgelspieler sehn. Und ich sah bald darauf einen hochgewachsenen, jungen Mann davongehn, den Pfad hinunter. Er war ohne Hut und hatte beide Hände in den Taschen seines kurzen, grauen Rockes verborgen. Sein Gang war ein selbstbewußtes Schlendern, in der Haltung lag lässige Festigkeit. Als er das Pförtchen des Friedhofs schloß, und mir dabei sein Gesicht zuwandte, sah ich zwei mächtige, dunkle Augen. Das konnte nur der junge Pfarrer sein, von dessen merkwürdig sprunghaftem Wesen und großer Herzensgüte ich durch Mutter Bucher hatte erzählen hören. –

Da die Glocke eben elf läutete, nahm ich mein Buch unter den Arm und schlug jetzt den Weg zur Steinmatte ein. Von weitem schon prangte mir der prachtvolle Apfelbaum entgegen, der dicht vor den Fenstern das braune Haus zu hüten schien. Als ich mich näherte, fuhr ein kleiner, weißer Hund hinter dem Gartenzaun hervor und bellte mich zornig an. Ich ging der Laube entlang, die nicht hoch über dem aufsteigenden Wege lag und schaute über ihren Rand hinunter. Da erblickte ich darauf eine Frau, die mit gesenktem Kopfe, den Rücken mir zugewandt, auf einem niedern Stühlchen saß und Erbsen ausschälte, sodaß es einen regelmäßigen, glucksenden Laut gab, wenn wieder eine Hülse aufsprang und die Erbsen in die Schüssel kollerten. Ich sah braunes, im Nacken schlicht aufgestecktes Haar und einen dunkeln, faltenreichen Rock, in dem sich weite Hüften bargen.

Ich war stehn geblieben. Aber das unvermutete Anhalten meines Fußes auf den großen, klappernden Steinplatten des Weges mußte der Frau auf der Laube aufgefallen sein. Sie wandte rasch den Kopf nach mir um, und nun blickte ich ihr mit unhöflicher Hartnäckigkeit ins Gesicht, in dem mir sofort ein roter, beweglicher Mund auffiel.

»Wünschen Sie etwas?« fragte sie mich freundlich und schüttelte ihre Schürze aus, ohne sich jedoch von ihrem niedern Sitz zu erheben.

»Nein«, entgegnete ich – und in diesem Augenblick erkannte ich die warme, schützende Stimme, die mir seit Monaten wie eine beruhigende Musik im Ohre gelegen – »nur glaube ich, daß wir uns kennen.«

Die Frau erhob sich, stellte die Erbsenschüssel auf den Tisch und wandte sich mir zu. Ich sah, daß sie gesegneten Leibes war.

»Wir sollten uns kennen?« fragte sie zweifelnd und durchforschte nachdenkend mein Gesicht.

»Ja«, erwiderte ich freudig bewegt. »Haben Sie nicht einmal an einem Spätherbstabend letzten Jahres auf einer Promenade in B. gesessen, auf der untersten Bank? Es war feucht und nebeldunkel, Sie hatten Ihrem Manne davonlaufen wollen und waren in seinen Mantel mit der Kapuze eingehüllt und das weiße Hündchen da hütete Sie?«

»Gewiß,« entgegnete die Unbekannte, ohne sich besinnen zu müssen, »und da gesellte sich ein junges Mädchen zu mir und hat mir ihr kummerbeladenes Herz ausgeschüttet, und ich machte mir nachher bittere Vorwürfe darüber, daß ich sie nicht um ihren Namen gebeten und daß ich sie ihrem Schicksal allein überließ. Sind Sie es also? Grüß Gott! Um so mehr sind Sie mir heute willkommen. Setzen Sie sich doch zu mir auf die Laube!«

Trotz ihrer Leibesschwere kam sie mir leicht und rasch entgegen. »Woran haben Sie mich denn erkannt?« fragte sie lächelnd, »Sie sahen doch damals unter meiner Kapuze wenig von mir.«

»An Ihrer Stimme«, entgegnete ich.

»Meiner Stimme? Ist denn daran etwas Besonderes?«

»Für mich ja.«

Wie längst Vertraute saßen wir jetzt Seite an Seite auf dem mit rotgeblümtem Kattun überzogenen Laubensofa. Sie war eine ungefähr sechsunddreißigjährige Frau und hieß Elsbeth Keller. Und während sie zu den Erbsen nun noch kleine, gelbe Rüben zu schneiden begann, erzählte sie mir, daß ihr von einer Arbeit übermüdeter und erholungsbedürftiger Gatte seine juristische Tätigkeit für einige Monate habe einstellen müssen und auf den Ratschlag des Arztes mit ihr zusammen in dies stille Bergdorf gezogen sei. Es dünke sie zwar absonderlich, daß sie ihre Stadtwohnung mit allen Bequemlichkeiten gegen diese Bauernhütte vertauscht habe, wo es weder mit dem Feuerherd, noch mit dem Keller oder mit der Wasserleitung stimmen wolle. Aber ihr Gatte und sie liebten Hotels und Pensionen nicht und hätten es vorgezogen, dies Haus da mit den niedern Stuben zu mieten. Gerade jetzt benötige sie selbst eigentlich am meisten Bequemlichkeit und Komfort, wo sie nach elfjähriger Ehe endlich ihr erstes Kind erwarte. Aber gewiß werde alles zu überstehn sein; ihrem Manne behage es vorzüglich hier oben, er sei von Natur und Charakter ein Mann der Stille, des würdigen Ernstes und der Beschaulichkeit. Und wenn auch ihre temperamentvolle Beweglichkeit noch nicht den Kreis der Tätigkeit gefunden habe, dessen sie bedürfe, so werde dafür die herrliche Landschaft und die gute Luft dem künftigen, kleinen Mädelchen sehr zustatten kommen.«

»Sind Sie sicher, daß es ein Mädchen wird?« unterbrach ich sie.

»Ganz sicher. Und Rosel, meine treue, alte Magd, die schon bei meiner Mutter gedient und die soeben in den hintern Stuben die Betten sonnt, meint es auch. Der Himmel kann mir diesen heißesten meiner Wünsche nicht grundlos versagen.«

Hierauf begehrte Frau Elsbeth mit liebevoller Teilnahme zu wissen, wie ich damals meine schwere Zeit überstanden. Und ihre warme Stimme, die mir immer wieder wie eine Botschaft klang und die über einem nimmermüden, gesunden Herzen, in welchem tausend Hilfsquellen offen dalagen, wie ein Wächter zu stehn schien, brachte es zustande, daß ich ihr auch all das offenbarte, was sich nachher bei uns zugetragen. Es war mir zwar, als ich den Mund auch zu diesem Gestehn öffnete, als ob ich einen dunkeln Schatten über die sonnenbeschienenen Wiesen hinwürfe, eine bleiche Schwermut in das schimmernde Blau der Berge, und daß ich dieser gesegneten, großartigen Natur allen Schmelz raube. Aber tapfer zwang ich mich zu Ende zu sprechen, bis zu Suses Tode. Und als ich all das Dunkel heraufgeholt aus der Vergangenheit und so das erste Mal eigentlich die Ereignisse wieder laut und mit Worten berührt hatte, machte ich freudig die befreiende Entdeckung, daß es sich nicht mehr wie eine einstürzende, schwarze Wand auf mein Gemüt senkte, und daß nicht mehr wie früher, wenn ich nachsann, die letzte Fiber meines Wesens in verhaltener Spannung mitschwang, sondern der Eindruck rang sich mit der Aussprache zur selben Zeit los und ließ kein langandauerndes Nachzittern mehr in mir zurück. Das gab mir das Recht zu glauben, daß ich mein seelisches Gleichgewicht wieder gefunden habe.

Frau Elsbeth bat mich, oft zu ihr auf die Laube zu kommen. Ihr Gatte unternahm auf Rat des Arztes, wie sie sagte; täglich lange Spaziergänge, auf denen sie ihm nicht mehr zu folgen vermochte, da ihre Schwerfälligkeit mit jedem Tage zunahm. Ich möchte sie doch ja recht viel besuchen, wiederholte sie. Da das Schicksal – denn für sie gebe es keinen Zufall – uns nun auf so freundliche Weise zusammengeführt habe, wollten wir beide es als gutes Omen betrachten und nun auch Freunde werden. – Wie beglückend mir diese Aufforderung klang! Ich sollte Freunde finden? Würde mir die Heimat wirklich endlich zur Heimat?

*

Ich lernte die prächtige Frau, zu der ein richtiger Instinkt mich an jenem Oktoberabend geführt, auch bald um und um kennen. Ich weiß nicht aus welchem Urquell sie schöpfte; aber in kurzer Zeit hatte sie es zustande gebracht, das Dorf, seine Bedürftigen und Armen, ja, auch die, welche ihre blassen, totgeschwiegenen Wünsche mit trauriger Ergebenheit in sich verschließen, zu erraten. Es gehörte zu ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit, einen festgefügten Kreis solcher um sich zu fühlen, die ihrer bedurften. Das eifrige und tätige Miterlebenkönnen, Anteilhaben an dem Los andrer, solcher, die dem Schicksal nicht zu widersprechen vermochten und für sie eine Art Verantwortung zu tragen, das war es, was diese Frau brauchte, und sofort verlor sie ihre natürliche Munterkeit und verfiel in eine unerklärliche Langezeit, wie sie es nannte, wenn dieser ihrer ausgesprochenen Lebensbedingung nicht Genüge geschah. Sie mußte für andre denken, handeln, sorgen dürfen, und sie tat es nach dem Vorbild der Besten: Laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. Sie sprach nicht über das, was sie getan, vergaß der Gabe, die sie gereicht und behielt nur die Not des Beschenkten im Gedächtnis.

In der Zeit, da ich sie kennen lernte, fühlte sie sich durch ihren Zustand vielfach gehindert in ihren Unternehmungen. Aber ihre natürliche, muntre Beweglichkeit suchte sie sich wenigstens zu sichern dadurch, daß sie einen naheliegenden Ausweg betrat. Sie griff zu einem Mittel, das ihr zum mindesten körperliche Betätigung verschaffte und das sie auch in der Stadt, wie es schien, in notgedrungenen Pausen ihrem Temperament vorzeichnete. Dies Mittel bestand darin, daß sie alle Augenblicke mit ihren Stuben umzog. Gewiß schien es nichts Vernünftiges und Zuträgliches für eine hochschwangere Frau, Kommoden, Tische, Schränke von einem Zimmer ins andre herumzurücken, um so weniger als die Schwellen unter den Türen außergewöhnlich hoch waren. Aber Herr Keller ließ seine Frau vorläufig noch ruhig gewähren, half selbst mit bei den großen Stücken, die leichtern schleppte sie allein oder mit Hilfe Rosels und ohne jeden gesundheitlichen Schaden. So mußte ich mich jedesmal, wenn ich in die Steinmatte kam, auf eine Ueberraschung in der Möblierung gefaßt machen. Nur der Schlafraum durfte auf ausdrückliches Verbot des Hausherrn nicht verändert oder gezügelt werden. Das litt Herrn Kellers Ständigkeit in solchen Dingen nicht, sein behagliches Bett bildete den festen, ruhenden Pol in diesem sonst so beweglichen Haushalt. Dafür wanderte das Wohn- und Eß- und Eckzimmer. Dabei schien es Frau Elsbeth von geringer Wichtigkeit, ob die Möbel auch zusammenpaßten und ob die Bequemlichkeit unter allen Umständen am besten gewahrt blieb; Hauptsache war die dabei verschwendete Bewegungsfreude. Aber sonst auch blieb für sie, die Hilfsbereite, stets der lebendigen Betätigung genug. Da oben am Waldrand hatte sich ein Familienvater beim Ausgraben der Tannenwurzeln das Bein mit der Axt aufgeschnitten; unten am Bache wohnten die Elendesten des Dorfes, zwei Blinde, Bruder und Schwester; hier erwartete eine Frau ihr elftes Kind, und als am gegenüberliegenden Dorfhang ein Haus bis auf den Grund abbrannte, da ließ es sich Frau Elsbeth nicht nehmen, den schweren Korb mit Lebensmitteln ein Stück Weges selbst zu schleppen, bis ich zufällig daher kam, sie auf einen großen Wegstein sitzen hieß und den Korb selbst an die richtige Stelle beförderte.

»Erinnern Sie sich noch«, fragte sie mich einst, als wir wieder beisammen auf der Laube saßen und sie an einem groben Mannshemd für einen armen Sägenfeiler gerade die Knopflöcher schnitt, »als ich meinem Manne davonlaufen wollte? Ich habe nachher oft darüber gelacht. Aber sehn Sie, früher, wenn der Frühling ins Land zog, da glaubte ich immer, einen Grund zur Flucht zu haben. Ich wollte einfach immer davonlaufen, in die Welt hinaus, fort von meinem ruhigen Mann, auf eigne Faust. Wenn ich mir dann aber genau überlegte, mit wem ich am liebsten davongelaufen wäre – denn allein mag ich nie sein – dann stellte sich heraus, daß ich nur mit meinem Manne hätte gehn mögen. Haben Sie schon etwas Derartiges gehört, daß eine Frau von ihrem Manne mit ihrem Manne davonläuft?« Und dann lachte sie ihr muntres Lachen.

»Womit haben Sie sich aber dann jeweilen die Fluchtgedanken vertrieben?« wünschte ich zu wissen.

»Ach, man wird älter und vernünftiger«, plauderte sie. »Und dann habe ich mit Rosel zusammen das ganze Haus geputzt, die Betten gesonnt, die Schränke aufgeräumt. Und wenn Ostern da war, wurden für alle Kinder meiner Verwandten und auch für fremde, Eier gefärbt, und dann mußten die Großen und Kleinen die buntgeschmückten Nester im Garten suchen. Wir bewohnen nämlich in der Stadt mein elterliches Haus, das von einem großen Garten umgeben ist und somit viel Platz zu Verstecken bietet. Und wenn dann alles vorüber war, das Vorbereiten und das Freudemachen, dann war gewöhnlich auch meine Langezeit vorbei, und ich konnte den Frühling ruhig und zufrieden hinnehmen und mich an ihm freuen, ohne mich von seinem Drängen anstecken zu lassen.«

*

Es traf sich bald darauf, daß ich die Bekanntschaft des jungen, absonderlichen Pfarrers machte und ihn kennen lernte, nicht als den, der er schien, sondern so, wie er in Wirklichkeit war und vor allem sein wollte.

Wenn ich heute versuche, das Bild dieses jungen Mannes aus der Erinnerung heraus zu formen, so mag das für mich selbst als ein vermessenes Unterfangen gelten. Um seine geistige Erscheinung, seine innern Umrisse deutlich und dauernd festhalten zu können, dazu fehlte mir vor allem die gesunde Ruhe der Beobachtung und die völlige Vertrautheit mit ihm selbst. Mein eigner seelischer, noch des Schutzes bedürftiger Zustand von damals lehnte es außerdem ab, hemmungslos und stark wie sonst Eindrücke aufzunehmen. So sind in meiner Vorstellung von ihm am schärfsten eigentlich die Situationen, in denen ich ihn traf, haften geblieben; sie werden es hauptsächlich sein, die mir Farbe und Rahmen leihen müssen, um die Gestalt des später zur Berühmtheit gelangten Dorfpfarrers von der Vergangenheit abzulösen.

Mutter Bucher fragte mich bald darauf, ob ich es ihr nicht verübeln würde, wenn sie mich bäte, anderswo als in ihrem Hause den Mittag einzunehmen. Sie seien es einfacher gewöhnt, und jetzt, wo ich wieder gesunde, werde es mir kaum schwer fallen, auch wieder unter fremde Menschen zu gehn. Ein Hotel oder eine Pension schlage sie nicht vor; aber vielleicht könne man im Pfarrhaus anfragen; sie wisse, der Herr Pfarrer nehme gelegentlich Pensionäre auf; denn ihm und seiner Wirtschafterin sei Gesellschaft willkommen.

»Ins Pfarrhaus?« fragte ich ungläubig, »ja, glauben Sie denn, daß dieser Vorschlag dem Pfarrerlein, wie Sie ihn nennen, angenehm sein kann?«

»Gewiß, er wird nichts dagegen einzuwenden haben«, entgegnete sie zuversichtlich. »Letzten Herbst hielten sich sogar zwei junge Damen längere Zeit im Pfarrhaus auf. Die eine war die Nichte von Frau Scholl, der Wirtschafterin, die andre deren Freundin. Das geräumige Haus ist fast leer. Warten Sie, ich werde Frau Scholl übrigens selbst anfragen.«

Aber der junge Pfarrer war am folgenden Morgen nicht zu Hause, als Mutter Bucher anfragen ging. Er sei bei einem Kranken weit draußen, erklärte seine Wirtschafterin, werde aber natürlich gegen Mittag zurückerwartet. Ohne ihn könne sie keinen Bericht geben. Aber sie werde am Nachmittag jemand mit der Antwort zu uns hinunter ins Häuschen schicken.

Es ging gegen Abend, und noch war kein Bescheid vom Pfarrhof da.

Jedoch als es schon ordentlich dunkelte und ich einen Brief an Regine zum Postkasten trug, sah ich den jungen Pfarrer selbst den Weg daherkommen. Gerade überlegte ich mir, ob ich ihn nicht persönlich um seinen Bescheid fragen wolle, da stand er schon vor mir.

»Guten Abend, Herr Pfarrer!« sagte ich entschlossen.

Er blieb stehn und erwiderte zögernd, erstaunt meinen Gruß. Dann wandte er sofort seinen Schritt und setzte, sich dicht an meiner Seite haltend, seinen Weg fort. Ich hatte das Empfinden, als ob er durchaus nicht wisse, wem er sich beigesellt habe und sich auch weiter nicht darum kümmere, sondern daß er einfach in zerstreuter Höflichkeit neben mir einherlaufe. Er trug diesmal einen absonderlich geformten, runden und hohen Hut mit schmalem Rande, wie man ihn zur Zeit der Romantik getragen haben mochte. Nach kurzem, stummem Dahinwandern bemerkte ich, daß er, trotzdem er sich immer dicht an meiner Seite hielt, dennoch selbst die Richtung des Weges durch sein rasches Davonschreiten vorzeichnete und daß ich ihm unwillkürlich zu folgen begann. Auf einmal standen wir vor der Kirchtüre. Fritz Bodmer (so war des Pfarrers Name) zog jetzt den schweren Kirchenschlüssel aus der Rocktasche, steckte ihn ins Schloß und während er den Schlüssel knarrend drehte, sagte er: »Sie sind Fräulein Richter, nicht wahr? Ich wußte es. Und wohnen da unten im Grund bei Frau Bucher? Eine liebe Frau, nicht? Sie selbst habe ich schon einige Male im Dorfe getroffen. Gewiß können Sie bei mir Mittag essen.«

Ich unterdrückte ein Lächeln und dankte. »Aber was soll ich denn in der Kirche?« fragte ich erstaunt.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie gewiß interessiert«, entgegnete er mir, »treten Sie nur ein!«

Wir traten in die von der Abenddämmerung bereits stark verdunkelte Kirche. Der Pfarrer schritt rasch voran, schob sich dann zwischen den mittlern Bankreihen durch und deutete mit dem ausgestreckten Arme hinauf an die linke Seitenwand.

»Dieses da müssen Sie sich ansehn!« sagte er mit Bestimmtheit.

Mit neugieriger Spannung blickte ich zur weißgetünchten Wand empor und sah zuerst nichts. Allmählich aber, mit einiger Anstrengung, begann ich trotz des Dunkels etwas wie farbige Umrisse zu entdecken. Rötliche, braune, gelbe, grüne Farbflecke lagen zerstreut über der weißen Fläche, einzelne große, runde Stellen, von denen die Tünche abgekratzt schien. Endlich konnte ich etwas wie einen braunen, sanftbewegten Mantel unterscheiden, Teile eines Baumstammes, ein großes, bärtiges Haupt.

»Es ist zu dunkel«, gestand ich aber schließlich nach längerm Betrachten, »was das übrige sein soll, kann ich nicht unterscheiden.«

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte der Pfarrer, lief rasch aus der Kirche hinaus und ließ mich im Düster stehn. Bald darauf kehrte er mit einer großen, brennenden Laterne zurück, stieg auf eine Bank und hielt die Laterne so hoch, daß ein weiter Lichtkreis an die Wand fiel. Und nun unterschied ich deutlicher das große, bärtige Haupt und in dessen wildem Haare verborgen die Umrisse einer Kinderhand. Dann unterbrach wieder ein großer Tünchefleck den weitern Zusammenhang des Dargestellten; aber tiefer unten kam nochmals Farbe zum Vorschein, scheinbar ein breitfließendes Wasser und mitten in der Strömung die leichterkennbaren Konturen zweier nackter menschlicher Knie.

»Können Sie erraten, wen das Bild vorstellt?« fragte mich jetzt der Pfarrer mit seltsamer Gespanntheit. »Nein?« Und bevor ich antworten konnte: »Es ist der heilige Christophorus.«

»Der heilige Christophorus!« rief ich freudig überrascht, »ach, das ist ja mein Heiliger.«

»Ihr Heiliger? Wieso?« fragte er aufhorchend, und sein Blick streifte mich rasch.

»Meine Gedanken haben sich in der letzten Zeit viel mit ihm beschäftigt«, bekannte ich.

Jetzt schaute er mich lange groß an. »Die meinen auch«, gestand er hierauf leise.

Er setzte sich auf die Lehne einer Bank, stemmte die Füße auf den Sitz und stellte die Laterne neben sich. Und nun erzählte er mir, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände über den Knien lässig ineinandergeschlungen, wie er eines Sonntags während der Predigt von der Kanzel aus in der Tünche der Wand einen Riß und darunter eine Farbspur wahrgenommen habe und wie ihm dadurch der Gedanke aufgetaucht sei, daß ein altes, übermaltes Gemälde sich darunter bergen müsse. »Schon am selben Nachmittag«, fuhr er fort, »habe ich sorgsam zu schaben begonnen, und hoffentlich wird es mir gelingen, das ganze Gemälde unversehrt hervorzuholen. Unter der Tünche scheinen sich stellenweise die Spuren einer Uebermalung zu finden; was ich bis jetzt an Farben gesehn, ist schlecht, ohne Kraft, aber die Zeichnung von unbedingt großer Auffassung und von Meisterhand entworfen. Es lohnt sich ohne Zweifel, weiter zu schaben. Das Bild kann allenfalls nach einem Dürerschen Entwurf geschaffen sein.«

Ich hörte aufmerksam und ohne ihn zu unterbrechen zu. Dieser junge Geistliche, der da im Scheine der Laterne, die seine Figur ins Dunkel bannte und nur den Kopf hell beleuchtete, vor mir saß, der in dieser ersten halben Stunde unsrer Bekanntschaft so spontan, unmittelbar, mit beinah kindlicher und unfreiwilliger Vertrautheit aus dem Innersten seines Wesens und seiner Interessen sich mir zu erkennen gab, erschien mir wie etwas nicht Alltägliches, etwas Außergewöhnliches. Seine mächtigen Augen unter der weiten, gedankenvollen Stirn bildeten in dem blassen Antlitz die Kanzel, von der aus ein träumerischer Feuergeist sich selbst offenbarend predigte. Die Stimme kräftig, doch ohne jegliche Schärfe, war von einer weichen Innigkeit übersponnen, die durch die Stille der Kirche klang wie ein mildeverhüllter Gesang.

Er hatte den Namen Dürers genannt, und nun kam es wie ein stillefließender Strom der Rede aus ihm heraus. Er ging über zu Grünewald und der mittelalterlichen Kunst, zu Altorfer und Konrad Witz. Er sprach über die Kunst im allgemeinen und tat seine eigne hohe Auffassung davon kund. Ich erinnere mich nicht mehr, was alles den Inhalt des Gesagten bildete, aber es war, als ob Weihevolles, Ehrfürchtiges sich vor ihm aufgetan, und als ob er an die Wurzel einer Schöpferkraft gerührt habe, der er selbst teilhaftig war. Seine Rede glitt unaufhaltsam dahin, getragen von gedankenvollem Ernste; die Worte vermochten oft dem zu raschen Fluge der Gedanken kaum zu folgen, sodaß sie zuletzt einem ehrfürchtigen Stammeln glichen, einer sinnenden Auseinandersetzung mit sich, einer Zwiesprache mit einem ihm allgegenwärtigen und schöpferischen Genius.

Ohne mich zu rühren, war ich seiner Rede gefolgt. Plötzlich schwieg der Pfarrer. Unerwartet rasch stieg er von der Bank hinunter. Und als ob eine unsichtbare Hand einen dichten Vorhang zwischen uns vorgespannt, wurde er schweigsam und fremd. Der Zauber seiner eignen Worte schien auf ihn zurückzuwirken und ihn im Bann zu halten.

Wir traten aus der Kirche hinaus ins Dunkel des Abends. Er blies die Laterne aus. Wie ein völlig Fremder verabschiedete er sich jetzt hastig von mir. »Sie werden nach Hause gehn«, sagte er. Aus seinem Tone klang es wie eine Verfügung, der ich mich unterzuordnen hatte.

Als ich den Weg zu unserm Häuschen hinunterschritt und darüber nachdachte, was sich zugetragen, war ich erfreut und erstaunt über die im Grunde so natürliche und doch so ungewöhnliche Art dieses abendlichen Zusammentreffens. Und ich fühlte deutlich, daß sich hinter diesem jungen Pfarrer eine noch nicht festgelegte und umschriebene, menschliche Größe bergen mußte. Er würde mich, das wurde mir auch klar, durch sein Wesen allein, dem eine heimliche unbewußte Macht innezuwohnen schien, trotz meines Sträubens, zwingen, starken Anteil an ihm zu nehmen. Vielleicht war es gut so, trotz meines immer noch sich geltend machenden Bedürfnisses nach Selbstschonung. Die Menschen sollten mich wieder rufen dürfen. Es war köstlich, sich in dem leise sich erschließenden Kreis alles Lebendigen, Gesunden und geistig Kraftvollen wieder als ein Vollwertiger bewegen zu dürfen.

Aber, wer hatte eigentlich im abendstillen Gotteshaus zu mir gesprochen? War es ein Priester der Kirche oder ein Priester der Kunst?

*

Reginchen war gekommen! Am Sonntagmorgen schon in aller Frühe stand sie unvermutet vor unsrer Rebenlaube. In ihrem weißen Kleide verfing sich die Morgensonne, und in ihren blauen Augen, vom hellen Strohhut beschattet, lag der freudige Uebermut der trefflich gelungenen Ueberraschung. Wie habe ich sie umarmt und geküßt und mich gefreut, sie so gesund und heiter wiederzusehn!

Ich glaube, ich habe meine Schwester beinah zu viel im Dorfe herumgeführt und sie zu sehr ermüdet; denn sie klagte über Kopfschmerzen, als wir sie alle zusammen am Abend wieder zur Bahn geleiteten. Aber ich hätte ihr die ganze Berglandschaft da oben in die blauen Augen hineinschütten mögen, damit sie nicht nur all die Pracht, sondern auch ihren heitern Frieden mit zu Tale trage und auf ihre weißen Papierbogen zaubere, wie sie es damals am Balle so sehnlich mit den flüchtigen, schönen Stunden gewünscht.

Ich brachte Regine hinauf zu meinen Freunden in die Steinmatte und war glücklich, als Frau Elsbeth uns beide bat, zum Mittagessen dazubleiben. Das waren köstliche Stunden, da oben auf der Laube. Die Laube war jetzt der Sonne wegen mit einem roten Vorhang verhangen, der einen milden Widerschein über unsre frohen Gesichter und hellen Gewänder breitete. Wir halfen alle gemeinsam die Tafel rüsten, wuschen den Salat am Brunnen, schälten die Kartoffeln, holten aus dem mittels großen Steinen in der Mauerlücke hinter dem Häuschen improvisierten Keller zwei Flaschen Rotwein, die Herr Keller entkorkte. Verstohlen sah er ab und zu nach seiner beweglichen Frau, die ihm für ihren Zustand viel zuviel herumlief und mahnte von Zeit zu Zeit leise zur Schonung. Auf dem festlichen Tische stand auch ein Korb mit rotgoldenen Orangen, der soeben mit der Post eingelangt war. Orangen waren nun eine Frucht, die in dieser Jahreszeit schwer erhältlich war; aber man hatte sie von irgendwoher beschickt, weil Frau Elsbeth eine unbezähmbare Lust gerade nach dieser schwer zu erreichenden Obstart bekundet hatte. Durch die Ritze im roten Vorhang sah man direkt in die äußersten Zweige des großen Apfelbaums, und die warme, von saftigem und starkem Berggras durchwürzte Luft vermehrte das wundervolle Behagen unsres Beisammenseins.

Später saßen Regine und ich hoch oben am Hange, in der Nähe des Waldes, im Gras, nur wir zwei. Frau Elsbeth hatte versucht, uns mit ihrem Gatten eine Strecke weit zu begleiten, war aber, als der Weg steiler wurde, vernünftig und fügsam umgekehrt. Von unserm Platz aus ließ sich das ganze Tal überschauen. Die Matten waren kurz beschnitten, die Luft zitterte und trug uns alle nahen und fernen Geräusche zu. An der Wange des Himmels lag eine runde, müßige Wolke, die in ihr starres, silberweißes Gewand vernarrt schien; denn träge und unbeweglich blähte sie sich auf. Aber die Sonne bewies ihre sengende Nähe, und langsam zerfloß die dicke Wolke zu einer schmalen Brücke, die vom Blicke der Sonne stundenlang in der Schwebe gehalten wurde und unlösbar festgebannt blieb. Am blauen Ausgang des Tales mußte der dämmerige See liegen, der den Saum des großen Donnerers umschloß, kühl und kalt, mit graublauen Tiefen, bergend die Gedanken des Mächtigen, seinen Sinn und sein Geheimnis.

Regine legte ihren Arm in den meinen: »Weißt du auch, warum ich hauptsächlich gekommen bin, Anna? Ich bin da, um Abschied zu nehmen.«

»Die große Reise?« fragte ich erfreut.

»Ja, die große Reise«, entgegnete sie mit glücklichem Lächeln.

»Mein Geld liegt endlich beisammen, es reicht gerade zur Hin- und Rückreise.«

»Gehst du mit Vitia?«

»Nein,« wehrte sie, »bloß zu ihm. Vitia ist diesmal lange vor Semesterschluß verreist. Und seine Mutter sandte mir einen russischen Einladungsbrief, von dem ich natürlich kein Wort verstand und den ich mir übersetzen ließ. Nun gehe ich. Mein Chef ist vom alten Ausläufer, der viel bei ihm gilt, weil er schon unter seinem Vater gedient, längst sorgfältig vorbereitet worden. Er läßt mich ziehn, und nach drei Monaten kann ich wieder in meine Stelle zurück. Das Geschäft vergrößert sich beinah von Woche zu Woche, es benötigt mehr Angestellte, um so eher kann ich mich entfernen.«

»Also du gehst weit fort, Reginchen«, sagte ich und fühlte, wie eine leise Traurigkeit mich plötzlich beschleichen wollte.

»Ja, Anna, ich gehe. Freue du dich mit mir. Sieh, ich durfte in der letzten Zeit keine Kirchturmspitze in der blauen Freiheit und Weite der Luft mehr ansehn; ich beneidete jedes Vogelnest, das sich irgendwo in seiner uneingeschränkten Freudigkeit hoch oben schaukelte; ich konnte keinen Eisenbahnzug mehr pfeifen hören und keine Reisetasche in einem Schaufenster entdecken, ohne daß diese unbezähmbare Lust, fortzuwandern, mich ergriff. Besonders arg wurde es mit mir, als ich dich da oben in den Bergen wußte. Ich bin viel traurig gewesen seit deinem Fortgang, das kannst du dir ja denken, nervös und unlustig zu allem; ich bin sogar einmal wieder im Schlaf aufgestanden und zur Türe marschiert, um das zu suchen, was mir immer wieder entrinnt. Aber unsre neuen Stuben sind so klein, ich stieß mit dem nackten Fuß ans Tischbein und erwachte.«

Ein Trüppchen weißer Schmetterlinge flog jetzt auf uns zu, trennte sich dicht vor uns und vereinte sich wieder hoch oben in der Luft. Und nun schlüpfte auch vom Walde her ein Eichhörnchen über die Wiese. Es flüchtete auf einen Birnbaum, der in unsrer Nähe stand, schaukelte sich im Blättergrün, und man sah nur seinen hübschen schwarzbraunen Schweif sich im Gezweige bewegen. »Husch!« rief Regine und klatschte in die Hände. Da fiel eine reife Birne vom Baume, das reizende Tierchen floh über die Wiese davon in hohen, graziösen Sprüngen und verschwand im Walde.

Jetzt nahm meine Schwester das Gespräch wieder auf. »Sieh, ich lebe mit meinen Gedanken längst voraus«, sagte sie. »Ich pflücke schon, empfange schon das Neue und Außergewöhnliche, ich besuche in Gedanken die Museen, die Kirchen, alles was sich Köstliches auf meinem Wege findet. Den Namen der Station, der mein letzter Bestimmungsort ist, und den wir damals auf der Karte auch nicht fanden, kann ich heute vorläufig wenigstens falsch aussprechen. In Charkoff muß ich umsteigen und eine kleinere Zweigbahn benutzen, das genügt. Für mich heißt die kleine Station Vitia Milsky, sie schielt, hat keinen Funken Phantasie und ist eine unsäglich brave Ruhestation. Der gute Vitia! Mein Gott, wie werde ich mich freuen, wenn er dann irgendwo in dem riesigen Rußland an einer Ecke auftaucht. Er hat mich übrigens vorbereitet, daß er mit seiner Mutter oft zankt. Natürlich wegen der Bienen, von denen sie nichts versteht.«

»Das kann lustig werden«, lachte ich, »aber ich kann mir Vitia nicht als Wütenden vorstellen.«

»Ich auch nicht. Mit uns ist er doch immer so friedlich und nicht aus seiner Ruhe zu bringen. Wie sieht er wohl aus, wenn er zankt?«

»Das weiß ich auch nicht. Ich werde sehn.«

»Wann reisest du, Reginchen?«

»Schon nächsten Samstag, frühmorgens, mit dem ersten Zuge.«

»Aber du kommst bestimmt wieder? Sag, versprich, daß du wiederkommst!«

Regine legte ihren Arm um meinen Hals und schmiegte ihre Wange an die meine: »Natürlich, Anna, kehre ich zurück. Ich könnte es nie dauernd in der Welt draußen aushalten, wie du. Ich gehöre in die Heimat. Besonders heute könnte ich nicht in einem Lande sein, wo du nicht bist. Und wenn ich zurückkomme, dann ist mein größter Durst für eine Zeitlang wohl gestillt, und ich bin eine Weitgereiste. Du bist auch wieder ganz hergestellt und findest mich in unserm neuen, hübschen Heime schon vor. Dann beginnt für uns beide das Leben nochmals oder erst und schöner als vorher. Warte nur und habe Vertrauen. – Vater werde ich noch besuchen, bevor ich verreise. Ich schließe die Wohnung ab und schicke dir den Schlüssel hierher.«

Welch ein köstlicher, frohmachender Tag war das, dieser Sonntag mit Regine! Ich habe ihn bis zur letzten Minute durchkostet. Um ihn nicht zu berauben und von seinen ungetrübten Stunden nicht abzuschweifen zu Erinnerungen, rührten wir beide an nichts, was der Wehmut und Trauer hätte rufen können. Nur als wir beide beim Abschied einen Augenblick allein im Wagen standen, flüsterte sie mir leise zu: »Behüt dich Gott, Anna! Auf der Rückreise fahre ich über D. Ich werde bei Frau Pach vorsprechen und Suses Grab besuchen. Es ist kürzlich ein Brief an dich eingetroffen; er war von Zilli, und ich behielt ihn zurück. Sie schreibt, der fremde Herr, der schon einmal dagewesen, sei wieder gekommen, habe Geld dagelassen und habe ihr die Pflege des Grabes aufgetragen.«

*

Regine hatte mir einen Teil meiner Bücher, um deren Zusendung ich sie gebeten, mitgebracht. Es war das Material zu meiner von Professor W. längst aufgetragenen und von mir hintangesetzten Arbeit. Nach der Abreise meiner Schwester versuchte ich denn auch, in der Rebenlaube sitzend, wieder ernstlich zu arbeiten, meinen Kopf und meine Gedanken ruhig zur gesammelten, auf einen Punkt gerafften Anstrengung zu lenken. Und es gelang mir zu meiner unaussprechlichen Freude so gut, als ob sich in meinem Wissen keine Lücke aufgetan und kein Zusammenhang verloren gewesen. Das Neue schloß sich dem bereits Vorhandenen ruhig an, nahm es gefügig und sinnfällig auf und setzte sich mit ihm mühelos auseinander. Ich war überrascht über die feste Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, das ich schwächer geglaubt hatte. Durfte ich es mit Sicherheit also wieder wagen, meinem Geiste den Zwang der Arbeit aufzuerlegen, ohne daß sich zuhinterst im Kopfe der fatale Riegel vorschob oder das für mich in diesem Augenblick Wichtigste wie in einer tiefen Höhlung irgendwo versank?

O, wie rankte da in meiner Seele das Hoffen auf die Vollendung meines Studiums wieder zuversichtlich empor! Ich durfte versuchen, mich wieder vorwärts tragen zu lassen, dem einstigen, vorgesteckten Ziel entgegen, und meine Zukunft würde sich dem ungebeugten Willen meines Herzens fügen müssen. Aber noch wagte ich nicht zu glauben und wollte die Erfüllung und die faßbare Gestaltung meines Wunsches der reinen Kraft der Berge überlassen. Das Hoffenkönnen bedeutete mir vorläufig alles. –

Im Garten des Pfarrhofs blühten in langer Reihe die blauen Lilien. Süßes, starkes Duften entstieg ihnen. Am Spalier hingen kleine, mattgelbe Röschen, die die Köpfchen senkten, auf den Beeten öffneten sich eben die großen dunkelroten Rosen, die ihr Antlitz der Sonne zuwandten.

Hinten im Garten schossen saftiggrüne Salatstauden in die Höhe, Spinat und Bohnen, viel zu eifrig, als daß die zwei Bewohner des Hauses alles hätten bewältigen können. Am Zaune waren die Stachelbeeren reif, und die gute, alte Bergföhre in der Mitte des Gartens schob ihre zottigen Zweige weit hinaus über den Rand des mit Kies bestreuten Rondells, in dem sie stand.

Ich schritt mit dem jungen Pfarrer durch diesen frohen sommerlichen Garten. Es war einst nach dem gemeinsamen Mittagessen, als man beim schwarzen Kaffee besonders gesprächig und angeregt gewesen war.

»Ich zeige Ihnen heute meinen Hühnerhof«, schlug er vor, »und dann das ganze Haus. Ich bin nämlich der Besitzer von elf Hühnern; ich füttere und pflege sie selbst, gönne mir dann aber auch die Freude, die warmen Eier selbst aus dem Neste zu nehmen.«

Wir besahen uns nun gemeinsam diesen Hühnerhof, hierauf an der Schmalseite des Hauses die Spaliere und eine Linde, an welcher eine Leiter lehnte.

»Schade um sie«, meinte Fritz Bodmer bedauernd, »sie war breitästig und schön; aber ich mußte ihr die Aeste stutzen, sie wurde zu vorwitzig und stiehlt mir das Sonnenlicht.«

Vom Garten weg lief er jetzt zurück ins Haus, rasch, unbekümmert darum, ob ich ihm auch so schnell folgen könne. Im Speisezimmer, dessen Türe offen stand, griff er schnell ein paar flüchtige Akkorde auf dem Klavier, sang und pfiff dazu. Dann stand er plötzlich im obern Hausflur und wartete mein. Hier zeigte er mir nun sein Studierzimmer. Die ganze Ausstattung dieses Raumes bestand eigentlich nur aus zwei Möbelstücken, einem sehr schönen, neuen Schreibtisch aus hellem Arvenholz und einem mächtigen Büchergestell, das die Wand vollständig einnahm. Zwischen den Fenstern hing der Gekreuzigte, eine wundervolle Arbeit aus altem Elfenbein.

»Möchten Sie sich vielleicht ein Buch zum Lesen mitnehmen, Fräulein Richter?« fragte der Pfarrherr und deutete mit lässiger Gebärde auf das Büchergestell, »dann wählen Sie sich etwas aus.«

»Gewiß, gern«, entgegnete ich.

Während ich die Bücherreihen überflog, stand der junge Pfarrer am Fenster und schaute in den Garten hinunter. An der Haltung seines Körpers erriet ich jedoch seine kaum beherrschte Ungeduld. Ich beeilte mich deshalb und wählte den ersten Band der Hagenbachschen Kirchengeschichte.

»So, jetzt kommen Sie!« sagte er alsbald und wandte sich mir zu.

»Wohin denn?« fragte ich überrascht.

»Sie werden sehn.«

Wir stiegen die Treppen hinunter. Unten im Hausflur hatte indessen die Wirtschafterin alle Zimmertüren und Fenster geöffnet, um die warme Luft vom Garten in die kühlen Gänge hineinströmen zu lassen. Mein Blick streifte flüchtig zwei der Zimmer, an denen ich vorbeischritt, sie waren vollkommen leer. Im zweiten bauchte sich nur ein großer, grüner Kachelofen, auf dem eine Lampe, überdacht von einem buntseidenen Schirme, stand, daneben einige Farbtöpfe, denen ich keine weitere Beachtung schenkte.

Wie ein fröhlicher Junge lachte da der Pfarrer plötzlich auf: »Nicht wahr, das ist ein armseliges Pfarrhaus, Fräulein Richter? Es sind im ganzen bloß drei Zimmer, so was man heißt ausstaffiert. Das schönste von allen ist das meiner Wirtschafterin; denn sie hat ihre eignen Möbel mitgebracht.«

Er zog die Uhr. »Nun, wohin gehn wir?« fragte er. Wir standen im Hofe, wo der Brunnen rauschte.

»Haben Sie denn jetzt Zeit zum Spazieren, Herr Pfarrer?« fragte ich. Er antwortete nichts auf meine ihm überflüssig scheinende Frage, streckte den Arm aus und meinte: »Dort hinauf gehn wir, am Bach in die Höhe. Dort oben ist wundervolles, flaches Weideland, die schönste Matte, mit Haselbüschen umsteckt und ganz still. Dort ist auch ein kleiner See, das gestaute Wasser des Reservoirs. Marschieren Sie gut? Wenn Sie müde werden, nehme ich Sie einfach auf den Rücken und trage Sie hinunter.«

Ich lachte. »Sie als Ortsgeistlicher? Was würden da Ihre Pfarrkinder sagen?«

»Sie reden mir wohl manches nach«, entgegnete er. »Es ist aber wirklich schon vorgekommen, daß ich eine junge Dame auf dem Rücken vom Berge hinunter trug bis an das erste Haus des Dorfes. Das war letztes Jahr. Die Unglückliche war die Nichte meiner Wirtschafterin, Frau Scholl. Ich hatte sie auf einer gemeinsam unternommenen Tour zu sehr überanstrengt. Sie war halb ohnmächtig. Und da ich die böse Gewohnheit habe, fremde Kräfte zu überschätzen und besonders die Kräfte der Frau aus Unkenntnis der Frau überhaupt, so rannte ich das arme Wesen halbtot und trug sie dann, mir zur billigen Strafe und um mein Gedächtnis zu Rücksichten zu zwingen, schwer keuchend den Berg hinab. Sie werden also gut tun, wenn Sie mich beizeiten an sich erinnern.«

Wir stiegen dem rauschenden Sturzbach nach in die Höhe, überschritten hoch oben das tosende Wasser und gelangten auf die ruhige, helle Matte, von der mein Begleiter gesprochen. Er war seiner Gewohnheit getreu rasch gelaufen, und als ich aufatmend mich oben einfand, sah ich ihn bereits auf der großen Zementmauer des Stauwassers sitzen.

Das Tal lag jetzt tief unter uns, die mächtigen Bergschatten schritten gewaltigen Riesen gleich daher und belagerten mit großen Gebärden das Mittagslicht.

»Hier ist es wundervoll«, sagte der Pfarrer nach einer Weile. »Hier bin ich oft«.

Er rupfte eine gelbe Taubnessel aus dem Grase, sog nippend ihren Saft ein und ließ sie dann hinter sich ins Wasser fallen. –

»Wie lange sind Sie eigentlich schon hier oben in den Bergen, Herr Pfarrer?« fragte ich.

»Bald wird es ein Jahr sein«, entgegnete er nach einigem Stillschweigen langsam, als ob ihn die Frage nicht weiter berührt habe. Er beugte sich nochmals zurück über den Rand des Sees und wiederholte, eine zweite, zerzauste Blüte zwischen den Zähnen: »Ja, nicht einmal ein Jahr.«

Ton und Haltung verboten mir jedes weitere Fragen. Schweigsam blieb ich an seiner Seite sitzen. Merkwürdig, wie das Wesen dieses so eigengearteten Menschen auf die Dauer auf mich wirkte! Seine Nähe zwang mich beinah immer zum Schweigen, jedoch auch dazu, mich stillschweigend nur mit ihm zu beschäftigen. Je länger aber mein Schweigen währte, desto mehr fühlte ich mich beunruhigt, weil es mir schal und inhaltslos dünkte und mich, wie mir schien, vor ihm herabsetzen mußte.

Mit weitgeöffneten Augen schaute der Pfarrer jetzt lange hinaus auf die vor uns ausgebreitete reiche Gegend. Dann zerzauste er eine ganze Hand voll Taubnesseln, sog ihren süßen Saft ein und meinte unvermutet: »Finden Sie es nicht auch grauenhaft, daß wir Menschen in unsrer engen Kurzsichtigkeit besondere Rechte für uns in der Schöpfung beanspruchen und dadurch unsre Nebengeschöpfe gering und wertlos machen, wie ich es eben mit den Nesseln da getan? Und die Pflanze, das Tier? Gerade die Pflanzen sind über die ganze Erde verbreitet und gedeihen auch dort noch, wo des Menschen Fuß längst nicht mehr hinreicht. In tropischen Gegenden ist die Pflanze gewaltsamer und lebensgieriger als der Mensch, und ihr Duft, ihr Welken und Sterben treibt ihm das tätliche Gift in die Adern. Und doch denkt unser Hochmut sich überall größer. Und die Kristalle, die Steine, das Wasser, die Berge? Ist nicht überall dasselbe Leben, das da kommt und geht wie das unsrige, sich abnutzt und stirbt? Der Mensch ist doch so gering wie jedes andre Ding, das er unterschätzen möchte; ein Glas auf dem Tische kann ihn, den Herrn der Schöpfung, um Jahrhunderte überdauern.«

Er sprang von der Mauer herunter, warf sich neben mich ins Gras und stemmte sich mit dem Rücken gegen die Fassung des Reservoirs »Sehn Sie!« fuhr er dann fort, »trotz dieser Selbstüberschätzung, die sich auf alle Gebiete des Lebens erstreckt, was nicht der Mensch heißt, reden sie alle immer wieder von einer kommenden großen Verbrüderung. Ich gestehe, mir fehlt dazu jeglicher Glaube. Es scheint mir, nur der Rausch einer glücklichen oder die Buße einer schweren Zeit, oder die hartnäckigste Einfalt können dies Gebilde einer gemeinsamen Phantasie aufbringen. Es fehlt dazu vor allem die Leidenschaft der Aufrichtigkeit. So jung, so knabenhaft kommt mir dieser Gedanke an eine gemeinsame und notwendige Verbrüderung vor, nur gut für die Unerfahrenheit. Sie scheint mir ein aufs Allgemeine gerichtetes, leeres Liebesgefühl der Jungen im Geiste. Allgemeine Liebesgefühle sind immer inhaltslos. Erst beim einzelnen beginnt der Inhalt. Nur die können derart schwärmen, die den Menschen und sich nicht kennen. Sie, denen der Bazillus der Not das Blut noch nicht vergiftet, sie tragen sich mit solchen Beglückungsideen. Die eigne, starke Not ertötet bald solch leeres Eingreifen. Ich denke mir auch, daß diese erträumte, allgemeine Verbrüderung nicht im Plane des Schöpfers liegen kann, weil ...«

Es war die Stunde der Lawinen. Auf der andern Seite des Tales sauste eben eine mächtige Lawine nieder mit grimmigem, wütendem Gepolter, und die Berglücke, die sie auffing, füllte sich mit wirbelndem Schneestaub, einer undurchdringlichen Wolke gleich. Wie ein mächtiger Sturzbach war sie zu schauen.

»Das wäre eigentlich auch eine Todsünde, so in den Frieden seiner Umgebung ohne Rücksicht und Nächstenliebe hineinzupoltern mit solch toller Leidenschaftlichkeit«, meinte jetzt Fritz Bodmer nachdenklich, nachdem der Donner der Lawine sich verzogen. »Es ist eine unverantwortliche Tat der Lawine, Wälder einzureißen, Matten, Hütten, Vieh, Menschen zu zerstören. Aber die Natur macht sich nichts daraus; sie reißt ein und baut mit denselben Mitteln wieder auf. Und uns, mich, Sie, will man auch das glauben machen, daß die Liebe zu seinem Nächsten, die zu der erträumten Verbrüderung führen soll, daß sie das oberste Prinzip des Weltalls sei, ihre Axe und ihr Hebel.«

In die kräftige und doch träumerische Weichheit seiner Stimme war leiser Spott getreten. Aus seiner Haltung und seinem Gehaben wurde mir aber jetzt klar, daß das Bedürfnis der Mitteilung diesen einsamkeitsgewohnten, jungen Pfarrer, wohl ohne daß er sich darüber Rechenschaft ablegte, in diese hohe, stille Matte geführt haben mochte. Irgend etwas mußte ihn gefangen halten, das sich in der verschwiegenen Ruhe und Geborgenheit dieser Stätte wohl am leichtesten erschloß. Und so faßte ich mich bereitwillig als seinen ihm notwendigen Zuhörer auf, als lauschendes Publikum, dessen er in diesem Augenblick bedurfte, um die Vorgänge in seinem Innern zu klären und ich horchte gern und mit dem starken Interesse, das seine Persönlichkeit in meinem Gemüte wachhielt.

»Die Liebe,« fuhr er fort, »ich meine die Nächstenliebe, ist wohl das fremdeste Element in der Schöpfung überhaupt. An ihr scheitert alles. Ueberall wo sie gepredigt wird, verlieren die Dinge mit der Zeit ihr greifbares, persönliches Leben.«

Jetzt aber schaute ich erstaunt und betroffen zu ihm hinüber und unterbrach ihn lebhaft: »Mir scheint, Sie reden als Pfarrherr ungewohnte und hoffnungslose Dinge, die für mein Empfinden in einem tiefen Gegensatz zu Ihrem Berufe stehn müssen.«

Ich versuchte in sein Gesicht zu blicken. Aber er hob den Blick nicht, sondern fuhr, ohne auf meinen Einwurf zu achten, fort: »Ja, ein Pfarrer besonders soll immer von der Nächstenliebe reden! Er tut es auch, es ist seine berufliche und menschliche Pflicht. Aber warum muß diese Liebe, wenn sie wirklich das Element und die Grundbedingung unsres Daseins ist, warum muß sie Stunde um Stunde gelehrt, gepredigt, von allen Kanzeln der Welt heruntergeschrien werden? Warum muß man sie erst heilig sprechen, wenn sie es ohnehin ist? Nur Tote spricht man heilig. Alles in uns und in der Natur scheint sich diesem Begriff der Liebe entgegenzustemmen, beim einzelnen, beim Volke, beim Staate. Glaubt man wirklich im Ernste, aus der Liebe allein sei die Welt entstanden? Sie sei die allein schöpferische Kraft? Es brauchte mehr als einer Kraft, um aus dem Chaos eine Welt zu schaffen. Die Flamme, die den Atem durch die Schöpfung blies, war mehr als die Liebe.«

Er blickte lange schweigend hinunter ins Tal und riß mechanisch an den Grashalmen zu seiner Rechten. Dann fuhr er fort: »Es gibt wohl einst eine Art der Verbrüderung, eine erträumte, letzte Verbindung, denke ich mir. Sie wird einen einzigen kurzen Augenblick währen. Das wird sein in den Wehen eines allgemeinen Untergangs. Wenn die Erdkugel erzittert und erschauert und alles in der Schöpfung, auch das letzte Geschöpf, auf einen Augenblick zur Herrschaft gelangt und über die Welt hinbrüllt wie in der Apokalypse. Da werden Pflanzen, Tiere, Wasser, Berge, die verlorene oder nicht erreichte Stimme der Vernunft erlangen. Da wird es als ein einziger, verbrüdernder Gefühlsgedanke durch aller Herzen gehn, und das wird die Angst sein. Sie, die Angst ist die elementarste, die erste und auch die letzte verbrüdernde Verbindung der Geschöpfe und der Schöpfung. Aber dann ist bereits das Ende.«

Er schwieg. Seine Rede war nach und nach von der starken Spannung wieder zu dem versonnenen Stammeln herabgesunken, das ich an ihm kannte und das ihm stets eigen war, wenn der Zauber seiner Phantasie oder einer Idee ihn im Banne hielt.

Ich mußte in diesem Augenblick, wohl von seinen letzten Worten noch stärker berührt, an meinen Vater denken, den frommen, schlichten Landpfarrer, der einst so glaubensfroh und von begeisterten Hoffnungen getragen, die Erlösung durch die Nächstenliebe und das Vertrauen auf seinen Gott verkündete. Ich erinnerte mich der eigentümlich überzeugenden Art, wie er an Sonntagen das Vaterunser zu beten pflegte, mit einer so tiefen Inbrunst, daß mich als Kind schon die Heiligkeit und Hoheit dieses Gebets ergriff. Und als nun die Gestalt meines Vaters so lebendig vor mir stand, den naheliegenden Vergleich laut herausfordernd, da entfuhr es mir unwillkürlich mit einer Art Ungeduld: »Sie sprechen nicht, wie ein gläubiger Diener seines Amtes spricht.«

Kaum hatte sich das Wort von meinem Munde gelöst, zu laut, zu unbedacht, hätte ich es schon aus der Luft zurückholen mögen; erschrocken wurde ich inne, daß ich mit diesem herben Griffe wohl an das innerste und verborgenste Wesen des jungen Pfarrers neben mir gerührt haben mußte.

Und er senkte alsbald noch tiefer den schönen Kopf, wie unter der Last eines Schuldbewußtseins.

»Ich weiß es«, gab er jetzt leise und mit demütiger Betrübtheit zurück, »ich bin die aufrechtgehende Lüge dieses Tales.«

Was hatte ich mit meinen unbedachten Worten herausgefordert? Ich machte eine unwillkürliche Bewegung nach Fritz Bodmer hin, als ob es einer Abbitte bedürfe; da sah ich, daß sein Antlitz von einer großen, unbeschreiblichen Traurigkeit überschattet war.

»Auf eine Kanzel«, fuhr er leise, sinnend fort, »gehört eine festumgrenzte, immer sich gleichbleibende Ueberzeugung wie die Luthers, ein Gebet wie das Luthers, ein Kampfwille wie der Luthers. Im Weinberg seines Gottes sollte man sich nicht wie ein armseliger Dilettant gehaben müssen.«

Erschüttert vernahm ich dies unerwartete, preisgegebene Geständnis. Der Titel des Vischerschen Buches fiel mir ein: »Auch Einer«. Ich glaube, ich sprach ihn laut vor mich hin. Da saß also auch Einer hoch oben in der Einsamkeit der Berge, der in seinem unruhigen Herzen sich mit den Fragen des Daseins auseinandersetzte zu einer Stunde seines Lebens, wo der Beruf, den er vertrat, ihn hätte vor quälenden Zweifeln schützen sollen. Ein Christophorus, ein ernster, starker, stapfte durch den breiten Strom der Irrtümer, ein Meisterloser, der den Herrn noch nicht gefunden zu haben schien, dem er in Demut und Ehrfurcht unverrückbar hätte dienen können. Wie ich ihn begriff, alle seine unbeantworteten Fragen für ihn erriet, die Unbarmherzigkeit seiner Zweifel mit ihm empfand! War es ein Wunder, wenn an ihn, den Jungen, Vereinsamten, die Anfechtungen trotz seines Amtes herantraten?

»Wer hieß Sie Ihren Beruf ergreifen?« wagte ich endlich wieder zu fragen, ohne ihm ins Gesicht blicken zu dürfen.

»Mein Vater«, entgegnete er rasch. »Er ist selbst Pfarrer, und da schien es ihm ein leichtes, den Sohn in der eignen und gewohnten Atmosphäre weiterleben und auch in sie hineinwachsen zu lassen. Ich und er, wir übersahen dabei ein starkes, andres Talent, das heute seine Rechte fordert. Ich habe mich nicht gesträubt, als es sich um mein Studium handelte. Noch wußte ich zu wenig von mir selbst. Und ich war ein religiöses Kind. Kind – bis vor kurzem. Ich wußte nicht, was es bedeutet, Religion als Beruf zu betreiben, und die Kämpfe begannen, als ich, nicht etwa an der Existenz Gottes – mißverstehn Sie mich nicht – sondern an meiner Befähigung, ihn zu verkünden, zu zweifeln anfing. Abgesehn davon, daß nach der dritten Predigt mir meine Untauglichkeit zum Prediger völlig klar geworden war, gab es einst auch einen äußern Anlaß, der mir alles in mir aufdeckte.« –

»Und der war?« fragte ich, als er wieder in Schweigen versank und sich ins Gras zurücklehnte.

»Das war so,« fuhr er bereitwillig fort, »ich kannte da einen armen Teufel, meinen Gärtner. Sein Vater hatte schon bei dem meinen in Dienst gestanden. Er war ein guter, treuer, anhänglicher, aber äußerst jähzorniger Bursche. Ich wußte seit langem um diese seine unberechenbare Eigenschaft, den furchtbaren Jähzorn, dem er nicht Meister zu werden vermochte, und er hatte mich oft angefleht, ich möchte doch für ihn beten, da es sonst gewiß einmal mit ihm ein Unglück geben werde. Seine aufrichtige Art machte mir jedesmal den größten Eindruck; ich sah, wie er mit seinem Uebel rang wie mit einem bösen Feinde. Nun kam das Weib dazu; die Eifersucht gesellte sich zum Jähzorn. Und einmal – die Ursache erfuhr ich erst später – drang er während eines seiner Anfälle der Wut auf die Geliebte ein und verwundete sie mit dem Messer derart, daß sie eine Stunde später starb. Der arme Kerl floh zu mir. Es war in der Nacht, als er flüchtig geworden. Er klopfte leise an meine Fensterladen. Bereits war das Gerücht eines Mordes hier bei uns verbreitet worden, auch ich wußte darum. Und als er totenblaß und an allen Gliedern zitternd bei mir Einlaß begehrte, wußte ich, daß er der Mörder war. Da mußte ich eine Tat begehn, davor mich natürlich kein Gesetz hätte schützen dürfen: Ich mußte, während er in einer Ecke kauerte, hinter seinem Rücken gemein und niederträchtig an ihm Verrat üben, auf die Polizei schicken. Und ich war sein Pfarrer, der einzige Mensch, bei dem der Unglückliche so oft Rettung und Schutz vor sich selber gesucht hatte. Aus seinem Winkel heraus in meinem Pfarrhaus hat man ihn dann geholt. Ich habe nie gewagt, ihn im Zuchthaus zu besuchen, weil ich mich vor ihm schäme. Aber dies Ereignis hat mir dann mit aller Deutlichkeit gezeigt, wie sehr meinem äußern Beruf mit meinen innersten Begriffen Konflikte drohten und hat mich für eine Zeit lang völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe dann überall in mir und außerhalb mir Klarheit und Klärung gesucht. Ich habe mich in die Bücher, zur Geschichte hingeflüchtet, zu ihr, die für den Begriff jeder Art Liebe gewiß am wenigsten geeignet ist, um einem gerade sie glaubhaft zu machen. Aber natürlich, da schien mir auch alles für mein Gefühl und meine Zerrissenheit vermauert durch die Gefühllosigkeit. Wie fand ich z. B. einen Napoleon wieder, für den ich mich als Knabe so begeistert hatte! Ich lernte jetzt hinter all den sogenannten großen Ereignissen nur die kleinen, armen zerschundenen Menschen sehn, denen nicht zu helfen ist, die sich nicht helfen lassen, die mit dem zerschundenen Rücken prahlen und es für eine große Tat ansehn, wenn ein Napoleon sich darauf seine Königskronen türmt. Nur die armselige Nichtigkeit der Menschen ist es, die einen Geist wie den seinen emporhebt bis an die Kanten des Himmels, zum Danke dafür, daß er sie am dürren, blutigen Stroh seiner Größe mitfütterte. – Und von der Geschichte habe ich mich hinweggeflüchtet zu den Lebendigen. Ich bin nach außen hin meinem Dorfe damals ein guter Seelsorger geworden. Ich bin mit regem Eifer zu den einzelnen gegangen, die sich hier boten und meiner bedurften. Ich war oft bei meinen Pfarrkindern, ich besuchte die Armen, die Kranken, die Gesunden und Starken. Ich habe überall Liebe und Vernunft beim Menschen und auf ihn angewandt, nach meinen Begriffen, gesucht, und ich habe überall nur soviel gefunden, als auf der Breite eines Nagels Platz fand. Es schien mir das vielleicht bloß in meiner Unruhe und dem Suchen nach einem Ausgleich. Ich werde rasch mutlos.«

»Ja, wenn man jung ist,« half ich ihm nach aus meinem eignen Erleben heraus, »das kommt und geht in einem, kommt und geht, Fragen, Widersprüche, Zweifel. Manchmal fühlt man sich ohne Grund namenlos glücklich, manchmal namenlos unglücklich ...«

»Ja,« stimmte er lebhaft bei, »oft ist man bereit, das Unglaublichste zu glauben, und oft fehlt einem selbst der Glaube an das Glaubwürdigste. Man fühlt, wie alles in einem sich wandelt, verwandelt, erweitert, auch unsre Gottesbegriffe, die als Kind so fest umgrenzt in uns lagen. Da soll ich heute meinen Pfarrkindern helfen, zu ihrer ewigen Seligkeit zu gelangen, ihnen von Strafe und Vergeltung reden, wo ich selbst das Gut und Böse in mir noch nicht fest auseinander gehalten weiß. Ich fühle mich selbst schwanken. Wenn ich alles Böse ausschalte, scheint es mir, als ob ich die Größe Gottes herabsetze, ihm den Thron entziehe und mir selbst und den Schwingen des Geistes unerhörte Fesseln auferlege. Wie kann ich zu Gott beten und nicht auch zugleich an das Böse glauben, das mich darniederhält und mein höchstes Streben zurückbindet? Und ich müßte, so wie ich heute empfinde, um meinen Beruf so auszuüben, wie ich es sollte und wie es mir vorschwebt, gutwillig einen Teil meiner eignen und auch der fremden Menschlichkeit ausschalten, nur um mich und die andern in einen bestimmten Rahmen zu zwingen, und das widerstrebt meinem innersten Wesen, das Grenzenziehen, wo ich alle Grenzen erweitern möchte. Wie Kinder will meine Gemeinde in mir die Autorität sehn, den Richter über Gut und Böse, von mir, dem Jungen, ein reines Ja und Nein hören. Und da soll ich, Unerfahrner, von tausend Fragen geschüttelt, der ich heute dieses glaube, es morgen wieder verwerfe und übermorgen wieder zu glauben anfange, ich soll als ein Vollendeter reden, predigen, von Dingen sprechen, die erst jetzt, wo ich unbefangen das erste Mal durch mein Wirken, mir, dem Leben und seinen Erscheinungen gegenübertrete, in mir Form und Gestalt zu nehmen beginnen und soll sie jedem Pfarrkind als Motto seines Lebens unterbreiten. Das ist Vermessenheit. Denn alles, was ich in meinem Berufe sage, hat Folgen, und mein unerfahrnes Handeln hat Folgen für diesen meinen Beruf, meine leidenschaftliche Empörung und mein gelassenes, unbeteiligtes Zuschauen. Ueberall lauert auf mich die Last einer Verantwortung, der ich noch nicht gewachsen bin und die mir bange macht, je höher ich meinen Beruf einschätze und Leben und Gewissen meiner Anvertrauten. Und grauenhaft ist es mir, wenn alte Leute zu mir kommen, mich mitten in den Gang ihres Lebens blicken lassen und dadurch meine Ratlosigkeit herausfordern. Dann stottere ich, werde verlegen, greife zu Umschreibungen, höre nur sie und fühle nur mich. Ich rate schlecht, bete falsch, es fehlt gerade die Festigkeit, die von mir verlangt wird. Alles wird mir nach und nach zur friedlichen Lüge. Wenn ich am Sonntagmorgen zur Kanzel schreite, glaube ich hinter mir das verächtliche Geräusch eines allgemeinen Lachens zu vernehmen. Wenn ich dann vor der Gemeinde stehe, an einer Taufe, an einem Totenbett, so scheint mir, ich rede dem Leben und dem Tode falsch. Und doch liebe ich diese Menschen, möchte ihnen etwas bedeuten und einem jeden von ihnen helfen. Jedesmal, wenn ich von einem Berg ins Tal steige, da fühle ich, wie es mir aus dem Tal entgegenweht, der Atem des Menschlichen, alles das, was den Menschen ausmacht und ihn zusammenbindet, das Gute wie das Böse. Und dann möchte ich zu ihm hingehn, nicht als sein Erzieher, sein Prediger, und von ihm immer wieder in meinen Beruf und Rock zurückgedrängt werden in eine Rolle, die mich über ihn stellt, ich möchte dann nicht nur von ihm reden dürfen, sondern auch von mir und all dem, was ich mit mir herumwälze, ohne daß er und ich an meinen Beruf denken müssen. Ich will nicht erziehen. Ich kann es nicht. Ich will nicht zum Wirken in diesem Sinne verurteilt sein. Mein wahrhaftes Können liegt anderswo, ich weiß das. Nicht öffentlich immer von Gott reden müssen, als von einem alten Manne, mit dem ich auf Du und Du stehe. Dem Gotte meines Kinderglaubens stehe ich heute völlig fern. Und den neuen Gott, den, der mit meinem eignen Wandeln und Verwandeln in mir erst ersteht und den ich in andrer Gestalt erst zu fassen versuche, den sollte ich nicht öffentlich und überall verkündigen müssen. Vor lauter Reden verkenne ich ihn. Ich möchte schweigen. In frommem Stillschweigen erst den neuen Gott verehren lernen, den ich heute zu ahnen beginne. Reifen möchte ich in meiner eignen Stille. Die Frucht schreit auch nicht, wenn sie in heißen Sommernächten reift.«

Er hatte das alles mit seiner schönen innigen Stimme gesprochen und dabei, wie erschrocken über sich selbst, fortwährend mit großen Augen ins Tal hintuntergeschaut. Als ob er zuviel geoffenbart und sich auf sich zurückbesänne, sprang der junge Pfarrer jetzt aus dem Gras auf und blickte auf die Uhr. »Wir sollten hinuntergehn, es, ist Zeit. Ich werde im Pfarrhof erwartet. Es will ein Vater mich in einer Sache um Rat fragen«, fügte er leiser, wie in Scheu hinzu, »wegen eines ungeratenen Sohnes.« Ich erhob mich. Noch blieben wir eine Weile schweigend stehn und blickten ins Tal hinunter, dann durchschritten wir Seite an Seite die helle Matte und stiegen wortlos dem rauschenden Sturzbach entlang zu Tale, jedes bewegt, beherrscht von seinen eignen Gedanken und den Gedanken des andern. Als wir jedoch auf der ebenen Landstraße hinwanderten und uns den ersten Hütten näherten, fügte Fritz Bodmer seiner freiwilligen Beichte noch die folgenden Worte, wie zu sich selbst redend, hinzu: »Aber ich werde mich bald befreien. Es geht nicht mehr.«

Zwei alte Leute tauchten an der Biegung des Weges auf. Sie führten sich an der Hand. Es waren die beiden Blinden, Bruder und Schwester, die unten am Bache wohnten. Der Alte im weißen Barte trug eine Hutte mit ein paar Grasbüscheln auf dem Rücken, seine Schwester, eine häßliche, schmutzige Frau mit rotunterlaufenen, triefenden Augen ging neben ihm einher, einen großen, runden Korb am Arme, der mit bunten Stoffresten geflickt war.

»Das sind die Aermsten des Dorfes«, erklärte mir Fritz Bodmer halblaut, und als ich sagte, daß ich sie kenne, fügte er hinzu: »Sehn Sie das menschliche Elend!«

Als die Blinden an uns vorbeikamen, zog er ein Geldstück aus der Tasche seines kurzen Rockes, warf es in den Korb der Frau und schritt, ohne sich umzusehn und den Dank abzuwarten, rasch weiter. Die Blinde hatte den Klang des Geldes vernommen und wollte darnach greifen; aber es entfiel ihren Händen und rollte auf die Straße. Da bückte ich mich und hob es auf; es war ein großes Silberstück. Aber als ich es ihr in die ausgestreckte Hand legte und dabei in das häßliche Gesicht der Blinden, in welchem das eine Auge tiefer als das andre in die Wange heruntergezerrt saß, blickte, wandte ich mich alsbald ab, um dem Eindruck des Grauenhaften zu entweichen. Da erschrak ich jedoch über mich selbst. Anna Richter, bist du auch heute nicht weiter als damals? Noch immer kannst du ein traurig entstelltes Menschenantlitz, in dem Not und Elend gehaust, nicht ohne Abscheu ertragen?

*

Die Stunde nahte, wo Frau Elsbeth oben in der Steinmatte ihr Kind zur Welt bringen sollte. Da das Ereignis viel zu lange auf sich warten ließ und alle Berechnungen betrog, gab der Arzt einen sonderbaren Ratschlag, um die Geburt zu befördern. Er verordnete eine Wagenfahrt, und zwar über die holprigsten und steinigsten Wege der Talschaft. Weil Herr Keller eines unaufschiebbaren Geschäfts wegen für zwei volle Tage verreist war, lud mich Frau Elsbeth zu dieser ergötzlichen und höchst zweckvollen Fahrt ein. Ich holte sie oben in ihrem Häuschen ab, und wir bestiegen gemeinsam den Wagen, der unser auf der Landstraße wartete. Frau Elsbeth trug außer ihrem grünen Sonnenschirm eine große Papierdüte; darin lagen ein halbes Dutzend Orangen. Und nun hießen wir den Kutscher, den Wirtssohn aus der »Alpenrose«, uns über alle ihm bekannten holprigen und schlechten Wege fahren, ein paarmal nacheinander. Es war bei den wohlgepflegten Landstraßen im Dorf und außerhalb beinah eine Kunst, steinige Strecken zu erspähen. Aber da erinnerte sich unser Kutscher, daß unterhalb unsres Dorfes, dort wo die großen Straßen sich kreuzten, diese beiden Straßen gerade ausgebessert wurden. Mit Frohlocken fuhr man also hin. Der Wagen knackte, die Räder knirschten, das Pferd schnaufte und fuhr jedesmal heftig zur Seite, wenn es der großen Dampfwalze ansichtig wurde, und uns beide schüttelte und warf es unliebsam auf dem Polster hin und her. Aber während ich nach kurzer Zeit schon über das Geholper zu klagen begann und unsre Fahrt keineswegs als eine behagliche pries, saß Frau Elsbeth seelenvergnügt und lachend in ihrer Wagenecke, fühlte sich unverrückbar wohl in ihrer Schwerleibigkeit und schälte sich eine Orange um die andre.

Die Wagenfahrt und auch die folgenden Tage verliefen ohne das ersehnte Resultat.

Als ich aber an einem trüben Regentage der folgenden Woche gegen Abend zur Steinmatte hinaufstieg, schien sich endlich das große Geschehn vorzubereiten. Das Wohnzimmer fand ich diesmal ohne jede Veränderung, und Herr Keller bewegte sich darin in schweigsamer Fürsorge hin und her, war ohne Rock, öffnete hier ein Fenster, schloß dort ein andres, ging dann in die Küche und machte selbst Feuer im Herde. Rosel rückte indessen eine Sitzbadwanne ins Zimmer und entnahm einem der Schränke Handtücher und Leinen. Im Schlafzimmer gegen die Matten hinaus saß indessen Frau Elsbeth aus dem Rand ihres Bettes, stemmte beide Fäuste fest auf die Bettkante und wiegte unter leisem Stöhnen den schweren Leib hin und her. Kaum aber erblickte sie mich auf der hohen Schwelle, unterbrach sie den leisen Klagelaut und lächelte mir schwach entgegen: »Es tut sehr weh, ein Kind zu bekommen, Anna, sehr weh. Aber wenn's ein Mädchen wird ...« Ihr Lächeln erstarb, es erfaßte sie wieder, und der Schweiß trat auf ihre Stirn.

Da die Hebamme bestellt war, auch noch eine gute Pflegerin aus dem Dorfe für die ersten Tage, und alles und jedes bis zur geringsten Notwendigkeit sorglich bereitlag bis auf den mit lichtblauen Vorhängen verzierten Rollwagen, fiel mir keine andre Aufgabe mehr zu, als wenigstens in der Nähe der lieben Frau ihre schwere Stunde abzuwarten. Ich setzte mich auf einen niedern Schemel in einem Winkel und hielt mich mäuschenstill. Herr Keller hantierte indessen herum, beugte sich immer über seine auf dem Bettrand kauernde Frau, fuhr ihr sanft über den Scheitel und sprach ihr zu wie einem bangen Kinde. Endlich erschien die Hebamme, und man brachte Frau Elsbeth zu Bett.

Aber es dauerte noch zwei mühselige Nächte und zwei mühselige Tage, bevor das Kind zur Welt kam. Frau Keller war ja eine Sechsunddreißigjährige, die das erste Mal gebar. Als zuletzt alle ihre verfügbaren natürlichen Kräfte versagen wollten, entschloß sich der Arzt zur wohltuenden Narkose, die die Tapfere aller weitern Schmerzen enthob. Es war abends nach zehn Uhr.

Ich saß im Nebenzimmer unter der Petrollampe und zupfte mechanisch, um die besorgte Ungeduld abzukürzen, am zerzausten Flachs eines alten Spinnrads, das mit zum allezeit beweglichen Mobiliar des Häuschens gehörte. Drüben im Schlafraum sprach man leise, man ging in Filzschuhen einher. Jetzt vernahm ich sich kreuzende Geräusche, der Arzt sprach etwas, Herr Keller antwortete. Dann wusch jemand die Hände. Und nun ging endlich die Türe auf, Herr Keller schob den Kopf herein und sagte halblaut, mit kaum bemerkbarem Lächeln: »Alles steht gut. Es ist ein Mädchen.« Dann schloß er wieder sachte die Tür.

Also wahrhaftig ein Mädchen! Und bald darauf drang ein Schrei an mein Ohr, ein herziges, zorniges Gebrüll, das nicht enden wollte, das erste Empörtsein über die erste zugefügte Beleidigung, den Schlag des Arztes, den dieser in unsrer unsanften Welt auf den dazu berufenen Ort verabreicht hatte.

Gegen Mitternacht, als der Arzt sich entfernt und die erschöpfte Wöchnerin wieder bei Bewußtsein war, wagte auch ich mich auf den Fußspitzen zu ihr hinüber ins andre Zimmer. Mit schwacher Stimme verlangte sie ihr Kind zu sehn. Ihr Gatte hielt die Lampe über dem Bette hoch, und die Hebamme reichte ihr das saubergewaschene kleine Wesen. Frau Elsbeths Augen füllten sich mit Tränen: »Böses, Liebes du«, flüsterte sie zärtlich und versuchte, das Köpfchen des Kindes mit ihrer Wange zu liebkosen, »wie konntest du deiner Mutter so arg weh tun! Hast du deinen Vater schon gesehn? Das ist er, sieh, der Mann da!« Aber das Kind wünschte seinen Vater noch gar nicht zu kennen. Erschrocken über das starke Licht der Lampe, schloß es die Augen, öffnete weit den großen, blassen Mund und fing wieder an zu schreien. Und dieser feste, heischende Schrei drang jetzt hinaus durch die Aeste des leiser rauschenden Apfelbaums, in die Ruhe der schlafenden Wiesen, in das Raunen der Mitternacht. Dort reihte er sich ein in die Musik der Geräusche dieser Erde, als ein neuer, heller Klang ihres großen, schwellenden Lebens.

*

Frau Scholl, die Wirtschafterin des Pfarrhofs, erschien eines Vormittags unvermutet bei mir im kleinen Hause mit einem besondern Auftrag. Der Pfarrherr feierte seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag, und da er seine verheiratete Schwester mit ihrem Gatten erwartete, sollte das Mittagsmahl, das fein und festlich hergerichtet würde, eine Stunde später als sonst stattfinden, und ich hatte dabei als Eingeladene auch fein und festlich zu erscheinen.

Seit seinem Bekenntnis auf der stillen Matte war Fritz Bodmer für mich, mein Verständnis für ihn und die Bewertung seiner Persönlichkeit ein andrer und neuer. Wenn ich mich auch seines eher ungewollten als gewollten Vertrauens rühmen durfte, so nahm unser Verhältnis, wie bereits erwähnt, nie die Form wirklicher Vertrautheit an. Meine eigne seelische Verfassung und die seine ließen ein Gefühl, das sich über das menschlich berechtigte Interesse erhob, als unnütz und vergeudet erscheinen. Die Stunde des Lebens, in welcher ich ihm nahetrat, bedeutete außerdem für ihn die entscheidende Wendung dämmernden Zielen entgegen; alle seine Kräfte waren deshalb nach innen gerichtet und forderten zu sehr den ganzen Menschen, als daß ihn fremdes Sein hätte zu Rücksichten zwingen und mehr als notwendig berühren können. Wie damals bei Helene von M. wurde ich zum Zuschauer und Zuhörer gewählt, am Vorabend eines Schicksals, das, festbegründet in der eignen Brust, sich nach schweigenden, verborgenen Gesetzen auswirken mußte. Bei Fritz Bodmer handelte es sich auch nicht bloß um Befreiung von unerträglich gewordenen, äußern Lebensbedingungen, wie bei meiner einstigen Schülerin, sondern es galt, die endgültige und allein mögliche Daseinsform für einen Menschen zu finden, dessen Bedeutung später der Mitwelt offenbar wurde. Ein großes Talent rang sich seiner großen Zukunft zu. Meine Zuschauerrolle gereichte mir hier zum Gewinn: Das eigne Bewußtsein wurde am fremden gestärkt, mein Glaube an mich geprüft und Bestimmung und Sinn meiner eignen Zukunft wieder zur Auseinandersetzung nahegerückt.

Wenn ich den jungen Pfarrer jetzt durch sein Haus fliehen sah, treppauf, treppab, wenn er bald im Garten auftauchte, dann in die Kirche lief, ein paar Akkorde auf der Orgel griff oder am Christophorus arbeitete, wenn er sich zu einer Bergtour rüstete und ein paar Tage in einsamer Höhe verweilte, wußte ich, daß da ein Gefangener in geheimer Verzweiflung seinem Herzen einen Ausweg suchte. Ich begriff jetzt vollkommen seine Unruhe und nervöse Hast. Sie machten aus ihm den Märtyrer einer Angst, die sich nun auch seiner Umgebung mitzuteilen begann, auch mir. Jedes Geschehnis, das an diesen jungen Mann herantrat, so wurde ich bei unserm häufigen Zusammensein gewahr, schien seine fortwährend empfangsbereite Natur als eine Mitteilung an sich selbst aufzufassen, als ein ihm zur Lösung zugeworfenes Rätsel, das ihn stark in Anspruch nahm und auf ihm lasten blieb. So geschah es, daß, wenn er auch durch eine Aussprache sich augenblicklich befreite von der Bürde des innerlich Durchlebten, er sich bis auf den letzten Grund doch nie zu entlasten vermochte, weil jeder neue Eindruck seinem leicht bewegten und scheu in sich verborgnen Gemüt wieder die Nahrung zu Umgestaltung und Wandlung seiner selbst und aller ihn mitberührenden Erscheinungen und Dinge zutrug. Deshalb fragte ich mich auch, auf welche Weise er wohl dem Kampf in seiner Seele ein Ende bereiten würde. Er hatte seit der stillen Matte diese für ihn so wichtige Sache nicht mehr berührt. Da er zu den Menschen gehörte, deren wechselvolles, widerspruchsreiches Wesen von der Fülle ihrer eignen Stimmungen beherrscht und geleitet wird, die unter der Versonnenheit eines traumhaften Gemüts eine unbewachte, zähe Energie bergen, so vermochte er nur zögernd zu Entschlüssen zu gelangen, und nur eine spontane Tat, die immer eine Flucht vor sich selbst bedeutet, konnte da die Erlösung bringen.

An seinem Geburtstag lernte ich Fritz Bodmer wieder von einer ganz neuen Seite kennen und erfaßte nun auch die tiefsten Ursachen seiner Entschlüsse.

Es regnete in Strömen, als ich, fein und festlich, wie man es mir nahegelegt, dem Pfarrhaus zuschritt. Ich war überzeugt, im Speisezimmer die angekündeten Gäste bereits vorzufinden und fühlte mich deshalb in meiner Feststimmung zuerst ein wenig beeinträchtigt, als ich den Tisch nur wie gewohnt für drei Personen gedeckt fand. Der Tisch selbst war allerdings sehr hübsch hergerichtet. Gelbe Rosen prangten in hohem Glas in der Mitte, die weißen Servietten spreizten sich wie Fächer in den Tellern, und statt der frugalen Wasserflasche standen Karaffen mit rotem und weißem Weine. In dem Augenblick meines Eintretens lehnte der Pfarrer weit zum offenen Fenster hinaus und blickte so gespannt hinauf an die Hauswand, daß er mein Klopfen überhörte. Ueber seinem schönen Gesicht lag heute eine frohe Heiterkeit, die ihm sehr gut stand. Seine Verwandten träfen erst am folgenden Tag ein, sagte er mir nach der Begrüßung, wir würden also das Fest nur im gewohnten kleinen Kreise feiern. Gut, auch das war recht.

Der festliche Mittag mundete vorzüglich. Der schwarze Kaffee wurde serviert, ein großer Rhabarberkuchen marschierte auf, und die Unterhaltung drehte sich um allerhand Dinge. Der Hausherr zündete sich eine der Zigarren an, die ich ihm als Festgeschenk mitgebracht, und ich erkundigte mich nun eingehend bei ihm über die Geschichte einiger berühmter Gräber des kleinen Friedhofs, wie ich es längst beabsichtigt, stets aber vergessen hatte. Er gab mir auch sehr ernsthaft ausführlichen Bescheid.

Der Regen hatte aufgehört, draußen wurde es wieder warm und angenehm. Der Pfarrer schlug mir zuerst einen Gang auf den Friedhof vor, wobei er mir die betreffenden Grabstätten zeigte und ihre Geschichte weiter erzählte. Dann brachte er mich zurück in den Pfarrhof und sagte: »Ich werde Ihnen etwas zeigen, Fräulein Richter.«

»Eine Ueberraschung?« fragte ich.

»Ich denke, es wird eine Ueberraschung für Sie sein«, entgegnete er mir mit großer Ernsthaftigkeit.

Er führte mich ins Haus und zwei Treppen empor. Ich glaubte, auf den Estrich oder in eine Bodenkammer zu gelangen. Da öffnete er eine Türe in der Tiefe und schritt mir voran in ein großes Gemach, das durch zwei Fenster erleuchtet war und nach Norden lag. Erstaunt hielt ich inne. Das schien ja das Atelier eines Künstlers zu sein. Mit fragenden Augen blickte ich auf Fritz Bodmer. Aber er wandte mir bereits den Rücken zu und schien durch das offene Fenster eifrig drunten auf der Straße etwas zu betrachten. Da er in dieser Stellung absichtlich lange verharrte, blieb mir Zeit, den Raum aufmerksam zu durchschauen. Die ganze Längsseite der Wand war mit einem farbenschönen, stellenweise zerschlissenen Teppich behangen; darunter zog sich ein breites, altes Sofa; ihm gegenüber hing ein großer Spiegel. Im Zimmer herrschte Unordnung. Im Hintergrund befand sich ein hoher Schrank, dessen beide Türen weit offen standen. Ich bemerkte in seiner Tiefe eine Gipsbüste und an den Haken einen Malerkittel und einen alten Mantel. Farbtöpfe standen herum, Säureflaschen, leere Rahmen, es lagen verstreut Tuben, Pinsel, Kupferplatten, einzelne Blätter, Mappen, Paletten, und neben dem Fenster befand sich die Staffelei, auf deren Pfosten der hohe romantische Filzhut des Pfarrers hing. An der einzigen leergebliebenen Wand des Zimmers fiel mir eine unvollendete und vergrößerte Kopie eines Löwen von Delacroix auf, leidenschaftlich hingemalt. Am Boden standen viele Bilder, aber alle mit der Bildfläche der Wand zugekehrt.

Ich weiß nicht warum mich eine seltsame Befangenheit beschlich. Der Pfarrer schwieg immer noch und warf nicht einmal einen Blick nach mir hin. Es war, als ob er mir dies alles als Ueberraschung, letzte Ursache und Erklärung seines Entschlusses zugedacht habe, jedoch mich völlig allein meinen Eindrücken und meinem Urteil überlassen wolle. Aber so unvorbereitet war ich auf diese intime, sein ganzes Wesen unverhüllt offenbarende Welt, so ohne jede Andeutung von seiner Seite und auch von Frau Scholl geblieben, daß ich allem beinah betroffen gegenüberstand und jetzt das hartnäckige Schweigen des Besitzers dieses Raumes nicht gut ertrug. Mich verlangte nach Aufschluß. Da mir aber keine Aufforderung, mir wenigstens die Arbeiten anzusehn, zuteil wurde und die umgekehrten Bilder selbst einen geheimen Zwang auf mich ausübten, so streifte ich vorläufig befangen und langsam in der Tiefe des Raumes umher und betrachtete mit schweigender Aufmerksamkeit jeden Gegenstand. In einer Ecke fand ich auf einem schmalen Bücherbrett Th. A. Hoffmann und Eichendorff und daneben die Russen Tolstoi, Dostojewsky und Lermontoff. Neben den Büchern hing eine große Radierung Albert Weltis und einige kleinere Blätter desselben Meisters, alle mit der persönlichen Widmung des Künstlers an Fritz Bodmer versehn. Wieviel hätte ich jetzt fragen mögen! Ich warf einen Blick zum Pfarrer hin. Aber dieser hatte sich jetzt niedergebeugt, blätterte emsig in einer Mappe und verharrte in Schweigen. Da hielt ich vor dem großen, offenen Schranke still und sagte schließlich, nur um an meine Gegenwart zu erinnern, auf den alten Mantel deutend: »Das da wird wohl der Berggefährte sein, Herr Pfarrer?«

Er blickte flüchtig hin. »Nein,« meinte er, »der Mantel gehört Albert Welti.«

»Wie kommt er denn hierher?« forschte ich nun auch weiter.

»Er hat ihn hier vergessen«, entgegnete er. »Ich habe ihm ein paar Arbeiten von mir zur Beurteilung zugeschickt, da kam er selbst her und wollte mich sofort mit sich nehmen in sein Atelier. Aber ich konnte nicht, noch bin ich hier oben Pfarrer.«

Nun wagte ich es doch, ein Bild von der Wand wegzukehren und emporzuheben. Der Pfarrer verfolgte jetzt gespannt alle meine Bewegungen. Was sich mir zuerst bot, war eine Silberstiftzeichnung auf mattrosa Grund, ein Selbstbildnis Fritz Bodmers. Es stellte ihn dar in dem hohen, romantischen Hute, der auf der Staffelei hing. Trotz großer Aehnlichkeit trugen die Augen, der ganze Gesichtsausdruck Unsicherheit in sich, die zögernde Bangigkeit eines ratlosen Knaben.

»Das Bild stammt aus der ersten Zeit meines Aufenthalts hier oben«, erklärte er mir, und als ob ein Bann gebrochen wäre, warf er jetzt seinen Rock auf das Sofa und trat an meine Seite. Er war mir nun selbst behilflich, Leinwand um Leinwand vom Boden zu heben. Wie erstaunte ich über die Fülle und Mannigfaltigkeit des Geleisteten! Landschaftliches fand sich wenig dabei, obwohl gerade die Landschaft hier oben hätte zur Wiedergabe locken können. Ihn schien aber der Mensch, versetzt in die bunte Welt der Phantasie, heute am meisten zu fesseln. Ich bekam eine ganze Menge köstlicher Bilder zu sehn, in denen die Romantik eine Hauptrolle spielte, die Romantik in ihrer Buntheit und ihrem Reichtum, mit ihren aus unbestimmbaren Tiefen klingenden Melodien, dem Dämmer ihrer Träume, den flockigen Nebeln ihrer zauberischen Mondnächte; halbverborgene Sehnsucht nahm Gestalt an, träumende Wahrheiten, märchenumsponnene, nächtliche Abenteuer und Begegnungen. Da entstiegen dem Blütenkelch einer hochstengligen Lilie zwei federleichte Musikanten, die der daherreitenden Prinzessin des Märchens im Waldesdunkel vorfiedelten; hier ritt diese Prinzessin nah an einen Teich heran, an dem hinter einem Baumstamm der lauschende Träumer lag. Und Kobolde mit langen Ohren und großen Laternen durchschwirrten die Sommernacht, ein Zauberwagen kutschierte heran, beladen mit törichten Gesellen, und der Mond wurde selbst zum Musikanten, der da mitsang im Treiben seines Geschimmers und die beseligten Schwärmer wachhielt.

Wie war ich entzückt über die köstliche Unbesonnenheit und Fülle dieser Phantasien! Wie verschwenderisch und lieblich war da Keckheit und verdunkelte Sehnsucht des Herzens ausgeschüttet worden! Natürlich konnte ich kein Urteil abgeben über die rein künstlerische Bedeutung und den Wert dessen, was meinen Augen geboten wurde; es blieb mir nur die Genugtuung der reinsten Empfindung der Freude, die nicht nach dem verborgenen letzten Können zu fragen braucht.

Die Art, wie Fritz Bodmer, der Künstler, sich hier oben im Atelier gab, war, das ersah ich bald, völlig verschieden von dem Wesen, das er sonst zur Schau trug. Unten im Hause schien er ein unstäter Gefangener, hier war er völlig ruhig und ohne Hast. Wie er sich jetzt da hin und her bewegte, mit leise vibrierender Stimme und inbrünstiger Scheu von seiner Arbeit redend, erläuternd den verborgenen Sinn seiner Figuren und ihre Entstehungsursache, mit lose hingeworfenen, eigentlich gestammelten Worten, die den ganzen Zusammenhang von ihm selbst zu seinem Werke bloßlegten, ohne sich jedoch dabei preiszugeben! Wie wurde mir jetzt das Gehaben dieses »absonderlichen« Pfarrers klar! Wie hoffnungslos hatte er oben auf der stillen Matte in der Rolle seines äußern Berufes gesprochen! Und wie hörte ich hier aus des Künstlers Worten versteckte Hoffnungen beben, groß wie die Erde, und ich fühlte die überstarke Sehnsucht eines mächtigen künstlerischen Instinkts, der durch eine ebenso große Zukunft erlöst und betäubt sein wollte.

Das Bildnis eines jungen Mädchens fiel mir in die Hand. Es war ein feines Köpfchen mit übergroßen Augen, der schlanke Hals wie ein Stengel, der eine zarte Blüte trägt. Als ich aber darüber meine Bewunderung äußern wollte, entnahm es der Pfarrer meiner Hand und legte es stillschweigend zur Seite. Ich traf dieselbe Gestalt nochmals, dies Mal in Oel, im großen Bilde festgehalten. Das Mädchen saß allein in einer Laube, die den ganzen Vordergrund einnahm. Das Gesicht war jedoch verdeckt von den Händen, die ganze junge Gestalt schien in stillem Schluchzen zu beben. Ohne ein Wort der Erklärung ging der Pfarrer auch hier über das Bild hinweg. Zuletzt zeigte er mir wieder ein Selbstbildnis von großartiger Auffassung, eine Kohlenskizze. Das Leidenschaftlichschwermütige des Gesichtsausdrucks war hier vor allem ausgeprägt worden; dieser Ausdruck war durch den großen Blick der Augen bis ins Visionäre gesteigert und ergriff mich mehr als alles, was ich zu sehn bekommen hatte. Wie gerne hätte ich dies Blatt behalten mögen, aber ich wagte nicht, darum zu bitten.

Nachdem wir gemeinsam alles durchschaut, setzte sich Fritz Bodmer auf die Lehne des einzigen vorhandenen Stuhles und stemmte die Füße auf den Sitz. Wie damals in der Kirche senkte er den Kopf tief vornüber und legte die Hände auf den Knien ineinander. Er fuhr fort, während ich auf dem Sofa lehnte, über seine Kunst zu mir zu reden, wie er im Gymnasium, als Student immer für sich gearbeitet, natürlich auch Unterricht genommen, wie er aber sein Können gering geachtet, vor allem wohl darum, weil er bei den Seinigen so wenig Unterstützung und Widerhall gefunden. Es sei ihm auch völlig gleichgültig gewesen, ob ihm eine Figur selbständig und gut gelungen. Aber aus der Nebenbeschäftigung sei damals, als er den Christophorus unter der Tünche entdeckt, die Hauptbeschäftigung herausgewachsen. Mit dem Heiligen an der Kirchenwand habe er auch sich selbst endlich gefunden, sei auch lebendig der Künstler in ihm wach geworden. Er habe dann gewissenhaft sich und seinen Beruf geprüft, schließlich die Dinge selbst, die er vertrat. Aber das brutale Empfinden eines völligen Unvermögens sei über ihn gekommen, als die Geschichte mit dem Gärtner geschah, die er mir erzählt. Er habe sich bald darauf hierher geflüchtet in diesen Raum, und sehr bald sei ihm hier eine ernste Arbeitsstätte entstanden.

»Ich lebe hier in diesem Raume wie in einer Zwischenwelt,« sagte er, »die für mich ihre eignen Geheimnisse hat. Hier fällt von mir das peinliche Gefühl der notgedrungenen Lüge ab. Hier darf ich meinen eignen Sinn vollständig hineintragen. Und in der Kunst finde ich jetzt alles, was mich ausmacht, ohne mich zurechtstutzen und von mir Stücke abtragen zu müssen: Geist und Blut, Nerv und Sinne. Ich glaube, die Kunst allein ist es, die mich völlig zu mir selbst und zu den höchsten Dingen führt, lautlos und still, ohne Geschrei, wie ich es möchte; denn die höchsten Dinge liegen in ihr verborgen, und all das, was mir heute, innerhalb und außerhalb mir, noch rätselhaft ist, wird in ihr und durch sie seine schweigende Lösung finden. In der Welt meiner Phantasie gehorcht mir alles. Hier in diesem Raume, in der frommen stillen Beschäftigung mit der Kunst, ist mir der Gedanke aufgetaucht, daß der Gott, den ich da mit Worten verkünden soll, viel größer sein müsse, als wie die Menschen ihn je zu verkünden imstande sind. Der Gedanke allein, daß es einen Gott gibt, ist heute für mich mächtiger und größer und bedeutender als Gott selbst. – Aber auch, besonders seit der große Meister hier war, finde ich in meinem Pfarrhaus keine Ruhe mehr und sehne mich, fortzukommen. Nur die Herrlichkeit der Natur hält mich noch innerlich fest. Aber ich will fort. Sie werden meinen Entschluß heute noch besser begreifen.«

»Wie und wann gedenken Sie sich hier zu lösen?« warf ich ein, als er schwieg.

»Ich will mein Amtsjahr fertig machen. Nicht bloß so davonstehlen will ich mich. Noch sind zwei Monate geblieben. Mein Vater darf nichts wissen. Am nächstfolgenden Sonntag tritt bei uns die Kirchgemeinde zusammen, weil ihr Präsident gestorben ist und ein neuer gewählt werden muß. Dann teile ich meinen Entschluß und die liefern Gründe dafür öffentlich mit.«

Ich weiß nicht, warum mich in diesem Augenblick eine Art seltsamer sorgender Bangigkeit für ihn befiel. Ich glaubte daher, etwas raten zu müssen.

»Die tiefern Gründe?« fragte ich, »genügt denn da nicht eine bloße äußere Erklärung?«

»Ja, gewiß, sie würde genügen«, entgegnete er mir. »Aber ich möchte mit den Männern, die mich einst zu ihrem Pfarrer gemacht, auch selber reden. Ich habe das Empfinden, ihnen eine aufrichtige Auseinandersetzung schuldig zu sein.«

»Glauben Sie nicht, daß Ihnen eine derartige, öffentliche Schaustellung Ihrer innersten Beweggründe schwerfallen wird?« fragte ich weiter.

»Warum?« meinte er aufhorchend. »Meinen Sie vielleicht es sähe nach Theater aus? Nein, nein, ich kann unnütze Schauspiele nicht leiden. Ich lese momentan viel Russisches, besonders Tolstoi. Und in Rußland würde man gewiß laut, vor allem Volke, das Bekenntnis seines innern Zustands ablegen dürfen, ohne mißverstanden zu werden. Warum nicht bei uns, wo es mir ein Bedürfnis ist?«

»Ja,« entgegnete ich, »in die Größe der russischen Natur und zu dem arglosen Gemüt des Volkes gehört das wohl, scheint mir. Aber hier bei uns? Da begnügt man sich mit weniger.«

Er besann sich. Dann sagte er bestimmt: »Nein, ich kann nicht bloß schreiben, einem dieser Männer schreiben. Das käme mir vor wie aus einem Versteck heraus, eine Art Schnödigkeit, die einer weitern Lüge gleichkäme. Die Männer dieses Orts haben mich gewählt, haben mich angehört, in ihre Häuser bin ich gegangen, ich habe an ihnen teilgenommen, sie auch an mir. Sie haben mir ihr Zutrauen geschenkt. Es ist heute ganz gleichgültig, mit welchen innersten und verborgenen Empfindungen ich ihnen ihre Kinder getauft und ihre Toten begraben habe. Aber ich bin ihr Pfarrer gewesen, und da will ich ihnen auch Auge in Auge sagen, daß ich es nicht mehr sein kann und warum, daß mein wirklicher Beruf anderswo liegt. Ganz abgesehn davon gehört auf eine Kanzel eine tapfere, tüchtige, unwandelbare, überzeugte Gesinnung, die ich nicht besitze. Wie hätte ich von einem jeden unter ihnen die Kraft der Aufrichtigkeit verlangen dürfen, wenn ich sie selbst nicht aufbringe in einem Augenblick der Entscheidung? Jetzt, wo nach hartem Kampfe völlige Klarheit über mich kommt, welchen Weg ich einschlagen soll, um Ganzes zu leisten? Wie kann ich das, was während so langer Zeit mich unruhig gemacht hat, einfach streichen, wie man ein müdes Segel niederstreicht? Nein, ich will mich den Männern in jeder Beziehung offenbaren. Sie sollen alle Gründe meines Handelns kennen. Ich bin es ihnen schuldig.« –

Da versuchte ich keinen nüchtern anmutenden Einwand mehr. Ich nahm mir aber sofort vor, dabei zu sein, wenn der Pfarrer Fritz Bodmer seinen Bauern an der Kirchgemeinde seine Beichte ablegte. –

Drunten läutete jetzt die Hausglocke, und bald darauf rief Frau Scholl den jungen Pfarrer ins Speisezimmer hinunter, wo ein Mann die Taufe seines Kindes für den Sonntag anzukünden gekommen war.

Ich nahm rasch Abschied, machte noch einen Gang durch die Wiesen und kam an die Steinmatte, wo ich Frau Elsbeth und ihrem Gatten die Ueberraschungen im Pfarrhaus erzählte.

*

Seit das kleine Wesen oben an der Steinmatte da war, steckte ich noch mehr als früher in dem braunen Hause mit dem Apfelbaum davor. Frau Elsbeth mußte länger, als sonst Wöchnerinnen pflegen, das Bett hüten; denn der Arzt hatte allerlei Bedenken geäußert. Es gereichte ihr deshalb zur Abwechslung und Freude, wenn sie Gesellschaft um sich sah und bei offenen Türen mit uns plaudern konnte, wenn wir auf der Laube saßen. Welche Freude für mich, die Kleine wickeln zu dürfen, waschen und baden unter den Augen ihrer Mutter! Natürlich griff ich im Anfang alles recht ungeschickt an, schon aus Furcht, das Mädelchen zu verletzen, ihre seidenweiche Haut zu ritzen oder sie im Zuber beim täglichen Bad ertrinken zu lassen. O, das köstliche Entzücken, wenn sie dann im Wasser zappelte, wenn das Köpfchen mit dem schon recht langen, blonden Haarschopf, von meiner unterschobenen Hand gehalten, das lauwarme Naß sachte berührte und wenn ich mit dem vollen Schwamm ihr das Wasser über den kleinen Leib träufelte, sodaß es gurgelte und Blasen aufwarf! Wie die Ungestüme dann mit den energischen Beinchen strampelte und manchmal schrie, schrie, man wußte nie recht, ob aus Lust oder Aerger!

Wir haben in unsrer gemeinsamen wohlgemeinten Erziehungsmethode einen großen Ernährungsfehler begangen, Frau Elsbeth und ich. Da sie nicht selbst stillen konnte, wurde von einer Schwägerin aus der Stadt, die zu Besuch erschienen, dringend dasselbe Kindermehl empfohlen, das ihrem eignen Neugebornen zu großer Munterkeit und Fülle verholfen hatte. Das besagte Kindermehl wurde herbeigeschafft und unsre Kleine damit gefüttert. Wohl fiel es uns auf, daß sie an Gewicht nicht zunahm, öfter schrie als gewöhnlich, nicht zu beschwichtigen war, und daß sie keinen Versuch zu einem ersten Lächeln machte, trotzdem die Zeit dazu längst da war. Wir zupften sie am Kinn, machten ihr allerhand vor, kosten und liebkosten; aber das Kind fand einfach sein erstes Lächeln nicht, sondern machte ein bekümmertes, trauriges, gefurchtes Gesichtchen, das einem ins Herz schnitt und nicht zu erhellen war. Aber eines Tages, als man sie gerade auswickelte, trat der Vater hinzu und rief ganz bestürzt: »Ihr zwei Pflegerinnen! Ja, was ist denn mit unserm Kinde? Elsbeth, sieh doch, es schrumpft ja förmlich in sich zusammen! Man muß sofort den Arzt rufen. Da ist etwas nicht in Ordnung!«

Und als der Arzt erschien, da lag unsre Kleine bereits im Fieber, war ganz heiß anzufühlen und wimmerte leise. Der Arzt warf nur einen Blick auf die junge Patientin. Dann erklärte er zu unserm Entsetzen: »Das Kind hat einfach Hunger. Es sieht ja aus wie ein Armleutekind. Es ertrug die Nahrung nicht, die ihm zugeführt wurde. Nun muß zuerst Kamillentee, dann verdünnte Milch allein verabreicht werden, und in zwei Wochen werden Sie sie nicht wieder erkennen.«

Frau Elsbeth liefen die Tränen über die Wangen. »Sein erstes, einziges und seit Jahren ersehntes Kind läßt man verhungern! So. So. Ich bin wahrhaftig eine barmherzige Mutter,« jammerte sie, und mit heftigen Gewissensqualen lief sie eine ganze Woche lang im Häuschen umher und schlief kaum mehr des Nachts, um die Atemzüge ihres Kindes überwachen zu können. Aber die Kleine erholte sich Gott sei Dank zusehends und wurde bei der ihr nun zuträglichen Nahrung bald kugelrund und so schwer an Gewicht, daß der Arm, der sie trug, unter ihrem Körper zu ermüden begann. Und siehe da, nun stellte sich auch das erwartete Lächeln ein, das herzige, verheißende Lächeln, ohne daß wir es künstlich hervorrufen mußten, und galt in seiner unschuldigen Lieblichkeit Mutter, Vater, mir, Rosel, der ganzen wohlmeinenden Welt, die sich über den Rollwagen beugte. Es verscheuchte auch völlig die geheime Sorge und die bittern Selbstvorwürfe, die sich in Haus und Herzen eingenistet hatten.

Nun war aber die Zeit der Beeren und Konfitüren gekommen. Wenn ich am Vormittag recht emsig in der Rebenlaube an meiner Arbeit geschafft hatte, dabei immer auf den Postboten wartend, welcher mir den ausführlichen Brief Reginens aus Rußland bringen sollte, der durch einige Karten längst vorausverkündet war, so bedeutete es eine herrliche Entspannung, am Nachmittag die Wälder zu durchstreifen und in Körben und kleinen Kesseln die Heidelbeeren und Schwämme zusammenzulesen. Schon reiften an ihren dichtbelaubten, herbduftenden Stauden die Preisselbeeren und verhießen uns ihre roten, saftigen Früchte. Brombeeren wuchsen an verborgenen Sonnenhalden, die letzten Erdbeeren leuchteten noch unter Kraut und Gras. Am Abend saßen wir dann alle auf der Laube der Steinmatte beim Scheine der Petrollampe und säuberten die Beeren, zogen die Pilze an Schnürchen, während aus der Küche bereits der Duft der frischgekochten Konfitüre herausströmte. Dann wurden Gläser und Töpfe gefüllt, und man trug den appetitlichen Vorrat hinüber in den Speicher, in dem der Häuschenbesitzer seine Uniform, das Schießgewehr und altes Geschirr aufbewahrte und in dem schweres, noch selbstgesponnenes Linnen, das seinem Mündel gehörte, an den Stangen hing.

Die Tage liefen wohltuend und gut dahin und trugen mir mit jeder Stunde Kraft und Gesundung zu. Schon neigten sie sich leise in Farbe und Ton dem Herbst entgegen.

Da nahte der Sonntag, auf welchen die Kirchgemeinde einberufen war, der Tag, da der junge Pfarrer zu seinen Bauern reden wollte.

Ich hatte mich in eine der hintersten Bankreihen gesetzt, um von der Kanzel aus nicht bemerkt zu werden.

Fritz Bodmer sprach über die Seele, die ihr innewohnenden schöpferischen Kräfte und angebornen Rechte. Welchen Text er seiner Predigt unterlegte, weiß ich heute nicht mehr. Sie schien mir aber eher eine poetische Inspiration zu sein, eine musikalische Phantasie, die, vom Genius zu dieser Stunde erst empfangen, in Worte aufgereiht wurde. Von der Grundlage eines leidenschaftlich fordernden Geistes aus, jedoch seltsam verträumt, schwebte diese Predigt hoch über den Köpfen und dem Verständnis der Zuhörer, wie ein Schmetterling, der auf sein eignes Flügelrauschen horcht. Ich denke, die wenigsten in der Gemeinde konnten ihr etwas entnehmen, dieser geheimen Auseinandersetzung des Pfarrers mit sich selbst, die nur dem Ort und der äußern Form nach eine Predigt zu nennen war. Die Männer und Frauen blickten denn auch auf ihre kaltgewordenen, im Schoße ruhenden Hände, blätterten im Gesangbuch und sahen schließlich mit schläfriger Gleichgültigkeit zur Kanzel empor.

Der Gottesdienst war zu Ende. Mit gesenktem Haupte, Bibel und Gebetbuch im Arme, stieg jetzt der junge Geistliche die Kanzeltreppe hinunter. Er vergaß, das eiserne Pförtchen zu schließen, das sich unten an dieser Treppe befand; es blieb weit offen stehn in der leeren Kirche.

Eine Viertelstunde später läutete eine dünne, zeternde Glocke die Kirchgemeinde ein.

Ich hatte mich auf den Lettner hinaufgeschlichen und saß dicht neben der Orgel, verborgen vor jedermanns Augen. Durch das hölzerne Gitter der Brüstung jedoch konnte ich alles übersehn, was sich unten in der Kirche zutrug.

Fritz Bodmer stand jetzt hinter einem mit Büchern und Papieren beladenen Tische, der in den Kreuzgang der Kirche gerückt worden war. Sein schönes Antlitz war blaß, und die herrlichen Augen blickten in scheuem Ernste. – Die vordern Bankreihen blieben leer, die Bauern hatten sich alle in den hintern Bänken zusammengedrängt und saßen Schulter an Schulter, dicht beisammen; die meisten unter ihnen ergraute, ältere Leute. Ihre schwarzen Filzhüte lagen vor ihnen auf den Knien, und ihre Nacken sahen rot und hart aus dem steifen Wollstoff des Kragens hervor.

»Werte Versammlung!« so redete der Pfarrer sie jetzt an. Die Bauern hoben aufhorchend die Köpfe und lauschten mit ehrfürchtigem Schweigen. Er sprach zuerst vom verstorbenen Präsidenten, hob seine Verdienste hervor und ersuchte hierauf die Anwesenden, sich zur Ehre des Toten von den Sitzen zu erheben. Und als sie es getan und sich wieder schweigend niedergelassen, bat er, den neuen Präsidenten sofort vorzuschlagen.

Das kleine Bergdorf verfügte über keine Redner. Der einzige Redegewandte, der Besitzer des größten Kaufladens im Orte, war heute einer Geschäftsreise wegen außerhalb der Talschaft. Jedes öffentliche Sprechen blieb bei solchen Anlässen sonst ausschließlich dem Ortsgeistlichen selbst vorbehalten. Da nun aber heute auch der einzige in Betracht kommende und ausdrucksfähige Führer fehlte, stand diese Kirchgemeindeversammlung von vornherein im Zeichen zögernder Unsicherheit und des beharrlichen, ratlosen Schweigens.

Die Wahl des neuen Präsidenten ging vor sich. Man überzählte gewissenhaft die emporgestreckten zustimmenden Hände. Der Neugewählte war klein von Gestalt, dunkel im Gesicht und schleppte den linken Fuß. Alle wußten, daß er einer Sekte zugehörte, die sich besser und gerechter dünkte als die andern und daß er somit ein verkappter Feind der Landeskirche und ein Hasser des Pfarrers war. Aber man wählte jeweilen dem Range, dem Alter und dem materiellen Ansehn nach.

Die Sonne schien schwach durch das vordere Kirchenfenster und löste die in großen, schwarzen Lettern hingemalten Worte des Propheten Jeremias wie selbständige Wesen ab: O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort! – Sie schob sich sachte vorwärts und ruhte jetzt auch auf dem bärtigen Haupte des heiligen Christophorus, dessen mächtiger Leib immer noch nicht völlig von der Tünche befreit war. Aber der ganze Strom, durch den der Heilige watete, war freigelegt, auch der graublaue Himmel, der sich über ihm wölbte.

Der junge Pfarrer legte jetzt die Jahresrechnung ab; er sprach über die Ausgaben der Kirche und ein Legat, von einem ungenannt sein wollenden Geber; dann kam er auf den Kirchturm zu reden, der, wie man ihn versichert, dringend der Ausbesserung bedürfe.

Mir wollte in meiner verborgenen Ecke scheinen, als ob Fritz Bodmer ausführlich und viel zu lang, in großer Weitschweifigkeit, sich über diese, ihm heute gleichgültigern Dinge auslasse. Und doch entdeckte mein vertrautes Auge bereits die mir so wohlbekannte, zerstreute Ungeduld in seinen Zügen und in seiner Haltung, als der rothaarige Anstreicher des Dorfes in umständlich langsamen Worten auseinandersetzte, er wage nach seiner letzten Krankheit die Besteigung des Kirchturms nicht mehr, und ein jüngerer als er möge ihn für diese Arbeit ersetzen.

Nun waren alle Traktanden erledigt. Noch las der Pfarrer einen kurzen Bericht der Synode an die Kirchgemeinde vor. Da holte im Turm über mir die Glocke rasselnd zum Schlage der Mittagsstunde aus und polterte zwölf rasselnde Schläge so laut, daß es sich anhörte, als ob kettenbeschwerte Füße die Turmtreppe hinaufkröchen. Es wäre Zeit, daß die Versammlung aufgehoben würde und sich zum Mittagsmahl entfernte; die Frauen in den Hütten warteten.

Da erhob sich der junge Pfarrer nochmals vom Stuhl, den er bis jetzt hinter dem Tischchen im Kreuzgang eingenommen. Er heftete seinen Blick in den Rücken des vor ihm sitzenden neugewählten Präsidenten.

»Werte Versammlung«, begann er nochmals. Dann schöpfte er tief Atem. Die Bauern, von denen einige sich bereits erhoben hatten, setzten sich wieder hin und wurden still. Dem Aeußersten in der Reihe entfiel der schwarze Filzhut; er rollte in den Kirchgang und blieb unter dem Tische liegen. Der Pfarrer bückte sich nach dem Hute, säuberte ihn sorgsam mit dem Handrücken und reichte ihn dem alten Manne hinüber. Dann wartete er wieder bis es ganz ruhig geworden in der Kirche. Jetzt stemmte er beide Hände auf die Tischplatte, hob ernst die Augen und sagte nochmals: »Werte Versammlung«. – Und dann mit einem plötzlichen Rucke: »Ich habe euch noch etwas mitzuteilen – nämlich – ich kann nicht mehr euer Pfarrer sein.« Er wartete eine Weile, dann wiederholte er nochmals, viel leiser, aber bestimmter, als ob er zu seinem zögernden Herzen allein rede: »Nein, ich kann nicht mehr euer Pfarrer sein. Ich will es auch nicht. Ich werde das neue Amtsjahr nicht mehr beginnen.«

Jetzt blickte er auf. Er erschien mir wie ein Kranker, der bereit ist, vor den Arzt die Gründe seines Zustandes und den Zustand selbst hinzulegen, um von ihm den Trost der Entlastung und sein Heil entgegenzunehmen. Mit pochendem Herzen saß ich da, beugte mich weit vor und wartete. Fritz Bodmer aber schwieg. Er schwieg immer noch. Da erriet ich, daß jetzt für ihn der Augenblick innerer Verworrenheit gekommen sein müsse, wo er, um weiter reden zu können, um die Gründe seines Handelns befragt sein wollte, jetzt, wo er seinen Entschluß kundgetan. Ich kannte seine Art. Die Scheu, die ihn plötzlich zurückhielt, das ihm leicht erscheinende Geständnis hinzuwerfen unter die Augen aller, konnte jetzt nur durch seine Pfarrkinder selbst gebannt und gebrochen werden. Es hätte eines einzigen Wortes bedurft, das wußte ich, um aus dem Versteck seiner Seele jene innere Rechtfertigung hervorzuholen, zu der ein blindes Bedürfnis der Beichte den Aufrichtigen trieb, nur ein Wort, um auch jedes aufkriechende Mißverständnis zu beseitigen und falsche Deutungen seines Entschlusses aus dem Wege zu räumen. Aber der junge Pfarrer schwieg noch immer, und die Kirchgemeinde wartete. Die Männer saßen unbeweglich da, drehten die Hüte in der Hand und hüstelten verlegen. Ihr Pfarrer kannte sie wohl, die langsame Art, den schwerfälligen Gedankenlauf ihrer Köpfe und die bedächtigen Regungen ihrer Herzen. Er hatte gesehn, wie der Eindruck seiner Worte sich in den harten Gesichtern festsetzte, und wie er dort allmählich dem Ausdruck eines ratlosen Staunens [wich]. Von da war noch ein weiter Weg zum Worte, das wußte er auch.

Warum redete er jetzt nicht in sie hinein, wie er das früher oft getan, ohne auf sie zu warten? Er, der sie, kraft seines Amtes in seinen Händen fügsam wußte? – Da sah ich, wie seine Haltung sich veränderte, wie sie auf einmal aller Schwungkraft beraubt schien und wie eine große Traurigkeit plötzlich sein schönes Antlitz überschattete. Als ein völlig Entfremdeter stand er da, verworren und still.

Endlich erhob sich der neugewählte Präsident. Der Pfarrer blickte zerstreut nach ihm hin. Linkisch und unsicher in seiner ihm eben zugeworfenen Rolle, wußte der Mann nicht, was ihm zu sagen anstand. Ungeschickt griff er deshalb zu dem oft gehörten Sprüchlein einer äußern Formalität und meinte monoton: »Der Kirchgemeinderat hat gehört, was ihm der Herr Pfarrer mitteilte. Es ist uns allen eine Ueberraschung. Aber wenn der Herr Pfarrer uns verlassen will, so können wir ihn natürlich nicht halten, und danken ihm vorläufig für die geleisteten Dienste.«

Dann lächelte er einfältig und schaute über die Bauern hin, indem er seine silberne Uhrkette langsam ein paar Male nacheinander um den Zeigefinger wickelte.

Warum um Gottes Willen hielt der Pfarrer auch jetzt seine Bauern nicht zurück? Beinah hätte ich es ihm von meinem verborgenen Versteck aus zugerufen!

Aber der Pfarrer schwieg auch jetzt.

Da fügte der Präsident hinzu: »Wenn niemand sonst noch etwas vorzubringen hat, erkläre ich die Versammlung für aufgehoben.«

Oben auf dem Lettner schob ich jetzt den Kopf unvorsichtig weit vor. Ich sah, wie Fritz Bodmer Bücher und Papiere vom Tische nahm, und während die Bauern sich langsam erhoben und der großen Kirchtüre zugingen, schritt er rasch, einsam, wie ein Verurteilter, dem Ausgang zu, der sich hinter dem Chore befand. Jetzt bemerkte er, daß das Pförtchen der Kanzeltreppe offenstand, und als ob er ahnte, daß er sie nie mehr betreten würde, wandte er mechanisch seine Schritte zurück und schloß es sorgsam und fest zu ...

So konntest du dein Bekenntnis nicht ablegen, Fritz Bodmer. Die Ratlosigkeit und das erwachte Mißtrauen deiner Pfarrkinder waren deiner Gewissensangst zuvorgekommen und hatten mit deinem Begehren der befreienden Beichte nicht gerechnet.

Ich habe viel später, nachdem Fritz Bodmers Künstlername längst in unsern Gauen widerhallte, ihn einst zufällig getroffen. Und da geschah es, daß er mir den Grund seines Stillschweigens an dieser Kirchgemeindeversammlung von sich aus verriet. Es habe ihn, so sagte er, plötzlich das schmerzliche und ihn völlig lähmende Empfinden befallen, als sei er von lauter Feinden umgeben gewesen, die weder seiner, noch seines Bekenntnisses bedurften. Da sei ein leidenschaftlicher Schmerz über ihn hergefallen, der ihn diesen Menschen für einen Augenblick völlig entfremdete, und jedes Wort sei wie geprügelt in sich selbst zurückgekrochen. Er habe sich später oft kindisch gescholten, könne jedoch sein völliges Versagen damals nur durch die vorausgegangenen Kämpfe rechtfertigen und erklären, so wie ein Schüler beim Examen auch ohne den notwendigen Bescheid bleibe, selbst wenn er sorgfältig vorbereitet der Prüfung entgegengegangen sei. –

Es war Mißmut und Mißtrauen, das eine Stunde nach der Kirchgemeinde bereits jeden Mund im Dorfe öffnete. Viele Zungen redeten auf einmal; sie verzehnfachten sich von Stunde zu Stunde. Sie redeten in der Küche, im Stall, auf der Tenne, in den Wirtshäusern. Sie sprächen mißbilligend von ihrem Pfarrer und verschrien ihn. Seine seltsame Demission galt ihnen als Anklage gegen sie selbst. Er wollte also nicht mehr ihr Pfarrer sein. Warum? Waren sie schlimmer als andre, ungläubiger als andre? Waren sie ihm zu gering? War es eine Unehre, in ihrem Dorfe Pfarrer zu sein? Der, der vor ihm hier geamtet, war 24 Jahre ihr Seelsorger gewesen und lag auf ihrem Friedhof begraben. Wenn sie ihm zu schlecht waren, hielt er sich selbst für einen Bessern? Was dachte man andernorts von einem Pfarrer, der sich so sonderbar gehabte?

Sie warfen ihm Unzulänglichkeiten vor, Vernachlässigung seiner Pflichten und bösen Willen und nahmen alles hinweg von seinem jungen, mühereichen Ruhme. Es war der Unwille der Kränkung, der aus ihnen sprach und der müßige Eifer des Sonntags. Das Selbstbewußtsein des Dorfes war empfindlich gekränkt, die Feindseligkeit fluchte laut in den Straßen, und die Unklarheit der Vorgänge an der Kirchgemeinde wuchs zum bösen Gerücht, das niemand widerlegen wollte und konnte. Das gebar Mutwillen und Bosheit. Und der Wein kam dazu und rächte sich am Pfarrer.

Es waren Nachtbuben, drei mutwillige, gedankenlose Nachtbuben, welche sich freuten, ihrer Weinlaune ein Opfer gefunden zu haben, die schon in der Nacht vom Sonntag auf den Montag eine große, leere Kufe auf die Linde im Pfarrgarten stülpten, die der Pfarrer um der Sonne willen beschnitten. Und es waren Nachtbuben, junge, einfältige, sechzehnjährige Burschen, die keineswegs im Sinne des Dorfes handelten und deren Tun mißbilligt wurde, die in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag an die Türe des Pfarrhauses eine tote Katze hängten. Sie trug einen Zettel im Maule, darauf standen die Worte: Geh nur! Geh! Wir halten dich nicht, Judas Ischarioth! –

Bevor ich erfahren konnte, wie dieser letzte Schimpf Fritz Bodmer berührte, erreichte mich die Botschaft, mein Vater sei gestorben.

*

Am andern Morgen bin ich zu Tale gestiegen. Die Stadt empfing mich fremd; die Trauer um meinen Vater ließ sie mir in verblaßtem Licht und viel zu laut zugleich erscheinen. Der Weg durch die Felder dünkte mich länger als sonst, und nur der Glanz der fernen Berge half mir ihn leichter gehn. In der Anstalt angekommen, führte man mich durch zwei große Höfe zu einem Nebengebäude, dem die Totenkammer angebaut war. Ich trat ein.

Die Kammer war weißgetüncht, karg und schmal. »Ich bin die Auferstehung und das Leben«, löste sich in schwarzen Lettern von der Wand. Unter der Verheißung dieser Worte stand der billige, schmucklose Sarg, in dem mein Vater lag und über ihm die Stille seines abgeschlossenen Lebens. Er trug seinen Sonntagsstaat, die Hände waren über der Brust gefaltet, der kleine Finger seiner Rechten immer noch wie im Krampfe zusammengezogen, wie das bei seinen Lebzeiten gewesen. Das türkisblaue, verbrannte Mützchen, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin sein letzter, fraglicher Schmuck, saß zerknüllt auf dem blonden Haare. Einsam und gering lag er da. Das Herz krampfte sich mir zusammen. Ich erinnerte mich plötzlich des Tages, an dem bei Vater der Irrsinn ausgebrochen war. Es war an einem Sommermorgen gewesen, als die Sonne grell in das Studierzimmer des Pfarrhauses schien. Von unsäglicher Seelenangst gepeinigt, war er im Zimmer auf und ab gegangen und hatte meiner völlig vergessen, die ich mit meiner französischen Aufgabe im Sofawinkel kauerte und sein unstätes Wandern mit den Augen bange verfolgte. Da sah ich ihn ans Fenster treten, und ich hörte ihn das erste Mal halblaut das Wörtchen »Fatum« murmeln, dessen Sinn ich nicht verstand. Ich fühlte aber, daß es für Vater mit etwas Furchtbarem und Unabwendbarem zusammenhängen mußte. Er nahm darauf die Bibel vom Gestell und ist Tag und Nacht, Tag und Nacht, als ob er die Dämonen seines Geistes zu meistern trachtete, die Bibel im Arme, im Zimmer auf und ab gegangen und hat immer das Wörtchen »Fatum« gemurmelt, bis man ihn holte. Nun war er diesem Fatum erlegen, er, dessen heller und auf das Gute gerichteter Wille zertreten worden war in der Tiefe eines Jammers, vor dem alles andre verstummen mußte. Eine Unsumme von Begehren, Forderungen, verheißender Kraft war ihm vom selben Schöpfer in die Brust gelegt worden, der klaglos das Geschenkte von ihm zurückgefordert hatte. Wer sprach da Recht?

Schritte näherten sich der Türe. Ein Wärter trat ein. Er brachte auf einem kleinen Wagen Topfpflanzen und frische Blumen, welche die Anstalt jedem ihrer Toten spendet, und zwei Kränze von einstigen Kommilitonen mit gutem Gedächtnis, dem längst Verschollenen freundlich zugesandt. Nun durfte auch ich endlich meine weißen Rosen niederlegen, ohne daß sie wie eine böswillige Mahnung in der Strenge dieser Kammer anmuteten. Doch als ich um den Toten herumging, um ihm das mitgebrachte weiße Kissen unter den Kopf zu legen, da verschob sich das blaue Mützchen, und ich gewahrte unter dem Haare den schmalen Streifen, den das Seziermesser gegangen.

»Konnten sie sein ohnedies gemartertes Hirn nicht endlich in Ruhe lassen?« sagte ich zum Wärter. Er zuckte die Achseln.

»Vorschrift und Wissenschaft gebieten es so«, entgegnete er mir.

Der Wärter war ein alter Mann mit einem strengen, melancholischen Gesicht. Er erzählte mir, daß Vater seit drei Wochen ganz sanft und still geworden sei wie ein gutes Kind, dankbar für die kleinste Handreichung, daß er viel von seinen Kindern und ganz besonders von seiner Tochter Suse gesprochen habe, von der er seit langem nichts gehört. Und am vorigen Tage habe man ihn vor seinem Bette gefunden, völlig zusammengerutscht, das Gesicht nach oben gerichtet, wie jemand, der von einem lautlosen Schlage zusammengeworfen worden war. Bald darauf sei er ohne Kampf gestorben. Es sei gut so. Nun sei er endlich erlöst. – Der Wärter war gegangen.

Erlöst? Ich beugte mich über meinen Toten. »Vater, bist du wirklich erlöst? Bist du es endlich? Ist es gut so?« – Und ich blickte mit neuen Gedanken in sein stillgewordenes Gesicht.

Jetzt erst wurde ich gewahr, wie weit ab er von mir und auch vom Leben war, sodaß keine Erinnerung daran ihn mehr schreckte. Er war den Hütten der Erde fern, eingetreten in eine fremde Welt, nur ihr zugewandt, und weder meine Stimme, noch meine Fingerspitzen konnten ihn erreichen. Als ein Erlöster war er in ein ernstes Reich gerückt worden, das nur er kannte und dessen Geheimnis er unter den geschlossenen Lidern mit sich forttrug. Auch vor mir. Und jetzt erst wurde ich auch gewahr der Ruhe und Erhabenheit des Todes auf seinem Antlitz, eine Ruhe, in die er beseligt lehnte, und in die er zurückgesunken war wie in eine leiseschaukelnde Welle, die ihn sachte an ein gütiges Ufer trug. Und ich sah auch, daß nichts Dunkles, Einsames mehr über dieser blumengeschmückten Hülle lag; aus dem verborgenen Versteck seiner entflohenen Seele schien die letzte Klarheit aufgebrochen und umschwebte wie ein schwaches Licht Stirn und Wangen und Vaters guten Mund ...

Man schickte mir später das einzige Erbteil des Toten an seine Kinder: Ein paar Bücher und den alten abgenutzten Lederbeutel, in dessen Mittelfach unangetastet, in seinem milden Silberglanz, das stolze Fünffrankenstück lag.

Vater, du hast mir einst zugerufen, ich solle an den Gott nicht glauben, der dich von seinem Antlitz verstoßen. Er, der dich verwarf, ist derselbe Gott, an dessen Ohr das heißeste Gebet meiner Kindheit, das Flehn um deine Genesung einst ungehört verhallte. Von mir selbst nicht vernommen und tief verborgen, muß dieses mein Gebet in den Räumen meines Herzens fortgeklungen haben bis auf diesen Tag. Und jetzt, wo ich dich gesehn habe, ruhend in der unendlichen Fürsorge und Geborgenheit des Todes, als ein wahrhaft Genesener, Erlöster, eingehüllt in die Tröstung eines unerschöpflichen göttlichen Erbarmens, jetzt steigt mein totgeglaubtes Gebet wieder in mir empor und legt meine Hände zum Dank ineinander.

Vater, guter Vater, laß mich dir heute, wo so viele Jahre seit deinem Tode verflossen sind, die Erkenntnis und Erfüllung meines spätern Lebens, mein tiefstes, unverrückbares Besitztum, auf die geschlossenen Lippen legen, dir, mit dem die Anklage meines Daseins damals so eng verwurzelt war: Etwas Neues, Großes, Dauerndes hat, seit ich an deinem stillen Sarg gestanden, allmählich Besitz ergriffen von mir, meiner Seele und meinem Gemüt, um nie wieder verloren zu gehn. Es war es, das mir den Frieden gebracht. Langsam hat sich aus dem Dämmer meines Bewußtseins der Gedanke ans Licht gerungen, daß über mir dennoch ein gütiger Gott wohnen müsse, der auch mein Leben und Gedeihn in milden Händen gehalten. Aber er kann nicht der Gott der Liebe allein sein, wie unsre flehenden Lippen ihn nennen, wohl weil wir der Liebe, die wir unter Menschen wohnen, am meisten bedürfen. Er ist mehr und größer als die Liebe: Seine Allmacht war es, die meinem unruhig wogenden Gefühl später die Klarheit der Gestalt verlieh, damit ich ihn fasse und dauernd umschließe; seine Kraft war es, die meinem Dasein den verborgenen Sinn gab; seine Wahrheit war es, die alle meine Zweifel beschwichtigte und hob, und sein Erbarmen wird es sein, das mir dereinst auch mein letztes Ziel mildtätig aufdecken wird. Und diesem Schoße der Allmacht, Kraft, Wahrheit und des Erbarmens darf ich heute getrost mein Haupt entgegenneigen und erwarten jenen Tag der Gnade und der Offenbarung, der meine tiefsten Träume gutheißt.

Vater, die Stunde der Ergriffenheit, in welcher ich diese Erkenntnisse und Weihe meines künftigen Daseins ahnungsvoll erfuhr, ist bald nach deinem Tod, in einer Mondnacht oben in den Bergen, für mich angebrochen. Sie hat in mich den gläubigen Sinn zurückgelegt, der mir durch dich und den Anblick deines jammervollen Loses in tränenschwerem Trotze verlorengegangen war.

*

Ich bin ins Bergdorf zurückgekehrt. Mutter Bucher erzählte mir, der junge Pfarrer sei ganz still aus dem Dorfe fortgegangen, nachdem man ihm die Schande mit der Katze angetan.

So bist du deiner Bestimmung gefolgt, Fritz Bodmer, und hast dem Rufe gehorcht, der an dich ergangen! –

Ich habe um meinen Vater kein Trauergewand getragen. Ich trauerte auch nicht um ihn. Wenn ich seiner gedachte, war ich stets von stiller, dankbarer Freude erfüllt. Ich unternahm lange, einsame Spaziergänge und arbeitete in der Rebenlaube an meiner Studie. Ich rückte gut vor; der Segen des Toten ruhte auf mir.

Als ich die Arbeit abgeschlossen, sandte ich sie meinem hochverehrten Lehrer, Professor W., ein. Mir selbst unerklärbar, fand ich jetzt auch den vertrauenden Mut, ihm meine materiellen Verhältnisse auseinanderzusetzen und ihm die im Grunde aussichtslosen Bedingungen klarzulegen, unter denen ich mein Studium begonnen und, neugekräftigt, wieder aufzunehmen gedachte. Ich fügte hinzu, daß sein Urteil über diese meine zweite und gewiß auch reifere Arbeit mir genügen würde, alle Zweifel, welche die Unsicherheit meiner Lage in dunkeln Stunden heraufriefen, zu beschwören. Ich wagte es ferner, ihn zu bitten, mir Leiter und Ratgeber sein zu wollen bei einem allenfalls nun fester umschriebenen und zu einem zielsichern Abschluß führenden Studium. Und als ich Brief und Arbeit abgeschickt, wurde es in mir seltsam ruhig und still. –

Endlich traf auch der ersehnte Brief Reginens ein. Er wußte noch nichts von Vaters Tod und war voll der reinsten kindlichen Seligkeit.

»Da bin ich nun, Anna,« schrieb sie. »Es ist alles gut gegangen, die Reise ermüdend, aber interessant und schön. Ich habe mit allenmöglichen Leuten unterwegs Bekanntschaft gemacht und hübsche, kleine Dinge erlebt. Dann bin ich glücklich an der kleinen Station mit dem dummen Namen angekommen. Aber denk Dir, Vitia war nicht da, um mich abzuholen. Das Telegramm, das ihm meine Ankunft melden sollte, traf erst am folgenden Tag ein. Gottlob verstand der Stationsvorstand ein paar Worte französisch, sodaß ich mich mit ihm verständigen konnte. Er rief einen Bauern herbei, der mit seinem Leiterwagen hinter dem Stationsgebäude schläfrig auf Passagiere wartete. Dann half er meine Sachen auf das holprige Gefährt laden und bedeutete dem Manne, mich auf den »Chutter« – so nennt man hier ein kleines Gehöft – von Vitia Milsky zu bringen.

Und nun fuhr ich während zwei Stunden durch die ersehnte Grenzenlosigkeit der Steppe. Ich wollte zu jauchzen beginnen, als ich sie sah und mir ihr herber, starker Duft entgegenwehte. Aber die Steppe läßt das nicht zu. Sie erstickt den fröhlichen Schrei und wirft einem ihre eigne mächtige Stille, ihre Schwermut und Monotonie ins Herz. Erhaben ist sie, und berstend vor Fruchtbarkeit die dunkle, weiche Erde. Der Bauer, mein Fuhrmann, ja, der sang. Aber er senkte den Kopf dazu, und es waren traurige, melancholische Weisen, die er mit verdeckter Stimme vor sich hinsummte.

Nach zwei Stunden Fahrt ging's mitten durch einen Tannenwald, und als wir aus den Bäumen wieder ans Licht traten, siehe, da lag dicht vor mir Vitias kleines, weißes Haus, und in der Mulde davor standen, wie weiße Fenster in einer grünen Fassade, alle die vielen Bienenstöcke. Und Vitia selbst stand in seinem von Dir fabrizierten, auch weißen Blusenhemd an der Hausecke und kam freudig erschrocken hergelaufen, als er mich so allein daherkutschieren sah. Welch gastfreundlicher, besorgter Hausherr er ist!

Es traf sich, daß er gerade an jenem Tage mit seiner Mutter gehörig gezankt hatte, natürlich wegen der Behandlung der Bienen und den diesjährigen Honigpreisen. Und da war die Frau Mutter eben auf und davon gefahren, bevor ich anrückte. Sie macht das, wie es scheint, oft so nach einem Streit und Vitia kann sich nie erklären, wie und auf welche Weise sie zu dem Bauerngefährt kommt, das sie immer gerade dann abholt, wenn der Aerger sie wegtreibt. Es ist ja hier weit und breit kein Haus, kein Gehöft, kein Dorf, nichts außer der Station, die aber zwei Stunden entfernt liegt und auch nur aus einer Gruppe Hütten besteht. Also wohin flieht die Erzürnte? Das ist für Vitia längst ein Rätsel, dem er jedoch nicht weiter nachsinnt.

Am Abend meiner Ankunft aber kam die beruhigte Mama auf ihrem holprigen Wagen wieder dahergefahren. Wenn Du sie sähest, Anna, Du würdest Dir niemals denken können, daß diese Frau Vitias Mutter ist, so verschieden sind sie in Art und Wesen. Vitia aber paßt mit seiner starken, schweigsamen, zu ruhiger Verschlossenheit neigenden Natur besser zu seinem Land und seinem Boden, als die, die ihm das Leben geschenkt. Sie ist eine noch junge, hübsche Blondine, von fast mädchenhaft schlanker Gestalt, nicht mit Geschmack, aber mit einer gewissen anspruchsvollen Koketterie gekleidet; sie trägt kostbare Seidenblusen in allen Farben, hohe Stöckelabsätze und hat eine leere, grelle Stimme. Um den weißen Hals schlingt sie immer ein enganliegendes, schwarzes Samtband; aber ich muß Dir gestehn, daß ihr hübscher Hals nie ganz sauber gewaschen ist, auch die kleinen Ohren haben dunkle Ränder. Vitia, der peinlich Saubere, kann sich rot ärgern über diese Nachlässigkeiten seiner für seinen Geschmack viel zu geputzten Mutter und ihre bunten Seidenblusen. Ich muß immer hellauf lachen, wenn er seinem Unmut den Lauf läßt. Vor lauter Vielredenwollen kommt er ins Stottern, weil er, wie Du wohl weißt, des Redens nicht gewohnt ist. – Mich behandelt die Frau Mutter mit viel Freundlichkeit und Entgegenkommen.

Das Haus hat vier recht geräumige Zimmer, alle weißgetüncht; eins davon ist sogar mit ganz hübschen, altmodischen Polstermöbeln ausgestattet und wird Salon genannt. Mein Schlafraum ist das sogenannte Honigzimmer; das Bett befindet sich vorn beim Fenster; in der Tiefe stehn in bauchiger Reihe dichtbeieinander die Fässer und Bütten mit Honig. Du kannst Dir denken, wie ich da oft mit den naschhaften Wespen kämpfe, die natürlich überall herum sind. Ich bin aber noch nie gestochen worden; nur letzthin, als ich beim Aufstehn des Morgens den nackten Fuß auf eine am Boden kriechende Wespe setzte, hat sie sich natürlich an meiner Sohle gerächt. Etwas andres aber erschreckte mich! St! Sag's nicht laut! Das war ein braunes, plattes Insekt, das unter meinem Kissen daherpromenierte. Ich erzählte es am andern Morgen Vitia mit allen Gebärden eines großen Entsetzens. Natürlich benutzte er sofort die Gelegenheit, um wieder über seine Mutter, ihre Unsauberkeit und die schönen Seidenblusen zu schimpfen. Als er sich aber beruhigt hatte, schleppten wir beide, ohne der Mutter den Grund zu verraten, meine Matratze an die Sonne, klopften, bürsteten, besprengten sie mit einer Flüssigkeit, die Vitia als wissender Chemiker zusammenstellte und ließen die Matratze den ganzen Tag draußen an der Sonne liegen. Nach dem Mittagessen streckte ich mich darauf aus und schlief so fest und lange, daß ich ganz verbrannt erwachte. Ich habe die ganze Reisemüdigkeit ausgeschlafen.

Im Häuschen ist außer Vitia, seiner Mutter und mir noch eine Magd, die in einem roten Kattunrock und mit nackten Füßen herumgeht und der alte Bienenwächter, der aber oben bei den Bienen schläft. Hinter dem Hause dehnt sich unermeßlich der Wald. Auf dem schmalen Streifen Land, der sich zwischen Wald und Haus befindet, weidet Vitias Kuh. Sie ist braun, ist mit einem Strick an einen Pfahl festgebunden und sehr träg. Dann ist noch ein Hund da und Vitias alter Rabe, der auf der Kante meines Fensterladens schläft und mich mit seinem Geschnarre und Gekratze jeden Morgen weckt. Das Wasser holt man beim Ziehbrunnen; oft hole ich es selbst, es macht mir Vergnügen, den vollen Eimer aus der dunkeln Tiefe heraufzuwickeln. Die Mahlzeiten nehmen wir auf der Terrasse ein, die mit Hopfen und wildem Wein überwachsen ist. Sie bestehn hauptsächlich aus Milch, Honig, Brot, Eiern, Käse.

Wenn Du wüßtest, wie glücklich ich mich hier fühle! Weit, weit, weit ist alles um mich herum, unermeßlich und großartig. Kein Bureaustaub und keine engherzigen Menschen. – Kürzlich sind Vitia und ich zu Fuße dem mächtigen Walde entlang gegangen, es war in der Morgenfrühe. Er besitzt nämlich noch eine zweite Kuh, die er aus Mangel an Raum bei einer Bäuerin, die dicht an der Moskauerlinie wohnt, untergebracht hat. Wir wollten dieser Kuh einen Besuch abstatten. Wie herrlich das war, durch die Stille und Größe dieser unberührten Natur zu wandern, durch das rauschende, sonnendurchwärmte, hohe Gras, das so stark duftet, daß es einem den Atem hemmt, unter Bäumen durch, die mit den weitausholenden Aesten den Himmel verdunkeln, Bäume die man nie fällen sollte, weil sie zum Inventar der Schöpfung gehören! Und ringsum kein Mensch, kein Haus, eine unermeßlich reiche, wohltätige, in sich selbst versunkene und leise schaffende Natur.

Seit drei Tagen ist Besuch da aus Charkoff, ein Freund Vitias, ein Mediziner. Man nennt ihn Kolja, den richtigen Namen weiß ich nicht. Er hat schöne, graue Augen und gefällt mir sehr gut. Hörst Du, Anna, sehr, sehr gut. Am Tage, als er ankam, gab es nach längerer Pause wieder einmal Bienenstreit zwischen Mutter und Sohn. »Die Bienen sind mein«, hörte ich Vitia erregt sagen. »Vater hat sie mir und das Haus mit allem geschenkt. Du weißt, daß sie mein Leben und mein Studium bedeuten. Ich verstehe mich auf sie besser als du. Du mußt nicht immer meinen, du habest ein Recht, mir da dreinzupfuschen. Sorge du dich um andres. Als mein Gast hier bist du mir jederzeit willkommen, Mutter, aber dein ewiges Dreinreden dulde ich einfach nicht.«

Noch am selben Vormittag fuhr die Frau Mutter davon, ohne von uns Abschied zu nehmen. Wir drei waren nicht sehr betrübt darüber. Es wurde sogar ein ganz köstlicher Tag. Die beiden Studenten befestigten mir hinter dem Haus am Waldrand an zwei Tannen eine Hängematte. Ich mußte mich hineinlegen, man schob mir ein Kissen unter den Kopf und gab mir ein Buch in die Hand, ein russisches, damit ich das Alphabet lerne. Sie selbst waren, mit leichten Flinten bewaffnet, im Walde verschwunden; sie gingen jagen. Ich lag also still in meiner Hängematte, studierte meine Buchstaben und guckte in die dunkeln, verschwiegenen Tannen hinein, bis dort, wo ihre Gänge und Reihen sich schlossen, tief in das schweigende Herz des Waldes. Hinter mir schnaufte die braune Kuh an ihrem Seil und Dunja, die Magd, buck in der weißgetünchten, abseits gebauten Küche Kuchen aus Honig, Reis und Eiern.

Auf einmal fallen dicht in meiner Nähe Schüsse, einer, zwei, drei, ein ganzes Gefecht. Wie ich da zusammenfuhr und erschrocken aus meiner Hängematte herauskollerte! Aber da lachte man, toll und ausgelassen im Dickicht, und heraus traten meine zwei Jäger, die nichts geschossen, dafür aber ihre Patronen, um mich zu erschrecken, abgepulvert hatten. Wie der freundliche Kolja lachte über mein Entsetzen! Er hat sehr schöne, gesunde Zähne.

In der Abenddämmerung saßen wir alle drei in der Mulde bei den Bienen und plauderten, bis die Sterne aus dem Himmelsraum heraustraten und zu glitzern begannen, einer nach dem andern. Pumbs! da fuhr die Mutter wieder auf ihrem Wagen heran, und wir mußten ins Haus.

Kolja spricht ganz ordentlich Deutsch, und was ihm noch fehlt, sollst Du ihm dann beibringen, Anna, denn Kolja – ich kann wirklich seinen Namen nicht aussprechen und behalten – wird mit mir und Vitia zusammen nach den Ferien verreisen von hier aus, um an unsrer Universität sein Studium fortzusetzen. Er wird alles noch mit seinen Eltern besprechen, die in Charkoff wohnen. Wir machen dort alle drei Halt, dann auch in Kiew, wo wunderbare Klöster sein sollen, besonders ein sehr altes und weitberühmtes. Das wird eine schöne gemeinsame Rückreise. Aber auf Suses Grab in D. gehe ich ganz allein, Anna, auch Vitia wird mich nicht begleiten dürfen.

Nun leb wohl. Wie geht es Vater? Grüß ihn mir. Ich sandte ihm immer Karten von der Reise. O, das Leben ist jetzt schön, schön!«

*

»Das Leben ist jetzt schön, schön!« so jubeltest du, Reginchen. – Ja, es wird uns wohl leichter dünken, viel Böses liegt hinter uns. Dein Durst nach seinen Weiten ist durch die blühende Stunde der Gegenwart gestillt, und Vater schläft jetzt wohl und ist geborgen. Mit ihm zusammen verblaßt allmählich die Erinnerung an unsre erste Jugend; die stumme Klage über ein unbegriffenes, dunkles Geschick tritt sacht in den Hintergrund, und durch die halbgeöffnete Pforte der Zukunft fällt uns ein heller Schimmer entgegen.

Der September war da. Die Berge erschienen jetzt wie hinter einer dünnen Glaswand verborgen, in weiche, vertiefte Farben getaucht, und wenn die Sonne hinter ihnen ins Meer hinabsank, berührte ihr Atem mit zartem Glührot die obersten Gipfel, das weiße Blendwerk des ewigen Schnees. Aber herrlich waren sie zu schauen in ihrem verblassenden Mantel aus Gold, verbrämt mit den dunkeln Borten der herbstlichen Schatten.

In der Steinmatte oben beriet man eifrig die Abreise. Herr Keller war bereits verreist und hatte seine Arbeit in der Stadt wieder aufgenommen. Frau und Kind jedoch sollten die Herbsttage in den Bergen noch solange genießen, bis die erste Kälte sich fühlbar machte. Frau Elsbeth und ich waren längst übereingekommen, gemeinsam zu Tale zu steigen. Bereits räumte, klopfte, säuberte man im braunen Häuschen und traf allerhand Vorbereitungen. Noch aber blieb Frau Elsbeth viel Versäumtes zur Erledigung vorbehalten. In ihrer gewohnten muntern Beweglichkeit traf ich sie, bald da, bald dort, ausgerüstet mit einer alten, unförmigen, schwarzen Ledertasche ihres Mannes, in der sich Kaffee, Zucker, Stoff zu Kinderschürzen und wollene Strümpfe für ihre Bedürftigen bargen. Nur die beiden Alten unten am Fluß, das blinde Geschwisterpaar, überließ sie meiner Fürsorge, da ihre Hütte von der Steinmatte zu weit entfernt, von meinem Haus aus jedoch rascher zu erreichen war.

Auch ich rüstete allmählich zur Rückkehr nach der Stadt. Da traf ein Brief von Professor W. ein. Seinem Schreiben lag eine Düte Schokolade bei, mir zur weitern Ermunterung in den Bergen, wie er freundlich schrieb. Aber seine Antwort allein war mir der Ermutigung genug. Jedes Wort, das da vor mir lag von meinem hochverehrten Lehrer, umschloß für mich Gewißheit, Hoffen, Zuversicht, bot die Gewähr des Befugten, barg meine nächste Zukunft. Es zauberte mir aussichtsreiche Fernen vor das Auge, rief laut meinen neuerstandenen Willen, der jetzt ungebrochen, wie vor Jahresfrist in mir lag. Es beseitigte alle Zweifel an meiner Befähigung und sicherte mir die so notwendige materielle Grundlage. Abgesehn vom Lobe, das Professor W. meiner Arbeit spendete, teilte er mir auch mit, daß er sie in einer literarischen Zeitschrift zu veröffentlichen gedenke, und daß er mir bei einem seiner Freunde, dem Besitzer eines großen Privatinstituts für junge Mädchen, eine Anstellung als Sprachlehrerin verschafft habe, ohne sich dazu meine Einwilligung zu erbitten. Er hoffe, ich werde ihm diesen unbefugten Eingriff nicht verargen; denn die Bedingungen, die er für mich erzielt, seien sehr günstig und vorteilhaft. Die freie Zeit, die mir neben meiner täglichen Beschäftigung übrigbleibe, würde hinreichen, um die Vorlesungen an der Universität zu hören und für mich weiterarbeiten zu können. Ueber vernünftige Einteilung dieser Mußestunden, über Maß und Einschränkung bei der Arbeit und auch das endgültige Ziel würden wir noch bei meiner Rückkehr zusammen reden, da meine Kräfte nicht überspannt werden sollten.

Nun mußte sich alles, alles wenden! Ich sollte wieder meinem Bedürfnis nach Wissen nachgeben dürfen, besser, gesicherter als je zuvor! Und ich würde eines Tages in die Nähe des Großen und Schönen zu stehn kommen, wohin mein bestes Streben gegangen. O des unendlichen Gewinns! – Aber – das war mir jetzt bewußt geworden – mein Glück würde nicht von den Büchern allein ausgehn, nicht von ihnen abhängig sein. Das Leben lag tiefer als alles Wissen. Es würden wohl abermals Zeiten nahn, wo ich bei den Büchern ermattete, um lauschend den Kopf zu heben, wenn vom Berg eine Glocke rief. Aber ich würde nicht mehr so rasch, so ungestüm, so glaubenstöricht das Fenster aufreißen, wenn der fremde Ton in meine Kammer drang.

Eine gelehrte Frau würde ich nie werden, wie mein Vater gefürchtet. Aber unter den Wissenden, denen, die ums Leben wissen, wollte ich zu finden sein. An meinen Früchten sollte man mich dereinst erkennen. Mehr wissen, heißt sein Gefühl vertiefen. Ist es nicht der Reichtum des wissenden Herzens, das die Armut des andern liebevoll übersieht? –

Mit dem glückbringenden Schreiben meines Professors bin ich hinauf an die Steinmatte gelaufen. Da saß meine Freundin auf der Laube und nähte, ihr zur Linken der Korbwagen mit den blauen Vorhängen, hinter denen die Kleine schlief. In freudiggehobener Stimmung legte ich ihr mein kostbares Schriftstück auf den Schoß. Und während sie las, setzte ich mich neben sie auf den niedern Schemel und fing an, die traute Behausung des schlummernden Kindes zu zeichnen, die behagliche Rollkutsche mit ihren bunten Behängen. Als ich die Skizze beendet, überreichte ich Frau Elsbeth das wohlgelungene Blatt und fragte sie dabei, welchen Namen man eigentlich der Kleinen beilegen werde, ob sie sich endlich ausbesonnen. Lächelnd beschaute sie meine Zeichnung und entgegnete hierauf: »Das weiß ich ja längst. Ihren Namen soll sie tragen, Anna. Sie und mein Kind, ihr seid mir beide in den Bergen geschenkt worden. Und wenn es Ihnen recht ist und Sie sich nicht vor der Verantwortung scheuen, so möchte ich Sie auch gleich zur Patin bitten. Die Taufe, die setzen wir dann unten in der Stadt in Szene. Sind Sie einverstanden?«

O, wie war ich einverstanden! Wie hätte ich mich einer so kostbaren Verantwortung entziehen wollen, ich, die ich bereit war, mit neuerstandenem Eifer meine leeren Schultern zu beladen, mich durch das kleine, liebliche Wesen wieder mit festen Banden an eine menschliche Pflicht und Aufgabe und durch sie an die Menschen und alles Lebendige selbst zu binden!

Ich habe Frau Elsbeth umarmt und geküßt, und weil wir nun beinah zu Verwandten geworden, so ergab sich das nahe Du ganz von selbst. –

Das war ein ereignisreicher, freudigbewegter Tag. Ich mußte viel an meinen Vater denken. Wie gerne hätte ich ihm all diese schönen Dinge erzählt!

Als der Abend gekommen, war die glückliche Erregung immer noch so lebhaft in mir, daß ich nicht an Ruhe und Schlaf denken konnte. Es zog mich hinaus in die Stille und Einsamkeit der Natur, mein dankbereites Herz vor irgend einem unbekannten Altar niederzulegen ...

Es war ein wundervoller Abend. Der Mond ging groß am Himmel auf.

Ich stieg den Pfad empor bis zum geheimnisvollen Haus über die flache Matte querfeldein, und dann ging ich langsam wieder zu Tal, an der Kirche vorbei und am Kirchhof. Ueberall war der Mond und tauchte sein Licht in die Schale der lauen Septembernacht.

Der Weg führte mich in den verlassenen Pfarrhof. Die Türen waren geschlossen, der Rasen verlassen und still. Der Brunnen rauschte im Hofe. Die Eisfirnen, von der silbernen Flut des Mondlichts umflossen, leuchteten durch die Aeste der alten Föhre auf die welken Gartenbeete und die Rosenspaliere an der Pfarrhauswand. Sacht trat ich in den Garten und schritt den Kiesweg hinan, der zum Gartenhaus führte. Dann lehnte ich an den Türbogen des alten Häuschens und schaute über die Stille hin. Hinter der efeuumsponnenen Mauer schien jetzt noch ein Brunnen zu rauschen, den ich am Tage nicht vernommen. In meinen Tiefen war ich wach, und meine Sinne schwiegen. Meine Seele war wie ein Becher, der des Trankes harrt.

Schlummert ihr, Rosen, oder seid ihr noch sonnetrunken? Ihr habt euer Antlitz der Sonne in Glast und Glut entgegengehalten. Sie hat euch euren Rock versengt und den dunklen Samt verbrannt.

Die blauen Lilien sind seit langem tot. Ihre mürbegewordene Pracht hat ein fremder Gärtner zusammengewischt und aus dem Garten hinausgetragen. Schon weiß man nichts mehr von ihrer Herrlichkeit. –

Wie ein lebendiges Wesen trat jetzt die Nacht ganz in den ruhenden Garten. Der Mond war mit ihr.

Als Kind träumte mir oft, daß ich schweben könne, fliegen, die Blumen streifen und das hohe Gras und daß ich mich über Busch und Baum erhöbe mit zagen Flügeln, neugierig, wohin das Geflatter gehe. Jetzt hätte ich der weiße Vogel sein mögen, der soeben mit stillen Fittigen vorüberrauschte. In die Mondstrahlen hätte ich schweben mögen, mitten hinein in den silberglitzernden Strom, der so mild über dem Garten lag, wie der Schleier, den heilige Geheimnisse auf sich legen.

Ja, die Natur hat Geist, hat Seele, umschließt mit tausend Armen ein sehnsuchtswaches Herz. Und mein Geist sog Nahrung aus dieser Stille, sowie der Baum im lautlosen Dunkel sich mit Blüten deckt. Ich horchte in die Nacht hinein und harrte ihrer Antwort:

Der Vogel hat Vertrauen zur Natur und ihrem Schöpfer, wenn er Schutz sucht und in sein Nest flüchtet. Das Gras hat Vertrauen, wenn es sich leise der Erde entgegenneigt, die Blumen, wenn sie ihre Kelche schließen, der Wurm, wenn er ruhig über den Boden kriecht. Ein jedes Geschöpf findet in der Natur sein Geschick, sein Genügen und seinen Schutz. Und ich? Ist in mir die dunkle, drängende Sehnsucht nicht sie, die auch mich an sich und ihren Schöpfer gebunden weiß?

Wie ich so dastand, lautlos, und den Atem anhielt, da fühlte ich, daß etwas Unbekanntes mich ergriff. Es wurde mir bewußt, daß wieder ein Tag kommen würde und wieder eine Nacht, und daß mein Tag und meine Nacht dem gehören müssen, der auch mich geschaffen. Und ich vernahm in mir wieder die geheimnisvolle Sprache meiner Zukunft, und ich wußte, daß ich mein kommendes Leben in meinem Schoße trage, wie den Apfel in goldener Schale. Ich fühlte mich und mein Dasein gehalten in milden Vaterhänden. Von dieser Gewißheit aus strömte die Fülle neuen, mächtigen Lebens in mich ein, und ich hörte alles Vergangene aus der Ferne rauschen.

War meine Sehnsucht Wachstum? Mein Schmerz neue Kraft? Bin ich eine Frucht, die reift?

Ich streckte meine Hände aus in die dämmernde Nacht, damit die Ewigkeit sie fasse. Ich fühlte mich eins mit der Nacht, der Natur, Gott, mit der ganzen Schöpfung in ihren ungeheuren Räumen; ich wußte mich das vertrauende Geschöpf eines alliebenden Vaters, dessen heiligen Ruf mein lauschendes Ohr. zum ersten Male bewußt vernahm.

War die Melodie, die durch meine Seele ging, mein erstes, stammelndes Gebet?

Darf ich vertrauensvoll mich dir zu Füßen legen, Allwaltender, und erwarten deine Güte?

Etwas raschelte neben mir. Es konnte der Efeu nicht sein, der ruhig seine Ranken senkte, es konnte nicht die Spinne sein, die ihr Netz über die Pfosten des Gartenhauses zog. Ein andächtiger Schauer legte sich mir über die Schultern. Ich ging durch den verlassenen Garten zurück und legte mich schlafen.

*

Die Weihestunde dieser mondbeglänzten Septembernacht ist mir wie eine innere Offenbarung in Gedächtnis und Sinn zurückgeblieben. Von ihr ist mir für die kommenden Tage ungeahnte Kraft und Klarheit zugeflossen. –

Und nun zurück ins Tal und an die Arbeit mit neuem Herzen! Körperlich genesen, vom Drucke lastender Erinnerungen befreit, um die Liebe meiner Schwester und warme Freundschaft bereichert, wieder erfüllt vom Glauben an die besten Lebensmächte – dies alles schloß sich in mir zusammen zu dem beglückenden Empfinden, daß ich auf heimatlicher Erde nun auch die so schmerzlich entbehrte, mir mild und gnädig gesinnte Heimat gefunden habe. –

Ich bin am Ende meiner Aufzeichnungen angelangt. Den Leser am Schluß eines Dokuments bloß zu dessen ursprünglichem Anfang, dem Ausgangspunkt der Handlung zurückzuführen, ist wahrlich nichts Gebietendes und Großes. Aber ich glaube, daß es den reinsten Mut erfordert, sich aus der Tiefe des Leides den Ruhm der glaubensvollen Anfänge zu holen, und als ein hohes Glück ist es zu preisen, wenn das Ende wieder zum gesegneten Anfang werden kann.

Ich habe gehört, daß es heißt, alles wahrhaft Gute fließe aus der Freude. Ich wage, zu widersprechen. Denn es gereicht uns zur brennenden Scham, wenn das Geschick uns nichts zu tragen erlaubt. Nicht aufgerufen werden, wenn durch die Tempelräume der Schöpfung die Posaune des Aufbruchs ertönt, heißt als ein Aussätziger im Düster der Mauer betteln.

Ich war noch jung. Einer Welle gleich staute sich mein Leben wieder vor mir auf, mächtig und groß. Schon war ich belehrt worden, daß nicht alle Wünsche, die in der Brust geruht, sich verkörpern; aber es ist der väterlichen Fürsorge genug, wenn der Schimmer unsrer Träume bei ihrem Aufstieg gen Himmel auf uns zurückflutet und in der Brust den holden Reichtum häuft. –

Am Tage vor meiner Abreise bin ich zu den Blinden am Flusse gegangen, um ihnen meine Gaben zu überbringen. Als ich den Wiesenpfad hinunterschritt, sah ich sie beide durch die kurzgeschnittene Matte daherkommen. Sie waren in Lumpen gehüllt und führten sich wortlos an der Hand. Als ich mich ihnen näherte, fiel es mir auf, daß der Alte im weißen Barte nur strauchelnd und gehemmt die Füße vorwärtssetzte. Und ich gewahrte, daß seine Schuhriemen sich gelöst und ihn am Gehn hinderten. Da bückte ich mich nieder und band ihm die Riemen zu einem festen Knoten. Und als ich mich erhob und seiner blinden Gefährtin meine Gabe überreichte, da schreckte mich der häßliche Anblick nicht mehr, und ich konnte ohne Ekel und Widerwillen in ihr armes, entstelltes Antlitz blicken.

Am folgenden Morgen bin ich mit den Bewohnern der Steinmatte verreist. Auf meinen Knien lag schlummernd das kleine Wesen, das meinen Namen tragen sollte. Und als der Zug eine Biegung, machte, den Kreis der Berge, von denen mir Hilfe geworden, und den mächtigen Donnerer in seiner erhabenen Schönheit meinem dankenden Blick entzog, da wandten sich meine vertrauenden Gedanken bereits dem Tale zu. Und ich fühlte in meinem Innern mit klarer Deutlichkeit, daß das Vergangene als etwas Abgeschlossenes und Vollgültiges hinter mir lag. Ich hatte meinen Fuß gesetzt auf die erste Stufe der Pyramide, zu welcher Tausende eigner und fremder Kräfte beigetragen hatten: Mein bewußtes Leben.

Auf der obersten Stufe trügen mir dereinst die Winde die letzten Offenbarungen zu, die Gesänge über den Anfang und das Ende, das Leben und den Tod.

Ende

*


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