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Wo die aus der Kaschubei südwestwärts heranziehende Landstraße sich mit der aus der Weichselniederung heraufsteigenden Straße in einem schrägen Kreuz schneidet, dort liegt Barkoschin.
Es ist eine teils lehmige, teils sandige, vielerorts auch aus Kies und Geröll sich aufbauende Hügel- und Höhenlandschaft, und ein großer, weiträumiger, fast zu allen Jahreszeiten schwermütiger Himmel spannt sich darüber.
Das Barkoschiner Herrenhaus steht auf einer der runden, abgeschliffenen Lehm- und Sandkuppen, am Rande einer flachen Schlucht, durch die ein aus den Waldhöhen tiefer landeinwärts daherrinnender Bach sich nach der Niederung hinunterschlängelt. Es ist ein langgestreckter, einstöckiger Backsteinziegelbau von sandfarbigem Anstrich, im Charakter der Landschaft und keineswegs von hohem Alter, wahrscheinlich erst in der Biedermeierzeit aufgeführt.
Nur wenige Wegstunden entfernt wuchs aus dem Schutt der zu Tale schießenden Bergbäche und aus dem Schlamm des mündungsnahen großen Stromes eine stolze, um sich greifende See- und Handelsstadt empor, versah sich mit rüstigen Wällen, Mauern, Bastionen und machte, sich Land und Leute vor ihren Toren dienst- und zinspflichtig. Danziger Bürger- und Patriziergeschlechter drangen tief in das pommerellische Hinterland, bauten sich von ihren schnell wachsenden Handelsgewinnen neue Landhäuser und Stammsitze oder kauften die alten, halb verfallenen des verschuldeten, heruntergekommenen Landadels. So war auch Barkoschin in den Besitz Danziger Patrizier gelangt.
Seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte es die Familie Lewerenz inne. Das Haus Daniel Lewerenz und Söhne war in Danzig um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gegründet worden, aber verschiedene seiner Vorfahren waren bereits viel früher urkundlich nachweisbar. Es hatte seinen Wohlstand mit dem landesüblichen Holz- und Getreidehandel begründet und hatte sich bis in unsere Tage dieses als unerschütterlich geltende Fundament erhalten. Etwa um 1800, wie gesagt, hatten es besonders die Frauen des Hauses Lewerenz für unerläßlich gehalten, Landbesitz zu erwerben, um der patrizischen Stellung der Familie durch die Inhaberschaft eines Rittergutes auch nach außen hin den gebührenden Glanz zu verleihen. So war Barkoschin an die Lewerenz gelangt. Es wurde Brauch in der Familie, daß Barkoschin den jüngeren Söhnen des Hauses zur Nutznießung diente, ansonsten aber Familienbesitz blieb. Da es ähnlich so auch mit der Firma selbst gehalten wurde und jeweils der Älteste nur dem Namen nach der Chef des Hauses, für die Führung der Geschäfte aber allen übrigen verantwortlich war, so konnte dieser Betrieb als eine Art von Familienaktiengesellschaft gelten, wie sie ja öfter in alten Häusern vorkommen.
Erschwernisse und Zwistigkeiten konnten dabei unter den oft sehr verschiedenartigen Charakteren nicht ausbleiben. Das Ende war, daß man vor etwa vierzig Jahren diese Art von Familiengemeinschaft aufgehoben und die entfernteren Verwandten auf gütlichem Wege abgefunden hatte. Es traf sich dabei günstig, daß die Hauptlinie des Hauses Lewerenz, das Los aller alten Geschlechter teilend, nur noch auf wenigen Augen stand. Theodor Lewerenz, der damalige Chef des Hauses, traf die letztwillige Verfügung, daß von seinen beiden Söhnen Benno, der ältere, das altberühmte Handelshaus weiterführen, dagegen Waldemar, der jüngere, das Rittergut Barkoschin überkommen solle, um mit dessen Erträgnissen die für die jüngeren Söhne selbstverständliche Juristenlaufbahn einzuschlagen.
Benno war nach den üblichen Lehr- und Wanderjahren, vor allem in England und Übersee, als Teilhaber in das väterliche Handelshaus eingetreten und hatte dem schon früh kränkelnden Vater die Hauptlast des Geschäftes abgenommen. Hier schien also die Rechnung des alten Herrn – er war es schon mit fünfzig Jahren – bis auf die letzte Dezimalstelle zu stimmen. Das eigentliche Sorgenkind der Eltern, dann – nach dem frühzeitigen Tode der Mutter – des Vaters allein, war Waldemar gewesen. Nicht etwa, daß es ihm auf dem Gymnasium an Begabung oder an Fleiß gefehlt hätte; aber schon damals hatten die Lehrer des Knaben einen nicht unbedenklichen Hang zur Träumerei in ihm entdeckt.
Studienjahre an verschiedenen Universitäten, die entscheidenden in München und Berlin, waren gefolgt. Der junge Jurist hatte neben den vorgeschriebenen Kollegs sich viel mit Philosophie, Ästhetik, Kunst- und Literaturgeschichte abgegeben, hatte die kleinen und die großen, die Zwischen- und die Endprüfungen glücklich und über dem Durchschnitt bestanden; sonach wäre für eine verheißungsvolle Beamtenlaufbahn alles aufs beste angelegt gewesen. Aber auch hier wieder hatten aufmerksame Beobachter unter seinen juristischen Lehrern oder Vorgesetzten dem angehenden Referendar, späteren Assessor eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die juristischen Grundbegriffe schon vom Gesicht abgelesen. Der übermittelgroße, schlanke, junge Mensch mit dem steinfarbenen, graublonden Haar schien stets ein bißchen abwesend, stets ein bißchen zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, wie jemand, der sich immerfort um seine eigene Achse dreht und von den Dingen der Außenwelt eigentlich nichts wahrzunehmen scheint. Wie er dann doch zwischen all den juristischen Klippen hindurch in den Hafen des glücklich bestandenen Staatsexamens gelangt war und auch oft genug Proben einer scharfen Beobachtungsgabe in praktischen Fragen ablegte, dies war das Überraschende für alle, die mit Waldemar Lewerenz beruflich oder freundschaftlich zu tun gehabt hatten.
Wieder wurden so manche abträgliche Prophezeiungen über ihn zuschanden, als er nach dem notwendigen Vorbereitungsdienst in das Auswärtige Amt berufen und einer Überseeabteilung zugewiesen wurde. Man hatte damit einem besonderen Ansuchen von Lewerenz stattgegeben. Auch in ihm, dem jüngsten Sprossen der alten Kaufmanns- und Seefahrerfamilie, meldete sich die durch Jahrhunderte überkommene Unruhe des Blutes. Eine nie erblickte und doch der heimlichen Sehnsucht wohlvertraute Ferne lockte mit Gefahr und Abenteuer, mit leuchtenderen Farben, mit heißeren Augen, mit einer wohltätigeren Sonne.
Vielleicht lag hier auch der tiefste, Lewerenz selbst kaum bewußte Grund, warum seine Ehe mit der schönen Sabine Ortland nicht hatte von Bestand sein können. Es war eigentlich eine Liebesheirat gewesen. Lewerenz hatte sie bald nach seinem Eintritt in den Staatsdienst geschlossen, nicht gerade gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters und seiner Familie, aber auch nicht zu deren besonderer Zufriedenheit. Sabine Ortland stammte aus kleinstädtischen Verhältnissen. Ihre Vorfahren waren ehrsame Handwerker und Ackerbürger gewesen, nicht ohne einen gewissen Wohlstand, der ihrem Vater erlaubt hatte, seine Tochter früh nach Berlin auf die Schule zu schicken. Sie hatte bei Verwandten gewohnt, denen sie eine kleine Pension bezahlte. Auch als sie erwachsen war, hatten die Mittel gerade hingereicht, ihr eine bescheidene Unabhängigkeit zu sichern.
Sie war mit ihren großen, dunkelbraunen Augen, deren rätselvoller Schimmer aus dem mystischen Urgrund der Seele zu kommen schien, mit ihrem weinrot-kastanienbraunen Haar und mit den zarten Farben ihres weichen, ovalen Gesichts ein auffallend hübsches Mädchen, das sich vielleicht einmal zur Schönheit entfalten würde. Aber Schönheit ist nicht nur eine Gnade und ein Geschenk. Schönheit kann auch oft genug zum Verhängnis werden. Schon als Sabine siebzehn Jahre alt war, liefen ihr die Männer auf der Straße nach. Sie war, trotz ihrer Berliner Schulerziehung, in gewissen Dingen noch immer ein naives Kind der Kleinstadt geblieben, nahm alles, was man ihr sagte oder vorhielt, blutig ernst, war durch jedes auch nur andeutende Wort in tiefster Seele verwundet und verschloß sich immer mehr in ihren inneren Bezirk, je weniger sie sich von den anderen verstanden glaubte.
Natürlich waren auch ernste Bewerber des schönen Mädchens da. Sie wollte von keinem etwas wissen, schlug alle Anträge aus und zog sich nun wiederum den Unwillen der ewig nörgelnden Verwandten zu.
Sabine mußte ihr Herz sprechen lassen. Sie sagte es sich nicht mit klaren Worten, aber sie war ganz von dem Gefühl durchdrungen, daß es kein anderes Gesetz für sie geben dürfe. In einer Zeit, wo die meisten jungen Mädchen ihrer Altersklasse, Freundinnen und frühere Mitschülerinnen, entweder sehr ungebundene oder sehr praktische Vorstellungen über Liebe, Ehe, Verhältnisse an den Tag legten, huldigte Sabine einer Gefühlsromantik, die ihrer ganzen Umgebung unbegreiflich erschien. Zum wenigsten war sie ein Luxus, der nicht geduldet werden dürfe. Es war eine harte und dunkle Zeit für Sabine, voll Nadelstichen, Demütigungen, Schikanen. Aber Sabine ertrug es, weil sie es nicht anders wußte, als daß sie sich die Reinheit des Herzens bewahren müsse.
Und dann war eines Tages Waldemar Lewerenz in ihr Leben getreten. Eine zufällige Begegnung irgendwo in der märchenhaften Stadt, die wie eine ungeheure Lotterietrommel die Lose von Millionen in sich beherbergte und sie mit jeder Umdrehung ihres kunstvollen Mechanismus wahllos, millionenfach durcheinanderwirbelte. Sabine liebte zum erstenmal. Ihr war, als sei plötzlich die Welt um sie herum in Flammen aufgegangen und sie befinde sich mit dem Geliebten allein in der Schöpfung, das erste und zugleich das letzte Menschenpaar. Sie konnte nicht begreifen, daß sie schon vordem gelebt hatte und daß sie nach diesem, wenn es denn einmal enden müsse, noch werde leben können. Sie hatte bis zu ihrem neunzehnten Jahre nichts von ihrem Herzen gewußt. Jetzt war nichts mehr in ihr als das Gefühl dieses Herzens, diese einzige und einmalige Liebe, an die sie sich ganz und für immer verschenken wollte. Schon in der ersten Minute jener Begegnung mit Lewerenz hatte der Blitzstrahl des Wunders ihre Seele getroffen. Alle Herbheit, Sprödigkeit, Eigenwilligkeit ihres Wesens war mit einem Schlage in seinem Feuer dahingeschmolzen. Durch und durch verwandelt, als ein ganz neuer, sich selbst wesensfremder und dennoch – hier eben war das unbegreifliche Wunder – mit diesem fremden, neuen Wesen bereits völlig eins gewordener Mensch verließ Sabine den Ort ihres ersten zufälligen Zusammentreffens, eine kleine Vorstadtkonditorei.
Vielleicht war es doch nicht so ganz zufällig, daß Lewerenz den Platz neben dem schönen Mädchen gefunden hatte, nachdem ihn die Unruhe seines Blutes wieder einmal, wie so oft, von der Arbeit fortgetrieben und durch halb Berlin nach dem Rosentaler Viertel versprengt hatte. Mehr Frauenkenner als Frauenliebling, der er war, hatte er, als seine Augen über das schwatzende und gaffende Sonntagspublikum der Konditorei hinglitten, sofort in der Fülle gleichgültiger Alltagsgesichter das eine und einzige Menschenantlitz herausgefunden, um dessentwillen es sich lohnte, von der Arbeit aufgesprungen und wie besinnungslos durch die Straßen gerannt zu sein. Auch auf ihn war mit dem ersten Anblick Sabines eine Feuergarbe jenes Blitzstrahls niedergefahren und hatte sein Innerstes um und um gewühlt.
So war es gekommen. Noch ehe sie das erste Wort zusammen sprachen, hatten die beiden sich ineinander verliebt. Wo hörte hier der Zufall auf? Wo fing das Walten des persönlichen Geschicks an? Lewerenz legte sich nachmals oft diese Frage vor, aber er konnte nie zu Ende mit ihr kommen, ein so gewiegter Psychologe und Selbstbeobachter er auch war.
Die beiden Menschen waren ein Paar geworden; nicht vor dem Gesetz, aber vor ihrem Gewissen. Lewerenz gehörte nicht zu jener weitverbreiteten Art von Männern, die in der Hingabe einer Frau so etwas wie einen Makel erblicken. Aber er wußte nur zu gut, wie man in seinen Kreisen über derartige Beziehungen dachte. Seiner ganzen Natur nach neigte er mehr zur Anschauung und Betrachtung als zum aktiven Handeln. Aber er war nicht gesonnen, das Mädchen, das er liebte und das sich ihm mit aller Reinheit seiner Seele geschenkt hatte, vor den Menschen herabwürdigen und zum Opfer der öffentlichen Klatschsucht werden zu lassen. Sabine wäre es gleich gewesen, wie man über sie urteilte. Sie überließ sich ganz nur ihrem entfesselten Gefühl und zweifelte nicht, daß es sie schon den richtigen oder wenigstens den notwendigen Weg geleiten werde, mochte er auch an Abgründen entlang führen oder gar darin enden. Die Stimme des geliebten Mannes gab natürlich den Ausschlag für sie: es sollte, wenn möglich, niemand von ihren Beziehungen erfahren. Erstes Gebot war, sich nicht zusammen in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. In der Tat gelang es Lewerenz, das Verhältnis mehr als zwei Jahre geheimzuhalten.
Aber das Leben steht nicht still. Gerüchte und Klatschereien tauchten auf. Man wurde eben doch beobachtet. Das tausendköpfige Ungeheuer der öffentlichen Meinung hatte seine Augen überall, selbst da, wo man am sichersten vor ihm zu sein glaubte. Überraschend plötzlich kam der Moment, wo klare Entscheidungen fallen mußten: Heirat oder Trennung. Denn die dritte Möglichkeit, das Verhältnis nun in aller Öffentlichkeit fortzusetzen, glaubte Lewerenz vor der Geliebten nicht verantworten zu können. Er entschloß sich schnell, noch ehe die Geschichtenträger, vor allem die Herren Kollegen im Amt, richtig Zeit gefunden hatten, ans Werk zu gehen. Eines Vormittags standen Lewerenz und Sabine vor dem Standesbeamten in der Genthiner Straße.
Hätte man nicht überzeugt sein müssen, daß ein Liebesbund, auf solche Weise begonnen und vollendet, alle Gewähr einer glücklichen Dauer in sich tragen werde? Und doch sollte der Verlauf der Entwicklung sich ganz anders gestalten. Die Gründe dafür waren von allem Anfang an im Charakter der beiden Menschen vorgezeichnet gewesen. Die äußeren Umstände hatten nur bisher ihre Entfaltung verhindert oder doch nicht begünstigt.
Erst jetzt im gleichförmigen Nebeneinander der gemeinsamen Häuslichkeit, unter dem eintönigen Tropfenfall der aufeinanderfolgenden Tage wurde es anders. Lewerenz und Sabine begannen sich zu erkennen, wie einst den ersten Menschen gegenseitig die Augen über sich aufgegangen waren, als sie von der verbotenen Frucht genossen hatten. Sabine war eifersüchtig, und Lewerenz gab ihr auch öfters Veranlassung dazu, so sehr er es ihr gegenüber und schließlich auch vor sich selbst bestritt.
Von jeher hatte unter den Urelementen seines Wesens die Phantasie die Vormacht gehabt. Sie hatte ihm ferne Länder, fremde Völker, vergangene Kulturen, weitentlegene Zeitalter in einem unwirklichen Zauberlicht erscheinen lassen, vor dem alle Gegenwart verblaßte, jeder augenblickliche Besitz oder Genuß seinen Reiz verlor. Wo du nicht bist, dort ist das Glück! Dieser Sinnspruch, den er irgendwann einmal gelesen hatte – es war sehr lange her –, hatte ihm nie aus dem Sinn kommen wollen. War es nicht ähnlich so auch mit seinem Verhältnis zur Frau, richtiger vielleicht zu den Frauen? Zur Vielheit der Frauen, die dann doch wieder eine Einheit war? Also zum Frauengeschlecht überhaupt?
Sabine verstand ihren Mann immer weniger. In jedem Wort, jedem Blick, die er einer anderen schenkte, empfand sie eine Untreue gegen sich selbst, einen Verrat am Heiligsten, was sie hatte: an ihrer Liebe zu diesem Manne, dieser einen einzigen, großen, alles erfüllenden Liebe. Sie war ihr Leben, ihr Schicksal geworden, ihr Anfang und ihr Ende. Vorher war nichts gewesen, und nachher konnte nichts mehr kommen, dies war von Gott so bestimmt. Und jetzt war er es, dieser selbe, trotz allem noch immer blindlings geliebte Mann, der verklärte Held ihrer Mädchenträume – er war es, der sie verriet, der alles in ihr zertrat und den sie fortan hassen mußte, wie sie ihn vordem geliebt hatte. Und dies war kein leeres Wort für sie. Sabine konnte von ganzer Seele hassen, wie sie von ganzer Seele liebte. Eigentlich war es nur die Kehrseite eines und desselben Gefühls. Eine Stunde kam, in der Sabine dies mit Schrecken erkannte.
Wieder wurde es mit ihr, von außen gesehen, wie in den Tagen ihrer Mädchenzeit, ehe jener Blitz aus der Hand des Ewigen niedergezuckt war und ihre Seele um und um geschmolzen hatte. Sie erschien im letzten Abschnitt dieser Periode den Menschen, die sie sahen, dem Kreise, in dem sie verkehrte, nicht zuletzt auch Lewerenz selbst oft fremd und unbegreiflich. Und je bestimmter ihr selbst diese Meinung der anderen über sie zum Bewußtsein kam, desto mehr bestärkte und verhärtete sich ihr Trotz gegen jene anderen und vor allem gegen den gehaßten und dennoch ewig geliebten Mann. Niemand wußte, wie ihr zumute war. Niemand drang bis zu den Toren vor, die das Geheimnis ihrer Seele hüteten. Gut! So wollte sie es ihr Leben lang für sich behalten, und wenn sie die Zähne zusammenbeißen mußte! Sie war in diesen Jahren eine schöne Frau geworden, aber es war die Unnahbarkeit einer Amazone um sie, die die Männer gleichzeitig anzog und abschreckte.
Dieser Zustand der Schwebe, des Schweigens, der immer zunehmenden Zurückhaltung und Entfremdung zwischen Waldemar und Sabine währte drei Jahre. Es war jene üppigste deutsche Zeit, nicht lange vor dem großen Kriege. Alle Welt wetteiferte in Wohlleben und Luxus miteinander. Die im Reichtum schwimmende Hochfinanz ging natürlich voran. War es nicht selbstverständlich, daß die hohen Beamtenkreise dem Beispiel folgten? Den Angehörigen des Auswärtigen Amtes oblag es schon von Berufs wegen, größere gesellschaftliche Aufwendungen zu machen.
Auch im Hause Lewerenz ging es oft lebhaft und festlich zu. Man pflegte, wie es die Umstände mit sich brachten, weniger den kleineren Familienverkehr als den großen gesellschaftlichen Umgang von ausgesprochen repräsentativem Charakter. Der Frack und die große Abendtoilette neben der selbstverständlich herrschenden Uniform und der flimmernden Ordenspracht der exotischen Diplomatie verliehen diesen Abendeinladungen und Bällen die äußerlich bestimmende Note.
Lewerenz galt als ein Mann von künstlerischem Geschmack und starken literarischen Neigungen, das wußten seine Kollegen und Vorgesetzten schon lange. Worüber man sich wunderte, das waren die gesellschaftlichen Talente, die Sabine entfaltete. Es war ja doch schon ein heimliches Geflüster über die Beziehungen der beiden gewesen. Sabines Herkunft aus kleinen, bürgerlichen Verhältnissen stand ohnehin fest, wurde von ihr und Lewerenz auch nicht einmal verborgen gehalten. Als nun Sabine sich schnell in ihre Rolle hineinfand und mit großer Sicherheit in diesem maßlos skeptischen und ironischen Kreise sich bewegte, war zuerst des Kopfschüttelns und Nichtbegreifenwollens kein Ende. Aber Sabines gute Haltung, ihr sicheres Gefühl, ihr untrüglicher Takt halfen ihr über diese erste und schwerste Zeit des Klatsches und der Nachrede hinweg. Den Sieg entschied, wie natürlich, ihre Schönheit, ihr Reiz als Frau. Die spöttischen Zungen der Männer verstummten schnell. Etwas länger dauerte es bei den Damen. Aber auch sie wurden allmählich still. Der Ehebund zwischen Waldemar und Sabine Lewerenz war zu einer feststehenden, nicht mehr abzuleugnenden Tatsache geworden.
Und doch: um dieselbe Zeit, wo sich die Anerkennung der Lewerenzschen Liebesheirat in der Gesellschaft vollzogen hatte, war die Ehe der beiden Menschen innerlich beinahe völlig zerstört. Vor der fernerstehenden Öffentlichkeit galt ihre Ehe noch lange als ein mustergültiges Beispiel. Die Freunde des Hauses blickten freilich tiefer. Sie sahen, wie Waldemar und Sabine sich immer mehr aus dem Wege gingen, aneinander vorbeisprachen, jeder sein eigenes Leben lebte.
Und eines Tages war es zu Ende. Von beiden längst geahnt, oft ersehnt und dann doch gefürchtet kam der Bruch, wie meistens in solchen Fällen, von einer unerwarteten Seite und ganz überraschend. Lewerenz hatte seine Ernennung zum Legationsrat bei der Gesandtschaft in Tokio erhalten. Man war lange auf so etwas vorbereitet gewesen, es war eine Etappe in der vorgesehenen Laufbahn. Dann hatte sich die Versetzung immer wieder hinausgezögert; als jetzt das amtliche Schreiben ins Haus kam, war es beinahe wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Einer von Lewerenz' Freunden machte daraufhin im größeren Kreise zu dem neuen Legationsrat Bemerkungen über den Liebesmarkt in Yoshiwara, den kennenzulernen sich ihm nun hinreichende Gelegenheit bieten werde, und Lewerenz gab eine seiner ironischen Antworten, die man wohl auch als Zustimmung deuten konnte. Bereits am nächsten Tage wußte es Sabine. Ihr Entschluß, mit dem sie schon lange gerungen hatte, stand von diesem Augenblick an unerschütterlich fest. Ihr Mann sollte allein nach Japan gehen. Sie wollte ihn freigeben, wollte ihn unbeschwert, ledig jeder Fessel seine Straße in die Welt ziehen lassen: so wie er es sich längst, davon war sie überzeugt und ließ sich nicht davon abbringen, ja, wie er es sich längst ersehnt und erträumt hatte.
Die entscheidende Stunde kam schnell. Sabine sagte Waldemar alles, was sie auf dem Herzen hatte. Aber es erleichterte sie nicht. Es verhärtete ihren Trotz nur um so mehr. Ja, wäre nur ein einziges liebendes oder um Verzeihung bittendes Wort aus seinem Munde gekommen! Vielleicht wäre sie ihm noch jetzt um den Hals gefallen, und alles wäre vergessen gewesen. Aber nichts dergleichen geschah. Nur in seinen Augen hatte etwas gestanden ... War es Liebe, Reue? War es Bitterkeit, Trotz? Sabine bedachte nicht, ja sie wollte nicht einmal bedenken, daß eben das, was ihr selbst den Mund verschloß, auch ihm, dem Geliebten, Angefeindeten, nun für immer Verlorenen, die Lippen versiegelte. Diese beiden Menschen, die in zwei ganz verschiedenen Sprachen zueinander redeten, vielmehr in ihnen schwiegen, hätten nur auf ein Wörtchen der einen, urewigen Elementarsprache des Herzens zu kommen brauchen, und alles hätte noch Verstehen und Harmonie werden können. Aber vielleicht müssen Lebensläufe, wie Flüsse und Ströme auf diesem Stern, einander noch so nahe, doch immer wieder sich voneinander entfernen, um schließlich erst in dem ewigen Meer sich ganz und für immer zu vereinigen.
Waldemar und Sabine kamen überein, fortan getrennt voneinander leben zu wollen. Man wünschte keine Scheidung. Man wollte nur eine Trennung, wozu ja die Verhältnisse die einfachste und selbstverständlichste Handhabe boten. Lewerenz würde in Japan sein oder wohin sonst ihn der Wirbelwind des Außendienstes verschlüge. Sabine wollte nach Barkoschin gehen, dem Stammgut ihres Mannes, wo sie die glücklichsten Wochen ihrer jungen Ehe mit ihm verlebt hatte. Waldemars alter Oheim Julius, ein Inventarstück des Hauses Lewerenz, waltete dort an Stelle des fast immer abwesenden Gutsherrn als Administrator und wirtschaftete mit seiner vierzigjährigen Erfahrung das Menschenmögliche aus dem zwar großen, aber doch von der Natur nur karg bedachten Besitz heraus.
Lewerenz reiste nach Japan ab. Der Abschied zwischen den beiden Ehegatten war kühl und förmlich. Es war zuviel Bitternis in dieser Stunde, als daß es anders hätte sein können. Der hochherrschaftliche Haushalt in der Regentenstraße, wo sie tief in Gärten gewohnt hatten, wurde aufgelöst. Sabine ging nach Barkoschin. Trotzig, verschlossen, menschenfeindlich, wie sie in der letzten Zeit geworden war, sehnte sie sich nach Einsamkeit, nach Stille, Selbstbesinnung und vermied, so gut es ging, den Verkehr mit den Nachbarn.
Nur mit Onkel Julius verstand sie sich ausgezeichnet. Es war schon damals, als sie in Barkoschin ihre Flitterwochen verbracht hatte, eine Freundschaft auf den ersten Blick gewesen. Bei der sehr kritischen Veranlagung des scharfzüngigen, alten Herrn konnte sich Sabine etwas auf diesen Erfolg einbilden. Julius Lewerenz war eins von jenen jüngeren Mitgliedern des Hauses gewesen, denen in dem früheren Stande der Dinge das Erträgnis von Barkoschin gewissermaßen als Leibrente zugestanden hatte. Nach der vor einem Menschenalter erfolgten Abfindung und Neuordnung hatte Julius Lewerenz die Verwaltung des Gutes übernommen und sie zuerst für Theodor Lewerenz senior, nach dessen Tode für Waldemar Lewerenz bis zu diesem Tage geführt. Beide, Vater und Sohn, hatten sich ja um Barkoschin nicht kümmern können und wären ohne Onkel Julius auf fremde Hilfe angewiesen gewesen.
Waldemar Lewerenz blieb zwei Jahre in Tokio, ging dann als Konsul nach Tientsin, und hatte gerade seine Versetzung nach Buenos Aires erhalten, als der Weltkrieg ausbrach. Während der drei Jahre, die er in Ostasien zubrachte, hatte sich, zuerst stockend und zögernd, dann offener und häufiger, ein Briefwechsel zwischen ihm und Sabine entwickelt, der schließlich den Ton ehrlichen Vertrauens, herzlicher Kameradschaft annahm. Von wem der Anstoß dazu ausgegangen war, wußten beide nachher nicht mehr zu sagen oder wollten es sich nicht eingestehen. Vielleicht hatte Lewerenz ein erstes Lebenszeichen von unterwegs geschickt, vielleicht war um die gleiche Zeit ein kurzer Wirtschaftsbericht von Sabine abgegangen; irgendwo im Indischen Ozean, vielleicht zwischen Colombo und Singapore, hatten die Schiffe sich gekreuzt, die zwischen den beiden Botschaft hin- und hertrugen.
Waldemar Lewerenz hatte es unternommen, als China mit in den Krieg eintrat, sich von Ostasien nach Deutschland durchzuschlagen. Er hatte Glück und gelangte im Frühling des zweiten Kriegsjahres in die Heimat, gerade noch rechtzeitig genug, um an dem großen Vorstoß in Galizien und am Durchbruch bei Tarnow-Gorlice teilzunehmen. Aber der Aufregungen und Strapazen der letzten Monate waren zu viele gewesen. Seine niemals allzu feste Gesundheit hatte stark darunter gelitten. Er erkrankte und mußte längere Zeit erst im Feldlazarett, dann im heimatlichen Spital eine Lungenentzündung mit ihren Folgen auskurieren.
Der mehrwöchige Erholungsurlaub hatte ihn zum erstenmal wieder mit Sabine zusammengeführt. Die Begegnung fand in Berlin statt. Waldemar machte dort auf dem Wege nach Barkoschin halt. Sabine wiederum, die bei der Ankündigung von Waldemars Kommen Barkoschin verlassen hatte, wollte für eine Zeitlang in Berlin Aufenthalt nehmen. Das Zusammentreffen zwischen den beiden Ehegatten war in der ersten Stunde etwas beklommen, wurde dann wärmer, ungezwungener, ohne doch über den kameradschaftlichen Ton hinauszugelangen. Sie hatten sich vier Jahre nicht gesehen. Waldemar fand Sabine schöner als vordem. Sie hatte sich in diesen Jahren der Einsamkeit, der Abseitigkeit erst voll entfaltet. Aber auch ihre Herbheit, Verschlossenheit, Sprödigkeit schien noch gewachsen zu sein. Etwas Neues hatte sich entwickelt, was Lewerenz überraschte. Man hätte es als eine gewisse Bodenständigkeit und Landfrauenart bezeichnen können. Man spürte in allem, was sie sagte, die Tapferkeit und Entschlossenheit der Gutsbesitzerin, die es mit ihrer Verantwortung ernst nahm.
Wenn sie auf diese Fragen zu sprechen kam, so verlor sich sogar ihre sonst gewohnte Zurückhaltung und Schweigsamkeit. Die Züge der »Marmorbraut« belebten sich (dies war der Spitzname, den man ihr auf den Nachbargütern gegeben hatte), sie konnte sich sehr lebhaft und temperamentvoll über dies alles auslassen. Im fortwährenden Verkehr mit Onkel Julius hatte sie viel gelernt und sich seine praktischen Erfahrungen zunutze gemacht. Wenn die beiden nicht die Zügel fest in der Hand gehalten, fremde Leute statt dessen in Barkoschin gewirtschaftet hätten, so hätte Lewerenz bei seiner Rückkehr vielleicht eine zusammengebrochene Wirtschaft vorgefunden.
Waldemar und Sabine schieden nach diesen Berliner Tagen als gute Freunde und Kameraden. Warum es nicht mehr wurde? Warum der geheime Unterton, der manchmal schalkhaft in ihren höchst sachlichen Gesprächen über Milchwirtschaft und Rübenschnitzelverwertung hervorblinzelte, nicht als siegreicher Sonnenstrahl die Nebelschwaden dieses nun schon viele Jahre währenden Herbstes ihrer Seelen durchbrechen konnte? Vielleicht hätte es, wie damals, als Lewerenz die Reise nach Japan antrat, nur eines kleinen, schlichten Wörtchens, nur eines Blickes, nur einer instinktiven Bewegung bedurft, um sie wieder zueinanderzuführen. Aber weder damals noch jetzt wurde das Wort gesprochen, kam es zu dem einen lösenden Blick, zu der alles erklärenden, alles beschließenden Umarmung. Zweimal hatten die beiden Menschen, die doch geglaubt hatten, füreinander geboren zu sein, den richtigen Augenblick des Wiederfindens versäumt. Würde er noch jemals von neuem erscheinen?
Lewerenz' diplomatische Fähigkeiten hatten sich in Tokio und Tientsin aufs beste bewährt und waren auch höheren Orts anerkannt worden. So kam es, daß er nach seiner Wiederherstellung von der Obersten Heeresleitung für besondere Dienstleistungen angefordert wurde. Ein unstetes, nicht immer gefahrloses Wanderleben begann und währte bis zum Kriegsende. Bald tauchte er in geheimer Mission in Wien oder Sofia auf, dann wieder in Bern. Er war sogar einige Tage in England. Er hatte schon in seinem Danziger Kaufmannshause Englisch gelernt und sprach es wie seine Muttersprache. Trotzdem wäre es ihm beinahe an den Kragen gegangen. Er entkam nur wie durch ein Wunder. Aber dies war ja die Erfahrung, die er schon so oft in seinem Leben gemacht hatte. Das Wunder oder dasjenige, was wir so nennen, weil wir zufolge der unzureichenden Spannweite unserer irdischen Erkenntnis seine geheime Verflechtung mit unserem Geschick nicht mehr zu durchschauen vermögen – das Wunder war ihm mit einer Art von unbegreiflicher Zuverlässigkeit noch immer zur Seite getreten, wenn es wirklich am notwendigsten war und auch nicht der geringste Lichtschimmer mehr sich in dem finsteren Labyrinth seines Schicksals gezeigt hatte. Dann war dieser Schutzengel, diese Fee oder wie man es bezeichnen wollte, plötzlich von der Höhe herabgestiegen oder aus der Tiefe emporgetaucht; ein ungewiß phosphoreszierendes Licht gleichsam hatte die verzweifelte Finsternis erhellt und ihn auf eine nicht mehr erhoffte Weise ins Freie geführt. Gerade das Kriegserlebnis in England bestätigte ihm auf das nachdrücklichste jene schon früher gemachte Erfahrung, an die er doch mit nüchternen Sinnen nie so recht hatte glauben wollen. Immer fester verwurzelte sich in Lewerenz das Gefühl, daß wir nicht nur aus dem Geheimnis kommen und wieder in das Geheimnis eingehen, sondern daß auch die Spanne dazwischen, unser Leben, vom tiefsten Geheimnis umgeben ist.
Lewerenz hatte seine politisch-diplomatische Aufgabe während der letzten düstersten Periode des Krieges öfters nach Wien und München geführt. Besonders in Wien hatte er herzbeklemmende Studien für den bevorstehenden Zusammenbruch machen können. Das Gespenst des Hungers schlich durch die Straßen, man begegnete ihm auf Schritt und Tritt. Erschütternd war in den nebligen Morgenstunden dieses letzten Kriegsherbstes der Anblick der in Reih und Glied geformten, von Wachleuten kommandierten Menschenhaufen vor den Bäckertüren: Männer in abgerissenen, geflickten, zerflederten Anzügen, die fast schon Lumpen waren, Frauen in Umschlagetüchern oder armseligen, zerschlissenen Kleidchen.
Lewerenz' Aufgabe brachte es mit sich, daß er auch viel in Literaten- und Pazifistenkreisen zu verkehren hatte. Er hatte bald die Erfahrung machen können, daß beides ungefähr gleichbedeutend war. Nicht wenige von diesen schreibenden und dichtenden Pazifisten trugen noch die militärische Uniform, hatten teilweise sogar Offiziersrang und füllten die Schreibstuben des Kriegspressequartiers. Von ihnen hörte man die lautesten und heftigsten Reden gegen den mörderischen Krieg.
Lewerenz war nicht der Mensch, der die furchtbare Last der Zeit auf die leichte Achsel nahm. Er hatte genug des Grauens gesehen und erlebt, um nicht den Gedankengängen seiner pazifistischen Bekannten ihre theoretische Berechtigung zuzuerkennen. Aber er glaubte aus dem bisherigen Verlauf der Menschengeschichte auch nicht den leisesten Anschein einer Hoffnung entnehmen zu können, daß es mit der Menschennatur jemals werde anders werden. War der Krieg denn im Grund wesensverschieden von den übrigen Gottesgeißeln, die in kleineren oder größeren Zeitabständen immer wieder über die Menschheit dahinfegten? War er, nur aus geistiger Quelle stammend, nicht ebenso eine Seuche wie jene anderen, die Welt verpestenden und dezimierenden Seuchen körperlicher Natur? In den verräucherten Ecken, auf den verschmutzten Polstersofas der alten Wiener Kaffeehäuser, wo die uniformierte und nicht uniformierte Boheme ihre Stammsitze hatte, wurde Abend für Abend bis zur Polizeistunde über diese Fragen gestritten, ohne daß man jemals zu einem schlüssigen und beweiskräftigen Resultat gekommen wäre. Oft wurden diese Symposien noch in irgendeinem Privatquartier fortgesetzt. Man stieg in den imposanten Mietshäusern des Ringstraßenviertels vier oder fünf Marmorstiegen hinauf, drang in den nächtlichen Frieden einer Familie ein und lagerte sich auf den vorhandenen Sitzgelegenheiten. Die aufgescheuchte junge Frau oder Freundin hatte Kaffee zu kochen. Auch an Schnäpsen und einem anständigen Tropfen Wein fehlte es trotz der Not der Zeit noch immer nicht. Dann wurde über Krieg und Pazifismus weitergestritten, obwohl eigentlich kaum Meinungsverschiedenheiten darüber waren. Später kamen Erotik und galante Abenteuer an die Reihe, natürlich nicht um ihrer selbst willen, sondern »unter weltanschaulichen Gesichtspunkten«. Auch die anwesenden Damen beteiligten sich eifrig daran.
Lewerenz hielt sich gerade in einer Sondermission in München auf, als die Nachricht vom deutschen Waffenstillstandsangebot eintraf. Es waren finstere Spätoktobertage, die er in der altvertrauten und geliebten Stadt verlebte. Sie war kaum wiederzuerkennen, hatte ihr sonst so heiteres, lebensfrohes Antlitz in finstere, drohende Falten gelegt. Ein Brandgeruch lag in der Luft, irgendwo im geheimen schien es zu knistern, zu schwelen. Überall auf den Straßen, in den Elektrischen, in Wirtschaften und Geschäften wurden lärmende und aufsässige Reden geführt. In großen Volksversammlungen wurde laut zum Umsturz aufgerufen und sein nahe bevorstehender Termin angekündigt.
Und dann war jener Novembertag da, dessen bleiche Nebelsonne das lange Erwartete geschehen sah: der König und die Regierung auf der Flucht, unbestrittener Sieg der »Revolution«. Lewerenz hatte das Ereignis bereits am Abend vorher in einem Kreise der Schwabinger Boheme voraussagen hören. Nach allem, was er selbst mitgemacht und beobachtet hatte, bezweifelte er nicht, daß die Ankündigung sich bewahrheiten werde. Er war mit seiner Nervenkraft am Ende. Diese Jahre hatten alles, was an aktiven Fähigkeiten, an handelnden Energien in ihm lebte, auf das äußerste angespannt und zur Entladung gebracht. Jetzt lechzte er nach Ruhe, Sammlung, Einsamkeit. Die gleich darauf auch in Berlin eintretende Umwälzung erfüllte in dieser Beziehung alle seine Wünsche. Neue Männer zogen in das Auswärtige Amt ein. Lewerenz erbat seinen Abschied und erhielt ihn innerhalb achtundvierzig Stunden. Der dreiundvierzigjährige Mann trat als Geheimer Legationsrat in einen vorzeitigen Ruhestand. Aber er hatte Augenblicke, wo er sich vorkam, als sei er hundert Jahre alt.
Was ich nie für möglich gehalten hätte, sagte er zu sich selbst: jetzt ist es da. Ich bin reif für Barkoschin. Ich werde meinen Kohl bauen und meine Erinnerungen schreiben. Vielleicht sind von dem Häufchen Asche, das mir von meinem Leben geblieben ist, noch ein paar Funken übrig, die es sich verlohnt anzufachen.
So kam er nach Barkoschin. Es war sein fester Vorsatz, sich für immer hier einzugraben und nach den Stürmen des letzten Jahrzehnts, nach all dem blutigen Wahnsinn, den er mitgemacht hatte, sich ganz der Einsamkeit und seinem eigenen Menschentum zu ergeben.
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Also wann soll's denn wieder losgehen mit der Reise ins gelobte Land?« fragte der kleine, alte Herr in der Pelzjoppe, der neben Waldemar Lewerenz auf dem Wirtschaftshof von Barkoschin stand und aus einem halbgefüllten Sack den Gänsen, Enten und Hühnern Getreide hinstreute. Er war breitschultrig, untersetzt, sein Kopf schien fast ohne Hals in den Schultern zu stecken, wie man es bei Buckligen und Verwachsenen sieht. Aber wer dies von Julius Lewerenz – auch Onkel Julius genannt – gedacht hätte, der wäre im Irrtum gewesen. In seiner Jugend war er von ganz geradem Wuchs und unverbildeten Gliedmaßen gewesen und hatte in dem Ruf gestanden, ein rechter Schwerenöter und Mädchenjäger zu sein. Erst die Jahre und »das verfluchte Reiß-man-tüchtig« hatten seinen Rücken wie ein Krummholz gebogen und diese sattelartige Vertiefung zwischen Kopf und Schultern hervorgebracht, die wie geschaffen schien, einen Zentnersack aufzuladen.
Onkel Julius hatte auch in der Tat in den vierzig Jahren, die er nun schon in Barkoschin, nicht als eigener Herr, immer nur im Namen eines anderen wirtschaftete, viele solcher Zentnersäcke auf seine stämmigen Schultern gehoben und sie den ziemlich weiten Weg von der Scheune zum Speicher und noch die Speichertreppe hinaufgetragen, ohne in die Knie zu knicken. Dies war ganz aus seinem freien Willen geschehen; es war niemand da, der es ihm etwa hätte befehlen können. Julius Lewerenz, wenn auch dem Namen nach nur angestellter Administrator des Gutes, war ja doch der unumschränkte Herr auf Barkoschin gewesen; wie er kommandierte, so geschah es. Aber gerade weil dies so war, deshalb hatte Julius Lewerenz, der immer mehr in die Rolle des alten Familienfaktotums hineinwuchs, es auch für seine Pflicht und Schuldigkeit gehalten, den Knechten und Instleuten, der ganzen Schar des Gesindes mit gutem Beispiel voranzugehen und besonders dem jungen, rotznäsigen Volk zu zeigen, daß es auch unter den Alten und gerade unter ihnen noch Männer von Schrot und Korn gab.
»Also wann soll's losgehen ins Vergnügen?« wiederholte der forsche, kleine Mann, der erst wenige graue Fäden in seinem borstenartig abstehenden, schwarzen Haar hatte, und zwinkerte seinen Neffen listig von der Seite an. Er mußte dazu ein Stück weit emporsehen, denn Waldemar war gut einen Kopf größer, von schlanker, biegsamer Figur. Es war keine Ähnlichkeit zwischen Onkel und Neffen. Wie jener schwarz war, so war dieser blond, was bei jenem in die Breite wuchs, ging bei diesem in die Höhe. Aber gerade diese Gegensätze schienen sich anzuziehen. Onkel und Neffe waren in den zwei Jahren ihres täglichen Beisammenseins aufs beste miteinander ausgekommen.
Waldemar Lewerenz, der belustigt den heranwatschelnden Enten, dem flatternden Hühnervolk, den kreischenden und zänkischen Gänsen zugesehen hatte, strich sich auf die wiederholte Frage des Onkels mehrmals über die Stirn und das volle, blonde Haar. Es schien eine beliebte Bewegung von ihm zu sein, wie man es bei zerstreuten, von ihren Gedanken hingenommenen Menschen häufig findet. »Ja, wann es losgeht, Onkel Julius?« sagte er, sich besinnend, als müsse er erst den Faden suchen. »Wann es losgeht? Sie wissen, ich mache nicht gern Pläne über den Tag hinaus ...«
»Merkwürdig, wie du dann zu den Antipoden gekommen bist!« unterbrach ihn Onkel Julius. »Oder sind es vielleicht nicht unsere Antipoden? Die Chinesen und die Japaner? Sie nähren sich doch von Haifischflossen und Schnepfendreck? Und zum Frühstück nehmen sie Butterbrot mit Regenwürmern!«
Lewerenz war nicht in der Laune, auf die ethnographische und gastronomische Abschweifung des Onkels einzugehen. Er kannte die bizarren Seitensprünge des alten Herrn und achtete kaum noch darauf. »Sabine kommt morgen früh an«, fuhr er fort und strich sich wieder über die Stirn. »Ich werde also höchstwahrscheinlich morgen abend abreisen. Es ist selbstverständlich, daß ich sie hier begrüße. Wir werden Zeit haben, noch alles Geschäftliche und Wirtschaftliche zu besprechen. Und abends fahre ich.«
»Piele! Piele! Piele!« machte Onkel Julius, holte eine Handvoll Gerstenkörner und dann noch eine und noch eine aus dem offenstehenden Sack und streute sie in einem weitausholenden Kreis auf den leichtgefrorenen Boden. Alles, was an Federvieh noch auf dem Misthaufen und in den entfernteren Winkeln des Hofes gesäumt hatte, kam auf diesen wohlvertrauten Lockruf des Alten kreischend hergerannt und herbeigeflattert. Gänse und Enten stürzten sich auf die Stellen, wo die Körner am dichtesten gesät waren, und zischten die etwa sich mitbewerbenden Hennen und Hähne wütend an; diese wieder balgten sich untereinander. In wenigen Augenblicken war der ganze Körnerhaufen aufgepickt, auch nicht ein Körnchen mehr zu entdecken.
»Siehst du, mein Sohn!« bemerkte Onkel Julius und schmunzelte. »So geht's in der Welt zu. Wir machen's auch nicht anders. Aber die da sind wenigstens ehrlicher. Die beißen sich gegenseitig vom Futtertrog weg, hacken sich die Augen aus und genieren sich nicht mal.«
»Kampf aller gegen alle!« murmelte Waldemar und blickte nachdenklich zu Boden. »An historischem Anschauungsunterricht hat es uns ja nicht gefehlt. Es scheint, mindestens alle Jahrhundert einmal hat eine Art von Repetitionskurs stattzufinden, damit die Menschheit nicht vergißt, woher sie stammt. Aus dem Dreck! Und wohin sie immer wieder zurück muß. In den Dreck! In Blut und Dreck und Aberwitz der Barbarei! Wir haben gerade wieder solch einen Kursus für vergeßliche Schüler durchgemacht.« Er schwieg und starrte vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Glauben Sie es mir, Onkel Julius, oder nicht! Als damals alles zu Ende war, vor zwei Jahren, und ich hier in Barkoschin landete ... Es war wie nach einem Schiffbruch ... Es war das Bewußtsein, endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Stellen Sie sich vor, fast zehn Jahre unterwegs auf hoher See, fast ununterbrochen Wind, Wetter und Sturm. Mußte mir da Barkoschin nicht wie eine von den glückseligen Inseln vorkommen, irgendwo dahinten im Stillen Ozean? Dreitausend Meilen von Yokohama weg?«
»Nur daß die Barkoschiner Marjellen nicht nackigt herumlaufen«, warf Onkel Julius ein und schmunzelte. »Es ist ja eigentlich schade! Aber das Klima ist eben nicht danach. Na, der Mensch muß sich behelfen, so wie es nun mal ist.«
Waldemar lächelte flüchtig. Er kannte die Schwäche des alten Herrn. Vor zwanzig, vor dreißig Jahren ... Man erzählte sich so dies und das ... Vielleicht war es ein Familienzug ... »Ja, Onkel Julius,« begann er, den Faden wieder aufnehmend, »ich habe mir in der Tat eingebildet, Barkoschin würde meine letzte Station sein. Es war so wundervoll, sich zu sagen, hier hast du deine Heimat! Hier bist du geboren! Hier wirst du sterben! ... Ist es nicht mehr als ein Zufall, daß ich gerade hier zur Welt gekommen bin und nicht in meinem Elternhaus am Langen Markt, wie es doch im Grunde natürlich gewesen wäre? Lag darin nicht schon eine Vorbedeutung? Sprach da nicht schon mein Schicksal mit? Und jetzt ... jetzt ...! Ich halte es nicht aus! Ich ertrage es nicht länger! Dieses zweite Ich, das neben mir herläuft und alles nachmacht, was ich selbst mache, als ob es mich äffen will, und das doch wieder nichts anderes ist als ich selbst! Nein! Ich muß fort von mir! Und deshalb muß ich fort von hier! Verstehen Sie das, Onkel Julius? Es klingt etwas verrückt. Aber das liegt ja in der Familie.« Er wandte sich ab und warf mit einer heftigen Gebärde den Kopf zurück, zum hellgrünblauen, glasigen Novemberhimmel hinauf.
»Ja, mit der Verrücktheit, mein Sohn, das stimmt auffallend«, bemerkte Onkel Julius und nickte zustimmend. »Das liegt nun mal in unserer Familie. So was liegt immer in alten Familien. Das und noch verschiedenes andere, wovon wir nicht weiter sprechen wollen.« Er schmunzelte wieder und strich sich das stopplige Kinn. »Aber was das angeht, daß du hier in Barkoschin nicht zur Ruhe kommen würdest, das hätte ich dir schon vor zwei Jahren prophezeien können, als du mit deinen Koffern und Büchern ankamst und großartig auszupacken anfingst. Mach dir nicht solche Umstände, mein Sohn, es ist ja doch nicht von Dauer! hätt ich dir sagen können.«
»So? Und warum denn nicht, wenn man fragen darf, Onkel Julius?«
»Weil ein Mensch wie du überhaupt nicht zur Ruhe kommen kann, ehe er sich nicht vollständig die Hörner abgelaufen hat. Und dafür ist doch Barkoschin nicht der Ort. Wir Lewerenzens brauchen überhaupt lange, um uns die Hörner abzulaufen. So alt ich bin, ich glaube, ich habe auch immer noch ein paar Stummel irgendwo sitzen.« Onkel Julius lachte in sich hinein – es klang ein bißchen, als wenn er bellen wollte – und warf seinem Neffen einen von seinen schlitzäugigen Seitenblicken zu. »Soll ich dir mal was sagen, mein Jung? Du brauchst eine Frau! Wir Mannsleute kommen nicht ohne Frauenspersonen aus. Und wenn sie auch alle zusammen vom Satan herstammen und den Deiwel im Leibe haben ... Es geht nun mal nicht ohne sie! Gott sei es geklagt! Es geht nicht!« Er stand breitbeinig da, wie verwachsen mit dem Erdboden, stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte unzufrieden, mißbilligend den Kopf. Waldemar musterte den Alten von der Seite. War es nicht, als sei er die Verkörperung dieser Landschaft, dieses Himmels, dieses rauhen Bodens mit seiner untersetzten, verkrümmten Gestalt im kurzen, grauen Wolfspelz, mit der grauen Pelzjacke?
»Warum haben Sie dann den guten Ratschlag nicht selbst befolgt, Onkel Julius? Sie hätten sich doch auch eine Frau nehmen können?«
Julius Lewerenz hatte ein listiges Lächeln um die tief eingegrabenen Mundwinkel. »Ich eine Frau nehmen? Vielleicht hab ich mir gedacht, eine Frau ist keine Frau. Es müßten schon ein paar sein. Na, und das geht doch nicht von Gesetzes wegen. Wir sind ja hier keine Türken. Da soll es übrigens auch schon seinen Haken haben. Na, da hab ich mir gesagt, behilft man sich eben so! Und siehst du, mein Jung, es ist auch gegangen. Sogar ganz schön.« Er schwieg ein paar Augenblicke, wandte sich dann mit einer fast unvermittelten Gebärde zu Waldemar. »Was ist denn mit Sabine los? Wann kommt sie eigentlich?«
Waldemar richtete sich auf. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Was Sie sich einbilden, Onkel Julius, und was Sie andeuten wollen, das wird niemals geschehen. Das kann niemals geschehen! Sabine kommt morgen früh von Berlin. Ich selbst fahre morgen abend nach München ab.«
Sabine war mit dem Berliner Nachtschnellzug auf der eine halbe Stunde entfernten Bahnstation eingetroffen. Waldemar hatte es sich nicht nehmen lassen, sie selbst am Zuge abzuholen. Er hielt das für eine Pflicht der Ritterlichkeit, die zu versäumen ihm gegen seine innerste Natur gegangen wäre. Es war ein nebliger Novembermorgen mit leichtem Frost. Sie fuhren in dem schon recht bejahrten Kutschwagen, dessen Fensterscheiben leise klirrten, die wellige Chaussee zur Barkoschiner Höhe hinauf, ohne allzuviel miteinander zu sprechen. Sabine war von der Nachtfahrt begreiflicherweise etwas ermüdet. Der Zug durch den polnischen Korridor neuesten Datums war überfüllt gewesen. Im übrigen sah sie ausgezeichnet aus, wie Waldemar auf den ersten Blick hatte feststellen können. Sie war schlanker als vor einem Jahre, wo Lewerenz sie zuletzt gesehen hatte. Damals hatte eine notwendige geschäftliche Besprechung zwischen ihnen stattgefunden. Lewerenz war auf zwei Tage dazu nach Berlin gefahren. Es war seine einzige größere Reise während dieser zweijährigen Barkoschiner Klausur gewesen.
Sabine war noch immer eine schöne Frau. Ja, vielleicht war erst jetzt die Zeit ihrer vollen Blüte gekommen. Es war etwas durchaus Mädchenhaftes in ihrer Erscheinung. Sie war gegen Mitte der Dreißig, aber man hätte sie, ohne zu schmeicheln, für zehn Jahre jünger halten können. Das schmale, feine Oval ihres Gesichts, das nur heute etwas bleich und übernächtig erschien, zeigte ganz weiche, zarte Pastellfarben in der Umrahmung des dunkelbraunen, leicht kastanienrot schillernden Haares. Auffallend war das kräftige, energische Kinn, es zeugte von innerer Entschlossenheit, vielleicht auch etwas von Trotz und Eigensinn. Die feine, längliche Stumpfnase und die dunklen Augenbrauen unterstrichen noch jenen Eindruck seelischer Festigkeit und Bestimmtheit. Am merkwürdigsten waren ihre tiefdunkelbraunen Augen, deren Weißes ins Bläuliche spielte. Das Urteil über diese Augen fiel ganz verschieden aus. Die einen nannten sie seelenvoll, andere wieder fanden, daß ihr Blick etwas Fremdes und Unzugängliches habe.
Nachmittags gingen Sabine und Waldemar in dem herbstlich kahlen Garten des Herrenhauses auf und ab. Die Blumenbeete waren zugedeckt, die Rosenstämme mit Stroh umflochten. An den entlaubten Ästen der Obstbäume hing es wie Tränentropfen, in denen der immer dichter werdende Nebel sich ausweinte. Kein Vogelruf war zu hören. Selbst das allezeit geschwätzige Spatzenvolk gab keinen Laut von sich. Eine tiefe Traurigkeit lastete über der Welt. Es war wie in der Sterbestunde von jemand, der unserem Herzen über alles teuer gewesen ist. Sie standen vor einem vom Sturm zerzausten, vom Frost bereiften Asternbeet. Nur ein paar hagere Stengel hielten sich noch aufrecht und schienen dem Sterben Trotz bieten zu wollen.
»Glaubst du, daß es noch jemals wieder Frühling werden kann, Sabine?« bemerkte Lewerenz und starrte auf das verwelkte Asternbeet. »Mir wenigstens ist nicht danach zumute. Es kostet mich Mühe, mir vorzustellen, daß es auch einmal anders um uns herum ausgesehen hat.«
Sabine lächelte schwach. Es war ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel mit dabei. »Die Natur wird es schon wieder schaffen. Die Natur hat es ja noch immer geschafft. Das muß uns trösten, auch wenn wir für uns selbst nichts mehr zu hoffen haben.«
»Ein schwacher Trost. Wenn es überhaupt einer ist! Was nützt es mir, daß Rosen blühen, wenn sie nicht mehr für mich duften!«
»Ja, so warst du immer, mein lieber Waldemar! Ich kenne dich nicht anders. Alle Rosen sollten nur immer für dich blühen. Der liebe Gott hatte nur immer dafür zu sorgen, daß es recht schön um dich herum blühte und duftete. Jetzt wunderst du dich, nimmst es sogar ein bißchen übel, daß es einmal aufhören soll. Auch für dich, du ewiges Glückskind!« Sabine hatte wieder ihr fremdes, zwischen Trauer und Bitterkeit spielendes Lächeln.
Waldemar schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, daß es schon aufhören soll? Es hatte ja noch kaum angefangen.«
»Gerade hast du es doch noch selbst gemeint. Weißt du es gar nicht mehr? So bist du! Eben noch, als ob nie mehr ein Stern scheinen solle! Im nächsten Augenblick strahlt die Sonne, und du hast die ganze Welt in der Tasche! Habe ich nicht recht, daß du ein Kind bist? Ein großes, sehr verzogenes, manchmal sehr grausames, sehr hartherziges Glückskind?«
Lewerenz strich sich über die Stirn, wie um lästige Gedanken abzuwehren. »Grausam? Hartherzig? Warum nennst du mich so? Ich bin es ja nicht. Ich will es jedenfalls nicht sein. Am allerwenigsten gegen dich. Das ist es doch, was du meinst?«
Sabines Lächeln war verschwunden. Ihr Gesicht hatte einen fremden, abweisenden Zug. »Bitte! Wir wollen nicht von mir sprechen. Ich möchte das nicht haben. Die paar Stunden, die uns noch bleiben, wollen wir als gute Freunde beieinander sein und uns nicht mit dummen Erinnerungen die Laune verderben.«
»Wie du willst!« erwiderte Lewerenz achselzuckend.
Sie gingen eine Zeitlang still nebeneinander her. Der frisch gestreute, sandige Kies knirschte leise unter ihren Füßen. Von den Zweigen tropfte es stärker. Sie achteten nicht darauf. Sabine hatte ihren graugrünen, verschossenen Wettermantel an, der eigens für Barkoschin bestimmt war. Sie hatte ihn schon manches Jahr hier draußen getragen, er tat noch immer gute Dienste. Sie war bereits wieder drauf und dran, sich in eine allerdings sehr mädchenhafte Landfrau zu verwandeln. Der scharfe, sprühende Atem des rauhen Novembertages hatte ihr vordem bleiches Gesicht gerötet, seine fast allzu zarten Farben vertieft.
Lewerenz blickte aus seinen Gedanken auf. »Ein Glückskind bin ich in deinen Augen? Ich? Ich habe Stunden, wo ich mich als das gerade Gegenteil davon empfinde.« Er senkte den Kopf und schwieg nachdenkend. Dann fuhr er fort: »Es ist zuviel auf mich eingestürmt, Sabine. Auch auf dich. Auf uns alle, auf die der Fluch gelegt worden ist, Kinder dieses von allen Dämonen gehetzten Zeitalters zu sein. Es ist, als ob wir nur in diese Welt hineingeboren worden sind, um alle Sünden aller vergangenen Zeitalter mit unserem Blut und mit unseren Tränen abzuwaschen.«
»Also glaubst du nicht mehr an das ... an das Wunder?« fragte Sabine nach einem Augenblick der Stille und sah ihn traurig von der Seite an. »Ich erinnere mich an eine Zeit, wo du noch ganz in dem Gefühl lebtest. Es war wie ein Stern über dir, dem du folgtest und der dich niemals verließ. Ich glaube, ich habe ihn auch manchmal gesehen, wenn es ganz dunkel um uns war und gar keine Hoffnung mehr zu sein schien. So stark konnte er leuchten! ... Also jetzt ist der auch untergegangen? So, so?« Sie nickte still vor sich hin und murmelte: »Dann ist also nichts mehr übrig von allem, was schön war in jener Zeit. Was dem Leben den heimlichen Glanz gibt. Selbst dem Alltäglichsten.«
Lewerenz blieb nachdenklich stehen. Er hatte ein Wort auf den Lippen. Aber Sabine wollte ja nicht, daß sie darüber sprächen. Soeben erst hatte sie es sich verbeten. »Mir scheint, du irrst dich, Sabine«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Er ist doch wohl noch nicht so ganz untergegangen, der Stern, wie du ihn nennst. Das Wunder. Es gehört mit zu meinem Leben. Es ist untrennbar mit drin, wie das Geäder im Marmor, das man sich auch nicht wegdenken kann, weil es gerade sein eigentliches Leben ist. An dem Tage, wo es für mich aufhören sollte, werde ich wohl selbst aufhören. Aber freilich verblaßt es manchmal. Scheint beinahe zu verschwinden. Das sind die furchtbaren Ebbezeiten, wo ich das Gefühl habe, ich bin nicht mehr, es ist aus. Solch eine Ebbezeit ist jetzt. War jetzt. Vielleicht kommt noch einmal die Flut. Wann werde ich ihr erstes, ganz fernes Brausen hören?« Er hatte, wie aus dem Unterbewußtsein, die Hand ans Ohr gelegt und schien in die Ferne zu lauschen. Aber er vernahm keinen Ton. Seine Seele schwieg wie die sterbende Natur um ihn her.
Sie gingen über das morsche Holzbrückchen, das die beiden Ränder der flachen Bachmulde miteinander verband. Das Flüßchen rieselte eilfertig zu Tal, ein dünner, sich schlängelnder Faden, der im Nebel verschwand. Hier war die Grenze zwischen Garten und Park. Jenseits ging es hügelan unter Fichten und Birken bis zu einem halbverfallenen Erbbegräbnis ganz am Ende des Parks. Waldemar und Sabine schlugen wie von selbst den Weg dorthin ein. Als sie über eine Lichtung mit einer sonst hübschen, heute vom Nebel verhängten Aussicht kamen, faßte Waldemar plötzlich Sabines Hand und sagte in einem ganz veränderten, fast übermütigen Ton: »Laß dich doch mal ansehen, meine holde Dame! Du hast dir ja einen Bubikopf schneiden lassen!«
»Bemerkst du das erst jetzt?« erwiderte Sabine mit kühlem Ton, aber leichtem Erröten.
»Ich habe es natürlich schon heute früh gesehen. Ich wartete nur auf den richtigen Augenblick, dir mein Kompliment zu machen. Er steht dir ausgezeichnet!«
»Findest du? ... Na, galant warst du ja immer. Und wenn ich wie eine Vogelscheuche aussähe, du würdest es mir immer noch versüßen. Eigentlich ist das nicht mein Fall. Mir wäre es lieber, wenn du mir aufrichtig sagtest, ob es dir gefällt, und wie du es findest.«
Lewerenz schüttelte unmutig den Kopf. »Ich scheine ja ein vollendeter Heuchler in deinen Augen zu sein.«
»Nur ein Mann von Welt, mein lieber Waldemar. Du brauchst nicht den Gekränkten zu spielen. Im Grunde schmeichelt es dir doch.«
»Ein hübsches Charakterbild, das du von mir entwirfst!« rief Lewerenz und lachte. »Aber einerlei! Der Bubikopf hat dich doch verschönt, wenn das überhaupt möglich wäre. Merkwürdig, wie er die Frauen verändert! Als ob Gott plötzlich eine ganz neue Art von Eva geschaffen hätte. Als ob alle früheren Frauengeschlechter mit einem Schlage vom Erdboden weggewischt wären. Ja, als ob sie überhaupt niemals gelebt hätten. Man begreift gar nicht, daß man jemals in eine Frau ohne Bubikopf hat verliebt sein können.«
Er lachte in einer Art von Selbstpersiflage, und Sabine lachte mit, ohne daß sie es eigentlich gewollt hätte. Sie ärgerte sich sogar ein bißchen über sich selbst.
»Es ist schön, wie du dich sofort umzustellen weißt«, meinte sie mit einiger Ironie. »Man könnte sagen, an dir sei ein Diplomat verlorengegangen, wenn du nicht schon einer wärest.«
»Gewesen wärest«, verbesserte Waldemar. »Dieses Ringes Kraft ist aus. Ich will es mit einem anderen Zauber versuchen.«
»Und von welcher Art soll der Zauber sein? Ist es ein Geheimnis?«
»Vorläufig noch ja. So lange, bis er gelungen ist. Sonst könnte seine Kraft darunter leiden. Zunächst gehe ich nach München und stürze mich in die Schwabinger Boheme. Nur keine Diplomaten! Nur keine Bürokraten! Ich muß Menschen um mich sehen! Kreaturen Gottes! So wie er sie in seiner skurrilsten Laune mit seiner Schöpferhand um sich gestreut hat.«
»Wir waren ja auch einmal zusammen dort, im ersten Jahr unserer Ehe«, warf Sabine hin. »Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst.« Ihr Ton klang sachlich und kühl.
Lewerenz hatte ein ironisches Lächeln. »Ich glaube doch, daß ich mich noch daran erinnere, meine liebe Sabine. Ich leide ja nicht gerade an Gedächtnisschwäche. Es liegen allerdings einige kleinere Vorkommnisse zwischen damals und jetzt. Zum Beispiel der Weltkrieg und der Umsturz und jetzt diese schöne Zeit, wo man mit jedem Tage reicher wird, obwohl man sich an den Kopf faßt, warum und wieso.« Er schwieg einen Augenblick, fuhr dann mit etwas gepreßter Stimme fort: »Na, und auch zwischen uns hat sich ja einiges seitdem gewandelt, wie du weißt ...«
»Ich weiß es, und es mußte wohl so sein«, bemerkte Sabine kurz und bestimmt.
»Unbedingt!« erwiderte Lewerenz im gleichen Ton. »Ich habe nie daran gezweifelt. So wie du es wolltest und noch immer willst, so war es gewiß das einzig Richtige und Bekömmliche für uns beide.«
Sabine blieb stehen und blickte ihrem Mann fest ins Auge. »Wie ich es wollte und will und auch in Zukunft immer wollen werde, mein lieber Mann!« Sie sprach mit einer ruhigen, klaren Sicherheit, ohne jeden Unterton von Bitterkeit, wie von einer als unumstößlich erkannten Wahrheit.
Lewerenz biß sich auf die Lippen und schwieg. Dann sagte er, wie nach einem ablenkenden Thema greifend: »Ich denke also, mit dem unverhofften Reichtum, der einem ins Haus schneit, ein paar hübsche und angeregte Wochen in München zu verleben. Ich habe es nötig nach dem zweijährigen Kloster, das ich mir selbst auferlegt habe. Vielleicht mache ich auch noch den Fasching mit, den es ja in diesem Winter wieder geben soll. Wenigstens schreiben es mir meine Münchener Freunde.«
»Und Freundinnen!« bemerkte Sabine etwas spitzer, als sie selbst gewollt hatte. Sie errötete wieder einmal.
Waldemar bemerkte es zufällig, ging aber mit einem ganz schwachen Lächeln darüber hinweg. »Ja, der Fasching!« sagte er. »Der Münchner Fasching! Ich habe ihn immer sehr geliebt. Damit du mich nicht mißverstehst! Weniger wegen der Abenteuer, die da vielleicht am Wege blühen. Obwohl ich mich naturlieh nicht als Heiligen hinstellen will.«
»Wirklich nicht?« erwiderte Sabine und warf die Lippen auf. »Man könnte sonst leicht auf den Gedanken kommen.«
Lewerenz richtete sich auf. »Meine liebe Sabine!« sagte er im Tone innerster Überzeugung. »Lache mich aus, wenn du willst! Aber es sind tatsächlich zuerst und vor allem die Farben, die mich am Münchner Fasching bezaubern. Das unterscheidet ihn eben von allen Karnevalen der Welt, soweit ich sie kenne. Und ich habe ja viele gesehen. Es ist nicht der Witz, der da regiert. Es ist diese flutende, leuchtende Farbigkeit.«
»Nun also!« bemerkte Sabine kühl. »Hoffentlich wirst du tüchtig in diesem Farbenorchester untertauchen, damit du dich von Barkoschin erholst, mein lieber Waldemar! Ich wünsche es dir jedenfalls von Herzen!«
Sie standen vor dem Erbbegräbnis im hintersten Winkel des Parkes. Ein rostiges, halb überhängendes Eisengitter umschloß einige von Efeu überwucherte Grabhügel. Auf einem ebenfalls verrosteten Kreuz konnte man mit einiger Mühe noch Namen und Jahreszahlen entziffern. »Nikolaus v. Werden, geb. 1605, gest. 1650.« Soviel war noch zu lesen.
»Das ist der mit den zwei Frauen«, sagte Sabine. »Nicht wahr? Nikolaus von Werden. Er wurde von seinem Sohn erschlagen. Der wollte nicht dulden, daß er sich eine Geliebte von unterwegs mitbrachte und seine Mutter zurückstehen mußte.«
»Mein Gott! Er kam aus dem Dreißigjährigen Kriege!« rief Waldemar. »Er war ein Sohn seines Zeitalters. Er war zwanzig Jahre auf dem Rücken seines Gauls über die deutsche Erde geritten! Hatte Lützen und Breitenfeld und Nördlingen und was noch alles mitgemacht! Hatte mit Troßknechten gehaust und mit Lagerdirnen geschlafen!«
»Und eine von ihnen wird er vielleicht nach Barkoschin mitgebracht haben«, sagte Sabine mit hartem Ton.
Lewerenz schüttelte den Kopf. »Wir wissen es nicht. Von dem Mädchen oder von der Frau ist nichts bekannt. In der Chronik von Barkoschin, die wir in unserem Hausarchiv haben, ist nur gesagt, daß sie in einer fremden Mundart gesprochen hat. Vielleicht war sie eine Süddeutsche. Dieser Nikolaus von Werden, der hier liegt – es wird wohl kein Stäubchen mehr von ihm übrig sein –, unser Vorgänger dahier im siebzehnten Jahrhundert, hat sich ja unterm Tilly und Wallenstein viel da unten herumgeschlagen. Vielleicht hat sich ihm da irgendein verliebtes Ding an den Hals gehängt. Es muß ja nicht alles gleich eine Dirne sein, was um der Liebe willen von Hause wegläuft. Was es nicht aushält in seinen engen vier Pfählen. Ich dächte, gerade wir beide, Sabine, sollten in dieser Frage nicht allzu strenge Richter sein.« Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.
Sabine erwiderte ihn ruhig und erhobenen Kopfes. »Du gewiß nicht, mein lieber Waldemar! Was mich betrifft ... Ich verstehe sehr gut, was du sagen willst. Ich gehöre ja auch zu denen, willst du sagen, die von Hause weggelaufen sind. Weil sie einen Mann allzusehr liebten. Weil sie glaubten, daß es nichts anderes geben könne als eben diesen einen Mann. Törichterweise!«
Waldemar mußte unwillkürlich lächeln. »Und dieses Ungeheuer war ich! Ist es zu begreifen, daß so etwas einmal hat sein können? Wie klug und weise man doch geworden ist, meine beste Sabine!«
Sabine hatte sich in Hitze gesprochen. Ihr etwas cholerisches Temperament war mit ihr durchgegangen. »Du wirst mich nicht irremachen!« sagte sie und suchte sich zu fassen. »Ich weiß ganz genau, was gewesen ist und was ich getan habe. Und was ich niemals bereuen werde. Denn was ich gehabt habe, das habe ich gehabt, und es war mein. Aber bedenke, mein lieber Waldemar, es gibt Unterschiede zwischen den Frauen und in der Liebe. Und jetzt wollen wir von etwas Hübscherem sprechen! Nur eins hätte ich gern noch gewußt ... wenn du die Chronik von Barkoschin kennst ... was steht denn über die Frau jenes ... jenes Abenteurers darin? Über die legitime? Sie war gewiß ein Drache?« Sie mußte unwillkürlich lächeln.
Auch Lewerenz lachte mit. »Nicht gerade das«, sagte er. »Aber sie hatte schwarzes Blut, wie es in der Chronik heißt. Melancholia ist das griechische Wort dafür. War es zu verwundern? Sie hatte zwanzig Jahre auf ihren Mann gewartet. Und als er zurückkam, brachte er eine andere mit, die jung war. Und sie war alt! Da stiftete sie ihren Sohn an, das zu tun. Der Vater wurde erschlagen. Der Sohn endete durch Galgen und Rad. Die Werdens starben aus. Das ist die Mär von dem Wallensteiner mit den zwei Frauen auf Barkoschin.«
Beide schwiegen. Die Schwere des Ortes schien plötzlich auf ihnen zu lasten. Der Nebel tropfte von den verrosteten Armen des schon sehr windschief dastehenden Kreuzes und näßte die Ranken des über die flachen Grabhügel hinkriechenden Efeus.
»Vielleicht ist es gut,« sagte Sabine nach einer Weile, »daß wir beide keine Kinder bekommen haben.«
»Warum?« fragte er einsilbig.
»Vielleicht wärest du auch einmal mit so jemand angekommen«, sagte Sabine mit leiser Stimme und sah in Gedanken vor sich hin.
»Und dann?«
»Und wenn wir dann einen Sohn gehabt hätten, dann hätte sich die Tragödie des Nikolaus von Werden, deines Vorgängers auf Barkoschin, wiederholen können. Die Zeitstimmung ist ja ungefähr die gleiche.«
Lewerenz strich sich über die Stirn. »Ja, es wäre eine schöne Moritat! Und wir beide wären die Hauptpersonen. Allerdings fehlt noch die andere. Die Nebenbuhlerin.«
Sabine lachte auf. »Die wird sich schon finden. Wenn du sie gefunden hast, dann schreibst du's mir, nicht wahr?«
*
München hatte, seitdem Lewerenz in den Umsturztagen zuletzt dort gewesen war, einigermaßen sein Gesicht wiedergefunden. Es war ja natürlich nicht mehr das wohllebige, genießerische Vorkriegsgesicht, womit das »Capua der Geister« einst alle Besucher bezaubert hatte. Die Strudel des Zeitalters hatten tiefe Spuren darin hinterlassen. Aber die bösesten Falten jener Hungerzeit waren doch wieder geglättet. Man hatte wieder ein Oktoberfest gefeiert, wo nach der langjährigen Dünnbierepoche ein stärkerer Tropfen verzapft wurde und neben dem mageren Steckerlfisch auch die überlieferten Schweinswürste auf dem Holzkohlenfeuer brutzelten, ja sogar das beinahe sagenhaft gewordene Huhn sich wieder am Spieß drehte.
In den Metzgerläden baumelten wieder halbe Ochsen oder ganze Kälber und Schweine an den eisernen Haken. Saftige Lendenstücke, Kalbskeulen, Schweineschlegel grüßten aus den Auslagen und luden die Vorübereilenden zu andächtiger Betrachtung ein. Jung und alt, klein und groß staute sich vor den Charkutierläden am Platzl und in den umliegenden »Freßgassen«. Alles staunte über das unerhörte Schauspiel. Nun gar die Kinder! Sie konnten sich nicht satt sehen an all der Herrlichkeit und quetschten ihre Näschen an den Fensterscheiben platt.
Die Urinstinkte der Menschen, durch Verordnungen und Strafbefehle jahrelang in einer Art von Isolierhaft gehalten, fühlten sich ihrer Fesseln entbunden und brüllten nach Leben, Freiheit, Genuß wie eine Horde entlassener Sträflinge. Alles war wieder da. Man konnte für Geld kaufen, was man wollte. Und Geld gab es in Hülle und Fülle. Es wurde sogar jeden Tag mehr. Die Gehälter und Löhne stiegen, aber freilich auch die Preise. Man wußte nie ganz genau, wer eigentlich in dem Wettrennen um eine Nasenlänge voraus war, diese oder jene. Jeder suchte von der steigenden Konjunktur soviel mitzunehmen, wie ihm das Glück nur immer an die Hand gab.
Was der Tag an Gewinn brachte, das setzte der Abend in Rausch und Genuß wieder um. Die Papierscheine flogen und wechselten unaufhörlich ihre Besitzer, der Umlauf der geschäftlichen Maschinerie vollzog sich in immer rascherem Zeitmaß, das wirtschaftliche Fieberthermometer stieg höher und höher. Diese entnervte, zermürbte, verhungerte, drangsalierte, aus Millionen Wunden blutende deutsche Menschheit wollte den Taumel und den Genuß um jeden Preis. Ungezählte waren in den Tod gegangen. Jetzt warfen die Übriggebliebenen sich dem Leben in die Arme. Und war Leben und Geschäftemachen in dieser Stunde nicht das gleiche? Man spekulierte und tanzte – tanzte und spekulierte. Die Schiebergestalten des neuen Reichtums nahmen in der Proszeniumsloge der Zeitbühne Platz, nackte Zwittergeschöpfe mit Knabenbeinen standen auf den weitbedeutenden Brettern zur Schau, aus dem Orchester winselte die Kastratenstimme des Saxophons.
Lewerenz hatte zuerst ein paar Tage im Hotel gewohnt und dann in der Pension Lätizia Unterkunft gefunden. Das Haus lag in der Franz-Josef-Straße, unweit der Leopoldstraße, also im eigentlichen Herzen Schwabings. Hier war beinahe jedes zweite Haus ein Fremdenheim. Denn die norddeutschen und ausländischen Besucher Münchens, die sich von der Schwabinger Boheme ein Bild nach Art des Pariser Montmartre oder Montparnasse machten, wollten das Treiben des Künstlervölkchens aus nächster Nähe erleben.
Lewerenz war das Haus von seinem Landsmann und Schulkameraden Karl Cederholm, dem Chemiker, Schriftsteller und Erfinder, empfohlen worden. Dieser verkehrte viel in der Pension und war auch ein guter Bekannter von Hans Fridolin Kramer, dem Inhaber und Leiter des weit über München hinaus bekannten Hauses. Kramer, der sich je nachdem Rittmeister oder Direktor nennen ließ, war unter den Bewohnern des Hauses sicher eine der vielseitigsten und merkwürdigsten Figuren. Und das wollte schon etwas besagen. Denn die Pension Lätizia – sie bestand unter dem Namen erst seit der Kriegszeit – war während dieser Jahre ein Tummelplatz sehr verschiedenartiger Menschentypen gewesen und hatte besonders auch reiche, zum Teil exotische Ausländer angezogen. Die damals äußerst wachsame und argwöhnische Polizei hatte darunter, wie es ja nicht ausbleiben konnte, ein paarmal verdächtige Existenzen entdeckt, äußerst feudal auftretende Erscheinungen mit aristokratischen Namen, die sich dann leider als Falschspieler und Hochstapler entpuppten. Man hatte seitdem ein Auge auf das Haus.
Kramer selbst, der Inhaber der Pension, lehnte, wenn man einmal auf diese Vorkommnisse zu sprechen kam, mit ungeheuchelter Entrüstung jede Verantwortung dafür ab. Der Leiter eines Weltunternehmens wie das seinige könne nicht jedem seiner Gäste in die Brieftasche schauen oder ihnen ein Leumundszeugnis abverlangen.
Er stammte aus einer alten, angesehenen fränkischen Offiziersfamilie und hatte selbstverständlich den gleichen Weg gehen sollen wie Vater, Onkel, Großvater und Urgroßvater. Aber schon im Kadettenhause hatte ihm seine dichterische Phantasie, wenn man sie so nennen wollte, allerlei Streiche gespielt, die mit Verweis und Arrest endeten. Dank seiner Familienprotektion war er dann doch noch Offizier, obendrein bei einem feudalen Kavallerieregiment, geworden, war bald in schlechte Gesellschaft geraten, hatte Spielschulden gemacht, sich etwas in Wechselunterschriften geirrt und war schließlich kassiert worden. Er war dann im Ausland untergetaucht, hatte drüben in Amerika die übliche Kellner-, Aufwärter-, Chauffeurlaufbahn des gestrandeten Offiziers durchgemacht, bis ihn – vielleicht kurz vor dem Versinken – die glückliche Welle einer unverhofften Erbschaft wieder emporhob und ans Land trug.
In die Heimat zurückgekehrt, wandte er sich dem Journalismus zu, wieder ohne rechten Erfolg. Und doch sollte gerade diese Tätigkeit von nicht geringer Bedeutung für seine Zukunft werden, indem sie ihn mit ganz verschiedenen Lebenskreisen zusammenführte und ihm eine Menge von Verbindungen schuf. Als dann der Krieg kam, war er einer der ersten, die sich meldeten. Dies wurde auch von Übelwollenden, die es ja genug gab, anerkannt. Er trat als Gemeiner bei seinem alten Regiment ein, diente sich schnell wieder in die Höhe, vollführte einige tollkühne Reiterstücke und Erkundungsritte, bei denen er Kopf und Kragen einsetzte und deren Gelingen ihm von neuem den Offiziersrang einbrachte. Man hörte dann längere Zeit nichts mehr von weiteren Taten. Er schien in der großen feldgrauen Flut untergetaucht zu sein. Plötzlich und unerwartet erschien er im zweiten oder dritten Kriegsjahre wieder in der Heimat; wie es hieß, zunächst auf Urlaub, der aber immer verlängern zu werden schien. Das Eiserne Kreuz und andere Auszeichnungen bedeckten seine Brust. Niemand konnte ihm also nachsagen, daß er nicht seine Pflicht und mehr als dies getan habe. Aber da die Zeit verging und Kramer noch immer keine Miene machte, wieder zu seinem im Osten stehenden Regiment abzureisen, so mußte wohl angenommen werden, daß er für seine Person Frieden mit dem Feinde geschlossen habe. Niemand konnte recht begreifen, wie das hatte sein können, aber es verhielt sich in der Tat so. Kramer blieb, los und ledig jedes militärischen Dienstes, in München. Es hieß, er habe wegen eines Beinleidens seinen Abschied genommen. Jetzt begann Hans Fridolin Kramers große Periode. Sie hielt eigentlich bis zu diesem Augenblick an. Gerade damals, um die Mitte des Krieges, hatte jene Zeit eingesetzt, die den Typus des Geschäftemachers, des fixen Vermittlers, des bedenkenlosen Spekulanten, mit dem Modewort jener Tage: des Schiebers ans Licht brachte und in pilzartigem Wachstum entwickelte. Da jeder Handel lahmgelegt, im Grunde alles verboten war, was dem geschäftlichen Verkehr diente, wenigstens soweit er lebenswichtige Gegenstände betraf, die Menschen doch aber von etwas leben wollten und mußten, so erstand wie von selbst jene schnellfertige Mißgeburt von Händlertum, das sich wie ein bösartiger Pilz in alle menschlichen Beziehungen einfraß und ihnen das beste Lebensmark aussog, um sich selbst damit zu mästen.
Diese Gestalten tauchten überall in deutschen Landen fast zur selben Stunde auf, wie um damit ihre Berechtigung als notwendige Zeiterscheinung zu erweisen, organisierten allenthalben einen höchst einträglichen Schleich- und Zwischenhandel, lieferten Brot, Fleisch, Zucker, Mehl, Eier, Butter, Fett, Wolle, Leder durch die Hintertür, »schwarz«, und heimsten die fetten Gewinne dafür ein. Als einer der ersten dieser schnell anwachsenden Gilde hatte Hans Fridolin Kramer die Witterung für das Gebot der Stunde gehabt. Und jene in der Zeit seiner journalistischen Tätigkeit gewonnenen Verbindungen und Beziehungen halfen ihm über die erste schwerste Zeit des Anfanges hinweg, denn jeder war froh, dem hilfreichen Manne, der das Begehrte ins Haus brachte und auf den man sich verlassen konnte, weil man ihn kannte, nun auch seinerseits den Weg zu ebnen. Schon nach einem Jahre war Kramer am vorläufigen Ziel seiner Wünsche. Er hatte bereits seit längerer Zeit eine Pension erwerben wollen. Das Haus in der Franz-Josef-Straße war ihm schon früher ins Auge gefallen. Die bisherige Inhaberin wollte sich vom Geschäft zurückziehen. Geld war in jener zweiten Hälfte des Krieges noch knapp. Hans Fridolin Kramer trat mit einem willkommenen Angebot auf. So wurde man handelseinig.
Um diese Zeit hatte Kramer auch geheiratet. Er war bisher unbeweibt geblieben und stand ja nicht mehr in der ersten Jugend. Aber für die Zwecke seines Fremdenheims war eine repräsentative Dame des Hauses natürlich unbedingte Voraussetzung. Auch sprach in diesem Falle sein oft und leicht entflammtes Herz das entscheidende Wort. Seine Erwählte war eine polnische Gräfin Lätizia Marocki, eine Malerin und Kunstgewerblerin, die in diesen Kreisen eine gewisse Rolle spielte und an den Schwabinger Weidestätten der Boheme, im Simplizissimus, in der Brennessel und anderswo häufig zu sehen war. Es hieß, daß sie halb und halb von Hause verstoßen sei, aber doch eine bescheidene Rente von dort beziehe, von der sie zur Not leben konnte.
Ja, es langte wohl auch, hie und da einmal einem bedrängten Kollegen mit ein paar Groschen beizuspringen. Sie hätte daher recht beliebt sein können, wenn nicht ihr sehr preziöses und stets gelangweiltes Wesen vielfach abgestoßen hätte. Im übrigen sah sie, obgleich auch nicht mehr in der ersten Blüte, mit ihrem strohblonden Haar, mit den wasserblauen Augen und den lässig sinnlichen Bewegungen ihrer üppigen, aber sehr geschmeidigen Gestalt noch immer sehr gut aus, so daß es ihr auch nicht an Verehrern gefehlt hatte. Man hörte hier manchmal das Wort, diese Frau sei nur etwas für Kenner, obwohl doch wieder niemand behaupten konnte, ihr ganz nahegekommen zu sein. Sie betonte auch stets, daß sie nur dem gehören werde, der ihr sein ganzes Herz schenken werde, womit wohl gesagt sein sollte, daß sie geheiratet zu werden wünschte. Als daher Hans Fridolin Kramer ihr seine Hand bot, nahm sie sie nach einigen Tagen zurückgezogener Bedenkzeit an.
Gräfin Lätizia oder, wie sie in ihrem Zirkel einfach hieß, die Marocka zog in das Haus an der Franz-Josef-Straße ein und wurde die offizielle Königin der nach ihr umgetauften Pension Lätizia. Aber es war nach ihrer Abkunft und nach ihren ganzen Anschauungen selbstverständlich, daß die preziöse Frau keine Lust hatte, sich um den sehr umständlichen Wirtschaftsapparat des großen Unternehmens zu kümmern, und einzig die rein gesellschaftliche Repräsentation als ihrer würdige Aufgabe ansah. Sie führte bei der gemeinschaftlichen Tafel den Vorsitz und nahm mit ihrem gelangweilten Lächeln die Huldigungen der Gäste entgegen. Für alles übrige aber hatte der Hausherr zu sorgen, der sich dieser Aufgaben denn auch mit Feuereifer annahm. Er hatte die ganze Versorgung und Verproviantierung des Hauses in der Hand und widmete sich viele Stunden täglich den Kassengeschäften. Kramer war nämlich – von seinen vielseitigen Anlagen wurde diese noch nicht erwähnt – ein ausgesprochenes Rechengenie. Er konnte ganze Nächte lang Zahlentabellen und statistische Berechnungen, etwa über den monatlichen Butter-, Eier- oder Fleischverbrauch der Pension, aufstellen und war ein Phänomen besonders des Kopfrechnens, das er als eine der nützlichsten geistigen Übungen bezeichnete.
»Ich lasse meiner Frau, der Gräfin, selbstverständlich vollständig freie Hand, so wie sie es nach ihrer Geburt und ihren bisherigen Gewohnheiten verlangen kann«, sagte er schon in den ersten Tagen zu Lewerenz, als sie nach der Mittagstafel sich beide in den bequemen Klubsesseln des Rauchzimmers gegenübersaßen. »Ich kann ihr nicht zumuten, daß sie sich auch noch mit Milchrechnungen und Fleischpreisen abgibt, die sowieso von Tag zu Tag steigen. Es wird leider bald notwendig sein, auch die Pensionspreise dementsprechend zu erhöhen, wenn auch selbstverständlich nur im angemessenen Rahmen. Ich will nur noch meine letzte Monatsstatistik abschließen. Aber dies nebenbei. Ich liebe meine Frau und ich habe mir gelobt, als sie mir ihre Hand reichte, ihr das Leben wie einen seidenen Teppich unter die Füße zu breiten.«
Ob denn die Dame noch ihrer früheren künstlerischen Neigung nachgehe, warf Lewerenz beiläufig hin, da er es nicht liebte, im Genuß seiner Nachmittagszigarre gestört zu werden, und einsilbig gestimmt war.
Hans Fridolin Kramer, eine mittelgroße, schlanke Erscheinung mit scharfgeschnittenem Schauspielerkopf und gekräuseltem, schwarzem Haar, sog an seiner Virginiazigarre.
»Die Gräfin hat sich ihr Atelier oben im Hause ganz nach ihrem Geschmack und ihren Ideen eingerichtet«, sagte er und blies langsam Rauchkringel durch die Nase. »Sie läßt sich nur von ihrem künstlerischen Ingenium leiten, wie das auch schon früher der Fall war. Erwerbsabsichten liegen ihr fern. Haben ihr schon immer ferngelegen. Man könnte die Gräfin eine vornehme Dilettantin nennen. Sie wissen schon, wie das gemeint ist, Herr Geheimrat! Natürlich nicht der landläufige Dilettantismus, sondern im goethischen Sinne.«
Lewerenz nickte zerstreut und machte eine halb zustimmende Bewegung.
»Goethe sagt, daß der Dilettantismus, in diesem Sinne verstanden, die höchste Form der Kunst sei. Die Stelle befindet sich im fünften Buch von Wahrheit und Dichtung. Sie können dort das Weitere nachlesen. Es liegt ja auch schon im Wort. Dilettant ist der Mensch, der etwas aus Liebe betreibt. Folgerichtig nenne ich die Gräfin eine vornehme Dilettantin. Sie betreibt die Kunst aus reinem Idealismus. Bilder würden doch heute, wo das Publikum mehr und mehr in die Sachwerte läuft, ein äußerst gangbarer Artikel sein. Aber ich kann sie nicht dazu bringen, daß sie mit ihren Bildern auf den Markt geht. Sie will mit ihrer Kunst nur Freude um sich verbreiten.«
Er finde das sehr schön, meinte Lewerenz, dem die Worte vor den Ohren klingelten, mit etwas ermüdetem Lächeln. Um so schöner, weil es ja bei den Künstlern etwas sehr Seltenes sei. Man wisse doch, daß die Maler ihre Bilder nicht schnell genug an den Mann bringen könnten.
Kramer streckte wie in einer impulsiven Bewegung der Dankbarkeit Lewerenz seine Hand entgegen, aber dieser schien es zu übersehen.
»Das ist es ja gerade, Herr Geheimrat,« betonte er mit starker Stimme, »das ist es, was ich den Idealismus der Gräfin nenne! Und weswegen ich mich um ihre Hand beworben habe. Die Gräfin ist eine Freudenbringerin! Und, sehen Sie, erkennt man darin nicht wieder den merkwürdigen Beziehungsreichtum des Lebens, das, was ich das Wunderbare in unserem Schicksal nenne: daß die Gräfin auch Lätizia heißt?«
Daher wohl auch der Name des Hauses, bemerkte Lewerenz, wie in einer leichten Narkose von dem immer dichter sich verbreitenden Wortnebel.
»Ja, es steht natürlich in Beziehung zueinander«, erwiderte Krämer, warf seinen Virginiastummel beiseite und zog den Strohhalm aus der neuen Virginia. »Alles in dieser Welt steht ja in Beziehung zueinander. Man muß nur die geheimen Brücken zwischen den Dingen zu finden wissen. Das ist es ja, was man gemeinhin das Wunder nennt, obwohl es in Wirklichkeit gar keins ist. Sind nicht schon die Beziehungen der Zahlen untereinander das größte Wunder? Von außen gesehen? Aber die meisten Menschen gleiten einfach darüber hin, als ob es selbstverständlich wäre. Was ich hier sage, ist natürlich nur ein Standpunkt für Glückskinder oder Genies.«
Zu welcher von beiden Klassen er sich nun rechne, fragte Lewerenz, der plötzlich wieder erwacht war.
Kramer zuckte mit den Achseln und machte mit der Rechten eine große Bewegung gegen seinen Kopf hin.
»Keinesfalls zur zweiten«, sagte er. »Und ob zur ersten, das muß erst die Zukunft erweisen. Aber es sind immerhin schon einige Anhaltspunkte dafür da. Zu den Glückskindern zählen doch auch die großen Eroberer. Aber muß man denn immer Ströme von Blut vergießen, um nachher von der Menschheit den Ehrentitel Eroberer zu bekommen? Kann es nicht auch Eroberer der Wirtschaft geben, die neue Werte schaffen und dadurch Glück und Freude über die Menschen bringen? In diesem Sinne würde ich wünschen, einmal ein Glückskind und Freudenbringer genannt zu werden.«
»Also in demselben Sinne, wie es auch Ihre Frau Gemahlin, die Gräfin, zu sein scheint«, bemerkte Lewerenz mit abschließender Höflichkeit und erhob sich.
Aber Kramer hielt ihn noch mit einer lebhaften Handbewegung auf.
»Ist es nicht höchst beziehungsreich und wunderbar, daß die Mutter des größten Eroberers aller Zeiten, der das Blut von Hunderttausenden vergossen hat, nämlich die Mutter Bonapartes, unseres großen Napoleon, Lätizia geheißen hat? Also die Freudenbringerin? Muß so etwas nicht nachdenklieh stimmen?«
Lewerenz ging tief in Gedanken die drei Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Die dampfenden Orakelsprüche des sonderbaren Heiligen beschäftigten ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Was hatte er da über die geheimnisvolle Verknüpfung unserer Schicksalsfäden gesagt, die in unseren Augen als Wunder erscheint, ohne es in einem tieferen Sinne zu sein? War dieser Glücksjäger nicht wie ein Hohlspiegel, der ihm sein eigenes Bild in grotesker Verzerrung zurückwarf?
*
Lewerenz hatte eine abgeschlossene, kleine Wohnung im dritten Stock des Hauses. Ein großes Eckzimmer, das als Studier- und Arbeitszimmer diente, war von einem ziemlich großen Schlafzimmer und einem kleineren Salon flankiert. Lewerenz hatte besonderen Wert darauf gelegt, möglichst für sich zu sein und keine Verbindungstüren mit den Nachbarräumen zu haben. Diesen Wunsch zu befriedigen, war nicht ganz leicht gewesen. Erst im Kramerschen Hause, das ihm ja ohnehin von Cederholm empfohlen war, fand er, was er brauchte. Die Lage im dritten Stock sagte ihm außerdem noch besonders zu.
Gegenüber standen zwei niedrigere, durch einen Garten getrennte Villen, über die man hinwegsah. Der Blick schweifte über die Wipfel des dahinterliegenden großen, prinzlichen Parks bis zu dem ragenden Prunkbau der Akademie und zu den zahlreichen Türmen der Stadt. Diese Silhouette hatte immer etwas Festliches und Erregendes für ihn. Ihm war, als müsse im Umkreise dieser Türme eine Art von ewigem Sonntag sein, obwohl er rein verstandesmäßig sich natürlich des Widersinns dieser Meinung bewußt war. Aber immer trat ihm sein Gefühl, seine Phantasie verklärend oder auch verwirrend, gerade was dieses München betraf, vor die unerbittliche Logik der Tatsachen und der Wirklichkeit. Er konnte oft viertelstundenlang von den Fenstern seiner Wohnung über die Türme und Dächer der wundersamen Stadt hinwegschauen, zumal wenn der in diesem Winter besonders häufig erscheinende Föhnhimmel bunt und grell wie ein Bilderbogen sich darüber ausspannte und in seinem märchenhaften Licht das tiefdunkelblaue Gezack der Berge aus dem mattgoldenen Qualm des Südhorizonts auftauchte.
Die Ausstattung der Räumlichkeiten war bequem, ohne überladen zu sein, und zeugte von modernem Geschmack. Dunkelweinrote Mahagonimöbel spendeten ihr weiches, magisches, gleichsam unterirdisches Licht. Eine besondere Annehmlichkeit war ein großmächtiger Schreibtisch, an dem Lewerenz sich mit seinen Büchern und Papieren ordentlich ausbreiten konnte.
Lewerenz hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, täglich wenigstens vier bis fünf Stunden am Schreibtisch zu verbringen. Er hatte ein halbes Dutzend dichterischer Pläne im Kopfe, die er abwechselnd vornahm und wieder verwarf, ohne auch nur mit einem recht vorwärtszukommen. Aber eine gewisse angeborene Zähigkeit – man hätte es auch Trotz oder Eigensinn nennen können – hieß ihn immer wieder nach diesen Skizzen und Entwürfen greifen, so oft er sie schon über Bord geworfen hatte.
Diese ersten Wochen, die Lewerenz in München verlebte, verliefen, wenn man von den flüchtigen Bekanntschaften in der Pension absah, im Grunde recht einsam. Das war eigentlich ganz programmwidrig. Es war Lewerenz' Vorhaben gewesen, nach der Barkoschiner Abgeschiedenheit wieder einmal Menschen zu suchen und Leben zu atmen. An Freunden oder guten Bekannten fehlte es ihm in München ja nicht. Aber als er jetzt das Ersehnte hatte und nur ins Leben hineinzugreifen brauchte, war seine Stimmung von Grund auf gewandelt. Die Einsamkeit, vor der er soeben noch geflohen war, zog ihn von neuem in ihren Bann.
Ein besonderer Reiz war es für Lewerenz, als einsamer, verlorener Tropfen im Menschengewoge der inneren Stadt dahinzutreiben und von einer vereinzelten Welle sich nach irgendeiner entlegenen und unbekannten Vorstadtinsel tragen zu lassen. Er hatte diese Gewohnheit schon in seiner Studentenzeit gehabt und hatte dadurch München und besonders auch Berlin gründlicher kennengelernt als irgendeiner seiner studentischen Bekannten. München hatte sich seitdem ja sehr vergrößert, so daß Lewerenz bei seinen jetzigen Streifzügen durch diese halb dörflichen, halb vorstädtischen Randgebilde immer wieder auf unerwartete Entdeckungen stieß.
In der Pension waren nicht allzu viele Gäste. Das lag wohl vornehmlich an dieser Jahreszeit, so kurz vor Weihnachten. Die Adventstage waren die stillsten des ganzen Jahres, wie Kramer aus seinen statistischen Tabellen für das letzte Jahrfünft überzeugend nachweisen konnte. Sobald die Festtage vorüber seien und die Faschingsgeister entfesselt würden, sei ohne Zweifel mit einer neu einsetzenden Gästeflut zu rechnen. Und diesmal werde es ja wieder einen Karneval geben wie in alter Zeit. Ganz vorkriegsmäßig werde es zugehen, nur natürlich im allermodernsten Geschmack. Das Olympiatheater habe bereits alle Abende dieses ohnehin äußerst kurzen Faschings besetzt. Sein neuer Inhaber und Direktor, Herr Salute – übrigens ein guter Deutscher, trotz seines welschen Namens –, sei ein allererster Fachmann auf dem Gebiete der Ausstattungsregie und werde, wie Kramer sich ausdrückte, das Kind schon schaukeln.
Zu der Dame des Hauses – ihr Mann sprach von ihr schlicht als von der Gräfin – konnte Lewerenz kein rechtes Verhältnis gewinnen. Er hatte bei Tisch einen Vorzugsplatz an ihrer Seite erhalten und wahrte als Mann von Welt die Formen äußerster Verbindlichkeit. Aber er fühlte jedesmal, wenn er mit ihr sprach, wie ein Kältestrom von ihr ausging. Ihre wasserhellen Augen bekamen sofort einen harten, ja feindseligen Ausdruck, wenn sie sich ihm zuwandte. Offenbar fühlte sie dies selbst und suchte es abzuschwächen, indem sie ihre Augenlider möglichst tief heruntersenkte und ihn immer wie hinter einem halbgeschlossenen Vorhang ansah. Aber selbst durch diesen schmalen Spalt blitzte noch immer Abneigung genug, um bei Lewerenz keine Täuschung über das wahre Gefühl seiner Nachbarin aufkommen zu lassen.
Zu den regelmäßigen Tischgästen der Pension gehörte auch der Polizeirat von Lindlar, der aber nicht im Hause wohnte. Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann, schon in den Fünfzigern stehend, schwerkriegsbeschädigt und auf dem einen Auge halb erblindet. Er benutzte ein schwarzes Einglas, um dieses Auge zu verdecken. Auch sonst hielt er sehr auf sein Äußeres und trug sich stets mit gewählter Eleganz. Lindlar hatte ein bewegtes Leben hinter sich. In seiner Jugend war er zur See gefahren und hatte die Laufbahn als Marineoffizier eingeschlagen. Als er schon einige Jahre dabei war, hatten Familienumstände ihn veranlaßt, seinen Abschied zu nehmen und sich dem juristischen Verwaltungsdienst zuzuwenden. So war er zur Regierung und schließlich zur Polizei gelangt, bei der er zur Zeit eine der höchsten Stellungen einnahm.
Einige Jahre vor dem Kriege war ihm ein ansehnliches Vermögen zugefallen, das ihn instand setzte, große Reisen zu unternehmen. Er hatte sich einmal ein ganzes Jahr Urlaub dazu geben lassen. Dann war der Krieg gekommen, und Lindlar hatte sich sofort bei der Marinesinfanterie wieder als Kapitänleutnant aktivieren lassen. Da war denn im dritten Kriegsjahre der Volltreffer eines englischen Schiffsmörsers in seinen Unterstand eingeschlagen und hatte die ganze Besatzung von zwanzig Mann zu ein paar unförmigen Fleischklumpen zermalmt. Lindlar war als der einzige Lebende mit zerfetzten Gliedmaßen aus Blut und Schutt herausgeholt und auf mehrmonatigem Krankenlager notdürftig wieder zusammengeflickt worden.
Diese Rekonvaleszenz- und Genesungszeit war für den einst so lebens- und liebesdurstigen Mann eine bittere Leidensschule gewesen, die eigentlich noch immer nicht zu Ende war, ja ihrer Natur nach erst mit dem Tode aufhören konnte. Er hatte auf seinem Krankenlager sich ihn oft gewünscht und die Ärzte, die zweifelnd den Kopf schüttelten, gebeten, den Fall doch als erledigt zu betrachten. Aber seine eiserne Natur hatte über den leidenschaftlichen Selbstvernichtungswillen am Ende doch triumphiert. Als ein halbblinder, zusammengeschossener Krüppel war Lindlar nach Hause gekommen und hatte von neuem seine Amtsgeschäfte übernommen. Äußerlich war anscheinend alles wie früher. Er verfaßte wieder seine wegen ihrer Klarheit und Treffsicherheit besonders geschätzten Aktenberichte und galt nach wie vor als einer der fähigsten Köpfe seiner Behörde. Aber in seinem Inneren war etwas entzwei, das niemals wieder ganz werden konnte.
Der elegante Mann hatte weit über seinen Bekanntenkreis hinaus als notorischer Don Juan und Frauenliebling gegolten und mit irgendeinem inzwischen längst vergessenen Abenteuer sogar die öffentliche Meinung einmal in Aufregung versetzt. Natürlich war viel Übertriebenes an dem Gerede. Aber es ist ja wohl so, daß man zu sein hat, wozu man nun einmal abgestempelt ist. Nun war nichts mehr von alledem übriggeblieben, was ihn mit klammernden Organen ans Leben geschmiedet hatte. Der zerbrochene Kadaver, wie er in finsteren Stunden sich selber verfluchend nannte, konnte den Frauen, konnte der Liebe nichts mehr bieten, konnte nichts mehr von ihnen verlangen. War das Leben noch wert, daß er auch nur eine Minute länger daran hing? War dieser verstümmelte Organismus nicht ein schwerfälliger und unnützer Ballast, den man je eher desto lieber über Bord werfen mußte und sich selbst mit ihm?
Lindlar hatte, wie vordem im Kriegslazarett, so auch noch später oft genug Stunden gehabt, wo ihm dies als ein Ziel »aufs innigste zu wünschen« erschienen war. Es war ihm zuzutrauen, daß er vielleicht schon das eine oder andere Mal die Pistole in der Hand gehabt hatte, um mit dem kühlen Blei den unaustilgbar brennenden Schmerz in der Tiefe für immer zu löschen. Wenn er dann doch im letzten Augenblick die Hand mit der todbereiten Waffe hatte sinken lassen, so mochte zweierlei ihn dazu bestimmt haben. Dieser leidenschaftliche, ja fanatische Patriot, der von einem Haß ohnegleichen gegen die äußeren und inneren Verderber des Vaterlandes bis zur Siedehitze erfüllt war, wünschte mit allen Kräften seiner Seele den Tag der Rache an eben jenen Verderbern herbei und hoffte ihn noch selbst zu erleben, ja handelnd dabei mitzutun.
Und noch ein zweites, vielleicht nicht minder starkes Gefühl war da, das ihm über alle Hemmungen seiner oft grenzenlosen Verzweiflung hinweghalf und das Triebwerk seiner Seele noch immer im Gang erhielt. Es hatte sich mit den Jahren eine Art von Surrogatgefühl der Erotik in ihm entwickelt, wie etwa ein seiner Beine Beraubter nach und nach zum ausgesprochenen Arm-Menschen wird und alle seine Kraft und Energie in die Muskulatur seines Oberkörpers überträgt. Aus dem draufgängerischen und bedenkenlosen Don Juan früherer Tage war so in allmählicher, oft grausam schmerzender Umwandlung ein Platoniker der Erotik, ein rein mit dem Geist, mit der Seele, mit der Phantasie Liebender geworden. Es war mehr die Idee der Liebe an sich, der der in Schmerz und Entbehrung Geläuterte während der ersten schlimmsten Jahre nachgehangen hatte. Er hatte auch schon früher, in der Zeit seiner tollsten Jugendstreiche, eine Vorliebe gerade für philosophische Lektüre gehabt. Der Drang der Amtsgeschäfte und gesellschaftlichen Verpflichtungen, kurz gesagt das Leben hatte diesen Quell dann teilweise verschüttet. Jetzt entdeckte er ihn von neuem und schöpfte Labsal für seine todwunde Seele daraus.
Es war eine Zeitlang die große Ruhe und Stille über ihn gekommen. Aber als ob Eros sich in grausamer Verhöhnung seines einstigen Adepten nicht genugtun könne, so war nun über den Verstümmelten und Beraubten diese brennende und halb lächerliche Leidenschaft für Lätizia Kramer, die geborene Gräfin Marocki, gekommen. Halb lächerlich! Lindlar war sich nur zu wohl bewußt, daß man es kaum anders nennen konnte. Niemand konnte die Hoffnungslosigkeit dieses Traums besser erkennen als er selbst. Die hellblonde Frau mit den verschleierten Vergißmeinnichtaugen und dem sinnlichen Fluß ihrer Hüften wäre gewiß die letzte gewesen, sich mit einem rein platonischen Liebhaber zufriedenzugeben, wenn es überhaupt in ihren Wünschen gelegen hätte, so etwas wie einen Liebhaber zu besitzen.
Vielleicht kam es gerade daher, nämlich aus der freilich sehr verschieden zu erklärenden Wunschlosigkeit beider Teile, daß das eigentümliche Phantasieverhältnis zwischen Lindlar und Lätizia in Wirklichkeit doch nicht ganz so widersinnig und lächerlich und beschämend aussah, wie es der arme Kriegsbeschädigte sich ausmalte. Denn er machte sich in seiner durch das Leiden geschärften Hellhörigkeit durchaus keine Illusionen über die eitle selbstverliebte Gleichgültigkeit und Herzenskälte seiner angebeteten Gräfin. Ja, er beschimpfte in seinen stummen Monologen ebensosehr sie wie sich selbst. Er wußte oder glaubte zu wissen, daß es im Grunde verächtlich war, was er ihr gegenüber tat oder wie er sich benahm. Und doch war das Gefühl der Hörigkeit von einer so zwingenden erpresserischen Gewalt, daß gerade das, weswegen er sich verachten mußte, eben die Wonne vervielfachten Genusses schuf.
Lätizia ihrerseits, hinter deren gelangweiltem Wesen sich eine teils angeborene, teils durch Erfahrung gewitzigte Kenntnis der Männer verbarg, genoß die exzentrische Leidenschaft des trotz allem noch immer eleganten, zudem von der Kriegsglorie und von einstigen Frauensiegen umstrahlten Mannes in all ihrer Hilflosigkeit wie ein perverses exotisches Parfüm.
Lewerenz und Lindlar, als die beiden Tischnachbarn Lätizias, unterhielten sich öfters über sie hinweg und waren sich schnell nähergekommen. Lewerenz nahm aufrichtigen Anteil an dem tragischen Geschick des andern, das ja ein öffentliches Geheimnis war, wie überhaupt an der ganzen merkwürdig verkrampften und doch wieder so eindeutig linearen Persönlichkeit des Polizeirats. Er hatte von ihm den Eindruck wie etwa von einer ursprünglich klaren und einheitlichen Gesteinsschichtung, in die durch ein Erdbeben oder irgendeine andere Elementarkatastrophe vollständig fremde Schichten eingedrungen sind. Lewerenz glaubte genügend Scharfblick und psychologische Eindringlichkeit zu besitzen, um das Naturgewachsene und Urtümliche in Lindlars Wesen von den späteren, vielleicht erst seit jener Katastrophe eingedrungenen Bestandteilen abgrenzen zu können. Aber schließlich war der ganze Mann mit seiner haarscharfen Logik, seinem scheuen, abseitigen Sonderlingstum und den immer wieder aufblitzenden galant-erotischen Anwandlungen doch so wie er war und mußte nun einmal als Ganzes genommen werden.
Lätizia Kramer ärgerte sich nicht selten über das schnell sich anbahnende Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern. Sie empfand die Annäherung ihres platonischen Verehrers an Lewerenz als etwas, das ihre eigenen Rechte an Lindlar schmälerte, ihrer bisher unbeschränkten Herrschaft über den hörigen Mann Abbruch tue, kurz, nach ihrer ewig gekränkten und launischen Art als eine ihr von beiden Männern zugefügte persönliche Beleidigung. Da Lewerenz mit seiner stets sich gleichbleibenden kühlen Höflichkeit und seinem unleidlichen satirischen Lächeln ein sehr untaugliches Angriffsobjekt für sie war, so häufte sie ihren ganzen Groll auf den unglücklichen Polizeirat und strafte ihn des öfteren durch eine abweisend königliche Haltung und andere Beweise ihrer Ungnade. Aber Lindlar ließ sich das nicht weiter anfechten, sondern setzte, seine Unterhaltungen mit Lewerenz über Politik und Übersee, in denen sie ja beide vom Fach waren, mit zunehmendem Eifer fort. Ja, es schien beinahe, als bereite es ihm eine Art von bittersüßem Vergnügen, den Zorn seiner Herrin damit herauszufordern und sich ihren Quälereien auszusetzen. Kann man einer Frau im Grunde eine tiefere Verachtung bezeigen, als indem man sich so von ihr mißhandeln läßt? fragte sich Lewerenz manchmal, wenn er diese kleinen Szenen grausamer weiblicher Eifersucht und lächelnden männlichen Erduldens beobachtete.
*
Advent und Weihnachten waren vorüber. Es war in diesem Jahre ein merkwürdig schneller und plötzlicher Wechsel zwischen finstergrauen, todtraurigen Nebeltagen und grell leuchtenden, aufpeitschenden, halb sommerlichen Föhneinbrüchen. Alle Welt klagte über Kopfschmerzen und Unwohlsein. Diese raschen Umschläge gingen den meisten Leuten ins Blut, der Puls arbeitete unregelmäßig, die Nerven rebellierten. Lewerenz empfand nichts von alledem, oder wenn es etwa doch der Fall war, so litt er nicht darunter. Er hatte vielmehr ein merkwürdig gesteigertes, prickelndes, gärendes Lebensgefühl während all dieser Föhntage, mochten sie sich nun in leidenschaftlichem Sonnenglanz an die winterliche Welt verschwenden oder mit wildem Sturmgeorgel über das Dächermeer der Stadt dahinfegen.
Den Heiligen Abend verbrachte Lewerenz still in seinen vier Wänden. Seine Gedanken wanderten, halb wider Willen, nach Barkoschin. Dort stand jetzt Sabine mit Onkel Julius unter dem Weihnachtsbaum und bescherte die Kinder der Gutsleute, während alte Weihnachtslieder draußen auf der Freitreppe vor dem Herrenhause erklangen. Warum hatten sie beide, Sabine und er, die sich doch einst wie durch Schicksalsschluß gefunden hatten, zufolge eines anderen Schicksalsspruches sich wieder verlieren müssen? Aber dies war nun nicht mehr zu ändern. Erst das letzte Zusammensein in Barkoschin am Tage vor seiner Abreise hatte es ihm wieder mit aller Bestimmtheit erwiesen. Lewerenz bannte die bösen Gedanken mit einer erlesenen Flasche Pfälzer Weins.
Zu spät fiel ihm ein, daß es nur eines Anrufs bei Eichwalds bedurft hätte, um den Abend in angeregter, vielleicht sogar lustiger Gesellschaft zu verbringen. Franz Eichwald, Baumeister, Architekt und seit längerer Zeit einer der führenden Männer in der Stein- und Marmorindustrie, und seine Gattin Anna, eine geborene finnische Baronin, von deren geschäftlichen Talenten Wunderdinge erzählt wurden, waren alte Bekannte von Lewerenz, schon aus der Vorkriegszeit her. Sie führten ein sehr gastfreies Haus; alles, was zur Schwabinger Boheme gehörte, verkehrte in den Prachträumen ihrer Wohnung zunächst der Ursulakirche. Man begegnete allerlei schreibenden oder malenden Berühmtheiten, aber auch genug Namenlosen, die erst am Anfang ihrer Laufbahn standen, jungen Malern und Malerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, kurz, jeder Art von Künstlervolk. Es wurde kein besonderer Unterschied zwischen Berühmten und Unberühmten gemacht. In dieser Republik der Geister und Talente oder solcher, die sich dafür hielten, verkehrte alles auf dem Fuße der Gleichberechtigung. Verdienste wurden wohl im stillen anerkannt, pflegten sich aber nicht vorzudrängen: dies war eine Frage des guten Geschmacks, dessen Verletzung in diesem empfindlichen Kreise besonders unangenehm auffiel. Wichtig und entscheidend war eigentlich nur, was jeder im Augenblick zu bieten wußte, der Einfall des Moments, die göttliche Gnade und Eingebung, der Funke von oben. Lewerenz hatte Eichwalds bald nach seiner Ankunft besucht. Sie hatten ihn gleich den ganzen Abend dort behalten; es war eine jener berühmten Sitzungen geworden.
Am Silvestertage nachmittags ließ sich Karl Cederholm bei Lewerenz melden. Lewerenz stand am Fenster, als das Mädchen mit der Karte hereinkam. Er hätte sich am liebsten verleugnen lassen, aber wieder war es dieses geheime, ihm selbst unerklärliche Gefühl, das ihn dann doch bewog, den Landsmann, Schulkameraden und geheimen Widersacher zu empfangen. Es ging ein Zwang von diesem Menschen aus, gegen den er sich vergebens auflehnte; der aber auch umgekehrt von ihm zu Cederholm wirksam zu sein schien. Denn Cederholm hatte ihn, seit er hier war, alle paar Tage angerufen und drängte ihm seine Freundschaft oder das, was er so nannte, in sichtlicher Weise auf.
Dies war nicht nur bei Lewerenz so. Es war auch sonst Cederholms Art, mit den Menschen fertig zu werden. Nur trat es im Verkehr mit Lewerenz besonders hervor oder wurde wenigstens so von diesem empfunden. Schon in der Untersekunda hatte Cederholm in dieser eigentümlich weichlichen und zugleich gefährlichen katzenhaften Manier sich gegen Lewerenz verhalten und ihn – damals vielleicht noch halb unbewußt – nach dem Rezept von Zuckerbrot und Peitsche kleinzukriegen gesucht. Lewerenz hatte das schon sehr früh empfunden und sich gegen Cederholms Annäherung wie gegen ihn umklammernde Polypenarme gewehrt. Genützt hatte es ihm nicht viel, Cederholm blieb hartnäckig dabei, ihn seinen besten Freund zu nennen und ihn mit Schmeicheleien zu überschütten, bis dann ganz unversehens die Krallen der Samtpfötchen zum Vorschein kamen.
Jedesmal nach solchen empfindlichen Kratzwunden hatte Lewerenz sich den Verkehr mit dem gefährlichen, übrigens hochbegabten Menschen abgeschworen, aber stets hatte Cederholm von sich aus wieder eingelenkt und eingerenkt, und alles war beim alten geblieben. In den Studentenjahren hatten sie sich etwas aus den Augen verloren, waren sich aber doch immer wieder auf ähnlichen Lebenswegen begegnet.
Zuletzt waren sie wieder in München, als Lewerenz zu Ende der Kriegszeit dort eine Reihe von Wochen verbrachte, zu- und manchmal aufeinander gestoßen und abermals nicht voneinander losgekommen. Lewerenz hatte allmählich eine Art von Reiz in dieser Haßliebe oder Feindschaft gefunden. Ja, vielleicht war dieser Reiz schon immer dagewesen, er hatte es nur nicht gewußt. Denn wie hätte sonst diese seltsame Lebensbeziehung dreißig Jahre überdauern können? Gerade so lange war es seit ihrer ersten Berührung her.
Lewerenz stand noch am Fenster und blickte über das winterliche Parkgelände des Leopoldpalais zu der im Sonnenglanz daliegenden Stadt hinüber. Morgens hatte der Föhnsturm noch in allen Registern gepfiffen und geheult. Jetzt lachte eine warme Rivierasonne vom mattblauen Himmel herunter. Straßen und Häuser waren in einen goldenen Dunst getaucht. Das alte Jahr empfahl sich wie eine scheidende Geliebte mit einem letzten zärtlichen Augenaufschlag. Aus den unermessenen Tiefen der Ewigkeit entrang sich ein werdendes und neues. Sein heißer, ahnungsvoller Kinderatem streifte über Lewerenz' Stirn. Was würde es ihm bringen? Welche Entscheidungen bereitete die Zukunft vor? Lewerenz war ein Mensch des Kalenders; er liebte den Rhythmus der Jahreszeiten. Waren sie nicht gleichsam die Nabelschnur, die uns mit dem ewigen kosmischen Geheimnis verband?
Gewiß! Der moderne Großstadtmensch glaubt sie durchschnitten, fühlt sich abgetrennt von den letzten Geheimnissen, brüstet sich noch mit seiner entseelten Selbstherrlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Aber gab es nicht eine Widerlegung dafür, die mit stärkeren Gründen sprach als hundert stolze philosophische Systeme: nämlich die eine mit keiner Sophistik wegzuleugnende Tatsache, daß wir sterben müssen? Daß wir in den Kosmos zurückkehren müssen, aus dem wir gekommen sind und den wir während unseres kurzen Lebenstraumes beinahe aus dem Gedächtnis verloren haben? Warf nicht das eine kleine Wörtchen Tod unser ganzes gedankliches Wolkenkuckucksheim in Trümmer? Und doch gab es Menschen, unzählige sogar, die sich blind gegen dies alles stellten, Fenster und Türen gegen das von außen eindringende Geisterlicht des Kosmos absperrten und sich in ihrer eigenen Gottähnlichkeit wie in einer künstlichen Beleuchtung sonnten. Ein Mensch von dieser Art, geradezu ein Typus seines Schlages, ist der Mann, der jetzt die Treppen zu ihm heraufkommt. Warum muß er ihm gerade in die rückschauende und vorahnende Stimmung dieses Silvesternachmittags hereinplatzen? So geht es uns nicht selten auf unseren Reisen. Wir treffen gleich im ersten Augenblick, da wir die Bahn oder das Schiff besteigen, lästige Mitpassagiere, denen wir immer wieder unterwegs begegnen; die sich an unsere Fersen zu heften scheinen; denen wir mit keiner List entkommen können. Sie verlassen uns erst, wenn die Reise zu Ende ist.
Karl Cederholm trat ins Zimmer und ging mit ausgebreiteten Armen auf Lewerenz zu. »Nun, du Einsiedler!« rief er und schwenkte in freudiger Bewegung den steifen Melonenhut, den er zu jeder Jahreszeit trug. »Ich wollte dich jedenfalls noch im alten Jahre sehen. Ich habe sogar ein paar dringende Arbeiten im Laboratorium deinethalben liegenlassen. Nun ja! Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, so muß wohl Mohammed zum Berge kommen. Also wie geht es dir, mein Alter? Du erlaubst, daß ich mich setze?«
Cederholm war von ziemlich großer Statur, kräftig gebaut und breitschultrig. Er hatte einen massiven, beinahe ovalen Schädel, über dessen beginnende Glatze die schwarzen Haarsträhnen der Quere nach gestrichen waren. Eine Brille mit großen, dunkelblauen Gläsern verdeckte die Augen. Wenn er die Brille gelegentlich einmal abnahm, so sah man, daß sie von ausgesprochen schwarzer Farbe waren und einen an diesem Manne vielleicht überraschenden Ausdruck von Melancholie hatten. Dieser wurde noch durch die beinahe kreisrunden, schwarzen Augenbrauen verstärkt. Zwischen ihnen sprang eine stark gebogene Hakennase vor. Das Gesicht bekam durch das alles einen eulenmäßigen Charakter, etwas von der Klugheit, aber auch von der unendlichen Traurigkeit der Nachteule.
Cederholm hatte in einem der braunen Ledersessel Platz genommen und stützte den Kopf auf den goldenen Knauf seines Stockes, während er seinen Melonenhut behutsam auf den Boden neben sich legte. Er schien überhaupt sehr viel Wert auf korrektes Auftreten zu legen. Sein schwarzer Gehrock, eine modefarbene Weste und taubengraue Glacéhandschuhe vervollständigten das Bild einer allen Regeln entsprechenden Besuchstoilette.
»Ich sehe, es geht dir gut«, sagte er, indem er seine Blicke im Zimmer umherschweifen ließ. »Ich freue mich, daß meine Empfehlung also das Richtige getroffen hat. Man kann sich da leicht in die Nesseln setzen. Aber ich kenne ja deine Liebhaberei, deinen Geschmack.«
Lewerenz hatte ein schwaches, etwas anzügliches Lächeln auf den Lippen. »Sehr freundlich, lieber Cederholm! Aber sollte die Erforschung meiner Lebensgewohnheiten wirklich einen solchen Raum in deinem geistigen Haushalt einnehmen?«
Cederholm lachte und zeigte sein weißes Raubtiergebiß. »Ausgezeichnet formuliert! Ich bitte dich aber zu bedenken, daß ich doch dreißig Jahre Zeit zu dem Studium gehabt habe. Da pflegt man schon etwas voranzukommen. Außerdem gehört es ja auch direkt zu meinen Berufsaufgaben.«
»Wieso zu deinen Berufspflichten? Ich denke, du bist Chemiker, Erfinder oder was sonst noch? Gibt es nicht irgendein diabolisches Kinderspielzeug, das von dir stammt?«
»Der Hampelmann, der sich in einen Teufel mit heraushängender roter Zunge und Glühlichtaugen verwandelt und gräßliche Rabauztöne von sich gibt, wenn man an einem Glöckchen zieht. Alle Kinder fallen in Ohnmacht, wenn man es ihnen zum erstenmal vorführt. Man kann die schlimmsten Rangen damit ins Bett jagen. Es hat direkt erzieherischen Wert. Ja, das ist von mir. Du hast ein fabelhaftes Gedächtnis. Es ist doch schon eine Reihe von Jahren her. Schon vor dem Kriege. Schade! Der hat mir das Geschäft verdorben. Immerhin! Der Einfall hat mir ein hübsches Stück Geld gebracht. Ja, du lächelst, mein Alter! Jeder muß eben mit seinem Pfunde wuchern. Nicht alle Leute waren so vorsichtig in der Wahl ihrer Vorfahren wie du. Jetzt arbeite ich an einem neuen Einfall. Auch für Kinder. Für moderne natürlich! Ein Soldat mit einer Gasschutzmaske. Wenn man hinten auf einen Knopf drückt, stinkt es diabolisch. Ebenfalls erzieherisch! Es klärt unsere Kinder über die Schrecken des Krieges auf.«
Cederholm lachte auf eine geräuschlose Weise in sich hinein und zeigte von neuem sein Schakalgebiß.
»Du bist wirklich ein Wohltäter der Menschheit«, erwiderte Lewerenz und schüttelte sich ein wenig. »Man riecht ihn ordentlich, den Soldaten mit der Gasmaske.«
Cederholm nickte befriedigt und drückte sein fleischiges Doppelkinn an dem Knauf seines Stockes platt.
»Nun also! Spürst du es schon? Ich wußte ja, daß es sich sofort auf dich übertragen würde. Auf einen Mann von deiner Phantasie!«
Lewerenz hatte sich auf einen Stuhl gegenüber gesetzt und faßte den anderen fest ins Auge.
»Da kommen wir also wieder zum Thema zurück. Zu meiner Frage, was eigentlich dein Beruf mit meinem Geschmack oder meinen Gewohnheiten zu tun hat. Also schön! Du bist Chemiker. Du bist Erfinder. Was bist du denn noch?«
»Du scheinst zu vergessen, mein Alter, daß ich doch auch Schriftsteller bin. Sogar kein ganz unbekannter auf meinem Gebiet. Damit kommen wir dem Kernpunkt schon wesentlich näher. Aber was ich vor allem bin, das übersiehst du ganz. Ich bin Psychologe.«
»Chemiker und Psychologe? Ein interessantes Mixtum compositum!«
»Nicht so fernliegend, wie du denkst. Es ist die Entdeckung, die ich gerade vorbereite, und von der ich hoffe, daß sie epochemachend sein wird.«
»Und wie lautet die? Wenn man schon etwas darüber erfahren darf?«
»Chemie und Psychologie sind identisch. Jene arbeitet mit den Phänomenen der rein stofflichen Materie, mit den Elementen. Diese mit den Phänomenen der vergeistigten Materie, mit den Ausstrahlungen des menschlichen Gehirns. Das ist der ganze Unterschied. Daß auch dieser Unterschied in Wirklichkeit nicht besteht, das eben ist meine Entdeckung. Ich denke, sie wird mich unsterblich machen.«
Beide Männer schwiegen ein Weilchen. Die sinkende Silvestersonne malte rote Tupfen und Kringel auf die bunten Lederrücken der Bücherregale an der den Fenstern gegenüberliegenden Längswand des Zimmers. Es war, als ob sie sich ein bißchen lustig machen wolle über die Weisheit der Menschengeschlechter.
»Du bist und bleibst der Materialist vom reinsten Wasser, der du schon auf dem Gymnasium warst, mein lieber Cederholm!« sagte Lewerenz mit halbgeschlossenen Augen und strich sich nachdenklich über die Stirn, als müsse er dahinter eine Erinnerung suchen oder wegwischen; er wußte selbst nicht recht, was es war.
»Ja, der bin ich und werde ich auch bis zu meinem Ende bleiben«, erwiderte Cederholm, während der eulenhafte Zug um seine Nasenflügel sich vertiefte. »Ich werde es bleiben, einfach darum, weil alle exakte wissenschaftliche Forschung darauf beruht. Mag sein, daß noch etwas hinter den Dingen steckt, was wir nicht wissen und niemals wissen werden. Aber auch gar nicht zu wissen brauchen, weil es mit unserer Wissenschaft gar nichts zu tun hat. Darum mögen sich die Theologen oder Philosophen kümmern! ... Im übrigen besteht zwischen meinem Materialismus und deinem Okkultismus ...«
»Mein Okkultismus ...?!« warf Lewerenz achselzuckend dazwischen. »Woher weißt du das? Oder wie kommst du darauf?«
Cederholm lachte in sich hinein. »Das gehört eben auch zur Erforschung deiner Persönlichkeit, die ich nun einmal auf meinem Programm habe ... Also zwischen unseren beiden Standpunkten ist der Unterschied vielleicht gar nicht so groß, wie du meinst, mein Alter! Vielleicht überschneiden sich Materialismus und Okkultismus in mancher Hinsicht. Nur daß ich dies weiß, und du wahrscheinlich nicht.«
Lewerenz lächelte flüchtig. »Danke für die Belehrung! Auch in dem Punkte bist du der Alte. Du hattest diese nette Gewohnheit schon als Primaner ... Kann man schon etwas Näheres über deine Entdeckung zu hören bekommen?«
»Ich muß mir natürlich alle genaueren Einzelheiten vorbehalten. In einem wesentlichen Punkte läuft sie darauf hinaus, daß man für jeden Menschen eine bestimmte chemische Formel finden kann, die sich mit seinem Charakter deckt: eben darum, weil sie gewissermaßen der tellurische Ausdruck seiner spirituellen Persönlichkeit ist. Man muß nur den richtigen Schlüssel besitzen, um sie entziffern zu können. Das ist auch ein Teil meiner Entdeckung. Ich darf wohl sagen, es hat einiger Scharfsinn dazu gehört. Die Namen der Männer, deren Gehirne geräumig genug sind, um derartige Erleuchtungen einzulassen – es sind ja in jedem Jahrhundert nur ein paar –, pflegt die Nachwelt unter die Sterne zu versetzen.«
Lewerenz verbeugte sich leicht, ohne erkennbaren Anstrich von Ironie.
»Ich bin mir der Weihe des Augenblickes wohl bewußt ... Aber wie findest du jene chemische Formel? Oder ist das auch noch Geheimnis?«
»Durchaus nicht! Auf dem einfachsten Wege. Durch die Photographie.«
Lewerenz richtete sich überrascht auf. »Nicht möglich! Auf photographischem Wege?«
»So ist es! Zwischen der photographischen Platte, die ich von einem Menschen mache, und diesem Menschen selbst besteht ein immanenter, unlöslicher Zusammenhang. Er kommt durch die Belichtung zustande. Das Licht ist der Träger und Übermittler aller menschlichen Wesenszüge und Charaktereigenschaften, rein materiell genommen, auf das Negativ, das ich herstelle. Also nicht nur der äußeren menschlichen Erscheinungsform. Hier beginnt meine Entdeckung. Ich nenne sie Psychochemie. Worin sie weiter besteht, darüber kann ich dir im Augenblick noch keine Auskunft geben. Aber du wirst jetzt verstehen, weshalb ich mich, abgesehen von unseren alten freundschaftlichen Beziehungen, gerade jetzt besonders für deine Persönlichkeit interessiere.«
Lewerenz schüttelte den Kopf. »Doch nicht so ganz! Vielleicht erklärst du es mir?«
Cederholm griff nach seiner Manteltasche und brachte einen winzig kleinen photographischen Apparat zum Vorschein. »Willst du mir zu einer kurzen photographischen Aufnahme sitzen? Es tut nicht weh! Und wir haben den Vorteil, daß wir das Interieur gleich mit dabei haben. Das Interieur spielt nämlich bei dem Vorgang keine ganz kleine Rolle. Die Moleküle, Atome, Elektronen, Ionen, alle diese allerkleinsten Einheiten befinden sich ja in einer fortwährenden rasenden Umdrehung und schleudern ununterbrochen Bestandteile von sich in den Raum. Vulgär ausgedrückt, wir übertragen fortwährend winzigste Bestandteile unseres Wesens, unseres Charakters auf unsere Umgebung, Menschen wie Dinge. Infiltrieren sie gleichsam mit einer unsichtbaren Staubschicht von uns selbst. Das teilt sich durch den Belichtungsprozeß dann dem Negativ mit, ganz gleich, ob Film oder Platte, und verstärkt dadurch die Beweiskraft der chemisch-psychologischen Formel, die wir der aus dem Negativ herausquellenden Emulsion entnehmen.«
Lewerenz hatte den Kopf nachdenklich auf die Brust gesenkt. Der schwarzhaarige Mann mit den dunkelblauen Augengläsern, der Habichtsnase und dem Eulenkopf starrte ihm unverwandt ins Gesicht, als ob er ihn hypnotisieren wollte.
»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte Lewerenz schließlich, »so soll ich dir als Versuchskaninchen dienen. Du willst deine chemischen Formeln an mir ausprobieren, nicht wahr? Du willst gewissermaßen die Quadratwurzel oder Kubikwurzel aus mir ausziehen ...«
»Immer noch besser, als wenn ich dir einen oder ein paar Zähne ausziehen wollte«, warf Cederholm dazwischen und feixte auf seine geräuschlose Weise in sich hinein.
»Die Aufgabe liegt mir aber nicht sehr«, entgegnete Lewerenz. »Ich bin kein Freund von solchen Experimenten am eigenen Leibe. Von solchen Vivisektionen gewissermaßen. Man weiß auch nie, ob mit dem Resultat nicht Mißbrauch getrieben wird. Ich lasse mir grundsätzlich nicht aus der Hand lesen oder meine Handschrift deuten. Habe mir auch noch nicht das Horoskop stellen lassen. Vielleicht gerade, weil ich geneigt bin, daran zu glauben. Ich bin eben nicht neugierig in diesen Dingen. Es wird schon alles von selbst kommen. Und vermutlich so, wie's kommen muß.«
Er sah auf und hörte ein mehrmaliges schwaches Knipsen schnell nacheinander. Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte Cederholm den Apparat in seine Brusttasche versenkt.
»Es ist schon alles vorbei«, sagte er und lächelte zähnefletschend. »Ich danke dir herzlich für dein Entgegenkommen. Ich wußte ja, daß du es mir nicht verweigern würdest. Man muß für die Wissenschaft auch mal ein übriges tun. Ich habe ihr mein halbes Leben geopfert und säße noch heute auf dem Pfropfen, wenn mir unser lieber Herrgott nicht noch einige kleine Fähigkeiten daneben verliehen hätte. Dazu gehören zum Beispiel der besagte Hampelmann und der Soldat, der so herrlich stinken kann, für unsere lieben Kinderchen. Auch die hübsche kleine Kamera gehört dazu, die ich eben in die Tasche gesteckt habe. Sie macht hundert Aufnahmen in der Sekunde. Ich habe sie selbst konstruiert. Sie unterscheidet sich von den üblichen Apparaten, die die Filmoperateure benutzen, dadurch, daß sie noch zehnmal schneller arbeitet.« Er streckte Lewerenz seine taubengrau behandschuhte Rechte entgegen. »Also vielen Dank nochmals! Du wirst es nicht zu bereuen haben. Wir werden ein bißchen Feuer dahinter machen.«
Lewerenz hatte ein unangenehmes Gefühl, aber er hielt es für das beste, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er stand auf und reichte Cederholm seine Hand hin. »Du hast dir also selbst genommen,« sagte er mit einem kurzen Lächeln, »was ich dir mit meinem Willen nicht erlaubt hätte. Ich hoffe, daß das auch mit auf dein Negativ kommt und deine Formeln etwas durcheinanderbringt. Baue also nicht zu sehr auf deine Berechnungen und deinen Extrakt! Es könnten sich Fehler einschleichen.«
»Emulsion! Nicht Extrakt!« verbesserte Cederholm. »Wir wollen doch bei der wissenschaftlichen Terminologie bleiben. Aber gut! Gut! Ich sehe, du entwickelst dich. Es kann noch etwas aus dir werden. Man muß nur endlich Feuer bei dir dahinter machen. Ich habe es dir schon vor dreißig Jahren gesagt. Jetzt muß einmal Ernst gemacht werden. Ich spreche zu dir als dein alter Freund. Sobald ich die Negative entwickelt habe, gehen wir an die Arbeit.«
Er schüttelte Lewerenz die widerstrebende Hand und schien plötzlich Eile zu haben, aus dem Zimmer zu kommen.
Lewerenz vertrat ihm mit einer entschiedenen Wendung den Weg zur Tür.
»Was soll das alles heißen? Was willst du mit dem allen sagen? Du wirst mir nicht aus dem Zimmer kommen, ehe ich nicht Auskunft habe.« Er hatte einen drohenden Ausdruck, vor dem Cederholm sich plötzlich duckte. »Nun?« drängte Lewerenz. »Ich warte!«
Cederholm hatte die Stirn gerunzelt. Er sah uhumäßiger als je aus. »Es soll heißen,« erwiderte er, »was ich schon von allem Anfang an sagte, als ich ins Zimmer kam.«
»Was war das?«
»Ich sprach von deinen Gewohnheiten, von deinem Geschmack. Man braucht ja nur einen Blick auf deine Umgebung zu werfen. Auf diese Klubsessel. Auf alle diese Bequemlichkeiten.«
»Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Du hast sie mir vielmehr empfohlen.«
»Aber du hast sie genommen. Eben darauf kommt es an. Du bist das Opfer deiner Spießbürgerei. Du verkommst in Behaglichkeit. Sieh mich an! Ich hause in einem Raum mit lauter weißlackierten Stahlmöbeln. Da ist nicht ein Plätzchen, auf dem man sich ausruhen kann. Auf dem man auch nur bequem sitzen kann. Der Satan in Person hat sie erfunden. Aber deshalb bringe ich es auch zu etwas. Du hast es noch immer zu nichts gebracht, obwohl du dich Geheimrat schimpfen läßt. Deshalb habe ich mir vorgenommen, Feuer dahinter zu machen. Und jetzt adieu und Prosit Neujahr!« Er duckte sich wie vor einem erwarteten tätlichen Angriff des anderen, griff nach dem bereitliegenden Mantel und Hut und war mit einem schnellen, katzenartigen Sprung aus dem Zimmer.
*
Cederholms Laboratorium befand sich im fünften oder sechsten Stockwerk eines großen Geschäftshauses der Kaufinger Straße. Im Treppenflur des Erdgeschosses zeigte eine Wohnungstafel etwa zwei Dutzend Namen von Firmen, Kontoren, Büros, Ateliers und sonstigen Geschäftsräumen an. In der obersten Reihe, eben im fünften oder sechsten Stockwerk, stand ganz für sich zu lesen: Dr. Karl Cederholm, Chemiker.
Angele Moradelli war seit einem Jahr oft genug die vielen Treppen zu Cederholms Laboratorium emporgestiegen oder mit dem Paternosteraufzug hinaufgefahren. Aber beinahe jedesmal hatte sie für ein paar Augenblicke vor dem Firmengewimmel dieser Wohnungstafel haltgemacht. Als Wirtschaftsstudentin hatte sie von Berufs wegen ein lebhaftes Interesse an allen diesen wirtschaftlichen Erscheinungen und Schichtungen, an diesem geschäftlichen Mikrokosmos, dessen Querschnitt ihre geübten Augen deutlich von der Tafel ablasen.
Aber auch, wenn man hiervon absah, blieb noch genug des Bunten und Merkwürdigen in diesem nur scheinbar trockenen Firmenregister, das ihre lebhafte, ja leidenschaftliche Phantasie bewegen und entzünden konnte. Und wenn sie dann ganz zuoberst, gleichsam an der Spitze dieser menschlichen Stufenleiter, den Namen von Karl Cederholm las und ihn mit allen den anderen hier Hausenden verglich, so hatte sie oft das Gefühl, alle diese übrigen seien gleichsam nur Abfallprodukte (ein Wort aus Cederholms Lexikon) in der großen Kehrichttonne dieses Hauses; der einzige Mensch aber, allerdings ein böser, gefährlicher, bedrohlicher, aber eben doch ein einmaliger, nie wiederkehrender Ausnahmemensch von unvergänglicher, sozusagen radialer Ausstrahlungskraft, sei eben dieser nicht umsonst obenanstehende Karl Cederholm: seit einem Jahr ihr Meister, Lehrer, Führer und – warum es vor sich selbst leugnen? – in einem tieferen, nicht landläufigen Sinne auch ihr Verführer.
Auch heute – an einem trüben, windigen Tage, wie so viele dieses bisher andauernd milden Winters – hatte Angele mit ähnlichen Gedanken den Flurgang des großen Kontorhauses betreten. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, wieder das Haus zu verlassen und gar nicht erst zu Cederholm hinaufzugehen. Aber sie ließ den Gedanken ebenso schnell wieder fallen. Es ging wirklich nicht an! Er hatte eine höchst peinliche Art, es einem, manchmal erst einige Stunden später, bei irgendeiner plötzlich sich bietenden Gelegenheit heimzuzahlen.
Im übrigen war ja auch ihr Geburtstag heute. Sie wurde an diesem Tage zwanzig Jahre alt, trat also – man konnte es nicht leugnen – bereits in ein reiferes Alter ein. Auch darum geziemte sich an diesem Tage Besonnenheit. Cederholm hatte ihr versprochen, ihr heute nachmittag eine Stunde seiner kostbaren Zeit zu opfern, und schien irgendeine Überraschung für sie zu planen. Diese Aussicht erfüllte sie übrigens gar nicht mit besonderem Vergnügen. Ja, vielleicht lag hierin, wenn sie es richtig überlegte, sogar der tiefere Grund dieser Unruhe und Bangigkeit, die sie mit einemmal überkommen hatten. Denn sie wußte aus einjähriger Erfahrung nur allzu gut, daß Überraschungen, die Cederholm mit seiner Umgebung, nicht zum wenigsten auch mit ihr selbst vorhatte, meist von unangenehmer Art waren.
Merkwürdig, daß sie es plötzlich von dieser Seite sah! Das war doch nicht immer so, ja noch vor kurzem nicht so gewesen. Cederholm war ein Tyrann! Ein Dämon! Ein Teufel! Gewiß, das hatte sie stets gewußt. Aber war es nicht gerade der Widerschein dieses gleichsam unterirdischen Höllenfeuers, der sie geblendet hatte, dessen Magie sie verfallen, dessen eiskalter Glut sie erlegen war? Sie war die Dienerin, die Schülerin, die Adeptin. Und er, der Höllenfürst, war ihr Meister. Was war plötzlich anders geworden?
Angele Moradelli war ein schönes, schlankes, großgewachsenes Mädchen. Schwarzbraunes Haar umfloß ihre hohe, weiße Stirn und ihr weiches, etwas bleiches Gesicht, dessen zarte Farben etwas Transparentes hatten und von der gesunden Fülle ihres Wuchses merkwürdig abstachen. Zwischen ihren dunklen Augenbrauen schien es in Momenten des Nachdenkens wie ein Wolkenschatten zu liegen, der sich manchmal zu einer Gewitterwolke verdunkeln konnte. Als Ganzes gesehen, erinnerte dieses weiche, sinnliche und zugleich sinnende Mädchengesicht mit der Umrahmung des schwarzbraunen Haares, das eine ganz schwache rötliche Tönung zeigte, an Mädchenbildnisse lombardischer oder venezianischer Meister der Renaissance oder des Barocks.
Angele Moradelli stammte, wie ja schon ihr Name anzeigte, aus einer ursprünglich italienischen Familie, die im siebzehnten Jahrhundert oder zu Anfang des achtzehnten in München eingewandert war. Jedenfalls hatte die Familie schon im achtzehnten Jahrhundert einen sichtlichen Aufstieg genommen und mehrere Generationen hindurch dem Beamtenadel angehört. Auch ein ansehnlicher Wohlstand mußte vorhanden gewesen sein; allerlei noch bis zuletzt im Besitz der Familie erhaltene Erbstücke wiesen darauf hin.
Im letzten Jahrhundert war ein äußerlicher Stillstand jenes Aufstiegs eingetreten. Die Familie hatte sich zu bürgerlichen Berufen zurückgefunden. Angeles Eltern hatten ein Einfuhrgeschäft von Obst und Südfrüchten gehabt; auch hier schien sich die einstmalige italienische Abkunft von neuem anzumelden. Ein Onkel Angeles, der Bruder ihres Vaters, war ein angesehener Philologe gewesen und hatte es bis zur Stellung eines Konrektors an einer Münchner höheren Schule gebracht. Seinem Einfluß war es wohl zuzuschreiben, daß Angele nicht nur die Töchterschule, sondern auch das Mädchenlyzeum hatte besuchen dürfen, obwohl die Eltern als praktische Leute gegen das geplante Universitätsstudium ihrer Tochter allerlei einzuwenden hatten.
Die wirtschaftliche Lage ihrer Eltern hatte sich durch den Krieg sehr verschlechtert. Es hatte gerade noch ausgereicht, um Angele nach bestandenem Examen den Weg zur Universität zu eröffnen. Fortan mußte sie sich auf eigene Faust durchzuschlagen versuchen. Sie gab zurückgebliebenen Schülern Stunden, fand Aushilfsstellungen in Bankhäusern, deren Zahl gerade um diese Zeit sichtlich anzuschwellen begann. Daß daneben oft nur ein paar späte Nachmittag- oder Abendstunden für die Universitätsvorlesungen und für das häusliche Studium übrigblieben, war unabänderlich. Aber Angele ließ es sich nicht anfechten und blieb guten Mutes. Sie hatte zu aller Versonnenheit und Nachdenklichkeit, die manchmal in Grübelei überging, doch auch eine gute Portion Humor mit in die Welt bekommen; er war oft durch das düsterste Gewölk hervorgebrochen und hatte den Weg vor ihrem strauchelnden Fuß erhellt.
Angele Moradelli hatte als ein frei denkendes Mädchen ein paar Erlebnisse mit Männern gehabt. Aber es waren keine tieferen Spuren davon zurückgeblieben, wie sehr sie sich auch im Augenblick an sie verloren hatte. Angeles Theorien über die Liebe und über das Recht des modernen jungen Weibes auf Sinnengenuß waren von sehr radikaler Natur. Das lag ohnehin in der Zeitstimmung. Alle diese jungen Mädchen, Angeles Altersgenossinnen und Kameradinnen, diese ganze soeben die Lebensbühne betretende Generation von Studentinnen, Buchhalterinnen, Beamtinnen, Sekretärinnen, Stenotypistinnen, Verkäuferinnen dachte im Grunde nicht anders über die Liebe und über die Beziehungen zum Manne als Angele selbst. Nur gebrach es der Mehrzahl ebensosehr an der Folgerichtigkeit des Denkens wie am Mut des Handelns, um das Gedachte auf die ersehnte radikale Weise in Tat umzusetzen.
Dies traf besonders für Angeles engeren Lebensbezirk, ihre studentischen Kommilitoninnen zu, die sich in kühnen Reden und Beweisführungen überboten, aber dann doch nicht den Mut hatten, dem Ansturm des Geliebten alles zu gewähren. In den gemeinsamen Konventikeln, die man in Cafés und Konditoreien, gelegentlich auch in Studentenkneipen abhielt, pflegte Angele über diesen Mangel an Folgerichtigkeit zu spotten und sie als bürgerliche Feigheit zu bezeichnen. Sie genoß unter den Kommilitonen den Ruf einer ganz Radikalen und erhob auch selbst kaum Einspruch gegen eine solche Einreihung. Und doch war, ihr selbst unbewußt, der Kern ihres Wesens fast unberührt davon geblieben. Sie war im Grunde eine sehr tüchtige, strebsame, zuverlässige Natur.
Etwa vor einem Jahre hatte Angele bei einer Festlichkeit im Eichwaldschen Hause Cederholm kennengelernt. Cederholm war mit Eichwalds befreundet und verkehrte viel dort. Er brauchte und suchte Geselligkeit und pflegte die Abende und Nächte viel in Gesellschaft zu verbringen, sei es im Privatkreise, sei es, wie meistens, in Gastwirtschaften der allerverschiedensten Güte und Gattung. »Mein eigentliches Material, mein Experimentierobjekt sind die Menschen«, pflegte er zu sagen. »Aber wie soll ich experimentieren, wenn ich mein Material nicht fortwährend zur Hand habe? Kann ich die Richtigkeit meiner psychochemischen Formeln, meiner ganzen psychochemischen Methode zuverlässiger ausprobieren, als indem ich sie ständig an der Hand der Wirklichkeit, nämlich durch meine menschlichen Demonstrationsobjekte kontrolliere?« Vielleicht war noch etwas anderes da, was Cederholm aus dem Hause trieb und ihn die laute Geselligkeit, den Lärm öffentlicher Feste suchen ließ; etwas, worüber er sich selbst keine Rechenschaft ablegte, ja, was er vor sich selbst zu verheimlichen trachtete: das furchtbare Einsamkeits- und Leeregefühl, das ihn so oft nach getaner Tagesarbeit überfiel.
Angele war von Anna Eichwald schon seit längerer Zeit in ihren engeren und engsten Kreis gezogen worden. Anna Eichwald liebte es, sich mit jungen Künstlerinnen und Studentinnen zu umgeben, denen gegenüber sie gern in der Rolle der Gönnerin, der Beschützerin, der Königin auftrat. Angele hatte gerade hierfür nicht sehr viel übrig und hatte sich zuerst sehr spröde gegen das offenkundige Werben der monumentalen Frau verhalten. Schließlich aber war sie doch der Anziehungskraft des Eichwaldschen Kreises und seines beherrschenden Mittelpunktes verfallen.
Anna Eichwald verlangte von den Mitgliedern ihrer weiblichen Leibgarde, wie man sie wohl nennen konnte, Temperament, Feuer, Unbedenklichkeit und nicht zuletzt natürlich Verstand. Angele Moradelli vereinigte dies alles auf eine nicht gewöhnliche Weise; und so geschah es, daß einmal ausnahmsweise Angele als die Gebende, die Umworbene auftreten konnte und bald in eine Art von Günstlingsverhältnis zu dieser neuen nordischen Katharina kam. Bei der Bedeutung, die auch Cederholm in diesem Kreise zugemessen wurde, war es nur natürlich, daß er und Angele schnell aufeinander aufmerksam wurden.
Es war ein Jahr voller Kämpfe und Stürme, voller Abstoßung und Anziehung, voller Widerstand und Zwang, voller Krampf und Selbstbetrug gewesen. Auf diesem Schlachtfeld der Leidenschaft hatte es eigentlich nur Verwundete, aber weder das Triumphgefühl eines heißerstrittenen Sieges noch die Wonne einer gern erduldeten Niederlage gegeben. Es hatte fast immer die krankhafte Hitze eines Fieberzustandes geherrscht. War es nicht höchste Zeit, damit Schluß zu machen, wenn es nicht ein Ende mit Schrecken nehmen sollte?
Angele atmete tief auf. Der Aufzug näherte sich Strich um Strich der Linie des obersten Stockwerkes. Noch wenige Augenblicke, und sie mußte aussteigen, wenn sie nicht an dieser unendlichen Kette bis unter das Dach hinauf und jenseits wieder hinunterfahren wollte, und so fort bis ans Ende aller Tage. Ihr schwindelte plötzlich, aber sie raffte alle ihre Kraft zusammen und schwang sich im letzten Augenblick auf die schon unter ihr versinkende Rampe von Cederholms Stockwerk. Sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Jetzt also mußte es geschehen! Sie ging einen langen, von einer elektrischen Birne schwach erleuchteten Gang hinunter, der auf eine Doppeltür mündete, und klopfte an. Innen wurde ein Riegel zurückgeschoben, ein Schlüssel mehrmals umgedreht, die Tür öffnete sich.
Cederholm stand im weißen Arbeitskittel da und lächelte auf seine melancholische, eulenhafte Art, indem er seinen Unterkiefer ein Stück weit vorschob.
»Ah! Siehe da, Angele! Du bist's? ... Ich hatte eigentlich jemand anders erwartet. Aber da du mal da bist, so macht es nichts. Du kommst gerade im richtigen Augenblick, ohne es zu wissen. Ich bin eben in einem hübschen Experiment begriffen, das auch dich mitangeht. Und diesmal ist es ein Abschluß, kein Anfang. Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie Kolumbus am 12. Oktober 1492. Die Unendlichkeit des Ozeans liegt hinter mir, und ich kann rufen wie er: Land! Land! Ich habe nicht nur einen neuen Kontinent ... ich habe eine neue Welt entdeckt!«
Cederholm hatte die Türe des Laboratoriums geschlossen, den Schlüssel wieder mehrmals umgedreht und den Riegel vorgeschoben. Es war ein großer, länglich viereckiger Raum in der Art eines Ateliers, mit breiten Atelierfenstern nach der Straßenseite zu, ganz auf Weiß abgestimmt. An den kahlen, weißgestrichenen Wänden standen ein paar weißlackierte Regale und ein großer Glasschrank mit Flaschen, Gläsern, Schüsseln, Näpfen, Säuren, Chemikalien. In einer Ecke befand sich ein bottichartiger Messingzuber, der seine Füllung aus der Wasserleitung erhielt und seinen überschüssigen Inhalt durch eine Röhre wieder zur Wasserleitung abgab. Daneben stand ein Werktisch mit verschiedenartigen Näpfen, Schüsseln und Glasbehältern. Ein anderer Werktisch war mit Papieren, Schriften und Büchern bedeckt, die trotz ihrem scheinbaren Durcheinander offenbar von irgendeinem ordnenden Prinzip beherrscht waren.
Der weite, öde Raum war nur auf das notdürftigste mit Möbeln ausgestattet. An einer Längswand befand sich das »Ruhelager«, eine Art von Drahtpritsche, über die ein paar alte Reisedecken geworfen waren. Eine besondere Zierde bildeten fünf weißlackierte Stahlschemel mit fünfeckigen Sitzflächen, die auf gewisse, gleichsam beherrschende Schlüsselpunkte des Raumes verteilt waren. Ihre Anordnung zueinander war so ins Auge fallend, daß jeder Eintretende sofort einen bestimmten Zweck dahinter vermuten mußte; man konnte sich nur nicht denken, welchen. Das ganze Etablissement – man hätte es seiner Größe wegen so nennen können – erinnerte in seiner frostigen Ungemütlichkeit an eine Klinik oder eine Kaserne, vielleicht auch an einen Wartesaal, in dem sich ein besonders modern gestimmter Innenarchitekt ausgetobt hatte.
Angele hatte nur einen flüchtigen Blick in die Runde geworfen. Dieses in seiner gewollten Kahlheit geradezu aufreizende Interieur war ihr seit einem Jahr nur zu gut bekannt. Gewiß! Damals, als sie es zum erstenmal sah, hatte es seinen Eindruck auf sie nicht verfehlt. Die fünf Stahlschemel standen noch auf der gleichen Stelle wie damals. Sie bildeten in ihrer Anordnung noch genau die gleiche Figur, das Pentagramma oder den Drudenfuß, um den sie in abergläubischer Scheu herumgegangen war, als Cederholm ihr mit hochgezogenen Augenbrauen und tiefgerunzelter Stirn dessen mystische Bedeutung erklärt hatte. Was für ein dummes, unerfahrenes Kind war sie doch gewesen, als sie auf all dieses Brimborium hereingefallen war! Sie ärgerte sich über sich selbst, teils in Erinnerung an jene Zeit ihrer kindischen Schwäche, in der sie sich Cederholm ausgeliefert hatte, fast noch mehr über den Empfang, den er ihr soeben hatte zuteil werden lassen.
»Ich finde es eigentlich ein bißchen merkwürdig, daß du gar nichts von unserer Verabredung zu wissen scheinst, mein lieber Cederholm«, bemerkte Angele. Auf ihrer Stirn wetterleuchtete es aus einer Wolke des Unmuts.
»Verabredung?« fragte Cederholm kopfschüttelnd. Sein Gesicht war todernst.
»Jawohl, Verabredung!« erwiderte Angele. Die Wolke zwischen ihren Augenbrauen verfinsterte sich noch mehr. »Ausgerechnet heute erwartest du einen anderen oder eine andere zu Besuch!«
Cederholm schüttelte von neuem den Kopf. »Was soll mich denn in Teufels Namen hindern, gerade heute Besuch zu empfangen? Um was für eine Weiberdummheit handelt es sich wieder?«
Angele lächelte auf eine gefahrdrohende Weise. »Es handelt sich um die Dummheit, daß heute mein Geburtstag ist.«
»Dein Geburtstag?«
»Ja, es war in der Tat eine Dummheit, auf die Welt zu kommen. Bloß um in deine Finger zu geraten! Das gebe ich zu. Aber es ist nun einmal geschehen. Ich bin da. Ich bin auf der Welt. Wenn auch nicht gerade sehr gern. Und wer weiß, auf wie lange! Einerlei! Es ist mein Geburtstag. Heute bin ich zwanzig Jahre. Du hast dir offenbar eine besondere Methode ausgedacht, den Tag mit mir zu feiern. Wie konnte man es auch anders erwarten?« Sie stampfte ein wenig mit dem Fuß auf und kehrte ihm mit einer entschiedenen Wendung den Rücken zu. Es sah aus, als wolle sie gehen.
Cederholm vertrat ihr den Weg. »Dein Geburtstag ist heute? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich dachte, er sei erst morgen.«
Angeles Erbitterung war eher noch im Wachsen. »Auf heute um vier Uhr hatten wir uns verabredet. Das weißt du so gut wie ich, lieber Freund. Rede mir doch nichts vor! Und ziehe, bitte, nicht dieses scheinheilige Gesicht! Es kann einen rasend machen!«
Cederholm hatte wieder auf seine eigentümliche Weise die Augenbrauen hochgezogen, so daß sie kreisrund erschienen. Im übrigen zuckte keine Miene in seinem Gesicht.
»Auf vier Uhr hatten wir uns verabredet? Soso!« Er packte Angeles Handknöchel mit einem kurzen Griff und zog sie hinter sich her zum Fenster.
»Was willst du?« fragte Angele ärgerlich, aber ohne sich besonders zu sträuben.
Sie standen an den großen Atelierfenstern, die auf die Kaufinger Straße hinausgingen. Zwischen der gegenüberliegenden Straßenfront klaffte eine breite Lücke und gab den Durchblick zur Domkirche frei. Man befand sich etwa in gleicher Höhe mit dem Sockel des hohen, spitzen Kirchendaches. Cederholm zeigte nach dem Zifferblatt des Südturmes hinauf. »Auf vier Uhr, sagst du, hatten wir uns verabredet? Dann stimmt es also doch, daß dein Geburtstag erst morgen ist.«
»Wieso? Was ist denn das für dummes Zeug?«
»Weil es bereits gegen fünf ist. Wäre heute wirklich dein Geburtstag, so wärest du doch pünktlich um vier Uhr gekommen und würdest dich nicht verspätet haben. Ich mußte also mit Recht annehmen, daß ein Mißverständnis vorlag und unsere Verabredung erst für morgen galt. Deshalb habe ich für heute die Poltawina bestellt. Vom Olympiatheater. Du weißt, die unvergleichliche Trapezkünstlerin. Na, wenn sie noch kommen sollte, so schicken wir sie einfach zum Teufel.«
Angele mußte unwillkürlich lachen. Auch über Cederholms tragische Miene glitt ein flüchtiges Feixen. Angele hatte ihre Hand aus Cederholms Griff befreit und machte eine abwehrende Bewegung.
»Bitte, rede keinen Unsinn! Wie konntest du denn, als du die Poltawina bestelltest, bereits wissen, daß ich heute zu spät kommen würde? Hä?«
Cederholm gab keine Antwort. Diese Sache schien ihn nichts mehr anzugehen. Er ließ Angele in ihrer Verdutztheit stehen und begab sich mit langen Schritten den ziemlich weiten Weg zu seiner Spülvorrichtung an der Wasserleitung zurück. Während er einige Schüsselchen mit verschiedenfarbigen chemischen Lösungen prüfend vor sich hinhielt und miteinander verglich, bemerkte er beiläufig zu dem noch am Fenster ratlos dastehenden Mädchen: »Findest du nicht auch, meine gute Angele, daß das kleine Zwiegespräch, das wir eben hatten, recht erfrischend gewirkt hat? Du konntest dadurch deine schlechte Laune abreagieren, die du mitgebracht hast, und ebenso ich meinen Ärger, daß die Poltawina, diese entzückende Person, nicht auffindbar war, als du mich im Stich gelassen hattest. Wer weiß, wo sich das Frauenzimmer wieder rumtreiben mag!«
Angele fuhr wie von einem Wurfgeschoß auf, das sie getroffen hatte. »Ich bitte, von einer anderen Frau nicht in diesem Ton zu sprechen! Mag sie sonst sein, was sie will!«
»Du schlägst ja neuerdings recht selbstbewußte Töne an, mein Engel!« bemerkte Cederholm gleichmütig und fischte zwei kleine photographische Negative aus seinen Reagenzschüsseln heraus. Während er sie gegen das Licht hielt und eingehend studierte, dann und wann einen vergleichenden Blick auf die beiden Lösungen in den beiden Schalen werfend, denen er sie entnommen hatte, fuhr er fort: »Ist des Pentagrammas Kraft aus, mein Liebling? Es ist gerade ein Jahr her, da lief dir noch ein heiliger Schauer den Rücken hinunter, du zittertest bis ins Mark deines hübschen, runden Gebeins, als ich dich zum erstenmal mit dem Drudenfuß bekannt machte und das magische Fünfeck mit Kreide auf dem Boden um dich zog. Wollen wir es noch einmal wiederholen, mein Engel? Dann tritt in den Kreis meiner fünf Stahlhocker, so wie damals, und laß mich meine Hände auf deinen sehr appetitlichen Busen legen! Ebenfalls wie damals! Aber du mußt es mit gläubigem, hingegebenem Gemüte tun! Sonst wirkt das Pentagramma nicht. Ich habe es neulich mit der Poltawina versucht. Es gelang großartig! Sie war nachher um den Finger zu wickeln ... Komm! Wir versuchen es noch einmal! Ich habe nicht übel Lust, dir das heilige Fünfeck auf deine weißen Schultern zu zeichnen.« Er machte ein paar rasche, katzenhafte Schritte auf sie zu, als wolle er sie an sich reißen, aber ehe er noch die Hand nach ihr ausstrecken konnte, war sie bereits in eine andere Ecke des weitläufigen Raumes entwischt.
»Sind wir bereits so weit, mein Liebling?« keuchte Cederholm und wischte sich mit dem Taschentuch ein paar Schweißperlen von der Stirn. Es war von karmoisinroter Farbe, mit gelben und schwarzen, scheinbar chinesischen Schriftzeichen bedeckt. »Also dieses Bannes Kraft ist aus?« fuhr er fort und faßte mit seinen dunkelblauen Augengläsern die in der Nähe der Drahtpritsche sprungbereit dastehende Angele fest ins Auge. »Ein Jahr intimen Umgangs mit mir, mein Engel ...«
»Du lügst wie immer oder wie meistens!« rief Angele erbittert dazwischen. »Ich habe das niemals mit dir gehabt, was du da behauptest!«
»Ein Jahr intimen Verkehrs mit mir«, fuhr Cederholm mit bösartiger Beharrlichkeit fort, »hat genügt, mein hübsches, schwarzlockiges Täubchen vollständig zu desillusionieren. Sie glaubt an kein Pentagramma und an keinen Zauberkreis und überhaupt an nichts mehr. Nicht einmal mehr an mich.«
Angele stampfte heftig mit dem Fuße auf. »Verschone mich mit deinem Pentagramma! Überhaupt mit deinem ganzen magischen Hokuspokus, der nur für uns dumme Gänschen da ist! Ich war auch mal so eins. Heute schäme ich mich, daß ich dir jemals auf den Leim gegangen bin.«
Cederholm nickte zustimmend und kam wieder einen Schritt näher.
»Einesteils kann ich mir ja etwas darauf einbilden, daß meine Erziehung so gute Resultate gehabt hat. Es ist wie mit der Sklaverei der Neger in den Vereinigten Staaten. Man mußte sie so lange mit der Peitsche erziehen, bis sie imstande waren, sich selbst zu erziehen. Ich habe das in einem Jahr bei dir zuwege gebracht. Immerhin allerhand! Aber ich habe auch noch einen anderen Grund, auf meinen Erfolg stolz zu sein, obwohl er mich deine Liebe kostet.«
Angele machte eine heftige, wie abschüttelnde Bewegung von der Drahtpritsche her. »Meine Liebe? Lächerlich! Das Wort in deinem Munde! Was weißt du von Liebe? Kannst du überhaupt lieben?«
Cederholm zog seine Augenbrauen hoch und schnitt eine von seinen halb spöttischen, halb melancholischen Grimassen. »Es scheint ein Mißverständnis vorzuliegen, mein Täubchen. Ich sprach nicht von meiner Liebe zu dir, sondern von deiner Liebe zu mir. Das ist nicht dasselbe.«
»Es war nicht Liebe, was ich für dich empfunden habe.«
»Was war es denn sonst?«
Angele hatte eine Gebärde des Ekels. »Pfui Teufel! Du bist mir widerlich!« Sie trat ein paar Schritte näher. Zwischen ihren dunklen Augenbrauen stand eine finstere Wolke. Der gedämpfte Ton ihrer Stimme hatte etwas Drohendes. »Weißt du auch, Cederholm,« sagte sie, »daß ich dich mit kaltem Blut vernichten könnte? Und mich mit?«
Cederholm blickte von seiner Hantierung zu ihr hinüber. »Soso? Und weshalb, wenn man fragen darf?«
»Weil ich jemals an dich geglaubt habe. Weil ich mir diese furchtbare Dummheit habe zuschulden kommen lassen. Es ist die schlimmste Niederlage meines Lebens gewesen.«
Der Kopf sank ihr auf die Brust. Sie preßte die Hände gegen die Stirn wie in furchtbarer Scham vor sich selbst.
»Mein Experiment gelingt immer besser«, murmelte Cederholm. »Beinahe zu gut ... Komm her, mein Liebling! Du sollst wieder an mich glauben lernen! Wenn du mich auch nicht mehr lieben willst oder kannst.«
Er machte eine winkende Gebärde mit der erhobenen Hand zu Angele. Der Ton seiner Stimme hatte plötzlich wieder etwas Zwingendes für das verdüsterte, in sich zusammengesunkene Mädchen. Gesenkten Kopfes, mit halb geschlossenen Augen, wie eine Traumwandlerin, Schritt vor Schritt vor sich hinsetzend, folgte sie seinem Rufe. Ihr Weg führte schnurgerade durch den Bannkreis der fünf Schemel.
Cederholm beobachtete lauernd jede Bewegung von ihr. »So schnell entkommt man dem Pentagramma doch nicht, mein Liebling«, sagte er halb zu sich selbst, halb zu dem herannahenden Mädchen. »Du stellst dir das leichter vor, als es ist ... Und jetzt höre! Der hier vor dir steht, ist ein Gott oder meinetwegen ein Höllendämon, vor dem du zu knien hast!«
Angele war vor ihn hingetreten. Es war wie ein Nebel vor ihren Augen, der sich erst in weiter Ferne zu lichten schien.
Cederholm fuhr fort: »Ich habe der Materie eines ihrer tiefsten und letzten Geheimnisse abgerungen. Ich bin der Entdecker und Begründer einer bisher vollständig unbekannten neuen Wissenschaft. Der Psychochemie. Mit Hilfe der Formeln und Gesetze, die ich gefunden habe, bin ich imstande, das Schicksal eines jeden beliebigen Menschen in meine Hand zu nehmen und zu lenken, einfach dadurch, daß ich seine von mir auf psychochemischem Wege errechneten Charaktereigenschaften mittels eines nur mir bekannten chemischen Umwandlungsprozesses entscheidend beeinflusse und verändere. Im Verfolg dieser Experimente bin ich dazu gelangt, auch die Beziehungen von Menschen untereinander, sagen wir einmal zwischen Mann und Weib, im Punkte Liebe, Haß, Freundschaft oder wie sonst immer, durch mein psychochemisches Verfahren bestimmen und verwandeln zu können. Aus Liebe kann Haß, aus Haß kann Liebe werden, je nachdem, wie ich mit meiner Radialemulsion – es ist Selen dabei, wie ich dir verraten kann – auf das photographische Negativ einwirke. Denn das ist das einzige, was ich dazu brauche: das photographische Negativ der meinem Verfahren zu unterwerfenden Person.«
Cederholm schwieg und kratzte sich geräuschvoll den Kopf. Er schien keine Antwort von Angele zu verlangen.
»Du wirst jetzt verstehen, meine Beste,« sagte er nach einem Weilchen, »was für eine wichtige Rolle unter diesen Umständen der kleine Taschenapparat spielt, den du kennst. Er dient mir zur unausgesetzten Vervollständigung meines photographischen Archivs. Ich muß natürlich darauf bedacht sein, eine möglichst große Anzahl von Negativen in meinen Besitz zu bringen, weil ja mit jedem Negativ, das ich in der Hand habe, meine Macht über die Menschen und damit über das Leben um soviel zunimmt. Abgesehen vom experimentellen, also rein wissenschaftlichen Interesse, das natürlich auch mitspielt. Ohne das winzige, unscheinbare Instrument, dessen Konstruktion ich auch wieder nur mir selbst verdanke, würde meine ganze Entdeckung nur auf dem Papier stehen.«
Angele hatte ihre klare Besinnung wiedergefunden. Erst jetzt übersah sie die ganze Tragweite, das Ungeheuerliche dessen, was Cederholm soeben vor ihr enthüllt hatte. Wenn es Wahnsinn war, so war es jedenfalls ein Wahnsinn von fast überirdischem Ausmaß. Ein Grauen überlief sie.
»Nehmen wir an,« sagte sie, »daß das richtig ist, was du behauptest gefunden zu haben ...«
»Es ist richtig! Ich täusche mich nicht! Ich müßte ja ein Wahnsinniger sein, wenn ich mit so etwas auftreten wollte, ohne es beweisen zu können.«
»Vielleicht bist du auch ein Wahnsinniger und weißt es nur nicht. Es hat Augenblicke genug gegeben, wo du mir schon so vorgekommen bist. Aber ganz gleich, ob ja oder nein. Soviel weiß ich: wenn du wirklich diese Entdeckung gemacht hast und deine Methode auch in der Praxis stichhaltig ist, so müßtest du der mächtigste Mensch werden.«
Cederholm nickte gleichmütig und goß aus einer Flasche ein paar Tropfen einer zinnoberroten Säure in zwei vor ihm stehende Schalen, deren bisher gleich braune Flüssigkeiten sich sofort ganz verschiedenartig färbten. Die eine grün mit rötlichen Tönen, die andere violett mit gelblichen Tönen.
»Der mächtigste Mensch auf Erden«, wiederholte er. »Jawohl! Der müßte ich werden. Es war von Jugend an mein Ziel. Jetzt bleibt mir nichts mehr zu wünschen übrig. Ich habe mein Ziel erreicht!«
Es war plötzlich wieder dieser Ausdruck furchtbarer, unausdenklicher Melancholie auf seinem Eulengesicht.
Angele sah ihn mit ihren großen, dunklen, immer gleichsam gefahrdrohenden Augen an. »Nicht nur der mächtigste Mensch würdest du sein, Cederholm, sondern auch der gefährlichste Mensch auf Erden.«
»Auch der gefährlichste Mensch auf Erden. Ich freue mich, daß wir darüber einig sind, mein Püppchen. Ich entscheide vermittels deines Negativs vollständig souverän über dein Schicksal wie über das Schicksal aller anderen Menschen, deren Negativ ich in meinem Archiv habe. Das dürfte von dem Lebenskreise, dem wir angehören und auf den es für mich ankommt, ein sehr großer Prozentsatz sein. Willst du nicht jetzt niederfallen und mich anbeten, mein Engel? Den mächtigsten Menschen auf Erden?«
Angele hatte wieder einen leichten Schwindel vor den Augen. Aber sie bezwang sich tapfer und sah Cederholm fest in die schwarzblauen Augengläser. »Wenn deine Worte wirklich auf Wahrheit beruhen, Cederholm ... ich glaube es noch nicht! ... so müßte sich die ganze Menschheit vereinigen, dich unschädlich zu machen. Es müßte geradezu ein gutes Werk sein, dich aus der Liste der Lebendigen zu streichen.«
»Vielleicht übernimmst du es selbst, mein Engel?«
Angele schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie kurz: »Es könnte sein. Warum nicht? Dann hätte mein Leben doch einen Zweck gehabt.«
Cederholm prustete in die vorgehaltene Hand wie von einem leichten Hustenanfall und kramte unter den Papieren des Tisches. Ganz zuunterst lag eine dicke Mappe. Er entfaltete sie und blätterte in den Schriftstücken, die mit mathematischen und chemischen Formeln bedeckt waren.
»Ich möchte dich gern von deinem Unglauben bekehren, meine Beste«, sagte er. »Man will doch vor seiner einstigen Jüngerin und Adeptin nicht gerade als Scharlatan dastehen. Interessiert es dich, wenn ich dich kurz in den Hergang meines Verfahrens einweihe? Ich hoffe, es wird mit nicht allzuviel Sätzen getan sein.«
Er holte unter dem Werktisch zwei dort verborgen gehaltene niedrige Hocker hervor und schob einen davon Angele hin, während er selbst sich auf den anderen setzte. Aber nur für ein paar Augenblicke. Dann sprang er auf, gab dem Schemel einen Fußtritt, daß er auf den Boden kollerte, und begann mit langen Schritten auf und ab zu gehen.
»Ich habe«, sagte er, »die psychochemische Synthese zwischen dem photographischen Negativ und der von ihm wiedergegebenen Person entdeckt und bin imstande, sie auf eine bestimmte, chemisch darzustellende Formel zu bringen. Das ist das, was du schon im allgemeinen darüber weißt.«
Angele nickte stumm. Ihr klopfte das Herz. Nur mit Gewalt hielt sie an sich.
Cederholm fuhr fort: »Ich behaupte nicht nur, sondern kann beweisen, daß außer der rein chemischen und physikalischen Wiedergabe der dargestellten Person auf dem Negativ auch ein mindestens ebenso starker psychischer Niederschlag des photographierten Objekts auf der Platte oder im Film erfolgt, den nur bis jetzt niemand erkannt hat. Die Übertragung geschieht ebenfalls wie die rein materielle durch das Licht, in dem ich überhaupt die eigentliche Materialisation des Weltprinzips erblicke. Nicht umsonst haben alle Religionen immer wieder dem Licht als dem Ausfluß des göttlichen Wesens gehuldigt. Doch dies nebenbei, obwohl es eigentlich die Hauptsache ist. Meine Ansichten darüber sind dir ja auch bekannt.«
Er hielt inne und starrte vor sich hin, die Hand an die Stirn gedrückt. In die feierliche Stille des Laboratoriums klang aus der Tiefe des Straßenschachtes das Rollen der Straßenbahnen gedämpft herauf. Hupentöne gellten in kurzen Pausen dazwischen und verklangen schnell wieder. Cederholms Worte flossen weiter: »Ich komme jetzt zum Fundamentalsatz meiner Entdeckung. Zwischen der photographierten Person und ihrem Negativ besteht nicht nur eine einseitige psychochemische Verbindung, nämlich in Hinsicht der Wirkung von der Person auf das Negativ. Es besteht vielmehr eine Wechselwirkung zwischen beiden. Das Negativ wirkt auch auf die Person zurück, die es darstellt.«
Angele sprang von ihrem Sitz auf. »Das ist Wahnsinn! Das kannst du nicht beweisen!«
»Ich habe es bewiesen!« schrie Cederholm. »Und du sollst es zuerst an dir erfahren. Warte nur noch die nötige Zeit ab. Du wirst es schnell genug erleben ... Also noch einmal und zum letztenmal! Hämmere es dir gut ein! Dein und vieler anderer Schicksal hängt davon ab. Zwischen dem Negativ und der von ihm wiedergegebenen Person besteht eine rückwirkende psychochemische Verbindung. Natürlich nicht, solang das Negativ sich gewissermaßen in ruhendem Zustand befindet. Es bedarf selbstverständlich einer äußerst starken und außergewöhnlichen Einwirkung. Ich bin imstande, sie herbeizuführen durch eine radiale Emulsion, die ich erfunden habe und die Geheimnis bleiben wird, solange ich lebe. Mit den Einzelheiten des Verfahrens will ich dich nicht behelligen.«
Cederholm richtete sich auf und blickte zur Decke empor, wie von ungeheuren Visionen bedrängt.
»Verstehst du jetzt, mein Engel, warum die Menschheit mir von meiner jetzigen Warte aus als eine einzige Sklavenherde erscheint? Und du mit, mein Liebling? Ich halte euch alle in der Hand und verspreche euch, daß ihr euer blaues Wunder an euch selbst erleben sollt. Ich werde aus diesem kleinen, windigen Stern entweder ein Paradies oder ein Tollhaus machen, je nachdem ich bei Laune bin. Ihr alle sollt der Schemel werden, auf den ich meine Füße setzen werde. Das Korn ist wieder einmal reif für die Sichel. Euch tut ein Weltdiktator not, der zugleich der Welterlöser wird.«
Er schwieg erschöpft. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er hatte die Hände auf dem Rücken und ging mit heftigen Schritten auf und ab.
Auf Angele waren seine Worte heruntergeprasselt wie Donner und Hagel. Sie stand einige Augenblicke in Betäubung. Plötzlich entrang es sich ihr schreiend: »Ich glaube dir nicht! Es wäre Wahnsinn! Es darf nicht sein! Eher müßtest du sterben!«
»Aber du sollst es glauben lernen, mein Täubchen!« schrie Cederholm zurück und stürzte mit ein paar katzenartigen Sprüngen zum Arbeitstisch. »Hier! Wer ist dies?« schrie er und hielt dem Mädchen eines von den beiden Negativen entgegen, an denen er vorher eifrig hantiert hatte.
»Das scheine ich zu sein!« rief Angele. »Gib es her, du ... Höllengeist! Ich will nicht, daß es in deiner Gewalt ist! Wenn ich auch nicht daran glaube!«
Sie wollte ihm das Bildchen entreißen. Aber Cederholm hatte so etwas vorausgesehen und brachte es mit einer schnellen Wendung in Sicherheit. Er lachte auf seine geräuschlose Weise in sich hinein und schien sich wieder beruhigt zu haben.
»Was würde es dir helfen, mein Liebling? Ich habe ja hundert andere. Es wäre nur etwas mehr Arbeit ... Willst du das andere Bildchen auch sehen?«
Er griff nach dem zweiten Negativ und hielt es Angele in einiger Entfernung hin, jedoch so, daß sie nur undeutliche Umrisse erkennen konnte.
»Wer ist das?« fragte sie mit finsterer Stirn. »Mir scheint, ein Mann?«
»So ist es! Und zwar derjenige, den ich dir als meinen Nachfolger zugedacht habe. Ich habe euch beide gerade in Behandlung. Siehst du hier die beiden Schalen? Bitte, Hände weg! Nicht anrühren, oder du bist des Todes! Es sind die Lösungen, die ich von jedem von euch hergestellt habe. Deine ist grün mit rot. Die von dem anderen violett mit gelb. Ihr beide sollt die ersten sein, an denen ich mein Experiment in großem Stil erprobe. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn ich mein Werk nicht zu Ende führe!«
»Du ... du ... du Satan! Ich werde dich mit kaltem Blut ermorden, wenn es dazu kommt!«
Cederholm lachte und zeigte sein Schakalgebiß. »Siehst du wohl, mein Täubchen, wie weit ich mit meinem Experiment schon vorangekommen bin! Alles, was du jetzt gegen mich sagst und tust und wie du gegen mich bockst und tobst ... wie ein störrischer Gaul, der gegen die Kandare angeht ... alles das ist bereits die Folge der Experimente, die ich mit dir vorgenommen habe. Mit deinem Negativ natürlich. So, gerade so mußtest du dich aufführen, wenn es stimmen sollte. Die Probe ist geglückt. Der Beweis geradezu schlagend.«
Er feixte geräuschlos vor sich hin, nahm in jede Hand eine der beiden Schalen und trug sie langsamen Schrittes vor sich her zu dem geöffneten Glasschrank an der Wand.
Auch Angele hatte sich gefaßt. Sie öffnete ihr Handtäschchen, griff nach dem Spiegel und brachte Wangen und Haar mit Puder und Kamm wieder in Ordnung. Dann sagte sie mit einem vieldeutigen Lächeln:
»Das war wohl die Geburtstagsüberraschung, die du für mich ausgedacht hattest?«
Cederholm machte den Glasschrank zu, schloß ihn sorgfältig ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann drehte er sich zu Angele um und sagte, indem er seine Augenbrauen hochzog:
»Allerdings, mein Schatz! Aber nicht die einzige. Ich bin zwar ein Satan, aber doch ein Kavalier. Ich habe noch ein paar andere Kleinigkeiten für dich da, die dir vielleicht ebenfalls Spaß bereiten werden ... Und hier habe ich eine Flasche Madeira und eine Flasche Cliquot für uns kaltgestellt. Wir wollen deinen Geburtstag würdig feiern. Es ist auch zugleich so etwas wie ein Abschiedsfest.«
»Ja, ich glaube auch, daß ich nicht oft mehr hier heraufkommen werde«, erwiderte Angele und hatte wieder ihr seltsames Lächeln. »Ich will es dir wenigstens wünschen, mein lieber Cederholm!«
*
Franz und Anna Eichwald hatten für den Faschingsdienstag die Freunde ihres Hauses zu einem großen Karnevalskehraus eingeladen. Ein von Künstlerhand entworfenes Blatt war Lewerenz bereits vierzehn Tage vorher zugegangen. Es zeigte Eros auf einem jener Streitwagen der homerischen Helden, wie er über einem Sechsgespann dahinstiebender nackter Mädchen seine Geißel schwang.
Hans Fridolin Kramer, der Gatte der schönen weizenblonden Lätizia und Besitzer der gleichnamigen Pension, hatte mit seiner Prophezeiung, daß es der erste echte Karneval nach dem Kriege sein werde, ohne Zweifel recht behalten. Einige aus der Vorkriegszeit her berühmte Künstlerfeste waren zum erstenmal wieder aufgenommen worden. Die Schar der »Gaukler« hatte sich von neuem zusammengefunden und hatte, auf den alten Spuren wandelnd, in einem der größten Brauereisäle unzähliges fahrendes Volk um ihren Thespiskarren versammelt. Auch Lewerenz, durch Kramer noch besonders auf das Fest aufmerksam gemacht, war hingegangen und für ein paar Stunden in dem schnell entfesselten Strom untergetaucht.
Wie immer, sammelte sich alle Spannung, jede noch zurückgedämmte Lust auf die vier Abschiedstage des Faschings: als wolle jeder noch ein letztes Mal in das Füllhorn des Glücks hineingreifen, dessen Blüten der schnell enteilende Götterjüngling mit vollen Händen um sich streute.
Überall wurde gefeiert und getanzt. Überfüllt waren die Redoutensäle der Vorstädte, pfropfenvoll die altberühmten, von der Tradition geweihten Faschingssäle der Stadt. Aus allen Wirtschaften des Weichbildes – und es griff ja weit genug ins Land hinaus und besaß ihrer unzählige – erklang Musik und Gesang der unermüdlich im Chor hin und her schunkelnden Runden. Alles, was nur von fern eine Taste rühren, eine Zither schlagen oder gar den Bogen führen konnte, war Tag und Nacht bis zum Morgengrauen auf den Beinen, um von dem Erntesegen der papiernen Scheine noch soviel wie möglich für die kommende Dürre der Fastenwochen einzuheimsen. Kleine Gruppen von Musikanten grasten nach allen Regeln der Kunst die Schenken und Beiseln der einzelnen Stadtviertel ab, fleißig blasend und dudelnd, emsiger noch die Tellergroschen einsammelnd. Oberlandler Kapellen und Jazzorchester thronten an erhöhten Punkten der größeren Restaurants und schmetterten ihre aufreizenden oder hinschmelzenden Weisen über die wogenden, kreischenden, von graublauen Rauchschwaden umhüllten Menschenmassen. Ein einziger besinnungsloser Taumel schien groß und klein, alt und jung, reich und arm mit sich fortzureißen. Wiederum fand Lewerenz, der viel auf den Straßen und in den Wirtschaften unterwegs war, die Erfahrung seiner Münchner Studentenzeit bestätigt und aufs neue erprobt, daß in dieser Stadt der Fasching aus dem Urboden selbst stammte und jedem Münchner Kind als Erbgut im Blut saß.
Eichwalds wohnten in einem prunkvollen Hause nächst der Ursulakirche. Es gehörte zu einem größeren Block, den Eichwald noch in seiner Architektenzeit gebaut hatte. Die meisten von diesen Häusern waren in andere Hände übergegangen. Ein paar waren in Eichwalds Besitz geblieben, darunter das besonders schöne und geräumige Haus, worin sich jetzt die Wohnung und die Büros des vielseitigen Ehepaares befanden. Hierfür wurden die drei oberen Stockwerke benötigt. Nur zu ebener Erde und im ersten Stock wohnten fremde Mietsparteien. Die ganze Breite und einen erheblichen Teil der Tiefe des zweiten Stockwerkes nahm der riesige Sitzungssaal in Anspruch, der für die Generalversammlungen und Aufsichtsratssitzungen der Eichwaldschen Industrieunternehmungen diente. Franz Eichwald, in Börsen- und Handelskreisen der Steinkönig genannt, hatte sich in den letzten Jahren an die Spitze der gesamten süddeutschen Stein- und Marmorindustrie geschwungen. In fast allen Unternehmungen dieses Erwerbszweiges, auch wo er nicht selbst die Führung hatte, waren seine Ideen und sein Einfluß maßgebend. So konnte der große Sitzungssaal im zweiten Stockwerk des Hauses an der Ursulakirche mit einigem Recht die Herzkammer der bayrischen Stein- und Bergwerkindustrie genannt werden.
Er hatte nebenher auch noch die Aufgabe, für die darübergelegenen großen Gesellschafts- und Repräsentationsräume, in denen die berühmten Eichwaldschen Feste stattfanden, nach unten hin als Isolierraum und Schalldämpfer zu dienen, da ja niemand darin wohnte. Die eigentliche Familienwohnung des Ehepaares lag im vierten Stock, bestand aus einer Reihe kleinerer Mansardenzimmer und war verhältnismäßig bescheiden. Eichwalds, die kinderlos waren, hatten für sich selbst keine besonderen Bedürfnisse und führten, so hoch es an jenen Festabenden bei ihnen herging, im übrigen eher einen kleinbürgerlichen Haushalt. Dies war zwar nicht sehr nach dem Geschmack von Anna Eichwald. Der Geist ihrer schwedischen oder finnischen freiherrlichen Ahnen, die ihrerzeit das Geld zum Fenster hinausgeworfen und sich mit Spiel und Weibern ruiniert hatten, spukte noch hin und wieder auch in ihr. Viele dunkle Jahre verzweifelten Ringens um die nackte Notdurft des Lebens hatten nicht vermocht, diesen Geist vollständig zu bannen und den gärenden Keim der Unruhe in ihrem Blut abzutöten.
Als dann der schon auf ansehnlicher Lebens- und Erfolgshöhe stehende Architekt dem verblühenden, alternden Mädchen ganz unverhofft seine Hand angeboten hatte, war ihrem Ehrgeiz plötzlich die kaum mehr erhoffte Möglichkeit einer glänzenden, wenn auch verspäteten Laufbahn eröffnet worden. Sie hatte sich keinen Augenblick bedacht, die Werbung des äußerlich etwas linkischen und unbeholfenen, aber von einer feurigen Phantasie angetriebenen Mannes anzunehmen.
Es waren große Lebenspläne, die sie in die Ehe mitbrachte: allerdings auch fast ihr einziges Besitztum. Wenn nun doch nicht alles nach ihrem Kopf ging, so lag dies daran, daß Franz Eichwald eben auch den seinigen, einen richtigen fränkischen Bauernschädel, hatte und mit ruhiger, aber unerschütterlicher Beharrlichkeit auf seinen einmal gefaßten Beschlüssen bestand. Dazu gehörte auch, daß im Punkte der Einfachheit, Bescheidenheit, Bürgerlichkeit seiner bisherigen Lebensführung nichts geändert werden durfte. Anna Eichwald hatte von einem Schloß, von reichlicher Dienerschaft, ja von einer Art Hofhaltung im Stil der großen Malerfürsten des eben verflossenen Zeitalters geträumt. Aber hierüber war mit Franz Eichwald nun einmal nicht zu reden.
Auf einem anderen Wege aber begegnete das Ehepaar sich doch. Künstlerische Geselligkeit intimeren, gelegentlich und immer öfter auch größeren Stils: dies war der gemeinsame Boden, auf dem die Neigungen der beiden sonst so verschiedenen Menschen sich fanden und bald auf das glücklichste sich verschmolzen. Anna Eichwald liebte Glanz und Pracht aus angeborenem Luxusbedürfnis. Sie gab gern Geld aus, wenn es sich darum handelte, nach außen hin zu repräsentieren und sich in Szene zu setzen. Schon ihre äußere Erscheinung hatte etwas Monumentales und Königliches. Sie war von großer, üppig ausladender Figur. Das kurze, modische, taillenlose Hängekleid dieser Jahre verwandelte sich an ihrer großen, massiven Gestalt in eine Art von archaischem Priester- oder Königsornat. Jemand aus diesem Kreise hatte sie einmal im Scherz Sultan Selim den Dritten genannt. Die merkwürdige, sehr gescheite und empfängliche Frau hatte aus dem Spaß Ernst gemacht und erschien hinfort gern in dieser Maske vor ihren Gästen.
Ganz im Gegensatz zu ihr trat Franz Eichwald mit der größten Einfachheit und Ungezwungenheit auf. Es war ein gewisser bäuerischer, linkischer Zug in seinem Wesen, den er nie ganz ablegen konnte, auf den er vielmehr stolz zu sein schien: eine gewisse vierkantige, kompakte Art, zu stehen, zu sitzen, zu reden, vor allem zu debattieren, was er mit Leidenschaft tat, indem er die Arme einstemmte und mit hochgezogenem Rücken eine Boxerstellung einnahm. Aber in diesem vierschrötigen, äußerlich ungehobelten Manne lebte neben der immer wieder hervorbrechenden Kämpfernatur auch eine feurige, leidenschaftliche Künstlerseele. Sie hatte ihn zu einem der einfallreichsten und geschmackvollsten Baukünstler der Stadt werden lassen. Und jetzt, als das Geschäftsleben alle seine Zeit und Kraft verschlang, war sie es noch, die das Bewußtsein seiner künstlerischen Sendung und einer mit ihr einst verbundenen glücklicheren Zeit in ihm wach erhielt.
So war Franz Eichwald, der »Steinkönig«, schließlieh zu dem Ruf gelangt, einer der phantasievollsten Raumkünstler und Festdekorateure Münchens und Schwabings zu sein.
Auch die Entwürfe für dieses Faschingsdienstagsfest stammten von Eichwalds eigener Hand. Sämtliche Räume des dritten Stockwerks – ihrer acht bis zehn an der Zahl, darunter der große Tanzsaal mit Bühnenpodium und annoch geschlossenem Vorhang – waren mit tiefdunkelblauem, fast schwärzlich wirkendem Stoff bespannt, aus dessen tragischem Untergrund blutrote, pfeildurchbohrte Herzen flammten. Springende Pferde, Hirsche, Fabeltiere, ebenfalls in flammendem Rot, mischten sich in harmonischen Abständen unter das Gewimmel der verblutenden Herzen. Die Beleuchtungskörper waren mit großen durchsichtigen Papiertrommeln verkleidet, auf denen sich die Wandornamente in verkleinertem Maßstab wiederholten. Ein phantastisches, unwirkliches Zauberlicht, eine Art von magischem Helldunkel, hervorgerufen durch das Zusammenspiel der feierlichen blauschwarzen Wandbespannung und der lustig bunten Lichttrommeln, floß durch alle Räume, Menschen und Dinge gleichsam entmaterialisierend. Eine kleine Bar mit allen nur denkbaren Schnäpsen, Likören, Whiskysorten, Südweinen und jedem sonstigen Zubehör zur Bereitung von Cocktails, Flips und Cobblers befand sich in einem Raum am Ende der Zimmerflucht und lockte immer neue Besucher in ihr träumerisches Dämmerlicht. Am anderen Ende der langen Zimmerreihe war ein vielverheißendes Büfett aufgeschlagen, um das sich in den kürzeren oder längeren Tanzpausen die Gäste drängten. Die Hauptmusik spielte im Tanzsaal. Es war ein kleines Jazzorchester, das auf dem Bühnenpodium vor dem Vorhang postiert war.
Es mochte eine Gesellschaft von über hundert Personen sein, die sich schon bald nach Beginn des Festes ziemlich vollzählig eingefunden hatte. Man hatte, alter Tradition gemäß, für diesen Faschingdienstag einen früheren Ballbeginn angesetzt, da ja bereits um Mitternacht oder bald nachher das feierliche Begräbnis des Prinzen Karneval stattfinden sollte und dieses scheidende Leben von Stunde zu Stunde, ja von Minute zu Minute kostbarer wurde. Die Herren waren teils im Frack oder Smoking, überwiegend im Kostüm erschienen. Die Damenwelt schwamm in einem Meer bunter und greller Farben, aus dem weiße Arme, Nacken und Schultern aufblitzten wie Schaumkämme auf rosenroten, vergißmeinnichtblauen und amarantenen Fluten. Bei näherer Betrachtung entdeckte das Auge, daß es oft nur ein paar bunt kombinierte Fähnchen und billige Flitter waren, aus denen dieses Farbengewoge zusammenfloß. Aber der Zauber des Ganzen für Augen und Sinne war darum nicht geringer. Diese jungen Maler, Zeichner, Malmädchen, Bildhauer, Akademiker, Konservatoristen, Studenten und Studentinnen, so tausendfach sie in ihren Wünschen, Ansichten, Ideen auseinandergingen, waren doch im Punkte eines gewissen revolutionären Geschmacks alle auf der gleichen weit vorgeschrittenen Linie vereinigt.
Von den Geladenen waren Cederholm und Lewerenz noch nicht erschienen. Auch nach Angele Moradelli hatte die Dame des Hauses bereits mehrmals gefragt, aber niemand hatte sie bisher gesehen. Anna Eichwald, die wie immer die ganze Leitung des Festes in ihre Hand genommen hatte, befand sich in großer Unruhe. Der Abend sollte durch verschiedene szenische, chorische und bildhafte Darbietungen verschönt werden. Zu diesem letzteren Programmpunkt gehörte als ein Hauptclou des Abends die Wiedergabe des berühmten Gemäldes »Olympia« von Manet im lebenden Bild.
»Gut, daß ich dich gerade erwische!« rief Anna Eichwald einem soeben vorübertanzenden brünetten, molligen Girl zu. »Gib deinem faden Tänzer den Laufpaß und komm her! Ich habe dringend mit dir zu sprechen.«
Eva Herzblatt, ihres Zeichens Studentin der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft, gehorchte sofort und ließ ihren Tänzer, einen langen jungen Menschen mit einer weißgeschminkten, unendlich tragischen Pierrotmaske, mitten im Gewühl stehen. Anna Eichwald winkte der Studentin mit einer herrischen Geste, ihr in ein nebenan gelegenes stilleres Gemach zu folgen. Ihre mächtige Gestalt bewegte sich im orientalischen Sultanskostüm majestätisch dahin und zog alle Blicke auf sich. Ihre Beine steckten in den zum Kostüm gehörigen blauseidenen Pluderhosen, von denen die roten Saffianpantoffel grell abstachen. An ihrer Seite schaukelte ein Krummsäbel in reichverzierter Scheide. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Seidenturban, durch den sich ein rotseidenes Band mit einer Perlenkette wand. Es trug die Inschrift: Sultan Selim III. Darunter: Allah Inschallah.
Die beiden Frauen befanden sich in dem bläulichen Dämmerlicht des Nebenraumes fast allein. Nur in der gegenüberliegenden Ecke lagerte ein ganz in sich versunkenes Paar, das eingeschlafen zu sein schien. Wenigstens kam kein Ton aus der Ecke.
»Du siehst königlicher und majestätischer aus als je, Sultan!« sagte Eva Herzblatt mit bewunderndem Augenaufschlag und zog ihren Zylinderhut. »Gestatte, daß dein Sklave die Knie vor dir beugt!«
»Gefalle ich dir, mein braunlockiger Page?« antwortete Selim der Dritte und lächelte nicht ohne Koketterie.
»Du siehst hinreißend aus, mein Herr und Sultan!« rief die Studentin und blickte verzückt zu der vor ihr auf einem Sessel thronenden Gestalt auf. »Es ist ein hieratischer Glanz um dich, vor dem alles in den Staub sinkt. Es müßte Wonne des Paradieses sein, in diesem Augenblick von deiner Hand vermittels dieser wunderschönen Damaszenerklinge den Tod zu erleiden.«
Eva Herzblatt neigte ihr Haupt tief auf den Fußboden, wie um den tödlichen Streich zu empfangen. Aber die majestätische Gestalt über ihr schien noch einmal Gnade zu üben. Sie zog den knienden Pagen dichter zu sich heran und sagte: »Es ist genug mit den Menkenkes! Höre zu, meine Kleine! Ich bin in einer tödlichen Unruhe. Die Hillmannstorfer kommt nicht! Du weißt, die große Schwarze.«
»Die die Bucheinbände macht? Die Kunstgewerblerin?«
»Ja, die! Sie soll die Olympia darstellen in unserem lebenden Bild. Sie hat die Figur dafür. Und auch das Gesicht. Jetzt sagt mir die Person ab. Eben bekomme ich den Brief. Eine Stunde vor der Vorstellung! Sie hat Kopfschmerzen. Grippe. Was weiß ich! Meinetwegen mag sie krepieren! Aber ich verlange, daß sie Order pariert!«
»Ich gebe dir vollständig recht, Gebieterin«, flüsterte Eva Herzblatt. »Vielleicht hat sie Bedenken bekommen. Sie hat eine sehr prüde Tante, bei der sie auch wohnt. Sie muß sich doch zeigen, wie sie ist. Du erlaubst ja nicht mal einen Schleier.«
Anna Eichwald schüttelte energisch den Kopf. »Wo die Kunst in Frage kommt, kenne ich keine Konzessionen. Aber ich würde in diesem Fall eine Ausnahme machen, wenn wir nur überhaupt jemand dafür finden. Von mir aus kann sie auch einen Schleier umnehmen. Aber die Hauptsache ist, es muß auch eine Olympia sein.«
»Es muß doch in unserer heiligen Schar sich jemand finden«, meinte Eva Herzblatt und blickte beziehungsvoll an sich herunter. »Soll ich mal im Saal herumsuchen gehen?«
Anna Eichwald schien den Blick der Studentin verstanden zu haben. Sie ließ ihre Augen prüfend über Evas etwas mollige Gestalt hingleiten und schüttelte den Kopf.
»Ich würde ja sehr gern dich nehmen, mein Kleines, aber um eine Olympia vorzustellen, muß man doch etwas anders gewachsen sein.«
Die Studentin biß sich auf die Lippen und senkte den Kopf.
»Wie du befiehlst, Herrin. Was machen wir da?«
Selim der Dritte sprang ärgerlich auf seine buntbehosten Beine.
»Wenn nur die Moradelli schon da wäre! Die macht es! Und die hat auch die Erscheinung dafür!«
»Findest du, Herrin?« bemerkte Eva Herzblatt und verzog kaum merkbar den Mund.
Anna Eichwald achtete nicht darauf. Sie ging aufgeregt hin und her, hämmerte die Handknöchel gegeneinander und murmelte vor sich hin:
»Warum kommt denn diese Angele nicht? Ich überhäufe sie mit Wohltaten, und sie kommt nicht! Sie muß die Olympia posieren! Sie muß! Sie muß!« Sie wandte sich mit einer heftigen Gebärde zu der ganz zerknirscht dastehenden Studentin. »Ich werde wirklich nächstens unter euch treten und fürchterlich Musterung halten müssen, Kleines! Ihr wollt die heilige Schar eurer Königin sein! Gut! Euer Wille geschehe! Aber dazu gehört Disziplin! Und noch einmal und abermals Disziplin! Ich werde sowohl mit der Hillmannstorfer wie mit der Moradelli abrechnen. Aber natürlich erst, wenn sie die Olympia dargestellt hat.«
Sie schwieg, da sie Stimmen hörte, und wandte sich um. Lätizia Kramer und der Polizeirat von Lindlar waren in das Gemach getreten. Sie schienen soeben erst gekommen zu sein und draußen abgelegt zu haben. Das in der Ecke nebeneinander hingekauerte Paar gab noch immer keinen Laut von sich. Vielleicht war es seit mehreren Nächten nicht ins Bett gekommen, so daß die Natur eben ihr Recht forderte. Vielleicht hatte es sich auch so viel zu sagen, daß es vorzog, zu schweigen. Anna Eichwald warf einen gleichgültigen Blick zu dem wie bewußtlos daliegenden Pärchen hinüber und begrüßte zuerst Frau Kramer, dann Herrn von Lindlar.
»Es ist das erste Mal seit Ihrer Verheiratung, daß ich Sie wieder in meinem Hause begrüßen kann, Gräfin«, sagte sie. »Hoffentlich sehen wir Sie jetzt wieder öfters bei uns. Ihr Mann gehört ja neuerdings auch zu unseren Geschäftsfreunden. Er erscheint beinahe jeden Tag. Nur eine Etage tiefer.« Sie deutete mit dem Zeigefinger nach unten. »Wir haben hier unter uns unsere Büros.«
Lätizia Kramer legte ihre behandschuhten Finger auf ihren Mund und verbarg ein leichtes Gähnen.
»Ohl Sie irren sich, Baronin! Ich kümmere mich nicht um die Geschäfte meines Mannes. Das ödet mich alles so. Dieses Heer von Zahlen, das er täglich aufmarschieren läßt! Überhaupt dieses Zahlenwesen von heute! Dieses Zahlenwesen! Es scheint, als ob plötzlich alles mit fünfzig multipliziert wäre. Nicht wahr, es gibt schönere und wichtigere Dinge, wo die Geister sich finden können, lieber Freund? Ist es nicht so?«
Sie bemühte sich, ihrem harten slawischen Akzent eine weiche, schmelzende Färbung zu geben, aber der kalte, stechende Blick ihrer Augen strafte den Versuch Lügen. Sie trug ein schwarzes, weich fließendes Seidenkleid mit tiefem Rückenausschnitt, das, von schmalen Spangen gehalten, ihre Schultern freigab und den sinnlichen Reiz ihrer Erscheinung noch verstärkte. Lindlar schien mehr als je in ihrem Bann zu stehen. Er hatte sich auf ihre Anrede nur stumm verbeugt, ließ aber keinen Blick von ihr. Er war mit seinem Frack nach neuestem Schnitt tadellos angezogen wie immer. Sein halbblindes Auge war durch ein blaues Monokel verdeckt. Er stand in guter, aufrechter Haltung da, mit einem undefinierbaren Lächeln auf dem zerhackten, zusammengeflickten Gesicht. Wäre dieses Zeugnis nicht gewesen, so hätte ihm niemand ansehen können, daß nach jenem Volltreffer bei Dixmuiden eigentlich nur noch ein Häufchen zuckender Gliedmaßen von ihm auf der Tragbahre gelegen hatte.
Lätizia schien sich über sein Schweigen zu ärgern.
»Nun, warum sprechen Sie nicht, Herr Regierungsrat?« sagte sie mit ziemlich schroffem Ton, während eine tiefe Falte des Unmuts auf ihrer Stirn erschien. »Sie sind ja verschlossen wie eine Auster! Wollen Sie den ganzen Abend so bleiben? Ein angenehmer steinerner Gast! Nicht wahr, Baronin?« Sie hatte sich wieder zu Anna Eichwald gewandt. Auf ihrem Gesicht stand dieses gefrorene Lächeln. »Wollen Sie den Herrn Regierungsrat nicht in die Kur nehmen, Baronin? Es scheint, meine Kraft versagt. Man erzählt sich ja, Baronin, Sie halten sich einen ganzen Hofstaat von jungen Damen, die Sie aus dem Reichtum Ihrer Erfahrung erziehen. Vielleicht ist eine darunter, die Herrn von Lindlar die Zunge löst.«
Lindlar verbeugte sich abermals. »Ich weiß nicht, wodurch ich mir Ihre Ungnade zugezogen habe, schöne Frau Lätizia«, sagte er mit einem ergebenen Kopfschütteln. »Ich stehe seit zehn Minuten hinter Ihnen und bewundere Ihren Rückenausschnitt. Ich bewundere den pikanten blonden Haaransatz in Ihrem blendend weißen Nacken. Ich bewundere ... was bewundere ich nicht alles!«
»Aber Sie bewundern stumm!« rief Lätizia Kramer. »Und von stummer Bewunderung halten wir Frauen nicht viel. Wir wollen, daß man Zeugnis für uns ablegt ... Haben Sie früher in Ihrer großen Zeit auch immer nur stumm bewundert, wenn die Damen Sie umschwärmten, oder Sie die Damen? Beichten Sie uns doch mal, lieber Freund!«
Der Polizeirat legte die Hand an die Stirn, als gelte es, das Licht der Vergangenheit abzublenden, von dem das Dunkel der Gegenwart sich nur um so tiefer abhob.
»Vielleicht habe ich heute stumm dafür zu büßen,« sagte er, »daß ich ehemals zu laut und zuviel bewundert habe ... Aber wollen wir uns nicht das Treiben des Tanzsaales ansehen, schöne Freundin? Ich fürchte, wir entziehen die Dame des Hauses allzulange ihren Pflichten.«
Anna Eichwald hatte mit gekreuzten Armen dem Redegeplänkel zugehört. Plötzlich sagte sie zu Lindlar:
»Sie sind Okkultist, Herr Regierungsrat. Ich sehe es Ihnen an. Ich entnehme es aus jedem Wort. Aus jedem Blick. Wollen Sie nicht einmal zu meinen Sitzungen kommen? Wir experimentieren jeden Donnerstag um acht. Neulich manifestierten sich Petrarca, Heliogabal und Robespierre. Es war direkt sensationell. Also kommen Sie! Wir brauchen Persönlichkeiten wie Sie.« Sie nickte Frau Lätizia etwas förmlich, Herrn von Lindlar mit bedeutsamem Augenaufschlag zu, als wolle sie ihn damit wie mit einem Geheimzeichen in ihren okkultistischen Zirkel aufnehmen, und wandte sich dem Getöse des nahen Tanzsaales zu.
In einer lauschigen Ecke saß, wie auf einer vom Tanzgewoge nur ab und zu umspülten Landzunge, eine kleine Herrengruppe beieinander. Man schien bereits fleißig dem Sekt zugesprochen zu haben. Einige leere Flaschen standen unter dem Tisch. Ein paar silberne Hälse blinkten verheißungsvoll aus den eisgefüllten Kübeln. Der eine von den dreien – nach Revolver, Dolchmessern und Sombrero zu schließen ein amerikanischer Wildwestler – hatte ein mit Zahlen vollgeschriebenes Notizbuch vor sich auf dem Tisch liegen, das er öfters vornahm und mit noch immer mehr Zahlen anfüllte. Es war Hans Fridolin Kramer, Lätizias Gatte, der es vertrauensvoll Herrn von Lindlar überlassen hatte, sie auf das Fest zu geleiten, und seinerseits bereits eine Stunde früher erschienen war.
»Rotziegel standen vorgestern noch 262, heute bereits 317!« sagte er über sein Notizbuch hinweg zu Kilian Merz, dem berühmten Auslandspolitiker, Schlachtenbummler und bestinformierten Mitarbeiter zahlreicher großer Provinzblätter. »Wenn man vor acht Tagen tüchtig in Rotziegel hineingestiegen wäre, so hätte man heute seine Fünfzigtausend verdient. Vor acht Tagen standen sie noch auf 198. Es muß eine sehr potente Gruppe dahinter sein. Wenn man beizeiten informiert gewesen wäre, und wenn man ...«
»Wenn! Wenn! Wenn!« unterbrach ihn Kilian Merz und hatte sein bekanntes skeptisches Lächeln um die genüßlichen Lippen. »Wenn meine Tante Räder hätte, so wäre sie noch längst kein Kinderwagen, wie man fälschlich zu behaupten pflegt, sondern höchstens eine alte Postchaise aus dem Marstallmuseum. Ich habe vor vierzehn Tagen fünftausend Stück Herrschinger Marmelade zu 309 gekauft. Gestern sind sie auf 270 runtergegangen. Wenn ich statt dessen ... Und so weiter! Und so weiter! Sie wissen ja! Wenn meine Tante Räder hätte! Ich halte übrigens Herrschinger Marmelade trotzdem fest. Es ist gar kein Zweifel, daß die Menschheit immer mehr vom Alkohol zur Marmelade übergehen wird. Wir treten in das Marmeladezeitalter ein ... Wo haben wir denn unseren Sekt?«
Kilian Merz, eine breitschultrige, übermittelgroße Erscheinung, die durch die Fülle und Wucht ihres Fleisches noch ansehnlicher wirkte, trug über dem Frack einen schwarzen Venezianermantel, über dem sich der längliche, birnenförmige Schädel imposant aufbaute. Alles in diesem Gesicht war ins Längliche gezeichnet. Die fleischige, kräftig gebogene Nase verlängerte sich gleichsam nach unten durch den kleinen, schwarzen Schnurrbart und den fast nur angedeuteten schwarzen Längsstrich eines Henriquatre. Wenn man sich die fehlende weiße Halskrause dazu ergänzte, so hätte man an die Ratsherrenköpfe des Tintoretto denken können. Alles an diesem Manne sprach von saftigem Behagen und ausladendem Genießertum. Und doch hatte eben dieser Mann sich auf allen Schauplätzen des großen Krieges herumgetrieben und war seinerzeit bei einer Expedition zur Bagdadbahn wochenlang nicht aus dem Sattel gekommen.
Franz Eichwald, der dritte Mann der kleinen Gruppe – er trat als Revolutionsmatrose mit einem Gürtel von Handgranaten auf, über deren Echtheit man allerdings im Zweifel sein konnte –, hatte sich auf das von Merz gegebene Stichwort nach dem Sektkübel gebückt und mit der Gewandtheit eines Barkellners die Flasche ihres Stöpsels entledigt. Der stämmige, untersetzte Mann mit den henkelartig eingebogenen Armen machte den Eindruck bärenmäßiger Kraft. In ihm, dem ehemaligen Architekten, war zugleich noch immer etwas vom Handwerker, vom Maurer, vom Polier, der er ja in seinem Werdegang wohl eine Zeitlang auch gewesen war.
»Sehen Sie, meine Herren, Sie glauben mit Recht ... vielleicht auch nicht ganz mit Recht, ich will das dahingestellt sein lassen ... jedenfalls glauben Sie, hier im Hause des reichen Mannes zu sein. Und deshalb rufen Sie nach Sekt. Der Sekt ist auch da, wie Sie sehen. Sie werden ihn heute abend nicht allen austrinken. Aber wollen Sie mir glauben, daß es eine Zeit gegeben hat, wo ich in der Dachkammer auf dem Strohsack geschlafen habe? Fenster und Türen schlössen nicht, und von oben hat es hereingeregnet. Damals habe ich mir vorgenommen, daß das anders werden muß.«
»Das hat es ja auch getan«, bemerkte Kilian Merz und warf einen Blick feststellender Anerkennung in die Runde. »Trinken wir darauf, daß es so bleiben möge! Und wie sollte es nicht? An diesem Glück von Edenhall muß aller Neid der Götter abprallen.«
»Ja, sehen Sie, meine Herren,« sagte Eichwald und wiegte nachdenklich den Kopf, während die Sektgläser hell aneinanderklangen, »das ist es eben, was Sie mir vielleicht wieder nicht glauben werden. Ich bin nämlich gar nicht sicher, ob ich nicht noch mal wieder in meinem Leben auf dem Strohsack schlafen werde.«
»Wieso? Warum?« fragte Kramer aufgeregt und sah mit ehrlicher Besorgnis zu Eichwald hinüber.
»Der typische Verarmungskomplex des Selfmademan, der von der sozialen Stufenleiter wieder abzugleiten fürchtet«, bemerkte Kilian Merz und sog genießerisch an seinem Sektkelch.
»Ich fürchte gar nichts, meine Herren«, erwiderte Eichwald, den Blick in die Weite heftend, als sehe er von dort irgend etwas noch Unbekanntes herannahen. »Aber ich fühle ganz deutlich, daß das alles, was wir hier tun und treiben, und auch was wir besitzen, in Wirklichkeit nur eine Fata Morgana, ein ganz hundsordinärer Selbstbetrug ist.«
»Natürlich ist es ein Schwindel«, äußerte Merz und strich sich behaglich sein blühendes Doppelkinn. »Unser ganzes Leben ist ja ein Schwindel. Aber man macht ihn mit. Er wird einem ja aufgedrängt. Sind wir etwa verantwortlich für den Schwindel? Nein und abermals nein!«
Hans Fridolin Kramer, wieder ganz vertieft in die Zahlen seines Notizbuches, blickte wie traumverloren auf.
»Schwindel? Ich höre immer Schwindel! In Ihrem Hause, im Hause des Steinkönigs ... Sie wissen ja natürlich, daß man Sie so nennt ... sollten solche Worte nicht fallen. Ich würde jedenfalls, wenn meine Industrie- und Zentralbank zustande kommt, was hoffentlich bald der Fall sein wird, mich hüten, das Wort Schwindel in den Mund zu nehmen.«
»Ja, sehen Sie, das ist eben der Unterschied zwischen uns beiden«, erwiderte Eichwald und lachte anzüglich. »Ich habe nicht die geringste Angst vor dem Wort Schwindel. Mich miteingeschlossen. Weil ich weiß, daß wir alle und dies alles hier nichts weiter als Spreu vor dem Wind sind. Ich werde mich mit derselben Ruhe wieder auf den Strohsack legen, wie ich schon einmal darauf gelegen habe.«
»Weshalb sind Sie dann nicht darauf geblieben?« fragte Kilian Merz mit seinem maliziösesten Lächeln, das auch Eichwald anzustecken schien.
Der kicherte in sich hinein, erhob dozierend den Zeigefinger und sagte: »Das ist eben auch wieder der Schwindel, meine Herren, den wir mit uns selbst treiben. Wenn man auf dem Strohsack liegt, redet man sich ein, es schlafe sich besser im Daunenbett. Ich kann Ihnen aber sagen, ich habe damals besser geschlafen als jetzt. Und wenn Sie, Herr Kramer, wirklich mit Ihrer Industrie- und Zentralbank ans Licht der Welt treten ...«
»Tritt sie denn wirklich ans Licht?« warf Merz ein, während seine Augen hohnlächelten.
»Sie tritt ans Licht! Sie tritt ohne allen Zweifel ans Licht!« rief Kramer und klatschte mit seinem Notizbuch auf die Tischfläche. »Carlos Müller, der deutschargentinische Gast meines Hauses, schießt vier Millionen Pesos als Grundkapital ein. Das ist immerhin ein Anfang. Er wartet nur, bis sein Geldschiff kommt.«
»Und wann läuft es in Hamburg ein, das Geldschiff des Herrn Carlos Müller?« fragte über seine Schulter hinweg eine bekannt klingende Stimme.
Kramer sah verwundert, um nicht zu sagen indigniert auf. Lindlar stand hinter seinem Sessel und sah mit einem ruhigen Blick auf ihn nieder. Er schien schon ein paar Augenblicke dort zu weilen und den letzten Teil des Gesprächs mitangehört zu haben. Kramers Stirn glättete sich, als er Lindlars ansichtig wurde. Es war nicht nur der tägliche Mittagsgast seiner Pension und der Hausfreund Frau Lätizias, der da vor ihm stand. Kramers Respekt galt vielleicht noch mehr der amtlichen Eigenschaft des hohen Polizeibeamten und dem besonderen Ruf, in dem er wegen seiner manchmal an Hellsichtigkeit grenzenden kriminalistischen Fähigkeiten stand. Für Kramer, der ja immer in allerlei waghalsige Unternehmungen verflochten war, hatte gerade diese Wesensseite des äußerst komplizierten Polizeirats etwas Unheimliches und Bedrohliches. Er wollte ihn gerade in seiner liebenswürdigsten Tonart über die unbezweifelbaren Millionen des argentinischen Nabobs, der seit kurzem in der Pension Lätizia wohnte, aufklären, als im Saal eine gewisse Bewegung entstand und sich schnell durch die Tänzerpaare fortpflanzte.
Auf der Bühne vor dem geschlossenen Vorhang stand die imposante Gestalt Sultan Selims des Dritten und erhob beschwörend die Arme gegen die bunt bewegte Menge unten im Saal. Die Tanzmusik auf dem Podium, die gerade einen Foxtrott aus einer bekannten Schlageroperette herunterriß, schwieg auf des Sultans Wink mitten im Takt. Auch im Saal wurde es plötzlich stiller. Das Tanzgewoge erstarrte. Alle Köpfe waren der wuchtigen Sultanserscheinung auf dem Podium zugewandt. Ihre tiefe Altstimme erscholl durch den Saal, in dem inzwischen Totenstille eingetreten war.
»Ihr Großen des Reichs! Wesire und Paschas! Beys und Effendis! Kaufleute und Sklavenhändler! Wasserträger und Kameltreiber! Lieblingsfrauen und Sklavinnen! Türhüter und Verschnittene! Besonders die letzteren, die uns zahlreicher vertreten zu sein scheinen, als uns lieb ist! Und überhaupt jegliches Menschengetier, das sich von der Sonne unserer Gnade bescheinen läßt, ohne dessen auch nur im geringsten würdig zu sein! Ich verordne jetzt eine Tanzpause vom achtundvierzigsten Teile eines Tages, gezählt von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang! Laßt euch währenddessen auf den Pfühlen nieder oder streckt euch auf den Boden, je nach Rang, Stellung, Klasse und Mandarinenknopf, und leiht das Innere eurer Gehörmuscheln, auf daß es durch diese in die Geheimkammer eurer Seele dringe ... leiht, sage ich, euer Herr und Sultan, leiht eure Sinne und eure Seelen der chorischen Darbietung, die ich euch jetzt bringen werde! Es ist die Vertonung eines Gedichtes aus dem Buche Dafnis von Arno Holz, dem wiedergekehrten Hafis unserer Zeit, die ich selbst vorzunehmen geruht habe. Mein ganzer Harem, Flöten- und Lautenspielerinnen, Tänzerinnen und Sängerinnen, ist für das erhabene Schauspiel aufgeboten, mit dem ich euch beglücke, und wird sich euren Augen ausnahmsweise in unverschleierter Schönheit zeigen ... Allah Inschallah! Allah ist groß, und ich bin sein Prophet!«
Selim der Dritte schwieg und kreuzte mit einer leichten Kopfneigung die Arme über der Brust. Ein hundertstimmiges Bravo erklang aus dem Saal, begleitet von prasselndem Händeklatschen. In diesem Augenblick betraten Cederholm und Angele Moradelli den Saal.
*
Anna Eichwald hat wieder einmal ihren großen Tag heute«, sagte Cederholm zu Angele, indem er nach dem Bühnenpodium hinaufdeutete, wo Selim der Dritte gerade mit der Ansprache an sein Volk fertig geworden war und umjubelt von seinen Getreuen dastand. Sie waren vom hinteren Eingang her in den Saal getreten. Angele wünschte der Verspätung wegen ein möglichst unauffälliges Erscheinen.
Sie hatte sich von Cederholm überreden lassen, sich noch auf einen Sprung zum Atelierfest eines mit ihm befreundeten Malers von sehr bekanntem Namen zu begeben. Von der Georgenstraße, wo sich das Atelier befand, war es ohnehin nur wenige Minuten bis zur Eichwaldschen Wohnung. Sie konnte also noch immer zur Zeit kommen. Aber dann war doch kein Aufbrechen gewesen. Sie wußte selbst nicht, woran es gelegen hatte. Gewiß nicht an Cederholm, mit dem sie schon auf dem Wege dorthin – er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie im Auto von ihrer Wohnung abzuholen – und nachher im Atelier nur wenige gleichgültige Worte gewechselt hatte.
Also woran lag es? War es die eigentümlich schwüle, gleichsam faschinggeschwängerte Luft des Ateliers? Die halbnächtige Dämmerung der dicht verhängten Ampeln und der düsterroten Papierballons? Das Gekreisch und Gewühl der Tanzenden? Das Geflüster der engverschlungenen Pärchen in den finsteren Ecken? ... Plötzlich war aus dem bunten Gedränge, dessen einzelne Köpfe und Gestalten in der halben Finsternis sich kaum unterscheiden ließen, das Gesicht eines offenbar noch sehr jungen Menschen vor ihr aufgetaucht. Eine langaufgeschossene Gestalt, schmalschultrig, noch fast knabenhaft – knabenhaft auch durch jene charakteristische Mischung von Schüchternheit und Selbstbewußtsein –, ein auffallend regelmäßiges, ja klassisch zu nennendes Profil, dunkle, vielversprechende Augen ...
Der junge Mensch im Russenkittel hätte vielleicht kaum gewagt, sie anzusprechen, wenn sie nicht durch eine unwillkürliche Bewegung, wie sie im Gedränge nun einmal vorkommen, plötzlich in seinen Armen gelegen hätte. Und dann war es wie ein Schlag durch ihre Glieder gefahren, sie hatte ganz deutlich das gleiche auch bei ihm gefühlt, ein Wirbel hatte sie beide gepackt, im Geschwindschritt waren sie durch das sich öffnende Gedränge gerast, alles drehte sich, die Sinne wollten schwinden ... Und wieder ebenso plötzlich, wie sie sich von ihm hatte nehmen lassen, war sie bei einer wilden Tanzwendung dem jungen Menschen im Russenkittel aus den Armen geglitten ... Noch ein letzter grüßender Wink ihrer Hand über die tanzenden Paare zu ihm hin ...
Angele schrak aus ihren Gedanken auf. Sie stand im Gedränge dieses neuen Schauplatzes, noch in der Nähe der Tür, durch die sie eingetreten war. An ihrer Seite stand Cederholm und beobachtete sie. Es war ein Ausdruck auf seinem Uhugesicht, für den sie ihn hätte ohrfeigen können. Aber was wäre damit geändert gewesen? Er hätte sich womöglich noch mit einer Verbeugung dafür bedankt. Und dieses vieldeutige, nichtswürdige Lächeln um seine Mundwinkel hätte sich nur noch tiefer eingegraben. Was stand nicht alles darin zu lesen? Hohn? Gier? Feigheit? Schamlosigkeit? Ohnmacht? Höllenqual? Welche anderen Worte gab es, wenn ihr Geist zurückblickend dieses Jahr überflog, währenddessen sie sich seinem Bann ausgeliefert hatte? Und doch! Mußte man nicht zugleich Mitleid mit ihm haben? War er nicht der Sohn der Finsternis, der aus unergründlicher Tiefe nach dem Licht schrie? Sein Leben lang vergebens danach schrie? Cederholms grauenvolle Entdeckung oder Erfindung – was war es eigentlich? – kam ihr wieder in den Sinn. Wie oft hatte sie diesen Alp abgeschüttelt! Kroch er da nicht abermals heran? Ihr war plötzlich, als müsse sie sich mit fliegendem Haar dem Taumel, der Lust, der Trunkenheit entgegenwerfen und irgendwo im Uferlosen, im Grenzenlosen endigen. Dabei fühlte sie, daß ihr Verstand klar wie nie arbeitete.
»Willst du mich eigentlich den ganzen Abend so unter deiner persönlichen Obhut behalten, mein lieber Cederholm?« fragte sie und machte eine brüske Bewegung zu ihm hin. »Findest du das nicht ein bißchen langweilig? Für beide Teile? Außerdem beobachtet man uns schon. Wir stehen da, als ob wir zusammengewachsen wären.«
Es hatte in der Tat nicht ausbleiben können, daß Cederholm und Angele bemerkt worden waren. Immer mehr Köpfe hatten sich nach dem interessanten Paar umgewandt, das die meisten Gäste ja persönlich oder wenigstens dem Rufe nach kannten. Cederholm genoß in diesem Kreise unbedingt das Ansehen eines außerordentlichen Menschen, von dem die Welt noch allerlei Überraschungen erleben würde. In den Blicken, mit denen die Umstehenden ihn betrachteten, konnte man neben restloser Bewunderung aber auch so etwas wie abergläubische Scheu lesen, so absonderlich das gerade in diesem Kreise erscheinen mochte, der doch eigentlich mit Hölle und Teufel auf du und du zu stehen sich den Anschein gab.
Cederholm war sich der Wirkung, die von ihm – namentlich auf die Frauen – ausstrahlte, auch vollauf bewußt. Jede Miene seines Gesichts, jede Bewegung seiner Hände, seine ganze Haltung verriet, daß er sich immer gleichsam auf der Bühne befand und dem Publikum eine Rolle – seine höchst persönliche Cederholmrolle – vorspielte. Auch das Kostüm, das er bei solchen Faschingsfesten zu tragen pflegte, war sichtlich darauf berechnet, den Eindruck des Geheimnisvollen, Unterweltlichen, Infernalischen, der schon sowieso von ihm ausging, noch zu unterstreichen und zu verstärken. Es war ein tiefschwarzer Magiermantel, der mit silbernen Sternen und Blitzfunken besät war und an das nächtliche Firmament erinnerte.
Er hatte auf Angeles brüske Frage nur mit einem anzüglichen Lächeln geantwortet und dabei sein Schakalgebiß gezeigt. Sein faunischer Blick glitt an Angeles geschmeidigem Körper hinab und wieder hinauf. Sie trug ein buntseidenes Strandkostüm, dessen glockenförmig geschlitzte Hosen sich kaum von einem Rock unterschieden, und sah mit dem enganliegenden Goldbrokatleibchen verführerischer denn je aus. Unter dem breitkrempigen, schiefsitzenden Strandhut quoll ihr schwarzbraunes Haar hervor, die perlmutterne Durchsichtigkeit von Nacken und Schultern umrahmend und kräftig betonend.
Cederholm fühlte mit einmal einen stechenden Schmerz in der Brust, wie er ihn eigentlich noch nie im Leben gekannt hatte. Dieses Weib, das ihm ein Jahr lang zu eigen gewesen war, sollte von nun an einem andern gehören. Noch dazu demjenigen, der ihm zuwider gewesen war, solange er zurückzudenken vermochte, und von dem er doch wieder nicht loskommen konnte, soviel Mühe er sich auch gab. Und jetzt hatte er um dieses Experimentes willen das Weib zum Opfer gebracht, dieses einzige Weib, an dem vielleicht sein Glück gehangen hätte! Die Stunde war da, die er seit Wochen in seinem Laboratorium vorbereitet hatte. Diese psychochemische Synthese, immer wieder mit allen Formeln durchgerechnet, stimmte aufs Haar. Es konnte nicht anders sein: das Experiment mußte glücken!
»Ich werde dir mit meiner Gesellschaft nicht mehr lange auf der Pelle sitzen, mein Täubchen«, sagte er nach einer Pause lächelnden Schweigens und ließ seine Blicke von neuem über ihren Körper hingleiten.
»Was soll das heißen?« fuhr Angele auf. »Was willst du mit diesen Blicken, mit diesem anzüglichen Augenaufschlag sagen? Du taxierst mich ja ab wie der Metzger das Kalb!«
Cederholm feixte in seine vorgehaltene Hand. »Du warst es einmal, mein Liebling. Vor einem Jahr warst du es noch. Und jetzt muß ich dich leider hergeben, nachdem ich erst einen Menschen aus dir gemacht habe. Aber die Sache will es nun einmal so.«
Angele krampfte die Fäuste. Die Tränen waren ihr nahe. Sie dämpfte ihre Stimme zum Flüstern. »Du sprichst ja von mir wie von einer Ware, die du zu verhandeln gedenkst! Ich schwöre dir zu, beim Leben meiner Mutter, ich werde niemals wegen eines irrsinnigen physikalischen oder chemischen Experiments auf meine persönliche Selbstbestimmung, auf die freie Wahl meines Herzens verzichten oder mich davon abbringen lassen!«
»Ich werde dich zwingen! Und du wirst es nicht einmal wissen. Vielleicht schon heute abend werde ich dich zwingen. Mein Experiment ist unwiderleglich und unentrinnlich. Kein Wort weiter! Der Vorhang geht auf.«
Auf der sich öffnenden Bühne wurde ein bunt maskierter Chor von etwa zwanzig Mädchen sichtbar. Ihre Kostüme schillerten in allen Farben durcheinander und wiesen jede nur denkbare Spielart auf, ohne sich doch gegenseitig zu beeinträchtigen und wehe zu tun. Vielmehr wirkte das Ganze als wohltuende Farbensymphonie, die sich in das bunte Gewoge des Saales passend einfügte und ihm von der Bühne her einen harmonischen Abschluß gab. Am Flügel saß Sultan Selim der Dritte und spielte die Begleitung der von ihm in Töne gesetzten Ode, indem er zugleich mit dirigierenden Gebärden den mehrstimmigen Chorgesang durch alle seine musikalischen Verschlingungen und Figuren hindurchführte.
Mit einer heiter beschwingten Melodie begann die Trochäische Ode, das fröhliche Gewimmel des blauen Schäfchenhimmels und das Wohlgefühl des im Grase unter duftenden Kräutern hingestreckten Schäfers in Tönen malend. Aber schon stand die dunkle Klagemelodie des nach jeder Strophe sich wiederholenden Refrains dagegen auf, von leisen Geigen- und Cellostrichen begleitet.
Schluchzt ihr Flöten, klagt ihr Geigen,
Blüht mein Herz auch rot wie Mohn,
Zum Kozytus muß ich steigen,
Klagt ihr Flöten, schluchzt ihr Geigen,
Und zum schwarzen Flegethon!
Noch einmal jedoch gewinnen Frohsinn und Heiterkeit die Oberhand. Mit gewipptem Schwänzchen sitzt ein Vögelchen auf einem Schlehdornast und singt mit seiner süßen Kehle ein Liedchen. Die hellen Stimmen des Mädchenchores jubeln, zwitschern und tirilieren miteinander, gegeneinander. Aber wieder erheben sich die dunklen Grundbaßtöne des Klaviers, die weichen, süßtraurigen Klänge des Cellos.
Und immer schwerer, düsterer färben sich auch die Obertöne der Melodie.
Rosen, Tulpen und Zypressen,
Alles blüht und wird vergessen,
Alles muß nach kurzer Zeit
In die dunkle Ewigkeit!
In rauschender Polyphonie fällt der Chor ein, das Klavier orgelt, die Geigen singen.
Zum Kozytus muß ich steigen,
Klagt ihr Flöten, schluchzt ihr Geigen,
Und zum schwarzen Flegethon!
Der Beifall im Saal wollte kein Ende nehmen, immer neue Salven prasselten dem bunten Mädchenchor und ihrem majestätischen Dirigenten, Sultan Selim, entgegen. Cederholm schüttelte sich und lachte auf seine geräuschlose Art in sich hinein.
»Da hat uns Anna mal gehörig eingeheizt«, lachte er auf. »Ein reizender Faschingswitz! Jetzt fehlt nur noch, daß wir den Tod von Basel und das Miserere, vorgeführt bekommen. Verflucht noch eins!«
Angele spürte keine Lust, Cederholm zu antworten. Ihre Stimmung war durch das tragische Nocturno nicht weiter beeinträchtigt worden; ja, sie hatte eher noch eine Steigerung erfahren. Leben und Tod, Untergang und Genuß, Rausch und Vernichtung: gehörte es nicht zusammen, waren sie nicht ein und dasselbe, wie Kopf und Schrift der Münzen, die täglich durch unsere Hände gehen?
Angele war zumute, wie wenn sie schon eine Ewigkeit neben Cederholm ausgehalten hätte. Sie wollte gerade fort, ohne sich weiter nach ihm umzusehen, als Eva Herzblatt durch die eben wieder zum Tanz antretenden Paare auf sie zuschoß.
»Ja, um Gottes willen, Angele! Wo bleibst du denn? Wo steckst du denn?« rief sie ihr schon von weitem entgegen. »Der Sultan tobt über dich. Du bekommst einen Mordsskandal. Es ist aber auch unerhört, wo du solange bleibst! Du sollst die Olympia darstellen und bist nicht da!«
»Was soll ich darstellen?« fragte Angele kopfschüttelnd. »Mir ist nichts von einer Olympia bekannt.«
Eva Herzblatt stand vor ihr und winkte ungeduldig.
»Komm! Komm! Komm! Es ist keine Zeit zu verlieren! Wenn du es mit Anna nicht ganz verschütten willst, mußt du die Olympia machen! Na, du weißt schon. Die Manetsche Olympia. Sie hat nicht gerade viel an. Aber das läßt sich schon arrangieren. Anna konzediert dir ausnahmsweise einen Schleier. Das mußt du doch anerkennen! Die Negerin, die dir den Fächer zu halten hat, ist schon da.«
Zwischen Angeles dunklen Augenbrauen wetterleuchtete es. »Mache du es doch! Warum machst du es denn nicht? Weil dein Vater Millionär ist?«
Eva Herzblatt lachte etwas gezwungen auf.
»Erstens ist er das nicht. Und zweitens ... Na ja ... Ich habe nicht ganz die Figur dafür. Anna bot es mir an. Ich hätte es auch getan. Für die Kunst und für Anna kann man alles tun! Sie ist eine herrliche Frau!«
Angele hatte die Hand an die Stirne gelegt. Sie schien mit sich zu kämpfen. »Ich werde es mir überlegen«, sagte sie.
»Es gibt kein Überlegen!« rief Eva Herzblatt. »Wenn du mir nicht auf der Stelle folgst, leihe ich mir von jemandem einen Dolch und mache vor deinen Augen Harakiri! Dem Sultan kann ich jedenfalls nicht mehr lebendig vor die Augen kommen.«
»Darf ich vielleicht mit diesem hübschen, kleinen Stilett aufwarten? Es eignet sich ausgezeichnet für diesen Zweck«, sagte Cederholm, der wieder näher getreten war und das erregte Geflüster der beiden mitangehört hatte.
»Danke! Nicht mehr nötig!« rief Eva Herzblatt ihm zu. »Ich habe meine Beute und lasse sie nicht mehr los. Spar dir dein Stilett für eins deiner nächsten Opfer auf, König Blaubart, oder was du bist!«
Sie lachte und zog die widerstrebende Angele mit einer stürmischen Gebärde hinter sich her.
*
Lewerenz war an diesem Abend länger zu Hause aufgehalten worden, als er hatte voraussehen können. Eigentlich war es seine Absicht gewesen, diese letzten Stunden des sterbenden Karnevals noch bis zur Neige auszukosten. Aber am Nachmittag waren Briefe aus Barkoschin von Sabine und Onkel Julius und auch ein langer Geschäftsbrief seines Bruders aus Danzig eingetroffen, die mehrere Stunden für die Beantwortung erfordert hatten.
Sein Bruder Benno hatte über die augenblickliche Lage der Firma berichtet, in der ja auch ein großer Teil von Waldemars Vermögen angelegt war. Bedeutende Börsenspekulationen schienen da im Gange zu sein. Die Firma konnte Hunderttausende verdienen, wenn alles gut ging. Wie aber, wenn es mißglückte? Waldemar Lewerenz vermochte die unbedingte Zuversicht seines Bruders nicht zu teilen. Was da vor sich ging, erschien ihm alles recht undurchsichtig. Waldemar hatte sich sofort hingesetzt und in einem längeren Brief dem Bruder seine schweren Bedenken vorgetragen.
Das Schreiben von Onkel Julius hatte sich wie immer durch sachliche Kürze ausgezeichnet. Roggen und Weizen hatten bis jetzt gut überwintert. Es war nicht viel Schnee, aber auch kein starker Frost gewesen. Die Getreidepreise gingen weiter in die Höhe. Unter den Leuten herrschte zum Teil noch Aufsässigkeit. Das kam noch von der Revolution. Aber die schlimmsten Elemente waren schon abgewandert. Ein bekannter Kommissionär aus Danzig hatte ein Angebot auf Barkoschin gemacht, das doppelt so hoch war, wie man es noch vor einem Jahr bekommen hätte. Aber Onkel Julius war der Meinung, daß Grund und Boden immer ihren Wert behielten, während das heutige Geld doch eigentlich nur bedrucktes Papier sei. Lewerenz, auf den einen Augenblick lang das Angebot Eindruck gemacht hatte, mußte im Innern dem gesunden Menschenverstand des alten Herrn recht geben. Es war seine Pflicht, Barkoschin zu halten, auf dem seine Familie nun schon über ein Jahrhundert saß.
Sabines Brief hatte einen merkwürdig weichen und elegischen Unterton, der in früheren Briefen nicht vernehmlich gewesen war. Sie hatte eine sehr klare, bestimmte und anschauliche Art, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Alles, was sie schrieb, war rund, sachlich, bildhaft, ohne Weitschweifigkeit oder Sentimentalität. Um so auffallender wirkte es, daß diese herbe, trotzige Frau, die alles Gefühl in den tiefsten Schrein ihrer Seele verschloß, nun plötzlich Töne fand, die Lewerenz an jene vergangene Zeit ihrer großen Liebe gemahnten. Ihm wollten Sabines Worte den ganzen Nachmittag und Abend nicht aus dem Kopf. Er hatte ihr in einem ähnlichen Ton, vielleicht nur um einige Schwingungen zurückhaltender, geantwortet und ihren freilich nur angedeuteten Wunsch, ihn einmal in München besuchen zu dürfen, mit der ausdrücklichen Bitte erwidert, sie möge kommen, sobald ihre Zeit es erlaube und ihr Herz sie dazu treibe.
Als Lewerenz im Tanzsaal erschien, war es nicht mehr weit von elf. Eigentlich hatte ihn die Faschingslaune der letzten Tage und noch dieses Vormittags vollständig verlassen. Er wäre am liebsten zu Hause geblieben. Aber ein stummer Wille, über den er nicht Herr, ja, dessen er sich kaum bewußt wurde, hatte seine Bewegungen, seine Schritte, sein ganzes Tun anders gelenkt. Ohne es recht zu wissen, ohne es auch nur zu wollen, mechanisch, wie von einem ablaufenden Uhrwerk getrieben, hatte er sich umgekleidet und den kurzen Weg von seinem Hause zu Eichwalds zurückgelegt. Es war eine laue Februarnacht nach einem silbrigen Vorfrühlingstage. Am Südhimmel stand hochaufgerichtet das Sternbild des Orion. Rigel und Beteigeuze funkelten mit dem geisterhaften Glanz unausdenkbarer Fernen, unermeßlicher Äonen in die Erdennacht hernieder. Dies war alles, was ihm von jenem denkwürdigen und schicksalsvollen Weg zu Eichwalds in Erinnerung blieb.
»Du kommst spät, mein Lieber!« sagte Cederholm, dem er gleich an der Tür des Tanzsaales begegnete, und faßte ihn vertraulich unter den Arm. »Aber ich wußte ja, daß es dich mit Gewalt herziehen würde. Es konnte gar nicht anders sein.«
»Und woher wußtest du das?« fragte Lewerenz, der vergebens versuchte, seinen Arm aus der Umklammerung des anderen zu befreien.
»Ja, das ist eben mein Geheimnis«, entgegnete Cederholm, ihn durch seine dunkelblauen Augengläser unverwandt anstarrend, als handle es sich um ein einzuschläferndes Medium, und er selbst sei der Magnetiseur. »Möglicherweise hängt es mit meinem neuen psychochemischen System zusammen. Ich gab dir ja neulich einen kleinen Vorgeschmack davon. Vielleicht können wir den Kursus heute abend weiter fortsetzen.«
»Augenblicklich auch?«
»In diesem Augenblick sogar mehr denn je. Jedenfalls wußte ich, daß du mit der Sicherheit einer zielgerecht abgeschossenen Kanonenkugel heute abend hier eintreffen würdest. Ja, eintreffen mußtest.«
Lewerenz hatte ein ironisches Lächeln. »Übernimmst du dich nicht etwas, lieber Cederholm? Es ist dein altes Leiden. Du hattest es schon auf der Schule. Es hat sich inzwischen recht hübsch ausgewachsen.«
Cederholm prustete in seine vorgehaltene Hand. »Ich habe niemals Wert darauf gelegt, als Gänseblümchen zu gelten. Ich weiß ganz genau, auf welche Stellung ich unter dem Menschengelichter Anspruch habe. Es sind alles Marionetten und Drahtpuppen, die man tanzen lassen muß.«
»Und du selbst glaubst der Drahtzieher zu sein?«
»Wenn es Wahrheit sein sollte und nicht nur ein verruchter Witz, daß es einen ewigen Schöpfer und Weltenlenker gibt, worin könnte seine Tätigkeit im großen anders bestehen als in der, die ich auf diesem irdischen Schauplatz für mich in Anspruch nehme? Nämlich die Puppen tanzen zu lassen?«
»Du scheinst philosophieren zu wollen. Entschuldige, bitte! Ich möchte die Dame des Hauses begrüßen.«
Cederholm schob von neuem seine Hand unter Lewerenz' Arm. »Komm! Ich führe dich hin. Ich weiß, wo sie Hof hält. Man muß in diesem Hause Bescheid wissen, sonst findet man sich nicht. Es ist für Pärchen eingerichtet, die sich verkrümeln wollen. Ich kann dir nur den Rat geben, davon Gebrauch zu machen. Auf dem Blocksberg wirst du auch keine bessere Auslese finden als hier im Harem von Anna Eichwald.«
Die Stimmung im Saal schien auf dem Höhepunkt angelangt zu sein. In dem wilden Geschiebe und Gewoge der Tanzenden bildeten sich fortwährend kleine Menschenknäuel wie Strudel in Stromschnellen. Jauchzende, kreischende Schreie gellten durch die Luft. Pfiffe schrillten. Im vorderen Teil des Saales wurde gerade eine Française getanzt. So hatte einst der Großvater mit der Großmutter getanzt. Es gab Fanatiker des Foxtrotts und Twosteps und all der anderen neuen Schrittänze, die sich grundsätzlich an keinem »Frassäh« beteiligten und dies den älteren Herrschaften überließen. So war es auch heute abend. Man sah im hinteren Teile des Saales und in den Nebenzimmern jüngere Pärchen sich im Takt der modernen Rhythmen drehen, während vorn die verschiedenen Figuren der Française vonstatten gingen und eine immer tollere Ausgelassenheit gerade diese älteren Semester der Herren- und Damenwelt ergriff. Tänzerinnen wurden unter wildem Jubel auf die Schultern gehoben oder auf den ausgebreiteten Händen der Herren im rasenden Karussell gedreht. Merkwürdige und charakteristische Masken tauchten plötzlich im Gewühl auf und verschwanden ebenso schnell wieder. Ein grotesker Indianerhäuptling mit wildem Kopffederputz hatte mit jeder Hand zwei halbnackte Mädchen an sich gerissen und schleifte die wie besessen Kreischenden hinter sich her, als ginge es direkt zum Marterpfahl mit ihnen.
Cederholm, der sich noch immer in den Arm von Lewerenz eingehängt hatte, erklärte diesem, daß der blutdürstige Indianerhäuptling ein bekanntes Mitglied der Aristokratie sei und durch seine Liebesaffären viel von sich reden mache. Hinter einer blauschillernden Orientalin mit einer totenkopfähnlichen birmanischen Götzenmaske sollte sich eine beliebte und amouröse Schauspielerin verbergen.
Cederholm zeigte sich aufs beste unterrichtet über die meisten dieser wildverschminkten Strolche, Apachen und Apachinnen und warf mit intimen Einzelheiten und kleinen lächerlichen Zügen von diesem oder jenem um sich.
»Weißt du, woran du mich erinnerst, mein lieber Karl Cederholm?« sagte Lewerenz, der halb amüsiert, halb gelangweilt und im ganzen ziemlich zerstreut zugehört hatte. »An den hinkenden Teufel von Le Sage, der die Dächer von den Häusern abdeckt und seinem Begleiter zeigt, wie es darunter zugeht. Du scheinst ja alle Boudoirgeheimnisse zu kennen.«
»Es ist das größte Kompliment, das du mir in meiner Eigenschaft als Psychochemiker machen kannst«, entgegnete Cederholm und zeigte die beiden Reihen seines Raubtiergebisses.
Plötzlich fiel Lewerenz' Blick auf eine große, schlanke Mädchengestalt, die sich gerade mit Mühe einem jener Tanzwirbel entwand und mit einer trunkenen Bewegung ihr schwarzbraunes Haar nach rückwärts in den Nacken warf. Sie hatte, wohl der Hitze wegen, eben ihren Strandhut abgenommen und stand mit zurückgeneigtem Kopf in einer erstarrt bacchantischen Haltung da. Ihre weißen Arme waren wie in einer empfangenden Gebärde halb erhoben. Das enganliegende Goldbrokatleibchen verriet einen jugendlich ebenmäßigen Wuchs. Ihre Brust hob sich im schnellen Rhythmus eines eben beendigten Tanzes. Von Lewerenz war wie durch die Berührung eines Zauberstabes aller Verdruß und Mißmut, alle Widerwärtigkeit, Sorge, Selbstzerfleischung dieser letzten Stunden fortgenommen. Er fühlte, daß er – eben noch kalt, verdrießlich, gleichgültig, zerstreut – von einem Augenblick zum anderen eine lodernde Flamme geworden war.
»Wer ist das Mädchen dort im Strandkostüm, mit dem Hut am Arm?« fragte er, den Blick unverwandt auf die noch immer regungslos dastehende Erscheinung gerichtet.
»Es ist Angele Moradelli«, erwiderte die Stimme an seiner Seite, die ihm in diesem Augenblick plötzlich ganz fremd und weither und gar nicht mehr wie von Cederholm vorzukommen schien.
»Angele Moradelli«, erwiderte Lewerenz nach einer Pause des Nachdenkens. »Wer ist das? Kennst du sie?«
Er bekam keine Antwort auf seine Frage. Als er verwundert zur Seite sah, war nichts mehr von Cederholm zu entdecken. Er mußte plötzlich irgendwo im Gewühl untergetaucht sein. Lewerenz strich sich mit der Hand über die Stirn. Was geschah eigentlich? Es war alles so traumhaft. Seine Augen richteten sich wie unter einem magischen Bann von neuem auf die Erscheinung der jungen Strandläuferin. Wenn er sie nicht im Gedränge verlieren wollte, so mußte er den Augenblick benutzen. Vielleicht schon im nächsten konnte es zu spät sein. Auch sie schien ihn bemerkt zu haben. Wenigstens mochte ein gewisses Zögern in ihren Bewegungen, eine Unschlüssigkeit, ob sie sich entfernen solle oder nicht, so zu erklären sein. Er trat auf das fremde und ihm doch bereits merkwürdig vertraute Mädchen zu und streckte ihm seine Hand entgegen.
»Darf ich mit dir tanzen?«
Ein Blick aus den dunklen Augen der Fremden traf ihn, überflog ihn, der sein Blut erhitzte und sein Herz schneller schlagen ließ.
»Sie dürfen«, erwiderte sie mit einem merkwürdig verschleierten Lächeln.
Er verneigte sich und umfaßte sie. Sie lag weich und schmiegsam, aber nicht willenlos in seinen Armen. Sie waren beide im richtigen Größenverhältnis zueinander, Lewerenz etwas größer, so daß ihrer beiden Augen sich auf geneigter Linie begegneten. Die Klänge eines Tangos girrten durch den Saal. Ein paar Augenblicke – lang wie eine Ewigkeit und ebenso schnell verronnen wie sie – ließen sie sich von den schmeichelnden Rhythmen dahintragen, ohne ein Wort zu sprechen. Lewerenz war es, als ob er ein leises Beben und Zittern in den Gliedern des in seinem Arm ruhenden Mädchens spüre.
»Wer bist du, schönes Menschenbild?« fragte er nach einem fast bangen Schweigen.
Sie hob ein wenig den Kopf zu ihm. Wieder begegneten ihre Augen den seinen. Es war ein Ausdruck darin, vor dem er die seinigen schloß. Ein unendliches Glücksgefühl durchlief ihn und zerrann, wie es gekommen. Als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er, daß eine schwache Röte ihre Wangen überfloß und jetzt unter seinem Blick sich noch tiefer zu färben schien. »Ich heiße Angele Moradelli«, sagte sie, »und bin Wirtschaftsstudentin. Und wer sind Sie, fremder Mann aus Norddeutschland?« Sie lachte ein wenig. »Oder wünschen Sie Ihr Inkognito zu wahren? Vielleicht sind Sie ein Prinz im Exil?«
Auch Lewerenz lachte. Beide hatten ihre Unbefangenheit wieder. Sie tanzten wieder ein Weilchen, ohne zu sprechen. Dann flüsterte Lewerenz:
»Ich bin des Todes froh, daß die Wolke auf deiner Stirn verschwunden ist und die Sonne wieder lächelt. Es sah bedrohlich genug aus. Weißt du auch, schönes Mädchen, holde Angelina, daß ich mich beinahe ein bißchen fürchtete, dich anzusprechen und mir vielleicht deinen Zorn zuzuziehen?«
Sie erhob wieder ihre Augen zu ihm. Sie schillerten blauschwarz, in jener tiefen Tönung des Meeres, wenn es, eben noch sonnenbeleuchtet, sich auf den Sturm vorbereitet. Es war eine Mischung von Weichheit und Trotz, von Hingebung und Auflehnung darin, die ihn berauschte.
Angele lächelte mit leichter Ironie.
»Sie sehen mir gar nicht so aus, als ob Sie sich so besonders vor etwas fürchteten. Am allerwenigsten vor einem verirrten und versprengten Mädchen, auf das alle loshacken und das sich gerade überlegte, ob es nicht am besten wäre, es nimmt einen Strick und hängt sich am nächsten Baum auf! Obwohl es natürlich auch wieder schade wäre um dieses bißchen Leben und die paar Gelegenheiten, die man vielleicht damit versäumt hätte.«
Ihr Ton war wieder ernst, ja düster geworden. Abermals erschien zwischen ihren dunklen Brauen jene Wolke, von der Lewerenz gesprochen hatte.
»Ich weiß nicht, was aus mir noch wird«, sagte sie. »Ich glaube, ich passe nicht recht in die Welt. Das Leben und die Menschen kommen mir halb schal vor und halb gemein. Ich habe gerade wieder einen Geschmack davon bekommen. Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich, Sie fremder Mann?« Ihr Blick hatte in diesem Augenblick etwas überraschend Kindliches. »Ich habe ein merkwürdiges Vertrauen zu Ihnen. Dabei kennen wir uns doch erst ein paar Minuten.«
»Wer weiß, vielleicht kennen wir uns schon viel länger.«
»Wieso? Wie meinen Sie das? Glauben Sie an Reinkarnation?« Sie hielt erstaunt im Tanzen inne.
Auch Lewerenz blieb stehen. »Vielleicht sind wir uns schon einmal auf einem anderen Stern oder in einer anderen Zeit begegnet, schönes Mädchen! Und jetzt klingt es wie eine Ahnung davon in uns. Aber wir können uns nicht besinnen, wann es war und wie es war.«
Angele senkte den Kopf. Um ihre Mundwinkel zuckte es. »Ich könnte mir denken, daß es schön war. Schön und traurig.«
»Ja, gänzlich so empfinde ich auch«, erwiderte er und nickte lebhaft. »Irgend etwas muß es bestimmt zwischen uns gegeben haben. Aber komm, schwarzbraunes Mädchen! Wir ziehen uns in eine stille Ecke zurück! Du sollst mir erzählen, und ich will dir zuhören!«
»Aber erst, wenn ich weiß, wer heute der Herr gewesen ist.«
Angele hatte ihre gute Laune wieder. Ihre Stimmung schien überhaupt sehr schnell zu wechseln und umzuschlagen.
»Also, wer sind Sie? Oder soll ich vielleicht auf die Idee kommen, daß Sie der Fliegende Holländer in Blond und im Frack sind? Zum mindesten eine ganz moderne Nuance davon?«
Lewerenz hatte ein nachdenkliches Lächeln.
»Gar nicht so weit vorbeigezielt, schöne Angela Borgia! Vielmehr Moradelli! Ich bin in der Tat über ziemlich viele Meere gefahren, und daß ich den Frauen, die mit mir zu tun hatten, nicht gerade Glück gebracht habe, scheint auch festzustehen.«
»Wie gruselig!« Sie lachte, aber durch die Ironie klang etwas wie Befangenheit. »Also, nun herunter mit der Maske! Name, Stand und Art?«
Sie waren im Gespräch aus dem Tanzsaal in eins der Nebenzimmer geraten und ließen sich auf einem kleinen Sofa nieder. Lewerenz verbeugte sich mit stark unterstrichenem Zeremoniell, indem er sich nach allen Regeln vorstellte.
»Bist du jetzt glücklich, holde Angela, nachdem du meinen Namen weißt? Ich bin fünfundvierzig Jahre alt und habe noch nichts für die Unsterblichkeit getan.«
»Vielleicht kommt es noch. Ich hätte Vertrauen für Sie.«
»Du machst mich unsäglich glücklich, mein Engel! Aber ich fürchte ... ich fürchte ...«
Angele legte die Hand ans Kinn und sah nachdenklich vor sich hin.
»Ich gehöre ja eigentlich zu den Ketzern, den Ungläubigen. Aber manchmal neige ich doch dazu, an Wunder in dieser Welt zu glauben. So zum Beispiel, daß wir beide uns getroffen haben, der Geheime Legationsrat Waldemar Lewerenz und die Studentin Angele Moradelli. Eben war ich noch in der furchtbarsten Stimmung. Ich hätte alles zertrümmern können. Diese ganze hohle, verlogene, gemeine Gesellschafft! Ganz gleich, ob es Bourgeoisie ist oder Boheme. Sie sind ja alle durch die Bank so schuftig, so hundsgemein! Und jetzt ist auf einmal die ganze Wut wie weggeblasen. Es ist so leer, so belanglos, was die da tun und sagen. Und wie sie sich benehmen. Ich komme mir so ... so ... geborgen bei Ihnen vor. Und doch muß ich in fünf ... spätestens in zehn Minuten fort und muß Sie allein lassen. Ich habe noch etwas zu tun. Vielleicht sehen wir uns wieder. Vielleicht auch nicht.«
Ihre sonst bleiche, durchsichtige Stirn hatte sich gerötet.
Lewerenz legte die Hand auf ihren Arm. Er fühlte die kühle Lebenswärme ihres Fleisches. Einen Augenblick schwindelte es ihm.
Sie schien es ihm anzumerken. »Was fehlt Ihnen?« fragte sie mit schwachem Lächeln.
Lewerenz schüttelte den Kopf. Er war wieder ganz Herr seiner Sinne. Die geheime Koketterie ihrer Frage zwang auch ihm ein Lächeln ab.
»Es handelt sich jetzt um dich, schöne, holde Angele, und nicht um mich. Du scheinst mit den Menschen und der Weltordnung nicht auf gutem Fuß zu stehen. Erzähle, was dich bedrückt! Ich werde dir helfen, so gut ich kann, und wenn dir jemand was angetan hat, dann wehe ihm!«
Sein leicht parodistischer Ton schien sie zu verletzen. Sie machte eine Bewegung, sich zu erheben, aber Lewerenz drückte sie mit einer entschiedenen Gebärde auf ihren Sitz zurück.
»Ich glaube, es ist besser, ich gehe«, sagte sie. »Was wollen Sie sich mit mir aufhalten? Mit einer kleinen Studentin, die Ihnen kaum viel zu sagen hat. Meine Zeit ist auch um. Die Pflicht ruft ... Die Pflicht, mich vor einem geehrten Publikum nackt zur Schau zu stellen.«
Lewerenz sprang erregt vom Sofa auf.
»Was ist das? Jetzt erzählst du mir alles! Ich lasse dich nicht fort, ehe ich nicht vollständig im Bilde bin. Denn nur so kann ich dir helfen. Also, um was geht es?«
»Sie werden das Vergnügen haben, mein Herr Geheimrat, mich in einer halben Stunde die Olympia in dem Manetschen Bild darstellen zu sehen. Ich werde unbekleidet sein. Das heißt natürlich mit der Andeutung eines Schleiers. Man nötigt mich dazu. Ich habe Wohltaten in diesem Hause empfangen ...«
Lewerenz erhob gebieterisch seine Hand. »Was du da redest, Angele, ist Unsinn. Nichts von alledem wird geschehen. Laß das meine Sorge sein. Aber zunächst trinken wir ein Glas Sekt zusammen. Wir haben ja noch ein paar Minuten Zeit, wie du sagst, um die Sache in Ordnung zu bringen.«
Angele nickte. Ein paar Tränen des Zornes schienen in ihren Augen zu stehen. Dabei hatte sie wieder den kindlichen Ausdruck, der Lewerenz schon früher aufgefallen war. Es war etwas Rührendes darin, das unwiderstehlich für ihn war. Sie nestelte an ihrer Tasche und begann ihr Haar in Ordnung zu bringen. Lewerenz winkte einem Mädchen, das mit Sektgläsern vorüberging. Sie ließen ihre Gläser gegeneinanderklingen und sahen sich darüber hinweg tief in die Augen. Angele trank ihr Glas auf einen Zug leer und setzte es auf den Tisch, daß es klirrte.
»Ach, das tut gut! Das ist Lebenselixier! Könnte man sein Dasein so mit einem Zug verschwenden wie dieses Glas Sekt!«
Sie schwieg. Dann fuhr sie in verändertem, fast drolligem Ton fort: »Und dabei soll ich bloß als Stellvertreterin fungieren! Als Notnagel! Hätte man mich wenigstens gleich von vornherein dafür genommen! Dann könnte man sich wenigstens noch etwas darauf einbilden. Ich glaube, ich bin ganz passabel gewachsen. Aber nein! Erst sucht man sich die Hillmannstorfer dafür aus. Dieses dumme Tier! Und weil sie jetzt plötzlich nicht kommen will, weil sie's auf einmal mit der Gêne hat, muß ich herhalten. Ist das nicht doppelt beleidigend?«
Sie lachte in einer Art von drolligem Zorn, und Lewerenz mußte mitlachen.
»So! Und jetzt begeben wir uns gemeinsam vor den Thron Seiner Majestät Sultan Selims des Dritten«, sagte er und erhob sich. Sie standen sich gegenüber und sahen sich von neuem in die Augen. »Es scheint, daß wir ganz gut zusammenpassen«, sagte Angele. »Ich meine, in der Größe«, setzte sie nach einem Augenblick hinzu.
Wieder ruhten ihre Blicke ineinander. Sie hatten sich bei den Händen gefaßt, ohne es zu wissen. Jeder atmete beglückt die Nähe des anderen. Angeles Kopf sank leicht an seine Brust. Lewerenz breitete seine Arme um das leise zitternde Mädchen. Für einen Moment war die tiefe Stille einer einsamen Insel um sie, an deren Strand von fern die Brandung donnert. Ihre Lippen fanden sich in einem ersten, langen, einzigen Kuß. Schweigend löste Lewerenz seine Arme. Angele stand wie in einem Taumel. Er bemerkte es und wollte sie von neuem in seine Arme schließen.
»Nicht! Nicht!« wehrte sie ab. Sie schien langsam wieder zur Besinnung zu kommen. »Ich glaube, es gibt einen schrecklichen Skandal«, sagte sie. »Anna Eichwald verzeiht Ihnen das nie. Ich kann es nicht annehmen. Mag es gehen, wie's geht. Ich habe es einmal versprochen. Aber ich werde Ihnen nie vergessen, daß Sie es für mich tun wollen.«
»Kein Wort weiter!« warf Lewerenz erregt ein. »Es wird unter keinen Umständen geschehen! Du stehst unter meinem Schutz.«
Aus nächster Nähe erklangen plötzlich Stimmen. Lewerenz und Angele fuhren unwillkürlich auseinander. Frau Lätizia, Herr von Lindlar und Franz Eichwald, der Herr des Hauses, waren in das Zimmer getreten.
»Ah! Sieh da! Welch eine hübsche Szene!« sagte Frau Lätizia lorgnettierend und lachte. »Hoffentlich stören wir nicht.« Sie trat einen Schritt näher und beobachtete ziemlich ungeniert das eng beieinander stehende Paar. »Wer hätte das dem Herrn Geheimrat zugetraut!« sagte sie mit einer Kopfwendung nach rückwärts zu ihren Begleitern. »Ich hätte nie vermutet, daß er überhaupt etwas für Frauenreize übrig hat. Und jetzt findet man ihn hier unter dunkelroten Rosen und blutenden Herzen in einem süßen Versteck. Noch dazu mit der schönsten Tänzerin des ganzen Festes.«
»Die zweitschönste war ja leider schon versagt«, erwiderte Lewerenz und machte eine vollendete Verbeugung vor Frau Lätizia.
»Impertinent!« sagte die Gräfin und ließ klirrend ihr Lorgnon fallen. »Gibt es denn keine Kavaliere mehr?«
Eichwald, der neben ihm stand, hielt sich mit gefalteten Händen den Bauch und lachte.
»Mir scheint, die Antwort war die beste, die man überhaupt geben konnte. Ich hätte auch keine bessere geben können, und ich bin doch auch nicht gerade auf den Mund gefallen. Ich glaube, gnädigste Gräfin, Sie haben sich das Malheur selbst zuzuschreiben. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.«
»Und Sie?« sagte Lätizia mit einer schroffen Wendung zu Lindlar.
Dieser hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und schwieg. Plötzlich trat er auf Lewerenz zu und streckte ihm die Hand entgegen. Die beiden Männer sahen sich an und schüttelten sich schweigend die Hand.
»Das ist die Höhe!« zischte Lätizia Kramer und rauschte zur Tür. Der Polizeirat folgte ihr gesenkten Kopfes und ohne ein Wort zu sprechen. Im nächsten Augenblick waren die beiden verschwunden. Man hörte noch das letzte Wort aus Lätizias Munde: »Empörend!«
»Das gibt ein schönes Donnerwetter für den armen Kerl«, sagte Eichwald und lachte. »Ein Volltreffer aus einem Schiffsgeschütz ist nichts dagegen.«
Er winkte Lewerenz und Angele mit kordialem Lachen zu und wollte gehen.
Lewerenz vertrat ihm den Weg. »Nur auf ein Wort, lieber Herr Eichwald! Ich habe eine Bitte an Sie.«
»Mit Vergnügen! Zwei oder drei, wenn ich sie erfüllen kann. Um was handelt es sich?«
»Fräulein Moradelli soll in dem Manetschen Bild die Olympia machen. Aber sie fühlt sich der Aufgäbe keineswegs gewachsen. Sie war ja auch gar nicht darauf vorbereitet. Die Rolle war für eine andere Dame bestimmt.«
Eichwald kratzte sich geräuschvoll den Kopf. »Ich bin ja überhaupt gegen die ganze Geschichte. Sie kommt mir ziemlich kitschig vor. Wir haben eigentlich schon genug Fleisch im Saal. Natürlich wäre der Anblick ja sehr erfreulich gewesen.« Er sagte das letzte mit einer linkischen Verbeugung gegen Angele.
Lewerenz legte ihm die Hand auf die Schulter. »Begleiten Sie mich, Herr Eichwald! Ich werde Ihre Gattin bitten, von ihrem Plan abzustehen.«
»Es wird eine verfluchte Geschichte sein! Wenn Anna sich etwas in den Kopf gesetzt hat ... Aber es läßt sich vielleicht mal im kleineren Kreise nachholen. Wir möchten doch nicht gern darauf verzichten.«
Er machte eine Art von Kratzfuß gegen Angele und verbeugte sich mit der Hand auf dem Herzen.
Angele mußte laut auflachen. »Oh, es beleidigt mich durchaus nicht, wenn es auch nicht geschieht.«
»Jetzt nehmen wir die Strandprinzessin in unsere Mitte und führen sie gemeinsam vor den Sultan«, sagte Eichwald. »Vielleicht läßt er Gnade vor Recht ergehen und begnügt sich mit einer kleinen Bastonade auf die entzückenden Fußsohlen der Prinzessin.«
Er verbeugte sich mit tanzbärenhafter Grazie und reichte Angele seinen linken Arm. Angele lachte und bot Lewerenz ihren anderen Arm. So, in einer Kette zu dreien, schlängelte sich der kleine Zug durch das Gewühl der kreischenden und jauchzenden Paare, bis er nach manchen Püffen und Stößen glücklich vor dem Auge des Sultans anlangte. Es war ein wirklicher und leibhaftiger reichvergoldeter Thronsessel, auf dem Selim der Dritte sich niedergelassen hatte und Hof hielt. Im Halbkreise um ihn herum knieten und lagerten die Amazonen der Heiligen Schar, ein wohlassortierter, in allen Farben und Kostümen schillernder Harem. Selim der Dritte runzelte bedenklich die Stirn, als er die drei Ankömmlinge gewahr wurde, die sich tief vor Seiner Majestät verneigten.
»Na, was gibt es wieder für Zores?« fragte er und blickte verdrießlich auf die kleine Gruppe hinab. »Es scheint, daß ich mit der Olympia kein Glück habe. Ich lese dir ja an der Nasenspitze ab, du widerborstiges Geschöpf, daß es dir nicht paßt. Ich hätte nicht übel Lust, diese ganze Programmnummer mitsamt der Olympia abzublasen. Ich sehe nicht ein, warum ich mir die Kränke an den Hals ärgern soll.«
»Das sehe ich auch nicht ein, erhabener Sultan«, sagte Eichwald zu seiner Frau. »Ich würde den ganzen Kitsch schwimmen lassen. Wir haben hier einen Abendländer von Distinktion, der sich darauf versteift, die gefangene Prinzessin ganz allein für sich zu besitzen und ihren Anblick keinem anderen gönnt. Er kennt eben die Gebräuche deines Harems noch nicht. Du mußt es ihm verzeihen.« Er deutete auf Lewerenz und faltete die Hände vor seinem mit Handgranaten gespickten Matrosenbauch. Es schien eine Lieblingsbewegung von ihm zu sein. »Ich würde übrigens den Geschmack dieses Abendländers durchaus teilen, wenn ich meine Fregatte nicht schon anders bemannt oder beweibt hätte.«
Lewerenz und Angele hatten bis jetzt geschwiegen. Angele war bis tief in den Nacken hinein errötet. Ihr war bei dem ganzen Auftritt, zumal bei Eichwalds recht deutlichen Anspielungen, nicht sehr wohl zumute. Sie schalt sich im stillen wegen ihrer dummen Spießigkeit aus, die an dieser ganzen Szene schuld war und die doch eigentlich gar nicht zu allen ihren Theorien vom Leben und von der Freiheit des Weibes paßte.
Lewerenz trat einen Schritt näher vor den Thron, kreuzte die Arme über dem Frackhemd und sprach:
»Erhabener Sultan! Sonne des Ostens! Dieser mit Recht stark bewaffnete Matrose hat dir bereits mein Anliegen vorgebracht. Ich bitte dich um die Freigabe der Prinzessin und bin gern bereit, dir meine letzten Tomane als Lösegeld für sie zu zahlen.«
»Und wenn ich es nun nicht tue?« erwiderte Selim der Dritte stirnrunzelnd.
»Dann würde ich gezwungen sein, sie vor deinem Angesicht zu entführen, und du würdest sie nie wiedersehen. Das schwöre ich dir beim Barte des Propheten!«
Der beturbante Potentat senkte den Kopf tief auf die Brust und schien angestrengt nachzudenken. Offenbar fiel es ihm schwer genug, vor seinem ganzen Hofstaat den Rückzug anzutreten. Man sah ihm an, daß im Ernstfall der Kopf des verwegenen Abendländers keine Bohne mehr wert gewesen wäre. Aber dann siegten doch edlere Gefühle; die Sonne der Gnade brach siegreich durch. Er erhob segnend seine Hand gegen das seines Richterspruches harrende Paar.
»Ich gebe dir die Sklavin frei, Fremdling, der du dich nach abendländischer Manier natürlich eines der besten Stücke meiner Sammlung bemächtigt hast. Zieh hin in Frieden! Und erdreiste dich nicht ein zweites Mal, unseren Zorn herauszufordern! Das Mädchen sei dein! Wir haben ja glücklicherweise noch genug von der Sorte auf Lager. Und jetzt ...« Selim der Dritte richtete sich in seiner ganzen majestätischen Fülle auf und erhob seinen Krummsäbel in die Luft, während sein ganzer Harem auf die Knie sank und mit der Stirn den Boden berührte. »Und jetzt«, fuhr er fort, »hat die Stunde geschlagen, da wir unser Haupt mit Asche bestreuen und unsere Stirn mit dem Öl der Vergänglichkeit salben. Prinz Karneval wird in feierlicher Prozession hier vor meinem Thron aufgebahrt werden. Wir werden ihm das Miserere singen. Und danach, meine getreuen Untertanen ... danach geht die Gaudi weiter. Habt ihr's vernommen? Die Gaudi geht weiter! Bis man euch am Morgen aus allen Ecken auskehrt!«
Sie konnte ihre Rede kaum zu Ende führen. Ein ungeheurer Jubel, in dem ihre letzten Worte untergingen, umbrauste die mächtige Gestalt auf dem Sultansthron. Wie eine aufgetürmte Woge stürzte sich die enggedrängte Menge dem abgeteilten Raum entgegen, in dem die Herrscherin des Abends hochaufgerichtet unter ihrem Hofstaat dastand. Juhuschreie jauchzten. Wilde Pfiffe gellten. Das ohrenzerreißende Geheul, das von einem Chor rasend gewordener Derwische vollführt zu sein schien, wurde noch übertönt von wahnwitzig klappernden Kastagnetten und immer wiederholten, in kurzen Abständen hinausgebrüllten Evoerufen eines einzelnen, besonders Stimmgewaltigen.
Angele und Lewerenz waren durch den unerwarteten Anprall der vorwärtsstürzenden Menge vom Sultansthron abgedrängt und ein Stück weit auseinandergerissen worden. Lewerenz sah Angeles Strandhut im Gewühl auf und nieder wogen. Während er noch die stoßende und schiebende Menge mit den Ellbogen zerteilte, um dem geliebten Mädchen wieder nahe zu kommen, fühlte er eine Hand auf seinem Arm und erkannte Cederholm, der mit einem von Hohn überquellenden Gesicht neben ihm stand.
»Ich gratuliere dir!« sagte er. »Es war eine schöne Szene. Hüon und Rezia vor dem Kalifen. Es fehlte nur das Horn. Na, das kommt schon. Ich habe die ganze Szene aus nächster Nähe mit meinem Apparat aufgenommen. Sie gehört in mein Archiv. Aber du hast einen guten Fang gemacht. Ich habe das schöne Tier ein Jahr lang dressiert. Sie wird dir aus der Hand fressen, wenn du dein Metier verstehst.«
Lewerenz erhob seine Faust. Er hätte Cederholm in diesem Augenblick niedergeschlagen, aber die Menge hatte sie bereits wieder getrennt. Er sah nur noch, wie Cederholm ihm über die Köpfe zuwinkte und dann verschwand. Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Angele hatte sich bis zu ihm hindurchgerungen und sah ihn mit bleicher, ja angstverzerrter Miene an. »Kanntest du den Mann, mit dem du da eben sprachst?« fragte sie. »Es war Cederholm. Kennst du ihn?«
»Ich kenne ihn sogar sehr gut«, erwiderte Lewerenz. »Cederholm ist ein Schulkamerad von mir. Wir sind Todfeinde seit dreißig Jahren, was sich darin dokumentiert, daß wir absolut nicht voneinander loskommen. Daß wir immer wieder zueinander hin müssen, bis endlich einer von uns beiden auf der Strecke bleibt. Es fragt sich nur, wer.«
Er schwieg. Er hatte Cederholms zynische Bemerkung über Angele für einen Augenblick vergessen. Plötzlich fiel sie ihm wieder ein. Es überlief ihn heiß und kalt bei dem Gedanken, daß etwas Wahres daran sein könne. Er überlegte, ob er Angele geradehin danach fragen oder wie er sich sonst vergewissern könne. Aber er kam zu keinem Entschluß. Angele selbst zu fragen, wäre geschmacklos gewesen. Hatte sie ihm ein Recht dazu gegeben? Welchen Anspruch besaß er darauf? War es nicht fast selbstverständlich, daß ein Mädchen von ihrer Gesinnung und Weltanschauung, noch dazu von diesem Reiz der Erscheinung, schon seine Erlebnisse mit Männern hatte? Also warum nicht mit Cederholm? War er zum Richter darüber bestellt? Hatte er nicht genug von der Welt und vom Leben erfahren, um sich über solche Skrupel und Zweifel hinwegzusetzen? Und dennoch und immer wieder: Warum gerade mit Cederholm? Lewerenz fühlte, wie dieser Stachel sich tiefer und tiefer in seine Seele senkte und leise zu schwären begann.
Aber es war jetzt keine Zeit, sich damit abzugeben. Angele stand vor ihm, vom Gewühl der Menge dicht an ihn gepreßt, und sah mit einem rührend hilflosen Ausdruck zu ihm auf. War dies schon das Bekenntnis ihres Schuldbewußtseins? Plötzlich erlosch das elektrische Licht im Tanzsaal. Das Orchester auf dem Podium, das nach der Ansprache des Sultans mit einem Trauermarsch in das Freudengeheul der Menge eingefallen war, brach mitten im Takt ab. Am hinteren Eingang des Saals wurde ein Lichterzug sichtbar, vor dem sich die Menge gleichsam in zwei Mauern teilte, so daß ein breiter Mittelgang entstand. Schwarzvermummte Gestalten mit brennenden Kerzen bewegten sich in feierlichem Schritt dahin und kamen langsam näher. Ein Klagegesang in der Art einer Litanei erscholl. Hinter den Gugelmännern schwankte, von sechs ebenfalls Vermummten getragen, eine schwarzverkleidete Bahre daher, auf der die ausgestreckte Gestalt eines weißen Pierrots ruhte. Ein langes Gefolge von Masken schloß sich hinten an. Sie sangen mit ernsten Mienen den Trauergesang mit. Manche hatten Lauten über die Schulter geworfen und spielten die Begleitung dazu.
»Sie begraben den Prinzen Karneval«, flüsterte Angele Lewerenz zu. »Ich möchte wissen, wer ihn diesmal macht.«
Der Trauerzug war näher gekommen. Lewerenz und Angele standen in der vordersten Zuschauerreihe, unweit des Bühnenpodiums, wo die Einsegnung des toten Prinzen stattfinden sollte. Die Gugelmänner mit ihren langen Wachskerzen bildeten rechts und links der Bühne Spalier und psalmodierten ihre Litanei, von deren Text man nur einige unheilige Brocken vernahm. Die Bahre mit dem Pierrot schwankte auf den Schultern der in schwarzen Kapuzen dahinschreitenden Träger heran. Gerade vor Lewerenz und Angele ließen sie ihre Last auf den Boden nieder. Der weißgeschminkte Pierrot mit den bläulichroten Lippen und den überschwarzen Strichen der Augenbrauen lag totenstarr da.
»Der arme Prinz!« bemerkte Angele halblaut zu Lewerenz. »Er sieht wirklich aus wie eine vollkommene Leiche. Es ist schade um sein junges Leben!«
»Es wird ja wieder lebendig werden!« erwiderte Lewerenz. »Im nächsten Jahr!«
»Ach, was wissen wir, was im nächsten Jahr sein wird!« rief Angele. Ihr Blick fiel von neuem auf die gerade vor ihnen niedergestellte Bahre mit dem totengleichen Pierrot. Aber was war das? Hatte der Klang ihrer Stimme ihn aus seinem Todesschlaf erweckt? Sie sah deutlich, wie seine Augenlider sich zu einem breiten Spalt öffneten und ein paar dunkle, wohlbekannte Augen sie halb verwundert, halb traurig anstarrten. Und jetzt erkannte sie auch durch die dick aufgetragene weiße Schminke die klassisch regelmäßigen Züge des jungen Menschen wieder, mit dem sie vor ein paar Stunden in jenem Maleratelier dahingewirbelt war. Es überlief sie mit einemmal kalt. Die Knie wollten den Dienst versagen. Ihr Herz klopfte bis zum Halse herauf; sie fürchtete, es müsse zerspringen. Sie begriff selbst nicht, warum das war und woher es kam. Was hatte der junge Mann mit ihr zu schaffen oder sie mit ihm?
Ihr Schwächegefühl hatte nachgelassen. Auch ihr Herz klopfte ruhiger. Nur ein leises Zittern war noch zurückgeblieben. Sie legte ihren Arm leicht auf den von Lewerenz. Da war wieder dieses beglückende Gefühl des Geborgenseins. Ihr konnte nichts geschehen, solange er bei ihr war! Der Pierrot hatte übrigens seine Augen wieder geschlossen und war toter als je. Seine Träger, die sich etwas ausgeruht hatten, griffen in diesem Augenblick wieder zu und schleiften ihn mitsamt der Bahre durch das Spalier der Gugelmänner auf die Bühne.
»Fehlt dir etwas, Angelina, süßes, holdes, einziges Mädchen?« flüsterte Lewerenz ihr mit heißer Stimme zu. »Du zitterst! Warum zitterst du? Ist etwas geschehen?«
Angele stützte sich fester auf seinen Arm. »Vielleicht weil ich den Toten sah. Und wir wollen doch leben, nicht wahr?«
Lewerenz legte den Arm um sie und preßte sie dichter an sich. »Wir wollen leben, Angelina! Wir wollen leben! Wir wollen leben! Nichts ist gewisser, als daß diese Stunde und dieser Tag und dieses Glück ganz einmalig ist und niemals wiederkehren wird!«
Sie sank in der tiefen Dämmerung des Saales, in die nur die bleichen Totenkerzen von der Bühne hinunterschienen, an seine Brust, und niemand in dem murmelnden, schattenhaften Gedränge ringsumher schien acht darauf zu geben.
*
Hans Fridolin Kramer, Frau Lätizias Gatte und Inhaber der gleichnamigen Pension, befand sich in sehr gehobener Stimmung. Die Papiere, deren Kurs ein paar Tage ins Schwanken geraten war, hatten sich wieder gefestigt und begannen von neuem zu steigen. Rotziegel, bereits bis auf 283 zurückgegangen, erholten sich von Tag zu Tag und waren nicht mehr weit von ihrem letzten Höchstkurs. Es stand zu hoffen, daß sie ihn demnächst sogar überschreiten würden. Alle Welt riß sich plötzlich um Rotziegel-Aktien. In eingeweihten Kreisen versicherte man, daß Eichwald stark an dem Unternehmen beteiligt sei.
Kramer behandelte das Gerücht hiervon bereits als feststehende Tatsache und erzählte es jedem, der es hören wollte, unter dem Siegel strengsten Geheimnisses. Mußten seine Informationen nicht zuverlässig sein? Man wußte ja, daß er seit einiger Zeit viel im Eichwaldschen Hause verkehrte. Kramer versäumte auch nie, bedeutsame Anspielungen auf seine enge Beziehung mit dem großindustriellen Ehepaar fallen zu lassen, und sprach von den beiden nur als von seinen besten Freunden, in deren Büros und Privaträumen er täglich ein und aus gehe. Was Wunder, daß Rotziegel-Aktien im Mittelpunkt aller Kaffeehaus- und Ratskellerspekulationen standen und täglich höher kletterten.
Das in Aussicht stehende Geldschiff des Herrn Carlos Müller, jenes Deutschargentiniers, von dem auf dem Faschingsfest bei Eichwalds im engeren Kreise die Rede gewesen war, schien sich zwar über Erwarten zu verspäten. Trotzdem konnte nicht der geringste Zweifel obwalten, daß es über kurz oder lang eintreffen werde, worauf dann die längst geplante Kramersche Industrie- und Zentralbank ungesäumt in Erscheinung treten würde. Kramer betonte voll Eifer, daß mit dieser Gründung die längst notwendige und unentbehrliche Synthese zwischen dem industriellen Großkapitalismus und den Spargroschen des kleinen Mannes lebendige Gestalt annehmen werde. Daher auch der Name Industrie- und Zentralbank. Die vier Millionen Pesos von Carlos Müller, auf die man sicher rechnen könne, seien eine so solide Grundlage für das Unternehmen, daß zu erwarten sei, es werde in kurzem alle anderen Großbanken aus dem Felde schlagen oder zum wenigsten sie sich angliedern. Nüchterne Gemüter, deren es ja genug gab, lachten über Kramers Großsprechereien und nannten ihn je nachdem einen Phantasten oder einen Abenteurer. Es fanden sich aber auch immer wieder Gläubige, die Kramers Phantasien als bare Münze nahmen und gern bereit gewesen wären, ihre schönen neuen Tausendmarkscheine (man sah sie jetzt ebenso oft wie früher die Hunderter) auf die von ihm zu gründende Industrie- und Zentralbank zu tragen.
Carlos Müller, der millionenschwere Geldgeber der Zukunftsbank – der er allerdings erst werden sollte –, bewohnte in der Pension Lätizia ein paar nach rückwärts gelegene ruhige Zimmer des zweiten Stockwerks. Er war auch persönlich eine sehr stille anspruchslose Erscheinung, jedem Aufsehen und lauten Gebaren abhold. Der mittelgroße, breitschultrige, untersetzte Mann mit dem kleinen hellblonden Spitzbärtchen hatte nichts von einem südamerikanischen Plantagenbesitzer und Dollarmillionär, sah viel eher einem Mittelschulrektor oder Feldmesser gleich. Die weiblichen Gäste der Pension bewunderten das bescheidene, zurückhaltende Wesen des Millionärs, der bei Tisch kaum ein Wort sprach und Annäherungsversuchen mit einer schüchtern zu nennenden Geste auswich.
Im grellen Gegensatz zu der schattenhaften Art von Carlos Müller stand das Auftreten von Gordon C. Butler, einem amerikanischen Obersten, der seit einiger Zeit ebenfalls in der Pension Lätizia wohnte. Er war erst mehrere Wochen später als Carlos Müller in München eingetroffen und trug ein lautes, bramarbasierendes Benehmen zur Schau. Merkwürdig genug, daß die beiden so verschieden gearteten Männer schon sehr bald eine enge Freundschaft miteinander schlossen und unzertrennlich wurden. Carlos Müller hatte übrigens einen sehr wohltätigen Einfluß auf die rauhen Sitten des wildwestlerischen Obersten. Gordon C. Butler mäßigte seine donnernden Schlagworte, wenn Carlos Müller auch nur leise den Finger erhob, und suchte sich den Gebräuchen einer milderen Zivilisation nach Möglichkeit anzupassen.
Auch der Oberst schien über ansehnliche Summen zu verfügen. Seine Brieftasche war stets vollgepfropft mit Dollarnoten, von denen er hier und da kleinere Scheine wechseln ließ. Sie genügten ja unter den bestehenden Verhältnissen auch vollauf, um in Deutschland ein Leben auf großem Fuße zu führen. Hans Fridolin Kramer hatte einen heillosen Respekt vor dem lärmenden Obersten, der ihn bei jeder Gelegenheit abkanzelte, und ging ihm gern aus dem Wege.
Gordon C. Butler machte sämtlichen Damen der Pension den Hof, nicht zuletzt Frau Lätizia, der Hausherrin. Es war bemerkenswert, mit welcher Ruhe Herr von Lindlar die Bewerbungen des ungestümen Rauhreiters um seine angebetete Lätizia hinnahm. Keine Miene in seinem Gesicht zuckte, wenn der Amerikaner seine aus den Bars von Arizona oder Alaska mitgebrachten Galanterien spielen ließ. Auf die Damen machte aber doch die bescheidene Zurückhaltung des argentinischen Millionärs einen weit größeren Eindruck als Butlers wildes Draufgängertum. Kramer äußerte im engeren Kreise, daß er den Obersten eigentlich nur aus Rücksicht auf dessen Freundschaft mit Carlos Müller im Hause dulde. Es gab auch noch einen anderen Grund, den er allerdings nur vorsichtig andeutete. Solange nämlich das Geldschiff aus dem fernen Argentinien noch nicht eingetroffen war, hatte der Oberst in echt amerikanischer Großzügigkeit die langsam anwachsenden Verpflichtungen des Millionärs zu den seinigen gemacht und mit seiner dicken Brieftasche für den anderen Bürgschaft geleistet. Wie hätte es also Kramer in den Sinn kommen können, diesen Freundschaftsbund mit rauher Hand zu zerreißen, indem er gerade dessen augenblicklich zahlungsfähigeren Partner aus dem Hause entfernte!
Der gegenwärtige Zustand konnte ja ohnehin nicht mehr lange andauern. Der argentinische Millionär hatte bereits drahtlich die Nachricht erhalten, daß es gelungen war, seine südbrasilianischen Kaffeeplantagen – eben denjenigen Teil seiner Liegenschaften, den er der besseren Übersichtlichkeit halber abstoßen wollte – zu äußerst günstigen Bedingungen zu veräußern und einen erheblichen Teil davon auch sofort flüssig zu machen. Ein Kreditbrief mit einer vielstelligen Ziffer (Kramer flüsterte mit vorgehaltener Hand, daß sie siebenstellig sei) war unterwegs und mußte in diesem Augenblick schon die Linie passiert haben.
Lewerenz erschien neuerdings nur noch selten bei der Mittagstafel. Er zog es vor, allein auf seinem Zimmer, öfters auch in einer bekannten Weinstube der inneren Stadt zu speisen. Lindlar hatte plötzlich eine Dienstreise antreten müssen. Wann er zurück sein werde, wußte niemand. Es war nicht seine Art, jemanden ins Vertrauen zu ziehen. In diesem Punkt vermochte auch Frau Lätizia nichts über ihn. Er hatte sich nur mit ein paar höflichen Worten von ihr verabschiedet, ohne die leiseste Andeutung über Ziel und Zweck seiner Reise. Auch daß sie amtlichen Charakters sei, war nur eine Vermutung seiner Bekannten. Frau Lätizia ließ durchblicken, daß es am Ende doch mehr eine gewisse ... nun ja, wie sollte man sagen? ... eine gewisse Eifersüchtelei gegenüber dem tollen Amerikaner sei, die den Polizeirat in die Flucht getrieben habe. Aber sei das nicht eigentlich eine Kinderei von einem so ernsten Mann wie Lindlar, wenn man bedenke, daß es sich bei dem Amerikaner doch nur um eine komische Figur handele, über deren Alfanzereien man nur lachen könne? Aber Lindlar sei ja an Brot gewöhnt und werde schon wiederkommen, sobald er sich nur gründlich ausgelüftet habe.
Lewerenz hatte Angele Moradelli in jener Nacht nach dem Faschingskehraus zu Fuß heimgeleitet. Ihre Wohnung lag nicht weit entfernt. An der Tür hatten sie sich verabschiedet und ein Wiedersehen an einem der nächsten Tage in einem bekannten Café der Bahnhofsgegend verabredet. Beide waren pünktlich zur Stelle. In dem sonst stark besuchten Lokal waren nicht viele Gäste. Daran war wohl die Nachwirkung des Faschings schuld. Eine kleine Kapelle war auf einer erhöhten Galerie postiert und spielte die bekannten Schlager. Auch sie schien ermüdet und ließ sich Zeit.
Lewerenz und Angele saßen sich gegenüber und sprachen über nebensächliche Dinge. Beide waren befangen und suchten es durch krampfhafte Unbefangenheit voreinander zu verbergen. Lewerenz hätte gern ein starkes, echtes, leidenschaftliches Wort gefunden. Aber es wollte nicht über seine Lippen. Der Hals war ihm wie zugeschnürt. Er wußte, daß alles darauf ankomme, jenes Wort zu finden, den einen treffenden, überzeugenden Ton anzuschlagen, der wie der Klang einer Stimmgabel den verwandten Ton der anderen Seite hervorrufen würde. Es war, wie wenn wir im Traum einem bestimmten, über alles wichtigen und entscheidenden Ziel entgegenhasten und dabei mit jedem Augenblick weiter dahinter zurückbleiben, es uns ferner und ferner entgleiten sehen. Das Leben steht auf dem Spiel, daß wir es noch erreichen! Umsonst! Unsere Füße sind wie angeleimt. Dort in der Ferne verschwindet es, jenes unfaßbare Etwas, an dem unser Schicksal und unser Glück hing.
Lewerenz wußte oder glaubte zu wissen, daß Angele nicht viel anders zumute war als ihm. Sprach ihr banges Zögern, als er der Kellnerin zahlte und sie sich zum Hinausgehen anschickten, nicht deutlich genug dafür, daß sie sich vor dem Augenblick des Auseinandergehens fürchtete? Konnte es, wenn sie sich nun die Hand geben und sich mit einem gleichgültig verbindlichen Lächeln trennen würden, nicht ein Abschied für immer, ein unwiderrufliches Lebewohl werden?
Und dann standen sie auf der Straße, im Lichte des trüben Wintertages, dessen Dämmerung hereinbrach, unter dahintreibenden, gleichgültigen Menschenlarven, von Autos und Straßenbahnen umlärmt; und als ob jeder es für den anderen fühle, daß alles für sie von dieser einen Minute abhänge – ihr ganzes noch kommendes Schicksal von dieser einen entscheidenden Minute –, gingen sie nebeneinander weiter, trennten sich nicht, wie sie es eigentlich gewollt und doch auch wieder nicht gewollt hatten, und befanden sich plötzlich im tiefsten Gespräch.
Das Bild jener Stunde, die sie mitten im Tanzgewühl zusammengeführt hatte, stand mit allen seinen Einzelheiten wieder vor ihnen da. War es nicht seltsam, fast unerklärlich, wie es sie durch eine Art von Magie zueinander hingezogen hatte? Was für eine Kraft war da im Spiel gewesen? Angele stellte andeutend, zweifelnd, kopfschüttelnd eine Frage von dieser Art.
»Gibt es nicht eine Kraft, Angele, die stärker als alle anderen Kräfte auf Erden ist?« war Lewerenz' Antwort. »Hast du noch nie von dieser Kraft gehört, schöne Angele?«
Er drückte ihren Arm fester an sich und fühlte, wie sie seinen Druck leise erwiderte. Abermals empfand sie diese starke Sicherheit, dieses wohlige Geborgensein an seiner Seite, in seiner Nähe, vielleicht, wenn sie allein gewesen wären, in seinem Arm. Aber war das Liebe, was sie empfand, wie er es doch mit seiner Frage wahrhaben wollte? War es nicht vielleicht nur ein höherer Grad von Freundschaft? Von Kameradschaft? War denn nicht auch unter ihren studentischen Kommilitonen der oder jener, für den sie ähnlich so empfand, ohne auch nur den leisesten Gedanken an Liebe dabei zu haben?
Und doch! Das hatte alles eine andere Farbe gehabt. War verschieden im Ton gewesen. Es war ein Spiel mit Gleichaltrigen, denen sie sich überlegen fühlte. Mit den zwanzigjährigen jungen Leuten konnte man umspringen wie man wollte. Aber dies war ein reifer Mann, der an ihrer Seite einherschritt und ihren Arm an sich preßte. Einer, der weit in der Welt herumgekommen war. Den das Schicksal unter seinem Hammer gehabt und hartgeschmiedet hatte. Einer, der um die Hintergründe der Dinge wußte und in die Tiefe, in das Grauen des Daseins geblickt hatte.
Zum erstenmal fühlte sie sich einem Manne gegenüber als der unterlegene, der schwächere Teil, fühlte sie sich in die Verteidigung gedrängt. Und es war ein Gefühl, süßer als alle Überlegenheit, als jeder moderne Frauenstolz vordem. Aber war es denn wirklich zum erstenmal? Und Cederholm? Wie oft hatte sie die Erinnerung an ihn zu verdrängen gesucht! Aber immer wieder war er aus dem Unterbewußtsein vor ihr aufgetaucht, wie jener Spielzeugteufel, der uns ins Gesicht fährt, sobald wir den Deckel von seiner Schachtel lüften. Jawohl! Vor ihm hatte sie sich gebeugt. Hatte sie sich beugen müssen, weil er die Peitsche über ihr schwang. Aber es war mit knirschenden Zähnen geschehen. Mit dem immerwährenden Drang, ihm an die Kehle zu springen, ihm etwas anzutun, Rache zu nehmen, frei zu werden von diesem Joch.
Wie kam es eigentlich, daß dies mit einemmal von ihr genommen war? War es, weil jetzt dieser andere neben ihr ging und Macht über sie gewann? Er war Cederholms Freund. Sie kannten sich schon lange, schon viele Jahre. Warum hatte Cederholm nie über Lewerenz, über diesen alten Freund und Bekannten zu ihr gesprochen? Und wenn nun Lewerenz gerade derjenige war, auf den Cederholm in jener grauenvollen Stunde, damals im Laboratorium, angespielt, dessen Bild er ihr für ein paar flüchtige Sekunden entgegengehalten hatte, ohne daß sie es hatte erkennen können? Jenes Bild, jenes Negativ, das zusammen mit dem ihrigen ihm für sein verruchtes, sein wahnwitziges Experiment hatte dienen müssen? Aber war dann nicht alles, was sie für ihren Begleiter empfand, dieses wohlig zärtliche Gefühl, mit dem sie seine Nähe erfüllte – war dann nicht alles nur Selbstbetrug? Verdankte es nicht einer Art von moderner Hexerei und Gaukelei seinen Ursprung? Lenkte nicht der Wille eines Dritten sie beide, in dessen Händen sie Marionetten waren und weiter nichts? So Cederholms Wort. Und wenn es sich wirklich so verhielt? Wenn das die Magie war, die ihre Schritte zusammengeführt hatte und die Lewerenz – in ahnungsloser Selbsttäuschung – Liebe nannte ...?
Um Angele drehte es sich plötzlich. Ihre Sinne schienen sie zu verlassen. Sie blieb stehen und faßte unwillkürlich nach Lewerenz' Arm, um sich zu stützen. Aber im nächsten Augenblick hatte sie wieder ihr volles Bewußtsein. Sie sah wie aus einem finsteren Traum um sich und hatte ein beklommenes Lächeln. Sie standen im Bereich einer Verkehrsinsel. Rechts und links floß gerade ein rascher Wagenstrom vorüber.
Lewerenz hatte bestürzt ihren Arm ergriffen. »Was war das, Angele?« fragte er. »Du schwanktest mit einemmal. Du hast das öfters, wie es scheint.«
»Es hat nichts zu bedeuten!« wehrte sie ab. »Vielleicht schwindelte mir plötzlich.«
»Wovor?«
»Vielleicht sah ich in einen Abgrund hinab. Man hat das ja manchmal an Abgründen, an denen man vorüber muß. Aber es hilft nichts. Man muß vorbei. Auch wenn es auf Tod und Leben geht.«
Lewerenz schüttelte den Kopf. Sein Blick ruhte mit ehrlicher, liebevoller Besorgnis auf ihrem bleich gewordenen Gesicht.
»Was sind das für Reden, liebste Angele? Ist das meine lebenslustige Faschingsbekanntschaft von vorgestern?« Er versuchte seinem Ton eine scherzhafte Färbung zu geben.
Auch Angele lächelte. Sie hatte sich wieder ganz in der Gewalt. »Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte sie. Dann auf seinen Ton eingehend: »Und jetzt wohin, Herr Geheimrat?«
»Rechts oder links, mein Fräulein?« fragte Lewerenz mit einer artigen Verbeugung und streckte seine Arme wie die eines Wegweisers von sich.
»Ich glaube, mein Weg wird immer nach links gehen«, erwiderte Angele, mit einem bedeutsamen Augenaufschlag. Aber als ob ihr im gleichen Moment der Doppelsinn ihrer Worte einfiele, senkte sie den Kopf und schien zu erröten. Wenigstens glaubte Lewerenz, es sich so deuten zu sollen. Er ergriff ihre Hand und preßte sie in der seinen.
»Also auf nach links! Alle Wege führen ja rund um die Welt. Vielleicht landen wir irgendwo auf einer Insel, wo niemand ist als wir zwei.«
»Würde Sie das glücklich machen?« fragte Angele nach einem Augenblick, etwas stockend.
»Sehr! Sehr! Sehr!« antwortete Lewerenz.
»Und für wie lange?« fragte sie weiter.
Lewerenz zuckte die Achseln. »Trägt nicht jedes Glück sein Zeitmaß in sich selbst? Wollen wir es mit dem Chronometer messen? Kann man nicht achtzig Jahre gelebt haben, ohne je zu erfahren, was Glück ist? Und kann umgekehrt nicht eine Stunde des Rausches schwerer wiegen, uns mehr Glück schenken, als ein ganzes Dasein in Nüchternheit gelebt?«
Angele blickte lächelnd in sein versonnenes Gesicht. Es schien sie wieder der Haber zu stechen. »Mit diesem Stundenglück ... das scheint mir sehr eine Männerphilosophie zu sein, mein Herr Geheimrat. Und es muß ja auch nicht gerade diese Insel sein, wo Sie es erleben wollen, nicht wahr?« Sie deutete mit einer schalkhaften Bewegung im Kreise um sich herum. Sie standen beide noch immer auf der Verkehrsinsel, um die der Strom der Menschen und der Gefährte, bald schwächer, bald stärker, jetzt nachlassend und fast versickernd, dann wieder stärker und stärker anschwellend dahinzog.
Lewerenz fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah erwachend um sich. Dann faßte er mit einer schnellen Bewegung das Mädchen unter den Arm und führte es, eine sich bietende Ebbe benutzend, zum anderen Ufer hinüber.
Der Abend endigte in einer kleinen, stillen Weinstube unweit des Platzls. Sie saßen in einer abgeteilten Loge, Hand in Hand nebeneinander, tranken abwechselnd einer aus des anderen Glas und redeten in jenem Dämmerlicht zwischen Tiefsinn und Dalberei die gescheitesten und die törichtesten, die nüchternsten und die trunkensten Worte, wie es Liebende seit Jahrtausenden tun. Vereinzelte Gäste kamen und gingen. Niemand kümmerte sich um das flüsternde Paar. Nur die umfangreiche Wirtin warf ab und zu, über ihren Zeitungshalter weg, einen forschenden Blick auf die beiden Versunkenen.
»Und wann und wie und wo werden wir uns wiedersehen?« war Lewerenz' Frage, als die Stunde des Aufbruchs kam.
»Ich werde Ihnen schreiben«, erwiderte Angele mit einem hastigen und bangen Ausdruck.
»Warum schreiben?« drängte Lewerenz. »Warum Tinte und Papier, wenn ein Wörtchen Auge in Auge genügen würde? Das eine Wörtchen: Ja!«
»Geben Sie mir Bedenkzeit!« bat Angele. »Bitte, bitte! Ich muß mit mir selbst ins klare kommen! Ich bin ja so wirr und so irr. Mein ganzes Leben erscheint mir wie ein Traum. Mir ist manchmal, als ob das gar nicht ich selbst wäre, die aus mir redet, die für mich handelt. Als ob es eigentlich ein ganz anderer Mensch wäre, der alles an meiner Stelle täte. Ich fürchte, ich fürchte, es wird noch einmal ein schlimmes Ende mit Angele Moradelli nehmen. Bitte, bitte, bitte! Lassen Sie mir Zeit! Ich schreibe. Ich schreibe. Nur ein bissel warten können! Ich schreibe.«
»Aber um Himmels willen! Wozu Bedenkzeit? Wofür denn Bedenkzeit?« forschte Lewerenz kopfschüttelnd. Eine Erinnerung, die er halb vergessen, vielleicht auch mit Bedacht von sich geschoben hatte, stieg wieder in ihm auf. »Man könnte beinahe auf die Vermutung kommen, es seien andere Verpflichtungen da, ältere Bande, die dich festhalten. Von denen du nicht loskommen kannst. Vielleicht möchtest, aber nicht kannst. Sage mir alles, Liebste! Ich habe Verständnis für alles. So schwer es mich vielleicht auch ankommen mag. Ich habe Verständnis. Glaube es mir. Du sollst dich nicht in mir getäuscht haben. Was bindet dich? Oder was glaubst du, das dich bindet?«
Angele erhob beschwörend die Hände gegen ihn. »Bitte, nicht fragen jetzt! Nur nicht fragen in diesem Augenblick! Sehen Sie denn nicht, wie ich darunter leide?« Angele war in sich zusammengesunken und preßte die Hände vor das Gesicht.
Lewerenz biß sich auf die Lippen und schwieg. Aber er mußte Gewißheit haben! »Ist es ... ist es ... Cederholm? Handelt es sich um Cederholm? Sage nur das eine Wort: Ja oder nein.«
Angele krampfte die Hände ineinander. Sie atmete schwer. Sie setzte zum Sprechen an und stockte noch vor dem ersten Ton. Ein paarmal so. Plötzlich entrang es sich ihr: »Ich komme mir so beschmutzt vor! So ... so ... gemein! Als ob ich durch alle Kloaken der Welt geschleift worden wäre.«
Lewerenz war in die Höhe gefahren. »Also doch Cederholm?! Ich habe ja gewußt, daß er es ist! Ich habe es in derselben Minute gewußt, vorgestern beim Fest, als er plötzlich neben mir stand, meinen Arm umkrallte und mit einem Gesicht, das von Niedertracht, von Bosheit nur so überfloß, auf dich hinzeigte ... Aber ich mache dich von ihm frei! Morgen wirst du frei! ... Bitte! Nicht weinen! Nicht weinen! Morgen wirst du frei!«
»Es ist nicht das, was du denkst«, wehrte Angele. »Nicht das, was Sie denken. Ich bin frei. Ich fühle mich frei. Und doch ... Wie furchtbar das alles ist! Ich kann es Ihnen jetzt nicht sagen. Lassen Sie mir Zeit! Ich muß mich erst sammeln ... Er ist ja kein Mensch. Er ist ja ein Dämon aus dem untersten Abgrund.«
Tränen des Trotzes, der Scham, der Erbitterung rannen über ihre Wangen. Sie schluckte ein paarmal auf wie ein Kind, das sich satt geweint hat.
Lewerenz nahm ihr sanft das Taschentuch aus der Hand und wischte ihr die Tränen damit ab.
Sie dankte ihm mit einem zärtlichen Blick. »Sie sind gut zu mir«, sagte sie. »Ich werde Ihnen alles sagen, wenn die Zeit da ist. Und jetzt, bitte, lassen Sie mich nach Hause gehen! Ganz allein! Bitte, ja? Ich brauche das. Aber wir werden uns wiedersehen. Sie werden von mir hören. Ich schreibe Ihnen.«
Sie sah ihn mit einem flehenden Blick an. Er nickte und half ihr in den Mantel. Sie traten auf die menschenleere Gasse hinaus. Aus einer der umliegenden Wirtschaften oder Korpshäuser klang Klavierspiel und Gesang. Sie reichten sich stumm die Hand. Er preßte die ihre mit heißem Druck. Ein leiser Druck antwortete ihm. Dann lief sie mit schnellen Schritten die Gasse hinab, auf den Stadtbach zu, dessen nahes Rauschen man deutlich in der stillen Nachtstunde vernahm.
*
Es war wieder Winter geworden. Nasse Schneekristalle krümelten vom bleigrauen Himmel hernieder oder tanzten als federige Flocken auf das Straßenpflaster hinab, um sich sofort in einen glitschigen Schlamm zu verwandeln. Es war nicht kalt und war nicht warm in diesen Tagen eines leidigen Nachwinters. Aber sein feuchter, sprühender Atem durchdrang alle Pelze und Mäntel und ließ auch die Wetterfesten bis ins Mark erschauern. Das war das richtige Klima, um enger zusammenzurücken in dieser Starkbierzeit, die ja, nach gutem altem Herkommen, am Ende der zweiten Fastenwoche ihren Anfang nahm und mit ihren verschiedenen Abwandlungen und Schattierungen die Spanne bis zum Osterfest passend ausfüllte. Über den Zeitraum von zehn, zwölf Tagen, der das Faschingsende vom Beginn des Starkbierausschanks trennte, war schließlich hinwegzukommen, ohne daß man ihn als allzu tiefen Eingriff in den festlichen Dauerzustand der erdhaften und naturnahen Stadt empfand.
Waldemar Lewerenz wartete auf Angeles Brief, der nicht kommen wollte. Er befand sich in einem merkwürdig bewegten, gehobenen, klingenden und singenden Zustand, der ihm die Tage seiner Kindheit wieder vor die Seele rief. Denn soweit mußte er zurückdenken, wenn er sich einer ähnlichen Seelenverfassung erinnern wollte. Es war, wenn er es in ein Bild bringen wollte, als ob er in einem beglückenden Licht dahinwandle, das ihn auf jedem seiner Schritte begleite und Menschen und Dinge um ihn herum auf eine unwirkliche, zauberhafte Weise verkläre. Ja, dies ging soweit, daß sogar Frau Lätizia und Hans Fridolin Kramer, sonst nicht gerade Lewerenz' Lieblinge, etwas von diesen unsichtbaren Strahlen abbekamen und ihm von minder platter und gewöhnlicher Prägung, zuzeiten sogar als ganz eigenartige, wenn auch nicht gerade sympathische Werkstücke der Schöpfung erschienen.
Auch Carlos Müller und Oberst Gordon C. But1er, die beiden Unzertrennlichen, gewannen im Zauberlicht dieser magischen Stimmung plötzlich ein anderes Gesicht für ihn. Er hatte sich im stillen öfters die Frage vorgelegt und wohl auch mit Lindlar einmal darüber gesprochen, ob man es mit Hochstaplern zu tun habe oder nicht. Hatten die beiden sich bereits früher gekannt? Arbeiteten sie nach einem verabredeten Plan? Würde der angekündigte Kreditbrief jemals eintreffen? Und wenn er kam, würde es sich nicht vielleicht nur um einen groß angelegten Schwindel handeln? Aber wenn dies zutraf, verstieß dann nicht der Oberst gegen eines der Grundgesetze der Zunft, das Unauffälligkeit des Auftretens und stille Arbeit im verborgenen vorschreibt?
Gordon C. Butler tat gerade das Gegenteil davon. Sein lautes, lärmendes Wesen fiel allgemein auf. Es lenkte geradezu die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn. Und warum hatten die beiden dann eine Pension erwählt, in der ein Polizeirat täglicher Mittagsgast war? Hieß das nicht seinen Kopf freiwillig in die Schlinge stecken? Aber konnte nicht gerade hierin der Trick der beiden Verbündeten liegen? Noch dazu ein äußerst fein gesponnener, da damit doch eigentlich jedem Verdacht von vornherein die Grundlage entzogen war? Warum überhaupt Verdacht? Zahlte nicht der Oberst pünktlich seine Rechnungen? Stellte er nicht seine dicke Brieftasche sogar dem anderen, dem angeblich Fremden, großzügig zur Verfügung? Und was diesen betraf, warum sollte nicht einmal ein Kreditbrief sich verspäten? Mußte das lautlose, gleichsam anonyme Auftreten des Argentiniers ihn denn unbedingt als Hochstapler kennzeichnen? Auch Lindlar hatte, als sie darauf zu sprechen kamen, sich mit großer Vorsicht geäußert und war offenbar selbst noch nicht mit sich im klaren.
Lewerenz fand in seiner augenblicklichen Stimmung die beiden Fremdlinge von Tag zu Tag ergötzlicher. Einerlei, ob sie Hochstapler, Abenteurer oder was immer sein mochten: waren sie nicht, jeder auf seine Art, äußerst charakteristische Typen, deren Auftreten den gegenwärtigen deutschen Zustand blitzartig beleuchtete? War denn dieses von Schiebertum und Geschäftemacherei besessene Nachkriegsdeutschland nicht eine Art von Weltspielsaal geworden, in dem die Abenteurer aus aller Herren Länder zusammenströmten, um einen Anteil vom Einsatz zu erhaschen und die Stunde des großen deutschen Ausverkaufs auszunutzen? Politisches Strebertum und geschäftliches Schiebertum, die einander in die Hände arbeiteten! Das Ende vom Lied: betrogene Betrüger allerorten! Für den Vaterlandsfreund ein Schauspiel, um zu weinen oder die Fäuste zu ballen, je nach Veranlagung und Laune! Er hatte sich manchmal mit Lindlar darüber unterhalten. Dem fanatisch nationalen Polizeirat war die Zornröte ins Gesicht gestiegen. Wäre es in seiner Macht gestanden, er hätte mit kaltem Blut Todesurteile über das Gelichter verhängt.
Aber konnte man diesen Hexensabbat nicht auch mit einer ganz anderen Brille betrachten? Mit den Augen des Künstlers, des Dichters, des Gestalters? Waren hier nicht alle Elemente für eine Zeitkomödie gegeben? Konnten aus Carlos Müller und Gordon C. Butler nicht Prachtfiguren werden? Ließen sie sich nicht so, wie sie waren, auf die Bühne stellen, wenn sich die glückliche Eingebung eines schlagkräftigen Stoffes, einer treffsicheren Handlung dazugesellte? Aber eben hierzu bedurfte es der Gnade von oben. Bedurfte es der Erleuchtung, des Wunders. Wann endlich würde es sich vollziehen?
Aber nein, kein Kleinmut in diesen vielleicht für alle Zukunft ausschlaggebenden Tagen! Alles in ihm fieberte, glühte, drängte wie auf einen geheimnisvollen Mittelpunkt hin. Er mußte es packen, es halten, mußte ihm Form und Gestalt geben, jenem immer geahnten und nie gedeuteten Etwas in seiner Seele. War es zuviel gesagt, wenn er es den göttlichen Funken nannte?
Und eines Vormittags schien er sich herabzusenken, jener Funke, das Wunder war da, so schien es, und wollte Gestalt annehmen in seiner Seele. Er war in jener bangen, unruhigen und zugleich so beglückenden Stimmung, die ihn seit Tagen, seit Wochen erfüllte, durchs Zimmer gelaufen, dem Geflüster, Gemurmel der inneren Stimmen lauschend, gleichsam ein der himmlischen Gnade aufgetanes Gefäß. Ein bleiches, kaltes Schneelicht hatte des Morgens ins Zimmer geschienen. Jetzt hatte die Wolkendecke sich gelichtet. Sonnenstrahlen blinzelten von einem buntscheckigen, silbrigweiß marmorierten Himmel. Eben war noch Winter gewesen. Mit einemmal war es Frühling geworden. Es klang und sang in seiner Brust. Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte den Kopf in die Hände und schloß die Augen. Die Welt um ihn herum versank. In dämmerigen Umrissen zeichneten sich die Linien einer Komödienhandlung vor seinem inneren Auge ab. Vieles war noch verschwommen, unklar; wichtige Verbindungen, unerläßliche Brücken fehlten noch. Aber das Ganze hatte doch Hand und Fuß, es war Schlagkraft darin. Herrgott! Wenn es das war, was er so lange gesucht und nie gefunden hatte ...!
Es litt ihn nicht länger im Zimmer. Er griff nach Mantel und Hut, sprang in raschen Sätzen die Treppe hinab, was eigentlich – er gestand es sich selbst – für einen gesetzten Herrn im Ruhestand kein angemessenes Benehmen war, und schlug den Weg zum Englischen Garten ein. Er mußte seinen brodelnden Kopf spazierentragen, mußte mit seinen Bildern, seinen Gestalten allein sein. Um diese Vormittagsstunde pflegte der Englische Garten menschenleer zu sein. Es war, als sei er eigens für Poeten, Philosophen oder dergleichen sonderbare Käuze geschaffen worden. Auf den ins Weite sich dehnenden Auen lag noch der letzte Schnee des Nachwinters. Die Wege waren teilweise naß und schlüpfrig, mit Eiskrusten bedeckt. Wohin die Sonnenstrahlen fielen, schmolz es und floß es. Die Hecken und Büsche schimmerten schon, von weitem gesehen, in einem gelbgrünen Glast.
Ein seliges, jugendliches Gefühl weitete Lewerenz' Brust. Konnte das Leben nicht wirklich noch einmal von vorn beginnen? Alles, was er bisher gewesen war und getan hatte, verschwamm hinter ihm wie in einem grauen Nebelmeer. Verpfuschte Jahre! Versäumte Gelegenheiten! Begrabene Hoffnungen! Unerfüllte Träume! Lag es an ihm allein? Trug nicht auch das Zeitalter die Schuld, mit dessen Kainsmal sie alle, seine Söhne, behaftet waren? Aber was nützte es, rückwärts zu blicken? Fort mit den Erinnerungen! Mit den Schatten der Vergangenheit! Stand da nicht auch Sabines Gestalt? Und wenn nun Angele kein Zeichen mehr gab? Wieder wollte die alte Mutlosigkeit ihr gespenstiges Laken schwingen. Fort! Fort! Fort! Er warf den Kopf zurück und atmete den würzigen Frühjahrsduft der dampfenden Erdschollen mit Entzücken ein. Über den sonnigen, schneeglitzernden Auen wallte ein bläulicher Dunst. Wie kam es doch? Es war die Ferne ... die Zukunft ... die Liebe ... das Glück ... Schaffen, Vollbringen ... alles miteinander! Sah er nicht, wenn er nun stillstand und die Hand an die Stirn legte – sah er dann nicht die Figuren seiner Komödie scharf und klar umrissen vor sich? Aber das war nur, wenn er die Augen schloß. Sobald er sie öffnete, verblaßte und zerfloß alles. Er mußte diese Schemen zwingen, auch dem Licht des Tages standzuhalten.
Lewerenz mußte unwillkürlich über sich selbst lächeln. Was war das für ein Karussell der Stimmungen und Gefühle, das fortwährend mit ihm in die Runde fuhr, bald hoch oben, dann tief unten und gleich darauf wieder oben? Blieb er denn wirklich der ewige Zwanzigjährige mit dem Chaos in der Seele, von dem niemand zu sagen wußte, am wenigsten er selbst, ob es einen Stern oder eine Maus gebären werde? Wie habe ich eigentlich, so fragte er sich, ein halbes Menschenalter Beamter sein können, Aktenschreiber, Büromensch? Und nicht einmal ein schlechter? Ist es nicht vielleicht wirklich so, daß Menschen meines Schlages aus zwei ganz verschiedenen Wesenshälften bestehen, von denen nur die eine gleichsam im Dienst, die andere beurlaubt ist? Es kommt nur darauf an, auf wie lange. Man könnte es auch die beleuchtete und die unbeleuchtete Hälfte unseres Wesens nennen. Alles hängt davon ab, auf welche von beiden das Licht von oben fällt. Also auch hier wieder Gnade und Schicksal und Wunder!
Er war gesenkten Kopfes vor sich hingegangen, ohne auf den Weg achtzugeben. Als er aufsah, befand er sich in der Nähe des Monopteros. Es war ein Kreuzungspunkt, an dem einige Fußwege sich mit der Fahrstraße schnitten. Auf der zum Chinesischen Turm sich am Monopteros entlangschlängelnden Straße erblickte er in einiger Entfernung ein junges Mädchen, das in eifrigem Gespräch mit einem jungen Manne dahinschritt und gerade um eine Biegung des Weges verschwand. Lewerenz durchzuckte es. War das nicht Angele Moradelli, die da an der Seite dieses großen, überschlanken jungen Mannes ging? Er hatte sie zwar nur von rückwärts sehen können, aber alles an ihrer Erscheinung – Wuchs, Haltung, der federnde Schritt, die Besonderheit ihrer Gebärdensprache, nicht zuletzt auch Mantel und Hut – zwangen ihm Angeles Bild auf. Sie war es! Es konnte keine Täuschung sein! Sie trug eine Studentenmappe in der Hand, die sie lebhaft hin und her schwenkte wie jemand, der sich in heiterer und gelöster Stimmung befindet. Auch in der Hand des überlangen und überschmächtigen jungen Mannes, der in einem merkwürdig feierlichen Schritt dahinging, hatte Lewerenz eine ähnliche dickbauchige Studentenmappe bemerkt. Wahrscheinlich war es ein Kommilitone von Angele, und die beiden waren den Weg von der nahen Universität hergekommen, schlenderten am Chinesischen Turm vorbei gen Schwabing, wo Angele nicht weit entfernt von der Brücke wohnte. Vielleicht begleitete der junge Mann sie heimwärts, mochte auch selbst dorthin gehören. Was war dabei? Aber das Bild der beiden jungen im Gespräch versunkenen Spaziergänger wollte ihm nicht aus dem Kopf.
An einem der nächsten Abende saß Lewerenz allein für sich in einer Ecke des Ratskellers, als er Cederholm zwischen den Reihen der besetzten Tische langsam näherkommen sah. Da und dort schienen Bekannte von ihm zu sitzen. Er grüßte und wurde begrüßt, ohne sich jedoch irgendwo niederzulassen. Plötzlich schien es, als ob er Lewerenz' ansichtig geworden sei, denn er steuerte geradeswegs auf dessen ziemlich versteckten Tisch los. Lewerenz überlegte, wie er sich verhalten solle. Ehe er noch zu einem Entschluß gekommen war, stand Cederholm bereits vor ihm und reichte ihm die Hand. Auf seinem Gesicht zeigte sich wieder dieses teils süßliche, teils perfide Lächeln, das er vor Lewerenz zur Schau zu tragen liebte.
»Du erlaubst, daß ich Platz nehme?« sagte er und setzte sich auf den leeren Stuhl neben Lewerenz. »Es ist nirgendwo ein Tisch frei. Die Schieber von halb Europa geben sich augenblicklich hier ein Rendezvous. Kommst du manchmal mittags her? Ich tue es zuweilen. Studienhalber. Ich würde es dir ebenfalls empfehlen. Man sagt ja, daß du neuerdings zu schreiben angefangen hast.«
Er lächelte wieder auf seine anzügliche Weise und bestellte bei der Kellnerin eine Flasche Chablis.
»Wer sagt das?« erwiderte Lewerenz kühl. »Ich wüßte nicht, daß ich das jemand anvertraut hätte. Um so weniger, als es gar nicht den Tatsachen entspricht.«
Cederholm zeigte sein Schakalgebiß. »So? Nicht? Na, dann denke ich es mir nur. Du darfst nun mal nicht vergessen, daß es zu meinem Metier als Psychochemiker gehört, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Ich sage dir, was du hier manchmal zum Frühschoppen oder beim Mittagessen beobachten kannst, das kommt in den fürchterlichsten Alpdruckträumen nicht vor. Das sind Gestalten, wie sie nicht Hogarth, nicht Daumier geschaffen haben. Das sind Ausgeburten vom Höllenbreughel selbst. Es ist wirklich ein Genuß.«
Die Kellnerin hatte die Flasche Chablis vor ihn hingestellt. Er schenkte sein Glas voll und hielt es gegen das Licht.
»Wenn dieser Wein jemals Frankreich gesehen hat,« sagte er und kostete einige Tropfen mit der Zunge, »will ich in den Piaristenorden eintreten oder Landtagsabgeordneter werden.«
»Warum trinkst du ihn dann?« fragte Lewerenz und lachte.
Cederholm feixte über das ganze Gesicht. »Um mich zu kasteien«, sagte er, indem er sein Glas gegen Lewerenz erhob. »Also trinken wir auf das, was wir lieben! Präziser ausgedrückt: auf das, was du liebst! Ich kann ja, wie man behauptet, auf dieses Gefühl keinen Anspruch erheben.«
»Behauptet man das?«
»In der Tat! Es wird von sämtlichen Damen, die ich als Gäste bei mir zu begrüßen den Vorzug habe, in holder Übereinstimmung behauptet. Sogar Angele Moradelli sagt es, die es doch eigentlich besser wissen müßte.«
Er setzte sein Glas an den Mund, stürzte es auf einen Zug hinunter und schenkte es von neuem voll. Seine schwarzblauen Augengläser waren auf Lewerenz geheftet, als ob er ihn zum Sprechen zwingen wolle, aber Lewerenz schwieg.
»Du sagst nichts?« fuhr er fort. »Es scheint dich nicht zu interessieren?«
»Nein! Indiskretionen über Fräulein Moradelli machen nicht den geringsten Eindruck auf mich. Am allerwenigsten von deiner Seite, mein lieber Karl Cederholm.«
Cederholm trank von neuem. Er hatte einen roten Kopf, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen fahlen Gesichtsfarbe. Wahrscheinlich war es nicht die erste Flasche, die er heute abend leerte. Er schien über etwas nachzudenken, ohne jedoch ins reine mit sich zu kommen.
Plötzlich sagte er wie beiläufig: »Ich hatte mir, was dich betrifft, mein lieber Waldemar, einiges von meinem Experiment versprochen. Aber es scheint leider mißglückt zu sein.«
Lewerenz kreuzte die Arme und lächelte. »Du wolltest Feuer hinter mich machen, wenn ich mich recht entsinne. Du äußertest so etwas. Ich glaube, es war am Silvestertag.«
»Du verfügst über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Es war in der Tat an jenem Tage. Aber meine psychochemischen Formeln scheinen in diesem Fall zu versagen.«
»Vielleicht bin ich nicht das geeignete Medium für deine Versuche, mein lieber Karl. So etwas kommt ja vor. Du solltest dir darüber keine grauen Haare wachsen lassen. Experimente können schließlich auf falschen Voraussetzungen beruhen. Dann revidiert man diese, und alles wird noch gut.«
Lewerenz' Worte waren in einem schneidend sarkastischen Ton gesprochen. Er hatte das Gefühl, daß es in diesem Augenblick zwischen ihnen beiden gewissermaßen auf Leben und Tod ging. Cederholm schien auch noch etwas im Hinterhalt zu haben. Vielleicht bezog es sich auf Angele. Beide schwiegen ein Weilchen.
Dann sagte Cederholm, indem er sich eine Virginia ansteckte: »Du hast mit der dir eigenen Treffsicherheit gerade den Punkt berührt, auf den es ankommt. Mein Experiment oder meine Theorie läßt sich nämlich nicht revidieren, worauf dann alles noch gut wird. Das hast du richtig herausgefunden. Ich mache dir mein Kompliment. Meine Methode ist entweder von Grund auf richtig, oder sie ist von Grund auf falsch. Ein Mittelding gibt es nicht. Es ist natürlich möglich, daß mir bei der Berechnung meiner Formel Irrtümer unterlaufen oder daß ich vielleicht einmal eine ungeeignete Emulsion bereite. Aber darauf kommt es nicht an. Das sind Nebensächlichkeiten. Die Hauptfrage ist, ob meine Theorie mich in den Stand setzt, auf psychochemischem Wege Menschenschicksale zu beeinflussen und zu lenken, oder nicht. Habe ich recht, so bin ich der Herr der Welt und setze euch allen den Fuß auf den Nacken. Auch dir, mein lieber Waldemar, der du dich immer auf den Grandseigneur hinausspielst. Habe ich mich geirrt, so ist mein Spiel aus, und ich gehöre in die Gummizelle. Aber ehe das geschieht ...«
Er brach mitten im Satz ab und leerte von neuem sein Glas. Auf seinem tragischen Uhugesicht lagen dunkle Schatten.
Dann wandte er sich von neuem gegen den anderen. »Nun, du schweigst? Du hältst mich offenbar für verrückt. Ich gebe zu, ich habe Augenblicke, wo ich mir selbst so vorkomme. Augenblicke der Schwäche. Niemand entgeht ihnen. Auch ich nicht. Aber sie gehen vorüber. Und dann weiß ich, daß es nur das eigene Licht ist, das mich blendet Und mich die Augen vor mir selbst schließen läßt. Ich sage dir, mein lieber Waldemar Lewerenz, das Experiment, das ich mit dir und Angele Moradelli angestellt habe, ist der untrügliche Beweis für mich, daß meine Theorie stimmt. Denn es ist genau das mit euch beiden eingetreten, was ich habe herbeiführen wollen.«
Lewerenz lehnte sich in seinen Stuhl zurück, kreuzte die Arme. »Und was hast du herbeiführen wollen?« fragte er, Cederholm mit halbgeschlossenen Augen musternd.
»Daß ihr beide euch vom Fleck weg ineinander verliebtet. Brauche ich dir das erst zu erklären? Du weißt ja selbst am besten, daß es geschehen ist. Nun also! Das ist das, was ich Feuer hinter dich machen genannt habe. Es ist mir restlos gelungen.«
Er hatte in dem lauten Menschengetöse ringsumher seine Stimme zu einem eindringlichen Flüstern gedämpft, jeden Satz, jedes Wort gleichsam tropfenweise verabreichend. Jetzt griff er von neuem nach seinem Chablisglase – er war bereits bei der zweiten Flasche – und trank es, langsam auskostend, leer, als ob alles andere ihn nicht weiter bekümmere.
Lewerenz lächelte ironisch. Er kannte Cederholms Pose, hatte sie schon als Schüler gekannt und wußte, daß es eins von seinen beliebten Mittelchen war, den Gegner durch scheinbare Teilnahmslosigkeit gleichsam einzuschläfern und ihn dann durch unvermuteten Ansprung in den Sand zu strecken.
»Laß die Mätzchen«, sagte er, »und gib mir gefälligst Auskunft, nachdem du einmal das Thema angeschlagen hast! Du behauptest, dein hübsches Experiment mit mir – Fräulein Moradelli lasse ich ganz aus dem Spiel – sei dir restlos gelungen? Vor einer Viertelstunde hast du genau das Gegenteil behauptet: nämlich, es sei dir nicht gelungen.«
Cederholm schien noch immer in die Betrachtung seines Weinglases versunken. Plötzlich sah er auf. »Hast du nie von einer gewissen sokratischen Methode gehört, mein Alter? Wir hatten das schon auf der Schule.«
»Nun, und?«
»Man unterstellt dem Gegner das Gegenteil von dem, was man selbst glaubt und beweisen will, und zwingt ihn dadurch, seinerseits mit der Wahrheit herauszurücken. Es ist ein unfehlbares Mittel, jemanden dorthin zu bringen, wohin man ihn haben will. Es versagt nie. Auch jetzt in deinem Falle wieder nicht.«
»Findest du?«
»Ja. Denn aus jedem Wort, das du sagtest, war das Bekenntnis herauszulesen, daß du dich bis über die Ohren in Angele Moradelli verliebt hast. Das war es, was ich hören wollte.«
Lewerenz richtete sich auf. In seinen Augen funkelte es. »Und du bildest dir ein, Karl Cederholm ... gesetzt, es wäre so, wie du sagst ... du bildest dir ein, du hättest das mit deinen kleinen Kunststücken, mit deiner sogenannten psychochemischen Weisheit zustande gebracht, du armer Irrer?«
Cederholm klopfte erregt mit den Handknöcheln auf die Tischplatte. »Ich bilde es mir nicht nur ein. Ich weiß es mit untrüglicher Sicherheit. Gerade das Experiment mit dir und Angele Moradelli hat mir die absolute Bestätigung dafür geliefert. Es war die Liebe auf den ersten Blick. Was die Franzosen den Coup de foudre nennen. Die betreffende psychochemische Formelreihe trägt bei mir die Seriennummer V c. Ich habe euch beide nach der Formelreihe V c regelrecht ineinander verliebt gemacht.«
Lewerenz brach in ein lautes Gelächter aus. »Formelreihe V c! Das ist klassisch! Das ist der Triumph des Materialismus!«
»Ist es auch!« warf Cederholm ein, indem er diskret in die vorgehaltene Hand prustete. »Ich habe dem wissenschaftlichen Gebäude des Materialismus mit meiner psychochemischen Methode gewissermaßen die Dachhaube aufgesetzt. Höher geht es nimmer, wie man hier sagt.«
»Nein, höher geht es wirklich nicht mehr«, wiederholte Lewerenz und nickte. »Obwohl man bei dir ja nie so recht weiß, wie weit du selbst deine Worte ernst nimmst. Und ob nicht alles nur ein großer Bluff ist, mit dem du der Welt Sand in die Augen streust.«
Cederholm verzog in seiner bekannten Art den Mund. Sein Raubtiergebiß kam wieder zum Vorschein. »Fasse es so oder so auf, mein Alter! Es beweist eben, daß es mir gelungen ist, mir von niemand in die Karten sehen zu lassen. Auch von dir nicht. Wiewohl ich dein Beobachtungsvermögen, deine Menschenkenntnis, deine Psychologie nicht unterschätze.«
Lewerenz brach von neuem in Lachen aus. »Formelreihe V c! Haben denn noch niemals, ehe du deine Psychochemie erfunden hattest, Menschen sich ineinander verliebt? Beim ersten Strahl Auge in Auge gegenseitig Feuer gefangen, du wahnsinnig gewordener Hecht? Mußte erst Herr Doktor Karl Cederholm sich persönlich auf diesen Planeten bemühen, um aus seinen chemischen Retorten den Begriff Leidenschaft hervorzuzaubern? Ist nicht, solange Menschen im Sonnenlicht wandeln, in tausend und aber tausend Sprachen das Wörtchen Liebe gestammelt worden, du armseliger Homunkulus einer von allen Göttern verlassenen Pseudowissenschaft?«
Cederholm hatte, sein gefülltes Weinglas am Munde, aufmerksam zugehört. »Bravo, mein lieber Waldemar! Bravo!« rief er, als Lewerenz geendigt hatte, und klatschte lebhaft Beifall. »Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß es mir wirklich gelungen ist, Feuer hinter dich zu machen, so wäre er jetzt erbracht. Es war die Sprache eines rettungslos Verschossenen und Besessenen.«
»Und wenn es tausendmal so wäre,« rief Lewerenz, »ich werde sie auch weiter sprechen, solange sie mir aus der Seele dringt. Und ich werde mir auch nicht eine Sekunde einreden lassen, daß ich sie erst deinen psychochemischen Bemühungen zu verdanken habe. Damit dürfte das Thema wohl erschöpft sein.«
»Ich bin ganz deiner Ansicht«, erwiderte Cederholm, indem er sein Uhugesicht in feierliche Falten legte. »Aber es wird dich vielleicht noch interessieren zu hören, daß ich meine Bemühungen, wie du sie nennst, meine Experimente, was Angele Moradelli betrifft, fortgesetzt habe.«
Lewerenz zuckte schweigend die Achseln.
Cederholm fuhr fort, indem er sich eine neue Virginia anzündete: »Es liegt auch bereits ein sehr bemerkenswertes und glückliches Resultat vor. Es gibt da einen jungen Studenten, lang, schmächtig, Apollokopf, der am Faschingsdienstag in den Dunstkreis von Angele Moradelli getreten ist, oder sie in den seinen. Es war im Weidnerschen Atelier. Ich hatte Gelegenheit, die beiden jungen Leutchen gerade bei einem wilden Foxtrott auf meine Platte zu bringen. Sie sahen sich zum erstenmal und waren gleich ganz aus dem Häuschen.«
Er hielt inne und fixierte den anderen durch seine dunkelblauen Augengläser. Dieser blickte vor sich hin, ohne eine Miene zu verziehen oder ein Wort zu äußern. Cederholm schien von dem Eindruck befriedigt.
»Was soll ich dir viel sagen, mein lieber Waldemar! Du kennst mich ja und weißt, wenn ich einmal bei einer Sache bin, läßt sie mich nicht mehr los. Ich habe jetzt jenes Negativ aus dem Weidnerschen Atelier in der Arbeit. Die beiden Köpfe sind dicht aneinandergeschmiegt, der von Angele Moradelli und der von Herrn Geigenberger. So heißt der junge Mann. Übrigens ein entfernter Verwandter von Franz Eichwald. Eichwald zahlt sogar einen Zuschuß, damit er studieren kann. Na, wir werden ja sehen, wie sich das Experiment entwickelt. Jedenfalls macht die Bekanntschaft Fortschritte. Wie man hört, unternehmen sie schon längere Spaziergänge.«
Lewerenz zwang sich zu einem Lächeln. »Ich danke dir für deine Mitteilung, mein lieber Cederholm. Du bist wirklich, was die Italiener eine Bocca della verità nennen. Ein Gefäß der Wahrheit und der Neuigkeiten. Besser gesagt, des Klatsches.«
Er erhob sich, reichte Cederholm flüchtig die Hand und ging, von wogenden Gedanken bestürmt, durch die nächtig feierliche Ludwigstraße nach Hause. Als er in sein Zimmer trat, fand er auf dem Schreibtisch zwei Briefe vor. Der eine kam von Sabine. Der andere war von Angele Moradelli.
*
Lewerenz öffnete zuerst den Brief von Sabine. Er war, wie die meisten Briefe Sabines, von gedrängtem Inhalt und nicht allzu lang. Sie dankte ihm für seinen letzten Brief und für die lieben Worte, mit denen er sie eingeladen habe, ihn in München zu besuchen. Sie habe sich den Gedanken in den drei Wochen reiflich überlegt. Es spreche ja manches dagegen, worüber sie sich hier nicht weiter auslassen wolle. Es sei ein peinliches Gefühl für sie, sich vorstellen zu müssen, daß ihre Anwesenheit vielleicht störend in seine Lebensgewohnheiten eingreifen könne. Nicht daß dies etwa von ihrer Seite beabsichtigt sei. Sie werde ihn ruhig und unbehindert seinen Weg weitergehen lassen wie bisher und wie schon so viele Jahre. Vielmehr bedrücke sie der Gedanke, daß dies von seiner Seite so empfunden werden könne und sie womöglich als lästige Beobachterin in seinen Augen dastehe. Wenn es also aus einem Gefühl unangebrachten Mitleids geschehe, daß er sie bitte, nach München zu kommen, so möchte sie lieber auf den Besuch verzichten. Falls dies aber nicht so sei und sein Herz wirklich Verlangen trage, sie wiederzusehen, so möchte sie ihn wiederum nicht durch ein falsches Wort kränken und sei auch ihrerseits von Herzen gern bereit, im Juni oder Anfang Juli einige Wochen mit ihm in München zu verbringen. Dies sei die geeignetste Zeit, da es dann in der Landwirtschaft verhältnismäßig am ruhigsten sei, und sie, eine alte eingearbeitete Landfrau, dann am leichtesten abkömmlich sein werde. Es würden übrigens auch über Barkoschin Beschlüsse zu fassen sein, die sich wirklich am besten nur mündlich besprechen und zur Not gerade noch bis dahin verschieben ließen. So möge er sie denn im späten Frühjahr oder Anfang des Sommers erwarten, falls nicht inzwischen eine Absage von ihm komme.
Lewerenz hatte ein merkwürdig fremdes Gefühl, als er den Brief las. War das wirklich erst ein paar Wochen her, seit er geschrieben und sie eingeladen hatte? Er erinnerte sich, daß es am Faschingsdienstag gewesen war, kurz bevor er sich zu Eichwalds auf den Weg gemacht hatte. Und dann war Angele erschienen ... Es kam ihm alles so fern vor, als lägen Jahre dazwischen. Hätte er Sabine wohl auf die gleiche Weise geschrieben, wenn ihm in jenem Augenblick Angele schon begegnet gewesen wäre? Und Angeles Brief? Er lag noch uneröffnet vor ihm. Was würde er ihm bringen? Glück oder Leid? Eins so unaussprechlich und unausdenklich wie das andere.
Er zauderte ein paar Augenblicke. Dann schnitt er den Umschlag vorsichtig und sorgfältig mit dem Papiermesser auf, wie man ein wichtiges, vielleicht lebensentscheidendes Dokument öffnet. Seine Hand zitterte etwas, als er den Brief entfaltete. Es war sehr unmännlich, er wußte es. Damals im Roten Meer, als die Engländer sein Schiff durchsuchten, und später in England selbst, als es um Kopf und Kragen ging, war seine Hand ganz ruhig gewesen, hatte sein Herz nicht um einen Sekundenstrich schneller geschlagen. Wenigstens war es ihm nicht bewußt geworden. Jetzt fühlte er, wie es da innen klopfte und rumorte. Ist es wirklich so wichtig, ob uns eine kleine Studentin eine Absage schreibt oder nicht? fragte er sich.
Angeles Brief enthielt nur wenige, aber inhaltreiche Zeilen. Wenn sie nichts anderes mehr von ihm höre, erwarte sie ihn am nächsten Nachmittag an einer näher bezeichneten Straßenecke unweit des Karlsplatzes. Sie werde pünktlich um fünf Uhr dort sein. Vormittags habe sie Kolleg. Nachmittags müsse sie zur Aushilfe wieder in ihre Bank. Er möge entschuldigen, daß sie ihn so lange habe warten lassen. Sie habe viel an ihn gedacht, es sei jedoch aus manchen Gründen kein leichter Entschluß gewesen. Aber jetzt sei es entschieden. Sie freue sich auf morgen und hoffe, daß auch er sich freue.
Lewerenz konnte lange nicht einschlafen. Es wurde eine kurze unruhige Nacht. Erst gegen Morgen kam ein bleierner Schlaf über ihn. Als er aufwachte, strahlte eine helle Frühlingssonne ins Zimmer. Er fühlte sich an allen Gliedern zerschlagen und mußte sich erst besinnen, was geschehen war. Er hatte ein Gefühl, wie er es einmal bei hohem Malariafieber gehabt hatte, nur daß jetzt alles heiter, sonnig, beglückend war. Er hatte in China nie von der oft gebotenen Gelegenheit eines Opiumrausches Gebrauch gemacht, aber was er darüber gehört hatte – und viele hatten davon zu erzählen gewußt –, stimmte bis in Einzelheiten mit den Symptomen überein, die er an diesem Morgen an sich selbst erlebte.
Kein Zweifel, es war wie ein Opiumrausch der Seele, in dem er sich befand! War er fünfundvierzig? Dreißig? Zwanzig? Oder gar noch ein halber Junge wie damals, als er sich zum erstenmal in ein gleichaltriges Mädchen verliebt hatte? Er empfand in diesem Augenblick gar keinen Unterschied mehr zwischen den Lebensstufen. Es war offenbar von einer allweisen Vorsehung so eingerichtet, daß der Liebe gegenüber jedes Lebensalter gleich töricht war. Aber dies ließ sich auch wieder nur sagen, wenn man es mit unseren kurzsichtigen irdischen Begriffen maß. Konnte nicht umgekehrt das, was wir Menschen Torheit nennen, gerade eine höchste Erleuchtung sein, die aus jenseitigen Sphären kam wie die Liebe selbst?
Auf der Matthäuskirche schlug es fünf, als Lewerenz vorbeiging. Unweit davon war die Ecke, die Angele in ihrem Brief vorgeschlagen hatte. Eine aus der Altstadt kommende Straße mündete hier. Lewerenz liebte diese Gegend. Es war das München des achtzehnten Jahrhunderts, dessen Gesicht gerade dieses Viertel noch am treuesten bewahrt hatte. Ein wolkenloser Vorfrühlingstag war über die Stadt und die Hochebene dahingezogen. Jetzt stand die Sonne bereits tief im Südwesten, hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile des breiten Boulevards. Der Himmel war dort in einem hellen Grün und einem lebhaften Orange gefärbt. Lewerenz sog mit geweiteten Lungen die kernige, prickelnde Champagnerluft der Hochebene ein, die durch alle Poren der weitläufigen Stadt hereindrang und sogar noch hier, nahe der Herzkammer der Altstadt, zu spüren war. Plötzlich sah er Angele in einiger Entfernung daherkommen. Er erkannte sie schon an ihrem aufrechten, federnden Gang. Sie trug ein dunkelblau kariertes Schneiderkostüm und eine gleichfarbige Baskenmütze, die sehr verwegen auf ihren schwarzbraunen Haaren saß.
Auch sie war schon von weitem seiner ansichtig geworden. Sie winkte ihm freudig zu und kam ihm mit schnellen Schritten entgegen. Sein Herz stockte für einen Augenblick. Er glaubte, es müsse stillstehen. Aber dann setzte es mit ungestümem Taktschlag wieder ein. Angele stand vor ihm und sah ihn mit einem fast unbefangenen Lächeln an, hinter dem doch eine geheime Verlegenheit sich verbarg.
»Da hast du mich!« sagte sie. »Ich hab dich lange warten lassen. Ein paar Wochen. Es war sehr unrecht von mir. Aber ich konnt' nicht anders. Ich erzähl' dir alles. Wir haben ja Zeit. Aber jetzt bist du doch zufrieden, gell?«
Ihr Wort klang einfach und schlicht. Es war nicht die geringste Affektiertheit und Ziererei darin. Lewerenz fiel eine gewisse Münchnerische Klangfärbung auf, die er bisher nicht bei ihr bemerkt hatte. Sie gab ihrem Ton etwas Herzliches und Vertrauliches, das ihn vollends hinnahm.
»Daß du gekommen bist!« sagte er und umfing sie mit einem heißen Blick. »Daß du gekommen bist!« Und wiederholte noch ein paarmal ein wenig sinnlos: »Daß du gekommen bist!«
»Macht es dich glücklich, daß du mich bei dir hast?« fragte Angele ebenfalls ein wenig sinnlos, da sie es ja schon ohnedies wußte.
Ihre Hände ruhten warm und fest ineinander. Sie standen auf einem Fußweg der in der Straßenmitte entlangziehenden Anlage. Menschen gingen vorbei, kreuzten rechts und links ihren Pfad. Der und jener sah sich nach ihnen um. Sie achteten es nicht. Unter ihnen knirschte eine halb zerschmolzene und wieder verharschte Eiskruste, so daß sie mit ihren Füßen in der Pfütze darunter einbrachen. Auch das wäre Lewerenz kaum zum Bewußtsein gekommen, aber Angele blickte halb belustigt, halb geärgert auf ihre Schuhe. »Wir stehen mitten in einer hübschen Pfütze«, sagte sie. »Merkst du es gar nicht?«
»Nein«, sagte er. »Es geht mich auch nichts an.«
»Na, ich dank' schön!« rief Angele. »Es sind meine neuesten Schuhe. Ich hab sie mir gestern gekauft. Ich glaub', es geschah dir zu Ehren. Wie sie ausschauen! Ich fürchte, wir werden uns einen ordentlichen Schnupfen holen, wenn wir da noch länger herumpantschen.«
Sie hatte ihren heitersten Ton. Alle Schwere, die er sonst – auch in der Faschingsnacht – an ihr bemerkt hatte, war von ihr gewichen. Sie zog ihn mit einer lebhaften Bewegung von jener Eispfütze fort. »Also wohin? Welches ist dein Plan? Du hast doch einen? Du müßtest kein Mann sein, wenn du nicht einen Plan hättest! Und ich fürchte, wenn ich ein bürgerliches Mädchen wär, ich dürft' ihn nicht einmal ahnen.«
»Habt ihr keine Pläne?« fragte Lewerenz, immer ein wenig abwesend.
»Wir Frauen?« meinte Angele. »Gewiß haben wir Pläne, manchmal sogar sehr nette und reizvolle. Aber wir verraten sie nicht. Das verbietet uns schon die Schicklichkeit.«
»Schicklichkeit!« rief Lewerenz. »Schicklichkeit! Wenn die Welt in Flammen steht!«
»Na ja, man sagt's halt so«, meinte Angele mit einem skeptischen Lächeln. »Ich glaub' ja auch, daß das, was meine Großtante unter Schicklichkeit versteht, und was ich mir dabei denk', ein bissel wie Tag und Nacht zueinander sind.« Sie sah ihrem Begleiter mit einem etwas kritischen und prüfenden Lächeln ins Gesicht. »Steht wirklich die Welt so sehr in Flammen?«
»Vollständig!« beteuerte Lewerenz und mußte ebenfalls lächeln, obwohl er nicht recht wußte, warum. Vielleicht war es nur Angeles Lächeln, das ihn angesteckt hatte. »Also jetzt höre zu, Angelina, schönes Mädchen von Schwabing!« fuhr er fort. »Ich werde dir jetzt meinen Plan enthüllen. Meinen Plan für den heutigen Abend. Wenigstens einen Teil davon.«
»Und was wird mit dem anderen Teil?« fragte Angele, ihr Gesicht ein wenig abwendend, so daß er nicht genau erkennen konnte, ob sie lächelte oder nicht.
»Es muß auch Überraschungen geben«, erwiderte Lewerenz nach einem Augenblick. »Kleine Tina darf nicht nach allem fragen.«
Beide lachten und waren sehr vergnügt. Lewerenz faßte Angeles Arm und erzählte ihr, während sie nach dem Sendlinger Tor zu gingen, wie er sich den Abend dachte. Angele nickte und war mit allem einverstanden. Sie hatte ein freies, leichtes, heiteres Gefühl wie seit langer Zeit nicht. Sie kam sich unter seiner Obhut vor wie ein Kind, das sicher seinen Weg geht und sich vor nichts zu fürchten braucht. Irgendwo in der Ferne lauerte die halb groteske, halb dämonische Gestalt Cederholms und warf ihren drohenden Schatten über den Weg. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Das hatte noch Zeit. Solange Lewerenz ihr zur Seite war, konnte ihr nichts geschehen.
Es begann bereits zu dämmern, als sie nach einem halbstündigen Spaziergang auf der Sendlinger Höhe anlangten. An einer freien Stelle der Straße öffnete sich eine umfassende Aussicht auf das grüne Silberband des im breiten Kiesbett dahinschäumenden Bergflusses und auf die teils ansteigenden, teils abfallenden Häuserreihen der jenseitigen Vorstädte. Ein blaugrauer und karmoisinroter Dunst – der Widerschein der den Westhimmel färbenden Sonnenuntergangstöne – ruhte auf dem langgestreckten jenseitigen Häusermeer. Man erkannte nur noch die dämmrigen Umrisse der aus den Dunstwogen aufragenden Türme von Giesing und Mariahilf in der Au. Soeben begannen unten in den Häuschen der Talsohle und in den gedrängten Straßenzeilen auf den jenseitigen Uferhöhen die Lichter anzugehen, zuerst noch wenige und vereinzelte, dann schnell sich vermehrend, um schließlich straßenweise sich aneinanderzureihen. Aus der Tiefe kam das Rauschen der Isar stärker und deutlicher herauf. Gen Westen stand am lichtgrünen Abendhimmel ein einsamer, sehr heller Stern.
Lewerenz und Angele lehnten sich nebeneinander über das Geländer der steil abfallenden Straße, ganz dem Zauber des Augenblicks hingegeben. Angele brach zuerst das Schweigen. »Sag selbst, du fremder Mann aus Norddeutschland, aus Preußen ... weißt du noch, wie ich dich zuerst so angeredet hab auf dem Fest bei Selim dem Dritten? Du kamst mir beinahe ein bissel komisch vor in dem Getümmel mit deiner norddeutschen Steifheit ...«
»Oho! Ich bilde mir ein, schon etwas früher in einer richtigen Münchner Française mitgedreht zu haben als du naseweises Kücken. Nämlich vor fünfundzwanzig Jahren. Damals warst du noch gar nicht aus dem Ei gekrochen.«
»Gott sei Dank, nein! Also entschuldige! Ich will es nicht wieder tun. Aber, bitte, Liebster, ist meine Vaterstadt net schön? Ich gehör' gar nicht zu den eingefleischten Münchnern, die München über den grünen Klee loben und jeden Dreck herrlich finden, wenn er nur münchnerisch ist. Aber sag selbst, ist das Bild nicht bezaubernd schön? Wo gibt es das wieder: eine Großstadt, wo die Berge bis vor die Tore der Stadt, ja eigentlich bis mittenhinein reichen? Man sieht sie ja oft genug am südlichen Horizont. Meine Eltern hatten eine Wohnung, da konnte man die Berge in allen Schattierungen sehen, bald ganz heiter und lichtblau und so fern, so weit ... na ja, wie das Glück. Bald ganz dunkel und drohend und schwarzblau und so nah, als ob sie vor einem stünden. Ja, mit dem Bild in der Seele bin ich aufgewachsen.«
Sie schwieg und stand sinnend da. Lewerenz' Blick ruhte auf ihrem reinen Profil, das jetzt in diesem Zwielicht des Abendscheins einen besonders kindlichen und rührenden Ausdruck hatte.
»Hast du schon jemals an diesem Punkt gestanden, Angele?« fragte er mit einem leichten Lächeln.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein! Niemals! Man kommt ja zu nichts!«
Er lächelte von neuem. »Siehst du wohl, du begeisterte Münchnerin! So muß der fremde, etwas steife Herr aus Norddeutschland dich mit den Schönheiten deiner Vaterstadt bekannt machen.«
Sie zog die Stirne kraus. Zwischen ihren dunklen Brauen erschien ein leichter Schatten. »Liebster, wenn du wüßtest, wie angebunden ich bin! Ich habe ja keine Minute freie Zeit. Die Kollegs! Und die Bank! Und meine Sachen muß ich doch auch in Ordnung halten! Und meine Eltern! Und wer weiß, was noch!«
»Ja, wer weiß, was noch?« warf Lewerenz mit leichter Ironie ein.
Sie achtete nicht darauf, sondern fuhr eifrig fort: »Den heutigen Nachmittag und Abend habe ich mir buchstäblich für dich abgestohlen. Deshalb muß er auch wunderschön werden.«
»Ist er es nicht schon?«
»Gewiß! Es war ein herrlicher Spaziergang mit dir zusammen. Wenn ich mir denk', daß ich jetzt eigentlich daheim sitzen und das Referat machen müßt' für unser Seminar bei Professor Kollmann ...! Die industrielle Bedeutung der Kunstseide.«
»Verdammt noch eins!« rief Lewerenz. »Ich stelle mir vor, wenn ich das Thema fürs Examen bearbeiten sollte, heute, ich fiele glatt durch.«
Angele schüttelte ungläubig den Kopf. »Als ehemaliger Konsul in China und Japan, wo's doch soviel Seide gibt?«
Lewerenz lachte. »Aber sozusagen naturgewachsene. Von den Kunstprodukten hatte man dazumal noch keine Ahnung. Es wird wohl notwendig sein, daß ich auch Kolleg bei Professor Kollmann belege. Ich könnte dich dann nach der Vorlesung durch den Englischen Garten nach Hause begleiten.«
Angele fuhr wie von einem plötzlichen Schreck zusammen. Lewerenz glaubte ungeachtet der tiefen Dämmerung zu bemerken, daß sie über und über errötete.
»Nun?« fragte er. »Du bist so still. Ist dir etwas? Wäre es dir vielleicht nicht recht, auf deinem einsamen Heimweg im Englischen Garten Gesellschaft zu haben?«
Angele richtete sich auf. Ihr Gesicht hatte sich verfinstert. »Woher weißt du das?« fragte sie in einem fast feindlich klingenden Ton. »Hat Cederholm es dir gesagt? Er traf uns einmal. Es kann doch kein anderer sein als er.«
»Teils, teils«, erwiderte Lewerenz achselzuckend. »Ich habe keinen Grund zu bestreiten, daß Cederholm ... daß dein früherer Meister ...«
»Ich verbitte mir das!« rief Angele erregt. »Warum sprichst du so zu mir?«
Lewerenz streckte ihr seine Hand hin. »Verzeih! Es fuhr mir so heraus.«
»Du bist halt ein Mann. Natürlich! Wie solltest du auch anders?« Sie lachte noch immer etwas geärgert. »Also gehen wir! Wo führst du mich hin? Weißt du auch, daß ich Hunger habe?«
»Weiß Gott, ich auch!« rief Lewerenz.
Er atmete erleichtert auf. Hatte er es ihr nicht sagen wollen und sagen müssen? Gott sei Dank, daß es heraus war! War nicht der eigentliche Giftstachel damit aus seiner Seele entfernt? Er hatte ja gewußt, daß nicht viel dahinter sein werde. Cederholm hatte, wie immer, in den dicksten Farben aufgetragen. Und dennoch! Sie war so tief errötet ... Sie gingen ein Weilchen schweigend nebeneinander her. Am dunkler sich färbenden Abendhimmel leuchtete, jetzt nicht mehr einsam, sondern die Lichter aller Nachbarwelten überstrahlend, jener weiße Stern, der ihnen zuerst ins Auge gefallen war.
»Kennst du ihn, Angelina?« fragte Lewerenz das schweigsam gewordene Mädchen an seiner Seite. »Es ist die Venus als Abendstern. Wollen wir sie zu unserem Stern ernennen?«
Angele antwortete nicht auf seine Frage. Sie schien mit ihren Gedanken zu kämpfen. Plötzlich blieb sie stehen und sprach mit festem Ton: »Ich hätt' es dir schon gesagt, Liebster, wenn du mir Zeit gelassen hättest. Aber natürlich mußte wieder Cederholm dahinterstecken!«
»Bitte, auch ich war Zeuge eures Spaziergangs im Englischen Garten«, warf Lewerenz ein.
Angele lachte laut auf. »Ich scheine ja bekannt zu sein wie ein bunter Hund. Jeder trifft mich. Jeder sieht mich. Alle Welt beschäftigt sich mit mir. Ich kann mir etwas darauf einbilden. Aber um damit zu Ende zu kommen: du brauchst keine Sorge zu haben. Es ist ein blutjunger, unfertiger Mensch, der ganz allein steht in der Welt. Ich hab Mitleid mit ihm. Ich nehm' mich ein bissel um ihn an. Das ist alles. Ich werd' mich doch nicht mit Achtzehnjährigen einlassen! Ich in meinem hohen Alter von zwanzig Jahren!«
Noch wenige Schritte, und sie standen vor der Tür des Wirtshauses, das Lewerenz als Ziel ihres Spazierganges erkoren hatte. Es war eine Weinwirtschaft mit ein paar nicht allzu großen, holzvertäfelten Stuben und allerlei hübschen, traulichen Winkeln, in einem altmünchnerisch-bäuerlichen Stil eingerichtet. Im Sommer wurde die Wirtschaft wegen ihres lauschigen Gartens viel von Münchnern besucht, die die Bequemlichkeit liebten und den Spaziergang hierher bereits als einen richtigen Nachmittagsausflug ansahen. Vielleicht stammte der Brauch auch aus der Zeit, als Sendling noch ein Dorf gewesen war und man dorthin noch richtig über Land pilgern mußte. Auch gab es im Garten versteckte und dicht überwachsene Flieder- und Jasminlauben, die für Liebespärchen wie geschaffen waren und an Sommerabenden lebhaften Zuspruch hatten. Lewerenz kannte die Wirtschaft bereits aus seiner Studentenzeit; er war öfters dort zu Gast gewesen und nicht gerade immer allein. Auf einem seiner Erkundungsmärsche durch Münchens Peripherie hatte er sie wiederentdeckt, wobei ihm denn ein gewisses blondes Annerl wieder in den Sinn gekommen war. Mein Gott! Das war fünfundzwanzig Jahre her! Was mochte aus der hübschen Konditorstochter geworden sein? Verheiratet? Eine würdige Mama? Ein sitzengebliebenes altes Mädchen? (Aber danach hatte sie nicht ausgesehen.) Verdorben? Gestorben? Vorbei ... vorbei ... Ununterbrochen mahlen die Mühlen des Lebens.
Warum hatte er wohl, so fragte er sich, diese im Winter meist verlassene Stätte für seinen Liebesabend mit Angele gewählt? Er vermochte sich selbst keine Rechenschaft darüber abzulegen. Es bestand so gar keine Verbindungsbrücke zwischen jenem einstigen Erinnerungsbild und dieser heutigen nahen Wirklichkeit. Zwischen jener blonden Anni und dieser brünetten Angele. Zwischen dem naiven, etwas leichtsinnigen Bürgermädchen von dazumal und der wissensbeladenen, lebenshungrigen Studentin von heute. Und doch hatte er das ganz bestimmte Gefühl, daß irgendwo in der Tiefe seiner Seele ein geheimer unterirdischer Weg von Annerl zu Angelina führen müsse. Vielleicht war er nur darum auf diese Stätte verfallen.
Die Weinstube war übrigens gar nicht so verlassen, wie man es in dieser Winterszeit hätte erwarten sollen und wie es vielleicht auch Lewerenz' stiller Wunsch gewesen war. Da und dort saßen Stammgäste herum, neuer Zuzug kam, so daß es schließlich recht lebhaft wurde. Es war ein gut bürgerliches Publikum, das seinen Schoppen Wein trank und sich nicht weiter um die beiden Fremden kümmerte. Sie saßen in einer verschwiegenen Ecke, wo man nicht viel von ihnen sah. Die Kellnerin brachte den bestellten Wein und legte den beiden die Speisekarte hin.
»Eigentlich sagt man hierzulande ja Speisenkarte,« bemerkte Lewerenz, »aber als unverbesserlichem Preußen will mir das nicht über die Lippen.«
Angele lachte und zeigte ihre hübschen Zähne. »Ich hab noch nie darauf geachtet. Ich hab immer nur auf den Inhalt gespitzt. Mein Appetit ist Gott sei Dank ausgezeichnet.«
Das war er in der Tat. Sie aßen zusammen eine Vorspeise, Suppe, ein Huhn und Pfannkuchen mit Preißelbeeren als Nachspeise. Der Löwenanteil an allem fiel Angele zu. Lewerenz beobachtete lächelnd, wie sie mit den nicht ganz kleinen Portionen mühelos und in kürzester Frist fertig wurde. Die Verfasserin des Referats über die industrielle Bedeutung der Kunstseide griff, alles wissenschaftlichen Ballasts entledigt, wacker zu und erwies sich als ein naturgewachsenes Münchner Mädel.
»Bitte, lache mich nicht aus, Liebster!« sagte sie, als sie Lewerenz' lächelnde Miene sah. »Man hat doch jahrelang eigentlich nichts zu essen bekommen. Das muß man jetzt doch natürlich nachholen.«
Der Tonfall ihrer Stimme rief Lewerenz wieder jenes Erlebnis am gleichen Ort zurück, das vor einem Vierteljahrhundert gewesen war. Und jetzt wußte er auch, warum er gerade ihn gewählt hatte. Zwischen Annerl und Angelina bestand eben doch eine innere Verbindung, die er im Gefühl gehabt hatte, ohne ihrer ganz bewußt zu werden. Es war das spezifisch Münchnerische in seiner Naturnähe und Ursprünglichkeit, was den beiden Mädchen gemeinsam war. Jenes bürgerliche Annerl von einst und diese studentische Angele von heute: so grundverschiedenen Wesens sie waren, verhielten sie sich nicht in jenem Punkt der Blutmischung wie Mutter und Tochter, die sie ja auch hätten sein können, und also im Grunde wie zwei Schwestern zueinander? Die Melodie war die gleiche, wenn auch die Begleitung, die Instrumentation eine weit unterschiedene Tonart zeigte.
Und merkwürdig! War es nicht ähnlich so mit ihm bestellt? Der Fünfundvierzigjährige, als der er jetzt hier saß, und der Zwanzigjährige, als der er einst an Annerls Seite gesessen hatte: waren sie nicht, obwohl äußerlich genommen derselbe Mensch, dennoch im Grunde zwei ganz verschiedene Wesen, von denen jedes seine eigene, sehr, sehr andere Sprache sprach und die dann doch wieder – o unbegreifliches Rätsel! – zu einem unzertrennlichen Ganzen zusammenflossen, mit der gleichen Urmelodie, wenn auch sehr verschiedener Instrumentation der jeweiligen Lebensakkorde?
»Du bist in Gedanken versunken, Liebster?« fragte Angele, die noch mit einem als Nachhut erschienenen Emmentaler beschäftigt war. »Ich wollte dich schon vorhin fragen. Warst du vielleicht schon einmal mit einer Liebe hier? Du tust beinahe, als ob du hier zu Hause wärest.«
Lewerenz wischte sich mit der Handfläche über die Stirn. »Ich denke über das Wort der Bibel nach, Angele: ein Tag ist ihm wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag. Das gilt nicht nur für den Allerhöchsten. Man kann es auch von der Liebe sagen. Wer in der Liebe lebt, altert nicht.«
Angele sah ihn mit einem übermütigen Ausdruck an. Sie war in diesem Augenblick nicht sehr zum Philosophieren aufgelegt.
»Das würde also auf eine Casanovamoral hinauslaufen, mein Freund«, meinte sie und drohte ihm mit der Gabel, die sie in der Hand hielt. »Je mehr Abenteuer, desto besser! Es konserviert, nicht wahr? Komm' ich dir drauf? Ich hatte mir gleich so etwas von dem Herrn Geheimrat gedacht. Ein gewisser Ausdruck in den Augen. Oder?« Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und zog seinen Kopf dichter an sich, um ihm in die Augen zu blicken. »Ja, ja, es stimmt! Es stimmt!« rief sie. »Das sind Abgründe. O weh! Ich Arme!«
Sie wollte ihre Arme wieder sinken lassen, aber Lewerenz hielt sie bei den Händen fest und umschlang sie mit einer schnellen Bewegung. Sie wehrte sich nicht und bot ihm ihre halb geöffneten Lippen zu einem langen Kuß.
»Gott bewahre mich! Wir tun, als ob wir allein wären«, rief sie, nach ein paar Augenblicken wieder zu sich kommend, und machte sich, noch etwas verwirrt, von ihm los. »Sind alle pensionierten Geheimräte so stürmisch?«
»Ich sagte dir ja,« erwiderte Lewerenz lachend, »in der Liebe gibt es kein Alter. Solange man in der Liebe lebt, solange geht man nicht in Pension.«
Angele hatte ein anzügliches Lachen. »Sollte das nicht eine Weisheit von älteren Herrschaften und für ältere Herrschaften sein?«
Lewerenz machte Miene, sie von neuem an sich zu ziehen, wie zur Strafe, aber sie erhob flehend ihre Hände.
»Nein! Bitte, jetzt nicht! Bitte, nicht hier! Ich sehe ja, daß du nicht nur sehr junge Augen, sondern auch sonst einen sehr jugendlichen Appetit hast. Ich meine natürlich, was die Liebe betrifft. Im Essen bin ich dir ja voraus.« Sie schob ihren leeren Teller beiseite und nahm eine sehr aufrechte und ehrbare Haltung an. »So! Und jetzt wollen wir hübsch ernsthaft sein und gescheit daherreden, wie es sich für Menschen gehört, die eine Bildung haben. Hast du eine Zigarette für mich?«
Er reichte ihr sein geöffnetes Etui. Es war ein Geschenk Sabines aus ihrer ersten Ehezeit. Er hätte seine Hand gern wieder zurückgezogen, da es ihm gegen den Geschmack ging, in diesem Augenblick danach gefragt zu werden. Aber es war schon zu spät.
»Das ist hübsch!« sagte Angele, indem sie ihm die Dose aus der Hand nahm und sie eingehend betrachtete.
»Ah! Sieh da! W. L. Dein Monogramm in Gold. Sicher ein Geschenk?«
»Allerdings!«
»Wohl von deiner Frau?«
»So ist es, mein Kind.«
Sie fühlte das Widerstreben in seinem Ton. »Du brauchst mir nichts zu verheimlichen. Ich wußte ja längst, daß du verheiratet bist.«
»Von wem?«
»So etwas erfährt man doch, du Kind!«
»Von Cederholm, nicht?«
»Von ihm und von jedem anderen, der uns auch nur einmal zusammen gesehen hat.«
Lewerenz' Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Sie hatte in diesem Augenblick ein merkwürdig wissendes und zugleich schmerzliches Lächeln um ihre Mundwinkel, wie jemand, der viel und über seine Jahre hinaus vom Leben erfahren hat. Wieder war dieser rührende Ausdruck an ihr, der Lewerenz ans Herz griff.
»Angele,« sagte er, indem er seinen Kopf auf die Brust senkte, »ich habe dir nichts verheimlichen wollen. Ich war verheiratet. Aber ich bin es nicht mehr. Schon viele Jahre nicht. Wir leben getrennt. Es ist zu keiner Scheidung gekommen.«
Sie legte ihre Hand auf die seine. Ein warmer Strom floß von ihr zu ihm. »Ich danke dir für dein offenes Wort«, sagte sie. »Und jetzt bin ich dir wohl ein ebenso offenes Wort schuldig.«
»Muß es sein, Angele? Warum?«
»Ich glaube, es ist besser. Sonst kommen die anderen und vergiften alles. Gib mir noch eine Zigarette!«
Ein Zitherspieler war im Lokal erschienen. Er nahm an einem kleinen Tische unweit der beiden Fremdlinge Platz und begann sein Programm abzuwickeln. Offenbar war er vom Wirt bestellt, um die tägliche Abendmusik zu machen. Seine Finger glitten rasch und gewandt über die Saiten des Instruments. Es war etwas eigentümlich Schwingendes und Tänzerisches in den hellen, hohen, gleichsam gläsernen Zirp- und Zupftönen. Eine Art von Hochlandatmosphäre, von Bergen und Wasserfall schien in die altmodische Vorstadtwirtschaft eingezogen zu sein.
»Man könnte glauben, am Tegernsee oder Achensee oder im Zillertal zu sein«, bemerkte Lewerenz.
»Hörst du es gern?« fragte Angele.
Er nickte und machte mit den Fingern den Takt zu den Tönen. »Ich fange sofort zu schuhplatteln an.«
Angele brach in ein helles Gelächter aus, und Lewerenz lachte mit.
»Herr Geheimrat Lewerenz aus China in seinem phänomenalen Auftreten als Kunstschuhplattler!« rief Angele. Plötzlich wurde sie ernst. »Ein Gutes hat die Musik jedenfalls,« meinte sie, »so sentimental sie vielleicht ist.«
»Was heißt sentimental?« warf Lewerenz ein. »Es gibt ein Recht auf Sentimentalität, das mit uns geboren ist. Ich lasse es mir von keinem nehmen.«
Angele blickte versunken vor sich hin. Ihre Stirn hatte sich verfinstert. Sie schien mit ihren Gedanken zu ringen. Nach einem Weilchen sah sie auf.
»Jedenfalls wird es mir leichter, davon zu sprechen, solang die Zither spielt«, sagte sie. »Es ist, als ob alles gewissermaßen unkörperlich dadurch würde. Aber bitte, unterbrich mich nicht! Es wird nicht lang dauern. Jedenfalls mußt du wissen, wie ich zu dem Menschen gekommen bin. Und wie es möglich war, daß ich mich so lange nicht losmachen konnte.«
Cederholm war ihr zuerst bei Eichwalds in den Weg getreten. Wie sie wiederum zu Eichwalds gekommen war? Durch eine befreundete Malerin, die viel von Anna Eichwald als Gönnerin junger, strebender Menschen zu erzählen gewußt hatte. War es ein Wunder, daß sie sich von der merkwürdigen, ganz einmaligen Frau und von dem geistigen, dem künstlerischen Fluidum ihres Hauses angezogen gefühlt hatte? Hatte sie nicht schon von Kindheit an aus dem engen bürgerlichen Milieu, in dem ihre Familie lebte, hinausgetrachtet? Cederholm war ihr als der Inbegriff dämonischer Genialität erschienen. Er genoß in diesem Kreise eine beinahe abergläubische Verehrung. War es nicht bei allen diesen Malerinnen und Studentinnen, aus denen Anna Eichwalds Heilige Schar bestand, ein einziges Neidgefühl gewesen, als sich die Aufmerksamkeit des großen Mannes gerade auf sie, die Unbekannte, die Rote, wie man sie nannte, gerichtet hatte? Hatte ihr das nicht schmeicheln müssen? Mein Gott! War man mit neunzehn Jahren nicht noch ein halbes Kind?
Jetzt freilich wußte sie es besser. Jetzt kannte sie das Leben und die Menschen. Und am besten Herrn Karl Cederholm selbst. Was hatte sie in diesem einen Jahr nicht alles erfahren und durchgemacht! Wieviel Gemeinheit und Niedertracht war kübelweise an sie hingespritzt! Nicht nur in Cederholms Schule allein. Sie wollte nicht undankbar gegen ihn sein. Auch durch den Neid der anderen, die ihr diesen Besitz nicht gönnten. Besitz ...? Konnte man einen Menschen wie Cederholm überhaupt besitzen? Nahm er nicht alles für sich, ohne etwas dafür geben zu wollen? Und doch! Nein, kein Undank! Sie hatte viel von ihm, durch ihn gelernt, war zu sich selbst erwacht, ob er es nun wollte oder nicht.
Sie hatte sich in Hitze gesprochen und hielt plötzlich – sich besinnend – inne. »Ich langweile dich mit meiner Beichte?« sagte sie.
»Törichtes Kind!« Er strich zärtlich mit seiner Hand über die ihre und schüttelte lächelnd mehrmals den Kopf.
Angele warf mit einer ungestümen Bewegung ihr Haar in den Nacken. »So! Jetzt weißt du, wie es war. Willst du mich noch nach alledem?«
»Immer und allezeit!« flüsterte er und zog ihre Hände bis dicht an seine Brust, so daß sie sein Herz schlagen fühlte. »Glaubst du es mir?«
»Ich glaube an diese Stunde«, erwiderte sie mit einem tiefen Blick in seine Augen. »Was wissen wir, wie wir in einem Jahre fühlen werden! Aber diese Stunde ist unser. Und niemand kann sie uns rauben.«
Beide hielten sich bei den Händen und schwiegen ein Weilchen, ganz ineinander versunken. Die silbrigen Töne der Zither zwitscherten durch die Gaststube. Es war gerade das Lied vom Wasserfall an der Reihe. »Über Berg und Tal ... rauscht der Wasserfall ... Duljöh! Duljöh!«
Angele lächelte. »Paßt das eigentlich zu uns? Zwei so modernen Menschen wie wir?«
»Warum nicht?« erwiderte Lewerenz. »Wir sind schon wieder auf der anderen Seite. Ich bin gegen jede Orthodoxie. Ganz besonders im Unglauben.«
Es wurde Zeit, nach der Stadt zurückzukehren. Das Lokal hatte sich bereits bis auf wenige Gäste geleert. Auch der Zitherspieler packte sein Instrument zusammen. Man schien hier früh in die Federn zu gehen.
»Glaubst du nicht, daß gleich das Nachtwächterhorn ertönen wird?« fragte Angele, als sie auf der gänzlich ausgestorbenen Straße standen. Aus irgendeinem entfernten Anwesen klang Hundegebell. Da und dort in der Runde antwortete ein zweites, ein drittes. Angele sah zum nächtlichen Firmament hinauf.
»Unser weißer Stern ist verschwunden«, sagte sie. »Dafür funkelt ein ebenso heller blauer jetzt über uns. Er soll uns erinnern, daß wir uns einmal gehörten, auch wenn wir uns vielleicht längst nicht mehr haben.«
Eine Kraftdroschke bummelte des Weges daher. Beide stiegen ein und fuhren nach der Stadt zurück.
»Wohin führst du mich?« fragte Angele mit etwas beklommener Stimme.
»In mein Schloß«, erwiderte er lächelnd. »Es ist alles zum Einzug der Prinzessin bereit.«
»Geliebter Mann!« flüsterte sie und sank hingegeben an seine Brust.
*
Im Konferenzzimmer der Pension Lätizia fanden in diesen Tagen lebhafte Beratungen statt. Entschlüsse waren zu fassen und Maßnahmen zu treffen, um den demnächst zu erwartenden Kreditbrief von Señor Carlos Müller am vorteilhaftesten zu verwerten. Über die Höhe der von der Argentinischen Nationalbank für Carlos Müller angewiesenen Summe bewahrte dieser in seiner stillen, bescheidenen Art noch immer eine vornehme Zurückhaltung. Es war nun einmal, was Gordon C. Butler immer wieder betonte, Carlos Müller nicht gegeben, viel von sich herzumachen und mit großen Ziffern um sich zu werfen, wie es andere in ähnlicher Lage getan hätten. Trotzdem sickerte doch durch einige indiskrete Äußerungen Butlers so viel durch, daß fürs erste mit einer Summe von einigen hunderttausend Pesos zu rechnen sei. Weitere Raten würden nachfolgen, sobald die betreffenden Vermögensobjekte in Sao Paolo und Rio Grande flüssig gemacht seien. Die geschäftliche Transaktion gestaltete sich noch dadurch besonders verwickelt, daß diese Objekte in brasilianischem Staatsbereich lagen, Señor Müller aber argentinischer Staatsbürger war, und die Übertragung so großer Vermögenswerte aus Brasilien ins Ausland erst der Lizenz des brasilianischen Schatzamtes bedurfte, die nicht ohne umständliche Verhandlungen zu erreichen war.
Jetzt endlich schienen alle Hindernisse aus dem Wege geräumt und sämtliche Formalitäten erfüllt zu sein. Eines Morgens traf ein Schreiben einer bekannten Hamburger Großbank ein, worin Herr Carlos Müller benachrichtigt wurde, daß die Argentinische Nationalbank in Buenos Aires Herrn Carlos Müller, Plantagenbesitzer aus San Esteban, zur Zeit auf Reisen in Deutschland, bei ihr, der Absenderin, mit einer Summe von sechshunderttausend Pesos akkreditiert habe. Die Summe sei in argentinischen Pesos oder in Dollars zu vergüten. Der Adressat möge entweder selbst oder durch Bevollmächtigte darüber verfügen. Es war wiederum bezeichnend für die stille Unaufdringlichkeit des argentinischen Millionärs, daß er sogar seinem Freunde Gordon C. Butler erst am nächsten Tage von jenem Brief der Hamburger Großbank Kenntnis gab. Das geschah in einem beiläufigen Gespräch beim Frühstück, worauf Oberst Gordon C. Butler nichts Eiligeres zu tun hatte, als Hans Fridolin Kramer, den gerade in seinem Büro mit Bilanzaufstellungen beschäftigten Herrn des Hauses, von dem glücklichen Ereignis zu unterrichten. Der Betrag von sechshunderttausend Pesos freilich sei ja für einen vielfachen Dollarmillionär wie Carlos Müller eigentlich nur ein Butterbrot, und es sei im Grunde eine verdammte Schweinerei von der Argentinischen Staatsbank, daß sie Carlos Müller, dessen Verhältnisse ihr doch bekannt seien, nicht gleich für ein bis zwei Millionen Pesos akkreditiert habe. Über die weiteren Dispositionen des Argentiniers befragt, äußerte der Oberst, daß er, Butler, in den nächsten Tagen als Bevollmächtigter Carlos Müllers nach Hamburg reisen werde, um dort eine größere Summe abzuheben und neue geschäftliche Aufträge drahtlich nach Buenos Aires zu übermitteln. Carlos Müller fühle sich nicht ganz wohl und habe ihn mit der Abwicklung des Geschäftes betraut. Carlos Müller, den er mit Stolz seinen Freund nenne, arbeite gerade an einem großen Plan, um einen Teil seiner Reichtümer philanthropischen Zwecken in Deutschland nutzbar zu machen, und sei überdies für große Reisen nicht mehr zu haben, da er in seinem Leben schon genug auf der Bahn oder auf dem Schiff oder auf dem Gaul gesessen habe, von anderen Gelegenheiten gar nicht zu reden.
Hans Fridolin Kramer wurde durch die Bekundungen des amerikanischen Obersten in einen Zahlenrausch versetzt, wie er selbst bei ihm nicht gerade alltäglich war. Bogen um Bogen füllte sich unter seinen Händen mit vielstelligen Zahlen, die zu gewaltigen Millionensummen anschwollen und bei zwanzigprozentiger Verzinsung ungeheuere Gewinne abwarfen. Aus den sechshunderttausend Pesos des Deutschargentiniers wurde im Laufe weniger Stunden ein Vielfaches davon, über das er verfügte, als sei eigentlich nicht Carlos Müller, sondern er, Hans Fridolin Kramer, deren Besitzer. Vor allem in einem Punkt, nämlich was die langerträumte Industrie- und Zentralbank anging, sah er sich jetzt endlich am Ziel seiner Wünsche. Mit ihrer Gründung sollte nun auch keinen Tag länger gewartet werden. Während der Oberst sich nach Hamburg begeben würde – und es war ja wohl anzunehmen, daß in einer Woche alles geordnet und der Oberst wieder zurück sein werde –, wollte Kramer die nötigen Vorbereitungen treffen, um mit dem nächsten Ersten, zugleich dem Quartalsbeginn, seine Bank zu eröffnen.
Ein Lieblingssatz Hans Fridolin Kramers, von dem er im vertrauten Ratskellerkreise gern Gebrauch machte, hieß: »Ein Wunder ist wieder einmal fällig.« Ein anderer, nicht minder beliebter Satz von ihm lautete in Anlehnung an Goethe, in Bereitschaft sein sei alles. So hatte er denn schon vor Monaten, in Vorahnung kommender Ereignisse, die Verbindung mit einem richtigen Bankfachmann aufgenommen. Dieser, ein Herr Ringhuber, der von der Pike auf gedient und es bis zum Prokuristen eines größeren Bankhauses der inneren Stadt gebracht hatte, war gern bereit, sich mit Hans Fridolin Kramer in die Mühewaltung als Mitdirektor der geplanten Industrie- und Zentralbank zu teilen. Ihm sollte die eigentliche bank- und börsentechnische Leitung des Geschäftes obliegen! Kramer wollte für seine Person den Schalterverkehr mit der Kundschaft pflegen und die Bearbeitung des Kapitalmarktes, kurz gesagt, der Einleger und Geldgeber übernehmen.
In den Kreis der Geldgeber das Ehepaar Eichwald einzubeziehen, war seit längerer Zeit Kramers eifriges Bemühen gewesen. Franz Eichwald zeigte sich jedoch gegenüber allen Anzapfungen Kramers ganz zugeknöpft. Er lachte immer nur in seiner etwas geräuschvollen Weise, wenn Kramer auf das herannahende Geldschiff des argentinischen Nabobs zu sprechen kam, und behauptete, wie die Geschichte lehre, seien schon manchmal Schiffe, einmal sogar eine ganze Armada, im Ozean untergegangen. Ehe also das Müllersche Geldschiff nicht glücklich in Hamburg eingelaufen sei, könne man nichts sagen, und auch dann wolle noch alles sehr überlegt sein. Er pflegte sich dabei, zu Kramers besonderem Verdruß, gern auf jene recht skeptische Äußerung zu beziehen, die der Polizeirat von Lindlar am Faschingsdienstag ihm sowie Kramer und Kilian Merz gegenüber hatte fallen lassen. Kramer verwünschte im stillen den unbequemen Polizeirat, der zwar seiner Frau sehr eindeutig den Hof machen konnte, für deren Mann aber nichts tun wollte, ja ihm sogar offenkundig das Spiel verdarb.
Etwas mehr Gehör hatte Kramer bei Anna Eichwald gefunden. Die geschäftlichen Wege des Ehepaares gingen ja vielfach auseinander. Wenn die Interessen des Steinkönigs vornehmlich dem Baumarkt zugewandt waren, so hatte sich Anna Eichwald hauptsächlich auf allgemeine Börsenspekulationen geworfen. Das Gründungsfieber der Zeit lockte täglich neue Gesellschaften und Unternehmungen ans Licht, mit deren Aktien etwas zu verdienen war, sofern man nur verstand, sie zur richtigen Zeit wieder abzustoßen. Sie pflegte dann zu sagen, sie sei durchaus nicht profitsüchtig, und man müsse auch andere etwas verdienen lassen. In dem gegenwärtigen Handel, den Müllerschen Kreditbrief betreffend, über dessen fortschreitende Verwirklichung Kramer sie täglich auf dem laufenden erhalten hatte, war wenigstens so viel von ihr zu erreichen gewesen, daß sie sich bereit erklärt hatte, sobald das argentinische Geld eintreffe, ebenfalls in das geplante Bankunternehmen einsteigen zu wollen. Über die Höhe der Summe könne man noch sprechen. Eine Vorschußzahlung hatte aber auch sie rundweg abgelehnt. Und doch wäre dies eigentlich die Hauptsache für Kramer gewesen. Er schimpfte im engsten häuslichen Kreise weidlich über diese profithungrigen Großkapitalisten, die nichts riskieren, aber alles für sich allein einstecken wollten, verfehlte jedoch eine Stunde später vor Fernerstehenden nicht, sich in seinen Erzählungen gleichsam Arm in Arm mit dem Ehepaar Eichwald zu zeigen.
Welch ein Triumph also für ihn, als jetzt das Schreiben jener Hamburger Großbankfiliale vorlag, das auch die Ungläubigen, auch Leute wie Lindlar und Eichwald, von der Haltlosigkeit ihrer Verdächtigungen überzeugen und eines Besseren belehren mußte! Hatte er es nicht von Anfang an vorausgesagt? An einem Manne wie Carlos Müller war kein Falsch und kein Trug. Diese klaren, hellen, zuversichtlichen Augen konnten nicht lügen. Der Kreditbrief, der die argentinischen Millionen brachte, befand sich wohlgeborgen im Safe einer deutschen Bank und war ordnungsmäßig von ihr bestätigt worden. Wer konnte noch etwas dawider sagen? Noch am selben Tage mietete er die Räumlichkeiten für die Industrie- und Zentralbank.
Es handelte sich um ein dreistöckiges Geschäftshaus am Rindermarkt, das bisher zu Ausstellungszwecken benutzt worden war. Die Firma, die es innegehabt hatte, wollte sich verändern und war gegen eine gute Abfindung bereit, das Haus bereits zum nächsten Ersten zu räumen. Hier hieß es also zugreifen, wenn man nicht zu spät kommen wollte. Es würde immerhin einige Tage dauern, bis Oberst Butler mit dem argentinischen Mammon aus Hamburg zurück sein würde, die Bank verlangte nun einmal persönliches Erscheinen des Kreditinhabers oder seines notariell bevollmächtigten Vertreters. Wer hätte also helfen können, wenn nicht Franz und Anna Eichwald?
Bei Franz Eichwald war auch fernerhin alles Bitten und Beschwören Kramers fruchtlos. Dieser steinige Boden trotzte allen Versuchen, ihn zu lockern und ertragsfähig zu machen. Franz Eichwald wünschte klare und glatte Geschäfte. Für Vorschußzahlungen war er nicht zu haben. Auch Kreditbriefe, die in einem Hamburger Safe lagen und nur auf Abholung warteten, imponierten ihm nicht. Er bezweifelte gar nicht, daß alles seine Richtigkeit hatte, aber er mußte ja nicht überall dabei sein. Er hatte genug mit seinen alten Geschäften zu tun und brauchte keine neuen. Ein Mensch kann nicht alles machen. Kramer äußerte nachher zu Vertrauten, nicht umsonst nenne man Eichwald den Steinkönig. Alles an diesem Manne sei von Stein, seine Seele und leider auch seine Brieftasche. Es sei die schrecklichste Stunde seines Lebens gewesen. Dafür habe ihn der Besuch bei Anna Eichwald reichlich entschädigt.
Anna Eichwald hatte sich in der Tat bereit gefunden, Kramer in dieser entscheidenden Stunde mit einem größeren Betrag beizuspringen und für die zu zahlende Abfindungssumme in einer nicht unbeträchtlichen Höhe Bürgschaft zu leisten. Als Entgelt sollte sie das Anrecht auf die Aktienmehrheit der Industrie- und Zentralbank zu einem ermäßigten vorbörslichen Kurs, damit also den maßgebenden Einfluß auf die Leitung der Bank erhalten. Die jetzt an Krämer geleistete Zahlung würde mit jenem zu erwerbenden Aktienpaket aufgerechnet werden. Es konnte ein hübsches Geschäft für Anna Eichwald werden. Sie war im Gegensatz zu ihrem nur das Nächste bedenkenden, lieber wägenden als wagenden Manne eine Frau von Phantasie und hochentwickelter Spekulationsgabe. Franz Eichwald haftete, bei aller Weite seiner Geschäfte, noch immer etwas vom Kleinbürger an, als der er seinen Weg begonnen hatte. Anna Eichwald wiederum verleugnete ihre Abkunft aus schwedisch-finnischem Adelshause nicht. Sie war eine Spielernatur und war geneigt, alles auf eine Karte zu setzen wie ihre Vorfahren, die baltischen Barone, die ja auch alles eingesetzt hatten, in der Liebe wie im Spiel, um schließlieh alles zu verlieren.
Herr von Lindlar war wieder im Lande. Es stellte sich heraus, daß er an einer Gesellschaftsreise von Hamburg über Lissabon und die Balearen nach Genua teilgenommen hatte. Das Schiff hatte auch einen zweitägigen Aufenthalt in Southampton gehabt, den er wie die anderen Teilnehmer zu einem Abstecher nach London benutzt hatte. Es war bezeichnend für Lindlar, daß er auf der ganzen Reise nicht ein einziges Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Frau Lätizia schalt ihn deswegen tüchtig aus. Er sei ein böser Mann, der es nicht verdiene, daß man ihn gern habe. Nicht einmal zu einer Ansichtskarte habe es gelangt. Man werde ihm doch den Brotkorb höher hängen müssen. Lindlar hatte nicht viel darauf zu erwidern. Er gab unumwunden seine Schuld zu, beteuerte aber, noch nie in seinem Leben eine Ansichtskarte geschrieben zu haben. Es sei die überflüssigste Sache von der Welt, jemandem mitzuteilen, daß man in Neutomischel oder Wurmannsquick seiner gedenke. Im übrigen wisse sie ja, daß er – ob zu Wasser oder zu Lande, auf den Balearen, in München oder in Neutomischel – Tag und Nacht bei niemand anderem mit seinen Gedanken weile als bei ihr. Er hatte einen so treuen, ehrlichen und zugleich schmerzlichen Augenaufschlag dabei, daß Frau Lätizia ihm nun doch verzieh und ihn wieder in Gnaden aufnahm. Sie konnte keinen Menschen leiden sehen, wie sie sagte.
Auch Kramer hatte einige Fragen an Lindlar über seine Reiseerlebnisse. Diese bezogen sich vornehmlich darauf, ob der Polizeirat bei seinem Aufenthalt in Hamburg und London nebenbei auch noch berufliche Zwecke verfolgt habe, wie dies ja an sich nahe genug liege. Aber Lindlar lehnte eine solche Unterstellung mit aller Entschiedenheit ab. Es sei sein ihm zustehender Urlaub gewesen, und im Urlaub habe er es von jeher mit dem Grundsatz gehalten, den Beamten an den Nagel zu hängen und nur Mensch zu sein. Aber selbst, wenn es anders wäre, so habe zur Zeit nicht der geringste Anlaß vorgelegen, irgendwelche amtliche Verbindung mit London oder Hamburg zu suchen.
Begreiflich genug, daß bei diesen Worten Kramer ein Stein vom Herzen fiel. Er hielt es für das beste, diese Sache jetzt nicht weiter zu verfolgen, da ja ohnedies damit zu rechnen war, daß der Polizeirat, der wieder täglich zur Mittagstafel kam, durch die Gespräche der anderen Tischgäste sehr schnell alles erfahren mußte. Und das war gut so. Konnte der Stand der Dinge denn günstiger sein als er war? Der Kreditbrief über eine immense Summe – Millionen in deutschem Papiergeld – in Hamburg sichergestellt. Nur noch ein paar Formalitäten, um ihn gebrauchsfertig zu machen. Oberst Gordon C. Butler auf dem Wege dorthin, um diese Formalitäten zu erfüllen. (Es traf sich, daß er gerade an dem Abend abreiste, an dem Lindlar zurückgekehrt war.) Carlos Müller, der stille, schweigsame Nabob, in seinem während der Arbeit stets peinlich verschlossen gehaltenen Zimmer damit beschäftigt, den Plan für eine möglichst menschenfreundliche Verwertung der argentinischen Millionen zu entwerfen. Das Haus für die Industrie- und Zentralbank gemietet. Diese selbst durch die Müllerschen Millionen und zum Überfluß auch noch durch die Kapitaleinlage und die Bürgschaft von Anna Eichwald gedeckt und gegen jeden Ansturm gefeit. Was hätte er noch mehr wollen können? Es war Großes an ihm, Hans Fridolin Kramer, geschehen! Wie hätte man noch von Wundern sprechen sollen, wenn dies keins war?
In einer dieser Nächte hatte Kramer einen Traum, der ihn wunderbar beseligte und ihn auch, als er schon wach war, noch lange nicht verlassen wollte. Auf einer Art von Himmelsleiter – man konnte an diese in Altmünchner Häusern vorkommenden, steil bis zum vierten Stock ansteigenden Treppen denken, nur daß sie ganz frei in der Landschaft stand – bewegte sich eine Karawane von Hunderten von Kamelen himmelaufwärts. Jedes dieser in unabsehbarer Folge emporsteigenden Kamele trug zwischen seinen Höckern einen ungeheuren Geldsack, aus dessen Nähten Dollar-, Peso- und Pfundnoten herausquollen und über die Himmelsleiter auf die Landschaft herniederregneten. Das Merkwürdige war, daß unten niemand stand, um den Segen aufzufangen. Die ganze Landschaft war menschenleer wie die Sahara und auch von ähnlichem Charakter. Vielleicht noch wunderlicher aber war, daß alle diese Kamele sich mit dem Hinterteil nach vorn bewegten, also gewissermaßen im Krebsgang ihre Geldsäcke himmelan schleppten. Kramer konnte sich gar nicht erklären, was das sonderbare Traumgesicht wohl zu bedeuten habe, und beschloß, dieserhalb nächstens einmal bei einer bekannten Wahrsagerin Nachfrage zu halten.
*
Waldemar Lewerenz trug sich mit dem Gedanken, einen Wohnungswechsel vorzunehmen. Es tat ihm leid, denn er hatte sich an sein Quartier gewöhnt und wußte, daß ihm die Aussicht von seinen Fenstern auf die Türme der Stadt und die Wipfel des prinzlichen Parks – nun gar jetzt, wo der Frühling ins Land zog – schmerzlich abgehen werde. Aber mancherlei Umstände legten ihm den Entschluß nahe. Vielleicht war es im Grunde auch nur ein einziger Umstand, aus dem alles andere abzuleiten war: Angeles Besuche bei ihm. Er nahm es als sein selbstverständliches Recht in Anspruch, die geliebte Freundin so oft bei sich zu empfangen, wie es ihre Zeit eben erlaubte. Diese war freilich nur allzu beschränkt, so daß er Angele seit jenem Abend auf der Sendlinger Höhe, da sie die Seine geworden, nur für wenige Stunden wiedergesehen hatte.
Alle seine Nerven fieberten zur verabredeten Stunde dem Augenblick entgegen, wo die Glocke an seiner Wohnungstür den ersehnten anapästischen Klang ertönen ließ – zweimal kurz, einmal lang, mit starkem Akzent auf dem letzten Ton –, so hatten sie es miteinander ausgemacht.
»Ist es nicht, als ob wir mit dem Glockenzeichen unserer Sehnsucht gewissermaßen Flügel angesetzt hätten?« sagte Waldemar, nachdem er geöffnet und das eintretende Mädchen in seine Arme geschlossen hatte. Es war das zweite- oder drittemal, daß sie zu ihm kam, seit jenem unvergeßlichen ersten Abend ihrer Liebe, über dem das körperlose magische Licht jenes weltweiten blauen Sterns gestrahlt hatte. »Wir haben den Anapäst zu unserem Sinnbild erkoren. Etwas, das ewige Sehnsucht bedeutet und niemals volle Erfüllung«, setzte er hinzu und sah dann erstaunt auf das erregte, fast verängstigte Mädchen. »Was ist dir passiert, Angele? Du zitterst ja. Ist dir jemand begegnet?«
Angele nickte und mußte sich erst beruhigen. Dann erzählte sie mit fliegendem Atem, auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerkes sei ihr Frau Lätizia Kramer begegnet, habe sie mit einem unsäglich gemeinen Blick von oben bis unten gemustert und sie dann, als sie grüßend vorüberging, mit der Frage gestellt, zu wem sie denn wolle. Sie habe geantwortet, daß sie niemandem Rechenschaft darüber schulde, und sei weitergegangen; da habe die Frau ihr nachgerufen, für Damenbesuche dieser Art sei dies kein Haus. Sie habe sich die Seele aus dem Leibe geschämt und wäre am liebsten auf und davon, aber dann habe sie an ihn gedacht, der doch vergebens auf sie gewartet haben würde, und auch ein gewisser gesunder Trotz habe sie überkommen und die Treppen zu ihm hinaufgehetzt. Sie habe nur noch jene Person die Tür zuschlagen hören. Aber was nun? Sie wisse nicht, ob sie noch einmal die Kraft finden werde, dieses Haus zu betreten, und ob sie nicht schon aus Selbstachtung ihn bitten müsse, ihr eine ähnliche Erniedrigung in Zukunft zu ersparen.
Lewerenz versuchte am folgenden Tage vergebens, Hans Fridolin Kramers habhaft zu werden, um ihn zur Rede zu stellen. Wie es hieß, nahmen ihn die Vorbereitungen für die Installierung der Industrie- und Zentralbank über und über in Anspruch. Er war von morgens bis abends auf den Beinen und hatte noch nicht einmal Zeit zum Mittagessen gefunden. Erst am übernächsten Tage kam es dann auf sehr bestimmtes Drängen von Lewerenz zur Ausspräche zwischen den beiden. Kramer behauptete, Frau Lätizia habe die junge Dame nicht gekannt oder nicht wiedererkannt, habe auch nicht gewußt, wem der Besuch gelte, und es sei daher wohl begreiflich, daß sie die ihr begegnende junge Dame daraufhin angesprochen habe. Übrigens sei das in der höflichsten Weise geschehen, und wenn die Dame auf die ruhige Frage der Gräfin ebenso geantwortet hätte, so wäre es gar nicht erst zu dem peinlichen Zwischenfall gekommen. Es liege ihm aber durchaus fern, nun etwa seinerseits gegen die junge Dame Klage führen zu wollen, wenn ja auch nicht zu verkennen sei, daß solche Besuche immer etwas Mißliches in einem vornehmen Hause wie dem seinen hätten. Er wolle aber hierauf nicht weiter eingehen, da es sich schließlich um eine Standesperson wie ihn, den Geheimrat Lewerenz, handele, durch dessen Namen, Stellung und Alter er ja gegen falsche Auslegungen gedeckt sei, und er gebe der Hoffnung Ausdruck, daß die leidige Geschichte damit aus der Welt geschafft sei.
Trotz dieser äußerlich befriedigenden Erklärung, die durch gegenseitiges Händeschütteln bekräftigt worden war, blieb eine Verstimmung bei Lewerenz zurück, die noch zunahm, als er bemerken mußte, daß Angele nur mit Mühe zu bewegen war, wiederzukommen, und jedesmal, wenn sie erschien, sich in der geheimen Angst befand, jener Auftritt könne sich wiederholen. Wenn auch nichts dergleichen geschah, so empfand Lewerenz doch je länger desto mehr die Peinlichkeit, ja Unhaltbarkeit der Umstände für sie beide, und jener Gedanke des Wohnungswechsels reifte allgemach zum Entschluß. Aber ehe es noch dazu kam, traten Ereignisse ein, die der ganzen Sachlage in und mit der Pension Lätizia ein neues Gesicht gaben.
Bezeichnenderweise drängten sich – wie man es oft im Leben beobachten kann – die Ereignisse, ob auch aus ganz verschiedenen Richtungen kommend, in ein paar Tagen zusammen. Das erste war, daß Frau Lätizia einen Brief ihrer auf dem väterlichen Schloß lebenden Schwester erhielt, worin diese sie von der schweren Erkrankung ihres Vaters benachrichtigte. Es sei nach der Aussage des Arztes mit seinem baldigen Ende zu rechnen. Wenn sie den Vater noch lebend antreffen wolle, so möge sie sich beeilen. Der Brief hatte von dem im tiefsten Polen gelegenen Schloß mehrere Tage bis nach München gebraucht. Bevor Lätizia Kramer noch ihre Sachen hatte packen können, traf bereits ein Telegramm der Schwester ein, daß alles zu Ende sei. Lätizia Kramer reiste Hals über Kopf in die Heimat ab, um dem toten Vater die letzte Ehre zu erweisen und, was noch viel wichtiger war, bei den zu erwartenden Erbschaftskämpfen nicht allzusehr ins Hintertreffen zu geraten.
Kramer mußte sich im Übermaß seiner Geschäfte und Laufereien geradezu die halbe Stunde abstehlen, um die Gräfin zur Bahn zu bringen. So sehr er an seiner Frau hing, die Industrie- und Zentralbank stand ihm jetzt doch an erster Stelle. Wenn er erst Millionär war, was ja nun bald kommen mußte, dann wollte er alles nachholen und die Ärmste, die jetzt auf ihrem Schloß in Polen um ein paar hunderttausend Zloty herumzanken mußte, im Triumph wieder nach Hause holen. Was bedeutete diese alte Räuberburg, die sie doch vermutlich war, gegen das Palais, in dem sie nun bald gemeinsam residieren würden!
Noch am Nachmittag desselben Tages wurde Herrn Carlos Müller, dem argentinischen Millionär, ein Eilbrief des Obersten zugestellt, der ihn zu seinem größten Leidwesen und obwohl er sich gar nicht sehr bei Kräften fühlte, sofort nach Hamburg rief. Der Oberst schrieb, daß mit der Vollmacht sich gewisse Schwierigkeiten ergeben hätten und die Bank nun doch Wert auf Müllers persönliches Erscheinen lege, ehe sie die Auszahlung vollziehe. Europa sei nun einmal ein Irrenhaus oder eine Idiotenanstalt, und wenn man mit so einem Kerl von Schalterbeamten Fraktur sprechen wolle, indem man ihn mit dem Browning unter der Nase kitzele, so sei gleich ein Lümmel von Polizist da, der einen einstecke. Zustände seien das, von denen er sich wirklich in Wyoming oder Alaska nichts hätte träumen lassen. Er werde auch sobald wie möglich wieder den Staub Europas von den Mokassins schütteln und könne ihm nur raten, das gleiche zu tun. Aber natürlich erst, nachdem die »damned bank« das Geld herausgerückt habe.
Es war etwa zur Zeit der Kaffeestunde, als der Brief zugestellt wurde. Der Hamburger Schnellzug ging um halb fünf. Eile war also geboten. Carlos Müller setzte Kramer sofort von dem Inhalt des Briefes in Kenntnis; ja er ließ ihn in seiner freundlichen Art selbst Einsicht darin nehmen und bedauerte sehr, daß der Polizeirat schon weggegangen war, da er ihn gern um Rat in der Angelegenheit befragt hätte. Aber es blieb keine Zeit mehr übrig, ihn noch im Büro anzurufen oder etwa gar aufzusuchen. Beide Männer, Kramer und er, lachten noch herzlich über die hanebüchene Schreibweise des Obersten. Dann empfahl sich Carlos Müller ohne viele Umstände, da er ja in vier, fünf Tagen wieder zurück sein würde. Er ließ auch den größten Teil seines Gepäcks in der Pension zurück und nahm nur einen bequemen Handkoffer mit, während der Oberst nach seiner großspurigen Art fast mit seinem gesamten Gepäck abgedampft war. Kramer war im Grunde seines Herzens froh gewesen, ihn für einige Zeit los zu sein, obwohl der Oberst bei seiner Abreise einen kleinen Umstand übersehen hatte, nämlich, daß die letzte Monatsrechnung noch nicht beglichen war. Da der Oberst sich vorher als pünktlicher Zahler erwiesen hatte, so konnte Vergeßlichkeit vorliegen; im übrigen war ja Carlos Müller da, dessen Vertrauenswürdigkeit über jeden Zweifel erhaben war. Daß jetzt auch dieser, wenn auch nur für einige Tage, verschwand, hatte nichts auf sich, da ja der Anlaß dazu durchaus einleuchtend und der argentinische Kreditbrief im Verschluß der Hamburger Bank so sicher war wie der morgige Tag.
Dieser morgige Tag kam und verging, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Herr von Lindlar erschien an diesem Tage nicht wie sonst zum Mittagessen, was Kramer auf die Abreise Lätizias zurückführte. Er fand, daß Lindlar seiner Trauer eigentlich einen etwas sehr betonten Ausdruck gebe. Auf Anfrage bei der Polizeidirektion wurde ihm nur kurz geantwortet, daß der Herr Polizeirat vorübergehend verreist sei.
Am folgenden Morgen saß Lewerenz an seinem Schreibtisch, mit allen Sinnen in seine Arbeit vertieft – es war die vor kurzem begonnene und über Erwarten schnell fortschreitende Abenteurerkomödie –, als eine auffallende und schnell sich steigernde Unruhe im Hause ihn aus seiner Versunkenheit aufschreckte. Er versuchte zuerst darüber hinwegzukommen und wieder den Stimmen in seinem Inneren Gehör zu schenken. Aber es war vergebens. Er legte die Feder weg und lauschte. Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein, da sonst im Hause mustergültige Stille zu herrschen pflegte. Man hörte Türenschlagen, hin und her hastende Bewegung und den fernen Widerhall lärmender Stimmen.
Lewerenz läutete nach dem Zimmermädchen. Es dauerte lange, bis eins erschien. Und erst auf sein wiederholtes und dringendes Befragen wurde ihm die verlegene Auskunft erteilt, es sei Kriminalpolizei da, und eine Haussuchung bei den beiden ausländischen Herren finde statt, die augenblicklich verreist seien. Herr Kramer sei gerade in Geschäften fort gewesen, man habe ihn aber telephonisch erreichen können, vor einer Viertelstunde sei er gekommen, und es habe sofort einen schönen Skandal mit den beiden Beamten gegeben. Herr Kramer habe erklärt, es sei hier ein vornehmes Haus, die Polizei habe da nichts zu suchen, und er lasse sich das nicht gefallen. Er habe Verbindungen bis ins Ministerium hinein, habe er gesagt, und er werde sofort Beschwerde an oberster Stelle einlegen. Ja, das habe er gesagt. Weiteres wisse sie nicht, aber die beiden Beamten seien noch immer da und stöberten weiter in den Zimmern der beiden ausländischen Herren umher.
Dem frischen, appetitlichen Ding waren die Tränen nahe. Ob der Herr Geheimrat denn wirklich an so etwas glaube? Ein so netter, freundlicher, so gar nichts von sich hermachender Herr wie der Herr Müller! Und dabei ein argentinischer Millionär! Müller klinge ja eigentlich gar net so recht argentinisch. Aber dafür heiße er ja auch mit Vornamen Carlos. Wirklich so ein bescheidener Herr, der Herr Millionär Müller! Von dem anderen Herrn, von dem amerikanischen Herrn Obersten, müsse man ja sagen, daß er ein bissel ... ein bissel recht sehr lebhaft und ... na ja, wie man so sage ... stark auf die Madeln versessen gewesen sei. Eines Nachmittags, als sie gerade Ruhestunde hatte, habe er sogar versucht, bei ihr einzudringen, natürlich in ihr Zimmer. Aber sie sei ein anständiges Madel, sofort aufgesprungen sei sie, habe die Tür halb zugehalten, und was er wolle. Viel angehabt habe sie auch gerade nicht in dem Augenblick. Er wolle sich die Gelegenheit bei ihr besehen, habe der schreckliche Mensch gerufen. Aber da sei er schön angekommen!
»Grad nausgeschoben hab ich ihn, den Amerikaner. Mit dem rechten Arm ihn nausgeschoben und mit dem linken Fuß die Tür zugeschlagen und hab den Riegel vorgeschoben. Ich hab mich selbst gewundert, daß ein so starker Mann net mit einem schwachen Madel fertig wird. Aber er ist gegangen. Er hat mich von da ab nicht mehr belästigt. Und schließlich darf man's den Herren auch gar net so übel nehmen. Es gibt ja genug solchene, die sich darauf einlassen.«
Zenzerls Redefluß, einmal entfesselt, wäre vielleicht noch ein Weilchen weitergeplätschert, wenn nicht in diesem Augenblick Hans Fridolin Kramer selbst in der offengebliebenen Gangtür erschienen wäre. Das erschrockene Mädchen machte sofort, daß es wegkam. Es bedurfte nicht erst des stummen Winkes ihres Dienstherrn. Kramer war schreckensbleich und mußte sich auf einen Stuhl setzen, um zu sich zu kommen. Man sah ihm an, daß es diesmal Ernst war und keine Pose dahintersteckte. Erst nach einer Weile hatte er sich so weit gesammelt, um sprechen zu können. Und nun erfuhr Lewerenz, was geschehen war, soviel oder sowenig Kramer selbst schon davon wußte.
Es verhielt sich in der Tat so, wie das Mädchen gemeldet hatte. Zwei Kriminalbeamte hatten die von Carlos Müller und Gordon C. Butler bewohnten Räumlichkeiten von oben bis unten durchsucht. Die polizeiliche Verfügung darüber war von Lindlar unterschrieben. Auch ein Haftbefehl gegen die beiden lag vor, war aber natürlich im Augenblick undurchführbar. Kramer hatte, wie er selbst berichtete, mit aller in solchen Fällen gebotenen Energie gegen den Gewaltakt protestiert. Freilich umsonst. Und dann hatte es eine schreckliche Überraschung gegeben. Die von Carlos Müller hinterlassenen fünf mächtigen Kabinenkoffer – er selbst hatte ja nur ein Handköfferchen mitgenommen – waren leer! Das heißt, sie waren eigentlich nicht leer, sie hätten vielmehr ein Gewicht wie Eisenblöcke gehabt, man habe sie kaum von der Stelle bewegen können. Aber innen sei nichts als Ziegelsteine gewesen. Das war das Gepäck von Carlos Müller. Dafür hatte Gordon C. Butler das seinige in vier nicht minder mächtigen Kabinenkoffern nach Hamburg abtransportiert, und er, Kramer, habe noch beim Aufladen mitgeholfen. Und die Rechnung für den letzten Monat waren die beiden sauberen Patrone schuldig geblieben.
Aber nicht genug hieran. Der argentinische Kreditbrief – mit dem mußte es also seine Richtigkeit haben – war bereits vor fünf Tagen, also schon am nächsten Tage nach Butlers Abreise, von diesem behoben worden. Ob mit der ganzen Summe oder nur mit einem Teil davon, hatten die beiden Beamten nicht zu sagen gewußt. Butler war seit jenem Tage verschwunden, eben wie seit vorgestern sein Komplice Müller, der höchstwahrscheinlich gar nicht nach Hamburg gefahren war, sondern offenbar an einem verabredeten dritten Orte sich mit Butler getroffen hatte. Polizeirat von Lindlar befand sich unterwegs, um die Spur der beiden Gauner zu verfolgen; gewisse Anhaltspunkte lagen auch schon vor, um sie zu finden. Aber was half das? Die argentinischen Millionen waren dahin. Dahin die Industrie- und Zentralbank, deren bereits gedruckte Aktien jetzt Makulatur waren. Dahin wahrscheinlich auch die Pension Lätizia, denn mit den Eichwalds, deren Bürgschaft für die eingegangenen Verbindlichkeiten jetzt sicher von seinen Gläubigern in Anspruch genommen werden würde, sei nicht zu spaßen. Dahin alles, was er sich im Leben mühsam aufgebaut habe.
»Wie Sie mich hier sehen, sitze ich wie Marius auf den Trümmern von Karthago«, so endigte Kramer mit wiedergefundenem, wenn auch gebrochenem Stolz seinen Bericht. Lewerenz tat der Mann leid, wiewohl er im stillen über diesen unaustilgbaren Hang zur Pose und Selbstbespiegelung lächeln mußte. Kramer war das Opfer seiner Betriebsamkeit und Geschäftemacherei geworden. Aber durfte man ihn allzu hart deswegen anklagen? Lebte nicht die ganze deutsche Welt – niemand, auch nicht er selbst, Lewerenz, ausgenommen – in eitlem Selbstbetrug dahin? In diesem blauen Dunst von einem Wohlstand, ja Reichtum, der in Wirklichkeit gar nicht bestand? Hatte nicht der Taumel der großen Zahl sie alle, einen wie den anderen, ergriffen? Noch immer stiegen die Papiere, und von Tag zu Tag förderte die Druckpresse neues Geld ans Licht. Es schien des Segens kein Ende zu sein. War es nicht unausbleiblich, daß Menschen wie Kramer darüber ihr bißchen Verstand verloren? Er war nur ein Beispiel unter vielen, freilich ein besonders lehrreiches.
Was Lewerenz in Kramers ruckweise gestammelter Erzählung am wenigsten einleuchten wollte, war der Bericht über den Kreditbrief. Konnte es wirklich seine Richtigkeit mit ihm haben? Butler hatte auf Müllers Vollmacht hin den ganzen Betrag des Kreditbriefes oder einen Teil davon ausgefolgt erhalten. Aber wenn hier alles in Ordnung war, warum hätten dann Carlos Müller und Gordon C. Butler nötig gehabt, auf diese Weise zu verschwinden? Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder Carlos Müller war unter dem Namen des richtigen Empfängers aufgetreten und hatte dessen Unterschrift gefälscht, oder der Kreditbrief selbst war ein geschicktes Falsifikat. Das zu glauben, hielt freilich schwer. Es blieb also nur das andere übrig. Aber warum war dann der wirkliche und berechtigte Inhaber des Akkreditivs noch nicht zum Vorschein gekommen? Es war doch höchst unwahrscheinlich, daß jemand sich so etwas nach Deutschland nachschicken ließ, ohne Gebrauch davon zu machen.
Lewerenz beschäftigte die Lösung des Rätsels um so mehr, als gerade jetzt die beiden Abenteurergestalten in seiner Komödie feste Umrisse gewonnen hatten. Die Handlung spielte in einer kleinen deutschen Residenz, die durch den Umsturz fürstenlos geworden war, in deren Verhältnissen sich aber sonst kaum etwas geändert hatte. Denn der noch aus der fürstlichen Zeit stammende allmächtige Staatsminister, der in geschickter Ausnutzung der neuen Lage sich über den Umsturz hinweg behauptet hat, regiert, auf eine willfährige Kammermehrheit gestützt, mit noch weniger Hemmungen als vorher, das Ländchen. Eine einzige Gefahr droht ihm: von seinem Kabinettschef, der im stillen gegen ihn intrigiert und die Führer der Kammermehrheit gegen ihn mobil zu machen sucht. Eine Abstinenz- und Temperenzvorlage scheint ihm das geeignete Mittel, seinen widerstrebenden Chef, den Minister, mit der Kammermehrheit auseinander und dadurch zu Fall zu bringen. In diese geladene Atmosphäre platzen die zwei Abenteurergestalten, der stille, freundliche Manuel Hänicke (Carlos Müller) und der lärmende, revolverschießende Oberst Butterfus (Gordon C. Butler) als Mitglieder einer angeblichen Ambassade aus Kostarika und vollenden das politische Tohuwabohu im Ländchen, nicht minder auch das private im Hause des Ministers selbst. Alles geht drunter und drüber, der Sturz des Ministers durch die Abstinenzvorlage scheint besiegelt. Aber dank dem Eingreifen der beiden Abenteurer, dank auch seiner eigenen Unverfrorenheit, siegt am Ende Richelieu (der Spitzname des Ministers) über alle seine Widersacher, und Mazarin, sein präsumtiver Nachfolger (der Kabinettschef), kann warten. Die blitzschnelle Fixigkeit und Wendigkeit des Revolutionsgewinnlers triumphiert auf der ganzen Linie.
Die Arbeit an der Komödie ging Lewerenz über alles Erwarten rasch von der Hand. Das mit Zeitstoff und satirischem Witz geladene Werk gedieh von Tag zu Tag mehr. Schon war der erste Akt, der mit dem Hereinplatzen der zwei Fremdlinge endigte, zu Papier gebracht, der zweite in Angriff genommen. Wieviel Selbstbeobachtetes und Erlebtes floß nicht in die frei erfundene Fabel hinein! Hatte er nicht, als er noch selbst im Amt gewesen, genug des politischen Streber- und Schiebertums kennengelernt? Und wieviel Bitterkeit hatten ihm nicht die Gespräche mit Lindlar, diesem Fanatiker eines geeinigten und gereinigten Großdeutschlands, ins Blut geimpft! Aber eben hierin lag auch die Gefahr, daß Zorn und Ingrimm dem Gestalter die Feder führten und ihn von seiner dichterischen Linie ablenkten.
Lewerenz suchte sich dieser ihn manchmal bei der Arbeit bedrohenden Fratzen und Larven zu erwehren, so gut er es mit seiner vielfach noch ungelenken Bildnerhand vermochte. Und er tröstete sich damit, wenn etwas zu mißlingen schien, daß ja alles doch nur ein erster Versuch sei und nichts ihn zwinge, damit vor die Menschen zu treten: was ihm dann freilich wieder in anderen Stunden als eine nur allzu billige Ausrede vorkam. Denn hing nicht sein ganzes kommendes Leben davon ab, was aus dieser ersten ernstlichen Probe seines Könnens werden würde? Und mußte nicht sein schon über den Mittagsscheitelpunkt hinaus gediehener Weg endlich ein wenn auch noch so fernes Ziel bekommen, für das es sich lohnte, ihn überhaupt gegangen zu sein?
Merkwürdig auch – oder war es nicht vielmehr selbstverständlich? –, daß er so oft, wenn er in Augenblicken der Versunkenheit die Feder ruhen ließ, die unsichtbare Gestalt des schönen dunklen Mädchens hinter sich stehen fühlte. War es denn nicht die magische Kraft dieser so plötzlich, so unerwartet in sein Leben getretenen Liebe, die ihm die Feder führte und ihn auf seiner Bahn fortfahren hieß? Die ihn nicht ruhen und nicht rasten ließ, bis er endlich am Ziel sein würde? Denn es war schon so – er konnte sich keinem Zweifel darüber hingeben –, daß dieser beglückende Sprudel seiner Schaffenslust eben in dem Augenblick ans Licht gestiegen war, in dem Angele seinen Weg gekreuzt hätte, daß also diese und jene Passion aus dem nämlichen Urgrund seines Wesens stammten, ja gleichbedeutend miteinander waren. Angele Moradelli, dieses aus Vergangenheit und Zukunft seltsam gemischte Geschöpf mit der umwölkten Stirn und dem rührenden Kinderblick: dieses zwischen gestern und morgen luftig dahinschwebende, ganz und gar einmalige, nie wiederkehrende Gebilde der Gottheit war ihm zum Sinnbild der Kunst geworden, wie sie das Siegel der Liebe für ihn bedeutete.
*
In der Pension Lätizia herrschte Verstörung und Unruhe. Verschiedene Logiergäste zogen aus. Sie wollten nicht länger in einem Hause bleiben, das sich des zweifelhaften Vorzugs polizeilicher Beobachtung erfreute. Hans Fridolin Kramer lief in allen Zeitungsredaktionen herum, um zu verhindern, daß die lächerliche und groteske Geschichte von dem argentinischen Millionär und seinen Koffern voll Ziegelsteinen an die große Glocke gehängt werde. Aber es war schon zu spät, hätte sich wohl überhaupt nicht ganz unterbinden lassen, da es zu viele Mitwisser gab und die Presse unmöglich über eine Sache schweigen konnte, die vermöge ihrer Komik überall von sich reden machte. Schon die gegenseitige Konkurrenz im Nachrichtendienst hätte so etwas nicht zugelassen, wie denn auf der anderen Seite auch Fridolin Kramers geschäftliche Konkurrenz für möglichste Verbreitung des Zwischenfalles sorgte.
Einige Tage lang wurde Kramers tragikomisches Mißgeschick an allen Pensionstafeln, in sämtlichen Stammtischrunden durchgenommen und belacht. Mit am meisten lachte über die Geschichte Franz Eichwald, der ja schon immer gesagt hatte, daß das Ganze nur fauler Zauber sei. Er habe nie an diese argentinischen Millionen geglaubt. Was ihn dabei besonders belustigte, war der gründliche Hereinfall seiner Frau. Hatte er nicht gewarnt, prophezeit? Aber sie hatte natürlich alles besser gewußt, wie immer! Jetzt kam zum Schaden auch noch der Spott. Zwischen den beiden Eheleuten, so vernünftig sie sich sonst aufeinander abgestimmt hatten, herrschte doch in geschäftlichen Dingen ein scharfes Rennen. Man rieb sich vergnügt die Hände, wenn man dem anderen um eine Nasenlänge voraus war. Anna Eichwald hatte durch glückliche Spekulationen in letzter Zeit ihren Mann wiederholt geschlagen. Jetzt war es an diesem, sich ins Fäustchen zu lachen.
An der Börse, in der Handelskammer, in den Privatbüros der Bankgewaltigen wurden Witze über Anna Eichwald gemacht. Die monumentale Frau, deren Auftreten auch im kaufmännischen Leben etwas Imperatorisches hatte, besaß gar keinen Sinn für den Humor ihres Hereinfalls. Erst recht nicht, als einmal des Mittags nach der Leberknödelsuppe Franz Eichwald sie fragte, ob sie sich denn schon die Ziegelsteine des Argentiniers als Pfand für ihre Kramer geleistete Bürgschaft gesichert habe. Er sei bereit, sie ihr für einen vernünftigen Preis abzunehmen, da man sie ja schließlich im Baugewerbe immer gebrauchen könne. Vielleicht lasse sich auch ein kleines Erinnerungsmal im Hausgärtchen daraus errichten, oder ein Brunnen mit Sitzgelegenheit, wo sie sich an Sommerabenden unterhalten könnten.
Einige sehr entrüstete und feindselige Briefe von Anna Eichwald an Kramer waren die Folge. Die aufgebrachte Frau machte Kramer für allen ihr erwachsenen oder noch erwachsenden Schaden haftbar und drohte mit Klage, mit Pfändung, mit unnachsichtiger Beitreibung der ihr zustehenden Forderungen. Erst als Kramer einen Bittgang zu ihr antrat und ihr unter Vorweis eines großen Zahlenmaterials seine verzweifelte Lage schilderte, brach doch ihr gutes Herz durch, das auch bei ihr unter einer harten geschäftlichen Kruste irgendwo tief im Busen schlummerte. Sie erklärte sich bereit, Kramer gegen monatliche Abzahlung die Schuld zu stunden; inzwischen sollte die Pensionseinrichtung für die Schuld haften.
Auch von der Gräfin, seiner Frau, die er endlich hatte einweihen müssen, erhielt Kramer unangenehme Briefe. Der erwartete Erbschaftsstreit war ausgebrochen. Bares Geld war nicht viel vorhanden. Man stritt sich vor allem um das Wohnrecht im Grafenschloß. Lätizia schrieb, es werde wohl nichts anderes übrigbleiben, als daß sie sich dort niederlasse, schon um ihr Besitzrecht zu wahren. Er könne ja nachkommen, die Pension werde er ja wohl bald los sein. (Es war nicht recht klar, wie sie das meinte.) Sie nannte ihn einen Dummkopf und wollte, schon durch ihre Freundschaft mit Lindlar, alles vorausgewußt haben.
Kramer fand, daß es, soweit seine Frau in Betracht kam, noch glimpflich abgegangen war. Er war auf Schlimmeres gefaßt gewesen. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß einer ewig gelangweilten Natur wie der ihren, deren Gedanken immerfort nur um das eigene kleine Ich kreisten, das Schicksal aller anderen herzlich gleichgültig war, wenn sie nur selbst nicht allzu nahe davon betroffen wurde. Dies wäre unter anderen Umständen allerdings der Fall gewesen, und Kramer hätte dann sicher keine guten Tage gehabt. Jetzt aber, weitab vom Schuß und wohlgeborgen im Schoße des gräflichen Ahnenschlosses, machte sie sich weiter keine Gedanken über das, was in München geschah, und zuckte in ihrer slawischen Passivität nur die Achseln darüber. Was hatte sie noch damit zu tun? Wie fern lagen ihr jetzt diese Dinge! Wie fern selbst Lindlar! Geschweige denn ihr Mann!
Dieser aber empfand, was lediglich Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit war, als rührenden Beweis von Güte und Verständnis für seine schlimme Lage und dankte der angebeteten Frau nicht nur im stillen, sondern auch mit überströmenden Worten vor den Freunden. Und schon entfloh seinen Lippen der Satz, daß ein gräfliches Ahnenschloß in Polen auch kein Hund sei. Ihm als dem Gemahl und natürlichen Beschützer der Erbgräfin Marocki, der Letzten ihres Stammes, werde fortan die Aufgabe zufallen, die Tradition des alten Hauses fortzuführen und dem absterbenden Stamm ein neues Reis aufzupfropfen.
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Lewerenz hatte den geplanten Wohnungswechsel fürs erste wieder aufgegeben. Es kam ihm nicht sehr ritterlich vor, das sinkende Schiff gerade jetzt zu verlassen. Auch war ja mit der Dame des Hauses der eigentliche Stein des Anstoßes verschwunden. Und Kramer – das mußte man ihm lassen – hielt die Zügel der Wirtschaft noch immer fest in der Hand. Er war ja auch schon vorher die Seele des Ganzen gewesen, Lätizia hatte sich um nichts gekümmert und nur bei Tisch repräsentiert. So schien äußerlich alles beim alten. Daß Lieferanten und andere Gläubiger sich im Büro die Türklinke in die Hand gaben, erfuhr Lewerenz nur so nebenbei, wenn Zenzerl, das Zimmermädchen, seinen beredten Tag hatte. Aber auch ohnedies hatte er die Empfindung, daß es mit der ganzen Herrlichkeit hier im Hause bald ein Ende haben werde. Dann war natürlich auch seines eigenen Bleibens nicht länger. Lewerenz war zumute, als ob sein Lebensschifflein, das eine Zeitlang wie in einem stillen Hafen gelegen hatte, plötzlich sich anschickte, die Anker zu lichten und von neuem in See zu stechen. Es war eine Unruhe, ein Fieber, ja ein Bangen in ihm, wie man es zu empfinden pflegt, ehe man eine große und ungewisse Reise antritt.
Eines Morgens kam ein Brief von Sabine. Er war von gedrängter Kürze – gedrängter noch als sonst. Sie war in Danzig gewesen und halte eine lange Besprechung mit ihrem Schwager Benno, Waldemars Bruder, dem Chef des Hauses Daniel Lewerenz und Söhne, gehabt. Die Dinge schienen dort nicht gut zu stehen. Sie hatte das Gefühl, daß Benno sich verspekuliert habe. Es sei ja nicht zu beweisen. Aber sie verlasse sich auf ihr Gefühl. Es habe sie noch nie getrogen. Gut wäre es ja, wenn Waldemar selbst erscheinen wollte, um nach dem Rechten zu sehen. Denn das könne nur ein Mann. Eine Frau könne das nicht. Da er aber offenbar in München unabkömmlich sei, so wolle sie bereits einige Wochen früher nach München kommen, wofür auch noch andere Gründe sprächen.
»Erwarte mich also« – so schloß der Brief – »bald nach Ostern und nimm es mir nicht übel, wenn ich Dich in Deinen Lebensgewohnheiten stören sollte. Aber die Zeit und unsere Lage sind vielleicht doch zu ernst, als daß ich es vor meinem Gewissen verantworten könnte, noch länger zuzuwarten. Sei vielmals gegrüßt von Deiner alten Freundin Sabine.«
Lewerenz überlas den Brief wieder und wieder. Er hatte die unbehagliche Empfindung, als verstecke sich hinter Sabines Worten noch etwas anderes, als was sie sagte, und als handle es sich gar nicht so sehr um Bennos verfehlte Spekulationen, wenigstens nicht um sie allein. Was auch immer es sein mochte, er fand die Nachricht gerade ernst genug; es bedurfte wirklich keiner weiteren Umschreibung oder Begründung, um Sabines Kommen zu entschuldigen. Eigentlich wäre es ja, mußte er sich selbst eingestehen, jetzt an ihm gewesen, sofort abzureisen, um zu retten, was noch zu retten war. Aber was war denn noch zu retten, falls es wirklich so stand, wie Sabine vermutete? Wenn Benno falsch spekuliert hatte und die Banken jetzt Abdeckung verlangten, so war ja doch alles verloren. Lewerenz verhehlte sich im stillen nicht, daß dies natürlich nur eine billige Ausrede vor sich selbst war, um sich vor einer als unbequem, ja als grausam empfundenen Notwendigkeit zu drücken. Aber es gab nun einmal Situationen, im Leben, denen wir solange zu entkommen suchen, bis sie uns an die Gurgel springen und uns keine Wahl mehr lassen. Er sollte von München fort? Sollte seine Arbeit im Stich lassen? Sollte sich von dem geliebten Mädchen trennen, das ihm von Tag zu Tag enger ans Herz wuchs? Und Angele mit in die Heimat nehmen? Was aber würde dann mit Sabine? Und würde sich Angele verpflanzen lassen? Würde sie es auch nur wollen? Lewerenz wußte, so sehr er die Augen davor verschloß, daß an einem bestimmten, nicht zu fernen Punkte seines Weges ein Wegweiser stand, wo er sich für immer zu entscheiden hatte, ob so oder so. Ja, mehr noch: wußte er nicht schon jetzt, wie diese Wahl notgedrungen ausfallen würde, aus» fallen mußte?
Noch am selben Vormittag rief Polizeirat von Lindlar ihn an. Die beiden Männer hatten sich seit vierzehn Tagen nicht gesehen. Bei jener Haussuchung nach Carlos Müllers Verschwinden hatte es geheißen, daß der Polizeirat sich auf der Spur der beiden Flüchtlinge befinde. Er war inzwischen zurückgekehrt, offenbar unverrichteter Sache, hatte aber die Pension noch nicht wieder betreten. Lewerenz erfuhr das von Kramer, der sich bei ihm darüber beklagte, daß der Polizeirat ihm seine Existenz zerstört habe, nachdem er ihm seine Frau nicht habe nehmen können, anderseits aber mit all seiner berühmten Findigkeit die beiden Schwerverbrecher nicht habe zur Strecke bringen können und nun zu allem Überfluß auch nicht mehr zu Tisch erscheine. Lewerenz hatte es vermieden, sich mit dem Aufgeregten in eine Erörterung darüber einzulassen, warum und wodurch denn Lindlar an seinem Unglück schuld sei, nachdem dieser doch nur seine Pflicht getan hatte. Für Menschen vom Schlage Kramers waren es ja immer die anderen, die schuld hatten; sie selbst fühlten sich frei von jedem Fehl und jeder Verantwortung. Es wäre vergebliches Bemühen gewesen, Kramer die Augen über sich selbst öffnen zu wollen. War er nicht im Grunde glücklich zu schätzen in der nachtwandlerischen Sicherheit seines Selbstbetrugs?
Lindlar hatte Lewerenz für den Abend zu einem Glas Wein bei sich eingeladen. Sie würden nur zu zweien sein. Er habe ihm Aufklärung über einige Dinge zu geben und rechne bestimmt auf sein Kommen, denn es möchte sein, daß ihm eine große Reise bevorstehe. Man könne nicht wissen, ob es nicht das letztemal im Leben sei.
Lewerenz hatte lachend geantwortet, aber ihm selbst war gar nicht sehr wohl dabei zumute. Es war ein Unterton in der Stimme des anderen, der ihm nicht gefiel und die wache Unruhe in seiner Seele noch vermehrte.
Nachmittags kam Angele auf ein halbes Stündchen zu ihm; sie hatte wie immer nicht allzuviel Zeit. In der Universität war es jetzt ja still, die Ferien hatten begonnen. Dafür gab es um so mehr in ihrer Bank zu tun. Kunden und Aufträge hatten in letzter Zeit sich verdoppelt, verdreifacht. Neues Personal mußte eingestellt werden, um all die Arbeit zu bewältigen. Der Direktor ihrer Abteilung hatte in Anlehnung an ein bekanntes geschichtliches Wort erklärt, daß es eine große Zeit und eine Lust sei, zu leben. Gleichzeitig hatte er Überstunden angeordnet, die gut bezahlt wurden. Er habe ihr eine dauernde Stellung bei der Bank angeboten, aber sie wisse nicht, ob sie darauf eingehen solle. Sie sann dabei nachdenklich vor sich hin und lehnte den Kopf an seine Schulter. Als Waldemar zerstreut lächelnd sie fragte, warum sie denn nicht fürs erste annehmen wolle, heraus sei man leicht, schüttelte sie den Kopf und meinte, es könnten doch sehr bald Ereignisse eintreten, daß das alles nicht mehr nötig sei.
»Revolution?« fragte er mit einem ungläubigen und abermals zerstreuten Lächeln und schlang den Arm um sie.
Sie gab keine Antwort darauf. »Du bist zerstreut?« fragte sie. »An wen denkst du? Sicher nicht an mich?«
»So sicher nicht an dich, wie du nicht an mich dachtest in diesem Augenblick«, erwiderte er und sah sie forschend an. »Lege deine Karten auf den Tisch. Dann tue ich es auch.«
Angele schüttelte den Kopf und gab wieder keine Antwort. Lewerenz meinte ein leichtes Erröten auf ihren Wangen zu sehen, das gleich verschwand.
»Wann gehen wir wieder ins Isartal Schneeglöckchen pflücken, Liebster?« fragte sie nach einem Weilchen. Zwischen ihren dunklen Brauen schattete wieder dieses leichte Gewölk.
»Schneeglöckchen sind zu Ende«, rief Waldemar. »Unser botanischer Kursus geht weiter. Jetzt kommen Leberblümchen und Krokus an die Reihe.«
Angele lächelte verträumt. »Und dann kommen die Veilchen«, sagte sie.
Lewerenz beugte sich über ihr Gesicht. »Weißt du auch, daß deine Augen in diesem Augenblick ganz den Ton von Veilchen im Isartal haben, wenn ein dunkelblauer Himmel mit weißen, segelnden Wolken darübersteht?«
Beide schwiegen ineinander versunken. Angele erwachte zuerst.
»Und wenn die Veilchen vorbei sind, was kommt dann?«
»Dann kommt der Frühling. Der große Paradefrühling. Den kleinen, den illegitimen Frühling sozusagen, haben wir ja schon jetzt.« Er schwieg und lächelte unwillkürlich.
Angele sah ihn an und lächelte ebenfalls. »Den illegitimen Frühling haben wir schon jetzt«, wiederholte sie mit einem merkwürdig verschleierten Ton. »Und dann? Was kommt?«
»Ja, dann ...?!«
Angele warf den Kopf zurück. Ihr Haar flatterte. »Dann kommt das Ende, mein Freund!« Sie stockte plötzlich, als erschrecke sie vor ihren eigenen Worten.
»Wie sonderbar du sprichst, Angele!« entgegnete Lewerenz mit beklommenem Ton.
Beide schwiegen wieder. Es war nicht mehr davon die Rede.
»Was macht eigentlich dein studentischer Freund?« fragte Lewerenz nach einer Weile. »Man hört nichts mehr von ihm.«
»Freund ist eigentlich zuviel«, meinte Angele, vor sich hinsinnend. »Wir sind gute Kameraden. Das ist alles. Hast du etwas dagegen, Liebster?«
»Gewiß nicht.«
Angele zögerte. Dann sagte sie: »Ich habe ihn in den letzten Tagen nicht gesehen. Er ist nach Hause gefahren. Er hat ein kleines Kapital, über das er erst verfügen kann, wenn er volljährig wird. Jetzt ist es soweit.«
Lewerenz blickte sie verwundert an. »Du sagtest doch, er sei erst achtzehn.«
»Ach, das war doch nur ein Scherz. Er ist einundzwanzig. Ein Jahr älter als ich.«
»So, so!«
»Er macht im Sommer sein Philologenexamen. Aber er will nicht in Deutschland bleiben. Er sagt, es sei keine Luft für ihn. Ich kann ihm das nachfühlen. Ich möchte auch weg, wenn ich könnte.«
»Wohin?«
»Irgendwohin, wo man frei sein kann. Wo man das sein kann, wozu man geboren ist. Hier erstickt man ja!«
»Und wo ist das Land? Ich war doch schon weit herum in der Welt. Ich habe es nicht gefunden.«
»Dann muß man es suchen. Einmal findet man es vielleicht.«
»Wollen wir es zusammen suchen gehen, Angelina, schönes Mädchen?«
Angele hatte ein melancholisches Lächeln. »Ach, mein Gott, Waldemar! Mir scheint, du sprachst schon einmal so ähnlich. Auf dem Fest. Erinnerst du dich? Damals konnte ich vielleicht noch dran glauben. Heute weiß ich, daß der Herr Geheimrat Lewerenz und Angele Moradelli das Land niemals miteinander finden werden, das sie suchen.«
»Und warum nicht, Angele?«
»Weil jeder von uns ein anderes Land sucht. Darum kann es niemals gelingen. Vielleicht liegt es auch wirklich nur in unserer Phantasie. Aber es ist schön, davon zu träumen.«
»Vielleicht liegt es jenseits unseres Sterns?«
Sie neigte den Kopf. »Auch das wäre schön. Aber siehst du, Geliebter, auch daran vermag ich nicht zu glauben. Begreifst du jetzt, daß unsere Wege wohl einmal ein paar glückliche, überglückliche Wochen oder Monate nebeneinander herlaufen können, aber dann doch wieder auseinander müssen, für immer, wie zwei Weltkörper, deren Bahnen sich nahe kommen, vielleicht allzu nahe, mit der Gefahr, daß sie ineinanderstürzen und sich gegenseitig vernichten ... Aber es kommt nur zu einem wundervollen, unausdenkbar beglückenden Aufleuchten am Firmament, und alles ist wie verzaubert: dann trennen sich ihre Bahnen, und niemals begegnen sie sich wieder.«
Um ihre klare Stirn war ein Glanz des Schauens, wie er ihn noch nie an ihr gesehen hatte. Er liebte sie in diesem Augenblick leidenschaftlicher als je und begriff nicht, wie er leben sollte, wenn sie nicht mehr bei ihm sein würde. Aber er wußte, daß es so war, wie sie sagte. Jeder von ihnen mußte nach seinem Gesetz handeln. Es hieß: Entsage!
»Was für astronomische Kenntnisse!« bemerkte er halb scherzend und strich ihr leise über das braune Haar.
»Ja, du wunderst dich, Geliebter«, sagte sie nachdenklich. »Aber mein Freund oder guter Kamerad, Herr Geigenberger, beschäftigt sich neben seinem Brotstudium viel mit Astronomie. Davon habe ich etwas profitiert.«
Lewerenz war es schwer ums Herz. »Dann darf ich mich wenigstens rühmen,« sagte er, »dir die Anfangsgründe dieser schönen Disziplin beigebracht zu haben. Weißt du noch, unser weißer Stern auf der Sendlinger Höhe?«
»Und nachher der blaue«, erwiderte sie und nickte. »Der war wohl noch schöner.«
Es war Zeit für Angele, zu gehen. Aber sie zögerte noch.
»Hast du noch etwas auf dem Herzen?« fragte Lewerenz und suchte wieder zu scherzen, so schwer es ihm wurde.
Angele kämpfte mit sich. »Als ich vorhin zu dir kam,« sagte sie schließlich, »begegnete ich Cederholm vor deinem Hause. Ich weiß nicht, was er wollte. Er strich so herum.«
»Sprach er dich an?«
»Nein. Vielleicht hatte er es vor. Aber dann zog er nur höchst feierlich seinen Melonenhut und machte eine so vollendete Verbeugung vor mir, wie nur er es kann. Dabei hatte er seine berühmten schwarzen Handschuhe an und sah aus wie jemand, der gerade von der Leich kommt. Es ist dumm. Aber ich hab Angst. Ich weiß selbst net, warum. Möchtest du mich nicht hinunterbegleiten?«
Lewerenz nahm seinen Hut und geleitete sie auf die Straße hinunter. Aber von Cederholm war nichts mehr zu sehen.
*
Angeles Besuch hatte Lewerenz in einer weichen, merkwürdig gelösten Stimmung zurückgelassen. War es Trauer? Sehnsucht? Resignation? Er wußte sich selbst keine Rechenschaft darüber zu geben. Wie kommt es, fragte er sich, daß wir manchmal in der tiefsten Bitternis zugleich eine unendliche Süßigkeit empfinden? In der Vorahnung eines kommenden Schmerzes kann zuweilen etwas ebenso Beglückendes liegen wie im Nachgeschmack eines gehabten. Ich weiß, weiß nicht erst seit heute, daß der Tag kommen wird, vielleicht gar nicht mehr fern ist, wo Angele von mir gehen wird. Ich bin traurig darüber. Traurig bis auf den Grund meiner Seele. Und zugleich genieße ich diese Trauer, als ob sie gar nicht meine eigene wäre. Als ob ich sie von einem anderen auf der Bühne erlebte oder als mein eigener Zuschauer unten im Parkett davorsäße. Was ist das mit uns? Wandeln wir nicht unser Leben lang zwischen Vernunft und Wahnsinn, wie jemand auf der Dachrinne, immer dicht daran, ins Bodenlose zu stürzen?
Er hatte in dieser merkwürdig zerklüfteten Stimmung noch mehrere Stunden an seiner Komödie gearbeitet und machte sich dann auf den Weg zu Lindlar, dessen Wohnung am Rande des Englischen Gartens in Alt-Schwabing lag. Es dämmerte erst, war also noch zu früh für den Besuch. Lewerenz überschritt die Bachbrücke und betrat den Park. Ein weicher, halb verdeckter Spätmärztag ging zur Neige. Die noch kahlen Kastanien und Birken des Englischen Gartens standen regungslos in einem fahlen, graublauen Dunst. Die Sonne war tagsüber hinter einer dünnen Wolkendecke geblieben. Jetzt färbte der Widerschein des verborgenen Sonnenuntergangs den grauen Vorfrühlingshimmel mit einem bleichen Ziegelrot. Es war die Liederstunde der Amseln, deren dunkle Sehnsucht in den Dämmerungen zu erwachen scheint. Die schwarzen Tierchen hüpften vor Lewerenz' Füßen über den Weg, trippelten ein Weilchen, Brosamen erwartend, neben ihm her, schwangen sich plötzlich auf den nächsten Baumast und trillerten ihm ein paar Akkorde aus ihrem Liederschatz zu. Lewerenz hatte die schwarzgeschwänzten Sänger von Jugend an geliebt. Sie waren ihm gleichbedeutend mit Frühlingsahnen und steigendem Licht. Heute empfand er noch etwas anderes in ihren schluchzenden Trillern: die ewige Trauer des Vergehens, die von allem Knospen, Sprießen und Werden untrennbar ist.
Lindlar hatte eine im Alt-Biedermeiergeschmack ausgestattete Wohnung inne, deren Fenster über den dicht zu Füßen rauschenden Schwabinger Bach auf eine mit Kastanien bestandene Wiese des Englischen Gartens schauten. Selbst wenn die Fenster geschlossen waren, hörte man das unermüdliche Zischeln und Gurgeln des in raschem Gefälle dahinschießenden Wassers. Lewerenz, dem die Beobachtung neu war, lauschte mitten im Gespräch mehrmals auf dieses nicht enden wollende Gemurmel und Getuschel. Es klang wie das unablässige Poltern und Rumoren unterirdischer Kräfte, in denen sich das geheime Zerstörungswerk der Natur offenbarte. Vergänglichkeit! Vergänglichkeit! rief ihm jede dieser Wellen zu.
»Können Sie eigentlich hier schlafen, mit dem ewigen Bachrauschen im Ohr?« fragte er den Polizeirat.
»Oh, ich höre es gar nicht mehr«, erwiderte Lindlar. »Ich wohne schon über zwanzig Jahre hier. Ich war einer der ersten, die nach Schwabing hinauszogen, als es gerade anfing, sich zu entwickeln. Als es noch fast ein Dorf war. Hier in dieser Gegend ist ja noch manches davon geblieben. Aber vieles schöne Alte ist dieser herrlichen neuen Zeit und ihrer Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Die meisten alten Gärten und Parkanlagen sind abgeholzt worden, um Bauplätze daraus zu machen. Man möchte mit Keulen auf diese Vandalen dreinschlagen! Aber ich gebe es auf. Ich habe es satt. Man kann nicht sein Leben lang gegen den Strom schwimmen. Niemand vermag das. Einmal wird man eben müde und läßt die Arme sinken. Dann ist die Geschichte aus. Hoffentlich fängt sie nicht wieder von vorn an. Die Theosophen behaupten das ja. Es wäre fürchterlich. Aber sie bestehen ja auf ihrem Schein. Man muß es fast glauben.«
»Sie sprechen, als ob Sie die Sitzungen bei Anna Eichwald mitgemacht hätten, mein lieber Polizeirat«, meinte Lewerenz lächelnd.
»Habe ich auch!« rief Lindlar. »Aber ich gehe nicht mehr hin. Ich werde niemals mehr hingehen.« Er schwieg, wiederholte dann halblaut vor sich hin: »Nein, ich werde niemals mehr hingehen.«
Er hatte etwas in seinem Ton, das Lewerenz auffiel. Aber er mochte nicht fragen, wenn dem anderen sich nicht von selbst die Zunge lösen würde. Die beiden Männer saßen sich in den bequemen altmodischen Armsesseln an dem ovalen Mahagonitisch gegenüber. Die unsichtbare Deckenbeleuchtung spendete ein mattes, ungewisses Licht. Leuchter mit brennenden Wachskerzen standen auf dem Tisch, auf der Kredenz und in den Nischen da und dort herum. Alte Bilder bedeckten die Wände. Es waren Familienporträte und Landschaften der Münchener Biedermeierschule, des Münchener »Paysage intime« von Dillis, Wagenbauer und anderen.
Der Polizeirat bemerkte den forschenden Blick des anderen zu den Wänden hin. »Ja, ich lebe hier in meiner Welt vor hundert Jahren. In meinem Amt in der Polizei erfahre ich ja genug von der Welt von heute. Es ist eine unsagbare Kloake. Der Unrat des ganzen Zeitalters wird Tag um Tag bei mir hindurchgeschwemmt. Und man darf sich nicht mal die Nase zuhalten. Ich habe sie von Berufs wegen sogar tief hineinzustecken. Dann suche ich am Abend hier unter meinen Büchern, meinen Bildern, hier in der Welt der Urgroßväter meine Erholung. Meine Feinde – und ich habe gerade genug davon, wie jeder, der heute etwas Rückgrat zeigt – nennen mich deshalb einen Erzreaktionär. Ich finde mich damit ab. Wir müssen uns ja alle abfinden, solange es geht. Und wenn es nicht mehr geht, dann Schluß.«
Er hielt inne und reichte Lewerenz einen gotischen Folioband hinüber. »Sehen Sie, ich habe hier einen Augustinus. Eine der ältesten Ausgaben, die es gibt. Von 1480. Diese alten Drucker haben schon gewußt, was sie druckten. Sie waren von Anfang an auf das Wesentliche aus. Heute wird umgekehrt nur das Unwesentliche gedruckt. Und wenn einmal etwas Wesentliches herauskommt, dann geht es in diesem Meer von Unbedeutendheit unter. Der Mann da war wesentlich. Er hat sich von unten nach oben hinaufgelebt. Er hat in allen Gossen gelegen und hat schließlich die Sterne erklommen. Aber dazu gehört eine Kraft und Überwindung durch den Glauben, die eben uns Alltagsmenschen fehlt. Darum müssen wir zurück in den Mörser, wie Ibsen sagt, und müssen uns von neuem aufmischen lassen. Aber nach dem, was man in dem Zirkel bei Anna Eichwald zu sehen und zu hören bekommt, schaut uns auch aus dem Jenseits fast das gleiche Gesicht an wie aus dem Diesseits. Wohin soll man sich also flüchten? Sagen Sie mir das!«
Lewerenz schüttelte den Kopf. »Offen heraus, lieber Polizeirat: man sollte sich überhaupt nicht flüchten. Man sollte auf dem Platz aushalten, auf den man gestellt ist. Muß man das einem alten Soldaten, einem alten Seemann, der Sie doch sind, erst sagen?«
Lewerenz hatte einen möglichst gleichgültigen, uninteressierten Ton angeschlagen. Er wußte aus Erfahrung bei sich und bei anderen, daß in solchen Intervallen, wo die Nerven uns zu verlassen drohen, nicht Wehleidigkeit, sondern Härte das beste Rezept ist.
Lindlar schien ihn zu verstehen. In seinem geflickten, zerknitterten Gesicht lichterte es merkwürdig, während sein eines totes Auge hinter dem schwarzen Glas unbeweglich zu Lewerenz hinüberstarrte.
»Ich danke Ihnen«, sagte er und streckte seine Hand zu Lewerenz hinüber. »Es war gut, daß Sie mich daran erinnern. Wer so zusammengeschossen und verkrüppelt ist wie ich, braucht es, daß man ihn dann und wann mal zur Ordnung ruft.« Er schwieg, als ob er mit sich kämpfe. Dann fuhr er fort, seine Stimme senkend, fast flüsternd: »Ich habe Augenblicke, wo ich es einfach nicht mehr ertrage. Wo ich hinausbrüllen möchte vor Jammer. Dann denke ich mir: warum hättest du nicht auch unabkömmlich sein können wie so manche von deinen Herren Kollegen?! Du hättest doch deine geraden, gesunden Gliedmaßen, brauchtest dich von den Frauen nicht bemitleiden oder belächeln zu lassen. Und an Respekt bei diesem Schiebergeschlecht von heute würde es dir auch nicht fehlen. Ganz im Gegenteil! Wir gelten ja heute als die Dummen. Also warum mußtest du damals hinausgehen? Geben Sie mir eine Antwort! Geben Sie mir eine Antwort!«
Er ballte die Fäuste. Ein Krampf schien ihn zu schütteln.
Lewerenz beugte sich zu ihm hinüber und streckte seine Hand zu ihm hin. »Würden Sie es heute vor sich selbst ertragen, nicht hinausgegangen zu sein? Nicht Ihre Pflicht getan zu haben? Hätten Sie dann nicht schon längst das ausgeführt, was Sie in diesem Augenblick vorhaben? Und was Sie nicht ausführen werden, solange noch ein Atemzug in mir ist, um es verhindern zu können. Brauche ich Ihnen mehr zu sagen? Ich glaube, wir verstehen uns.«
Wieder war das tote Auge starr auf Lewerenz geheftet. Die Wachskerzen warfen ihren Flackerschein auf das aschfahle Gesicht des Verstümmelten. In seiner Brust arbeitete es. Plötzlich stand er auf, ging zu seinem Schreibtisch hinüber, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus.
»Hier haben Sie ihn!« sagte er. »Es sollte heute nacht geschehen. Deshalb habe ich Sie zu mir gebeten. Einen Menschen brauchte auch ich vorher ... Und jetzt sprechen wir nicht mehr davon!«
Er hatte seinen Browning auf den Tisch geworfen. Lewerenz nahm ihn auf und wog ihn flüchtig in der Hand. Die Kammer schien voll geladen zu sein. Er steckte die Waffe in die Tasche und fühlte, daß ihm der Schweiß von der Stirn lief. Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer. Nur die Bachwellen rischelten und tuschelten draußen ihr rastloses Lied. Als Lewerenz nach einer Weile aufsah, stand eine verstaubte Flasche 1911er Pfälzers auf dem Tisch.
»Es sollte unsere Abschiedsflasche werden«, sagte Lindlar. »Deidesheimer Achtmorgen-Spätlese, bestes Fuder. Jetzt mag sie das neue Leben einleiten. Ist es Ihnen recht, Lewerenz, wenn wir das erste Glas auf unsere Freundschaft trinken und sie mit du und du besiegeln?«
Lewerenz nickte nur stumm. Beide Männer standen auf, erhoben ihre Gläser, tranken sie leer und küßten sich. Dann setzten sie sich wieder auf ihre Plätze und schwiegen von neuem. Die unerträgliche Spannung der letzten halben Stunde schien erst langsam abklingen zu müssen. Zwischen Urgroßvaters Hausrat schwebte aus den neugefüllten Römern ein leises Rüchlein von Sommerwiesen und würzigen Kräutern.
Nach einem Weilchen sah Lewerenz auf und lächelte. »Also wie war es mit meinen beiden Lieblingen? Mit dem argentinischen Trilliardär und dem amerikanischen Rauhreiter? Ich wende mich an die zuständige Stelle. Laßt Schwänke an die Reihe kommen! Erzähle, mein Freund!«
Und Lindlar erzählte: »Ja, die Hereingefallenen sind diesmal wir. Bis auf weiteres, versteht sich. Das edle Gaunerpaar ist wie weggeblasen vom Erdboden. Bis London haben wir ihre Spur verfolgen können. Wahrscheinlich sind sie dort untergetaucht. Zu Schiff zu gehen, können sie vorläufig nicht wagen. Die Hafenbehörden sind überall benachrichtigt. Über den Kanal wird es gerade noch gelangt haben.«
Er lachte kurz auf, streckte sich in seinem Armsessel aus und blies den Rauch seiner Zigarette zur Decke.
»Ich hatte es ja kommen sehen. Aber es fehlte an jeder gesetzlichen Handhabe, den Brüdern das Handwerk zu legen. Die eigentlich Leidtragende ist ja die Argentinische Nationalbank. Nach den gesetzlichen Bestimmungen haftet sie der Hamburger Bank. Na, sie kann es aushalten.«
Lewerenz schüttelte den Kopf. »Der Kreditbrief des Herrn Carlos Müller war also wirklich und wahrhaftig eine Fälschung?«
»Was denn sonst? Sogar die geschickteste, die die Kriminalistik bisher zu verzeichnen weiß. Carlos Müller, oder wie der Kerl heißen mag, ist der größte Künstler in seinem Fach, den die Welt bisher sah. Man muß den Hut vor ihm ziehen. Jetzt wissen wir auch, warum er Tag und Nacht bei verschlossenen Türen in seinem Pensionszimmer saß. Er hat sicher auf Vorrat gearbeitet. Wer weiß, was noch für andere Fälschungen ans Licht kommen werden! Warten wir erst einmal ab! Der Mann hätte als Graveur und Lithograph auch auf ehrliche Weise sein Glück machen können. Er zog die mühevollere Methode vor. Man sieht, Diebeshandwerk hat goldenen Boden. Heutzutage erst recht.«
Er lachte wieder und spann sich in den Rauch seiner Zigarette ein.
Lewerenz beugte sich fragend über den Tisch. »Ich verstehe nur nicht: der Kreditbrief ist doch von Buenos Aires nach Hamburg gekommen. Er muß also doch schon dort gefälscht worden sein?«
»Gewiß war er das. Unser genialer Freund hat an Ort und Stelle nach einem Originalkreditbrief der Nationalbank in Buenos Aires gearbeitet. Um das bewerkstelligen zu können, mußte er sich zunächst einmal in den Besitz des in der Bank verwendeten Papiers mit dem richtigen Wasserzeichen setzen. Daß ihm oder seinen Helfern der Diebstahl gelang und Wochen, ja Monate unentdeckt bleiben konnte, war sein Vorsprung bei dem Rennen. Ich hatte ja mit der Möglichkeit eines solchen Diebstahls gerechnet. Womit ich aber als deutscher Ordnungsmensch nicht rechnete, war die exotische Schlamperei. Ein ganzer Ballen Stempelbogen wird aus dem Gewahrsam der Bank gestohlen, und niemand merkt es. Als ich vor sechs Wochen auf meiner Ferienreise den Abstecher nach London machte, zog ich ja dort Erkundigungen ein. Ebenso vorher in Hamburg. Aber es war nichts von einem derartigen Vorfall aus Buenos Aires gemeldet. Daher denn der Vorsprung, den die Gauner hatten und den wir nicht mehr einholen konnten.«
»Und Gordon C. Butler, der pistolenabfeuernde, lassoschwingende Oberst aus Wyoming oder Ottawa?« warf Lewerenz lächelnd ein.
Lindlar schlürfte kostend an seinem Römer. »Carlos Müller war unzweifelhaft das Gehirn des Unternehmens. Butler sein Arm. Er sollte durch sein forsches Draufgängertum jeden Verdacht von den beiden ablenken. Psychologisch ganz richtig kalkuliert. Falsch war nur, daß sie nicht zusammen eintrafen, jeder für sich kam. Eben das machte mich stutzig. Es war allzu fein ausgesonnen. Es ist eine alte Erfahrung bei solchen Gaunern, daß sie ihren Plan überspitzen. Daran zerbricht er meistens.«
Lewerenz erhob sein Glas. »Aber diesmal ist er gelungen, und ich trinke darauf. Denn er hat mir zu einem sehr hübschen Komödienstoff verholfen. Mit der Argentinischen Nationalbank habe ich weiter kein Mitleid.«
»Ich auch nur von Amts wegen«, bemerkte der Polizeirat. »Als Mensch, als Ethiker, wenn du willst, stehe ich diesem ganzen Großkapitalismus, sagen wir es deutsch: der Herrschaft des Geldsacks ablehnend gegenüber.«
»Du als Mann von rechts?«
»Gerade als solcher! Was haben wir Landwirtssöhne mit oder ohne ›von‹ denn mit dem Großkapital zu schaffen? Es gibt nur noch eine Aufgabe für mich in der Welt, wie ich glaube ...«
»Und die ist?«
»Deutschland muß von diesem Schieber- und Spekulantentum, von diesem ganzen Geschmeiß gesäubert werden. Die Schweinerei stinkt zum Himmel. Erst wenn wir das fertigbringen, und es kann Jahre dauern, werden wir so weit sein, daß wir auch dem äußeren Feind die Stirn bieten können. Hier liegt meine Aufgabe, wenn ich überhaupt noch eine habe.«
Lewerenz schwieg ein paar Augenblicke. Dann sagte er wie beiläufig über den Rand seines Glases hin: »Und Frau Lätizia?«
Lindlar legte die Hand über die Augen und starrte eine Weile schweigend vor sich hin. Dann sagte er: »Ich habe den Frauen für immer abgesagt. Lätizia Kramer ist die letzte gewesen, die in meinem Leben eine Rolle gespielt hat. Begreifst du jetzt, wie ich zu dem da kommen mußte, was du vorhin in die Tasche gesteckt hast?«
»Du ertrugst das Vakuum nicht, das in deiner Seele entstanden war. Ist es nicht so?«
»Du hast es richtig bezeichnet. Ich ertrug das Vakuum nicht. Menschen wie ich, die gewohnt gewesen sind, immer etwas im Herzen zu hegen, ertragen nun einmal den Leerlauf nicht.«
»Aber jetzt hast du Ersatz gefunden?«
Lindlar erhob seinen Kopf und blickte Lewerenz mit seinem gesunden Auge fest an. »Nennen wir ihn Deutschland«, sagte er. »Oder einfach unser Volk.«
*
Zu Beginn der Karwoche schrieb Lewerenz die Schlußszene seiner Komödie nieder. Die letzten Bogen hatten sich in fliegender Hast gefüllt. Wenn er auf diese vier, fünf Wochen seit Beginn der Niederschrift zurücksah, so kamen sie ihm wie der Traum eines Augenblicks vor. Er hatte währenddessen in einem Zustand des Fiebers, der Entrücktheit, des Rausches gelebt, der ihn die Dinge der Welt wie durch eine ihn umgebende farbige Glasglocke erblicken ließ. Es war alles sehr bunt, sehr unwirklich, mit den zarten, duftigen Linien eines Märchens. Auch das schwarzbraune Mädchen mit den Veilchenaugen und der oft verdüsterten Stirn, das Angele Moradelli hieß, gehörte mit in diesen Traum oder in dieses Märchen. Er wußte, daß sie sein war – noch die seine war! –, und hatte doch oft, wenn sie nicht bei ihm weilte, Mühe, es sich vorzustellen. Wo fing die Wirklichkeit an? Wo hörte der Traum auf? Wir erleben es manchmal im Halbschlaf, im Traumwachen, daß wir nicht unterscheiden können, keine Grenzlinie sehen. So auch Lewerenz in diesen Tagen, diesen Wochen, da die holden Gaukelbilder des Schaffens und der Liebe ihn im Reigen umschwärmten.
»Diese Woche wollen wir beide ganz nur uns allein gehören, Waldemar«, sagte Angele an jenem Abend zu ihm. »Du hast deine Arbeit beendigt ...«
»Meine göttliche Komödie!«
»Wer weiß! Vielleicht macht sie dich berühmt.«
»Sonderbar, Angele! Jetzt, wo sie fertig ist, sagt sie mir nichts mehr.«
»Vielleicht sagt sie den anderen um so mehr. Wann kann ich sie lesen? Oder du liest sie mir vor! Ich habe mir freigeben lassen bis Ostern.«
»Hast du wirklich einmal Zeit für mich?«
»Soviel du willst, diese Woche.«
»Die Santa Settimana nennt man sie in Rom. Die heilige Woche.«
»Also fahren wir nach Rom! Oder nach Sevilla! Oder pilgern wir auf den Nockherberg! Aber nein! Die Quelle ist ja versiegt. Vielleicht aber finden wir doch noch ein Plätzchen in der inneren Stadt, wo man Salvator bekommt und ganz eng beieinander sitzt, wie ein richtiges Liebespaar. Und was die ehrsamen Bürgersleut sind, die schauen uns halb komisch, halb verdächtig von der Seite an. Und das Blumenmädchen, das achtzigjährige, kommt gleich herangehüpft und bietet uns ein Veilchensträußchen an, und du kaufst mir auch wirklich eins, wie es sich für einen echten Kavalier aus der Vorstadt geziemt. Und kurz und gut, es wird grüabi!«
Angele lachte und drehte sich ein paarmal um ihre Achse und war ausgelassen wie nie. Lewerenz erkannte sie gar nicht wieder.
»Es muß auch für uns eine heilige Woche werden«, meinte sie, ernster werdend. »Wenn auch in einem anderen Sinne. Wir wollen sie so miteinander verleben, daß wir sie niemals vergessen können. Auch wenn uns Länder und Meere trennen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, Angele, daß das einmal sein soll. Ich will es mir nicht vorstellen. Sprich nicht davon, wenn du mich lieb hast!«
Angele sah ihn mit einem langen Blick an. »Wann kommt deine Frau?« fragte sie.
»Du weißt es? Woher weißt du es?«
»Verzeih, Bester! ... Neulich in deinem Zimmer ... ein Brief von ihr ... er lag offen da ... du hattest ihn liegen gelassen ... Es sah fast aus, als hättest du's absichtlich getan.«
»Angele ...!«
»Na ja! Um es mir net sagen zu müssen. Da hab ich ihn gelesen. Gell, du bist mir net bös? Erfahren mußt' ich's ja doch einmal. Du bist ein lieber Kerl. Du hast mir die Prozedur möglichst schmerzlos machen wollen. Wann kommt sie? Steht der Termin schon fest?«
»Ostersonntag. Nach ihrem letzten Brief.«
»Fünf Tage noch. Gell? Also komm, Liebster! Daß sie uns unvergeßlich bleiben.«
Am anderen Tage, als sie sich verabredetermaßen in der inneren Stadt trafen, um irgend etwas zu unternehmen, bemerkte Lewerenz:
»Hast du eigentlich wieder mal was von Cederholm gehört, Angele?«
Angele schüttelte den Kopf. Ihre Stirn umwölkte sich.
»Merkwürdig, Liebster! Ich hab dich gerade das gleiche fragen wollen. Weißt du auch, daß ich ein unheimliches Gefühl hab?«
Lewerenz machte eine abwehrende Bewegung. »Im Gegenteil, Schatz! Es scheint mir der Beweis zu sein, daß er sein Spiel bei uns beiden aufgibt. Einmal ist eben auch er mit seinem Latein zu Ende. Vielmehr mit seiner Psychochemie. Mit dieser allermodernsten Schwarzkunst, womit er die großen Kinder von heute ins Bett jagt. An Gott oder meinetwegen auch an den Teufel glauben sie nicht. Aber an Cederholm glauben sie. Und an sein großes Hexeneinmaleins.«
Angele lächelte flüchtig. »Ich hab ja auch einmal an ihn geglaubt, Liebster. Aber du tust mir nicht weh damit. Dir verdanke ich ja, daß ich freigeworden bin von ihm. Und doch! Bin ich es wirklich so ganz? Manchmal des Abends, wenn ich allein bin, du bist nicht bei mir, dann frag ich mich das. Und dann hab ich doch wieder Furcht vor ihm. Glaube mir, er unternimmt noch was. Ich kenn ihn zu gut. Aber ehe er sich noch einmal in mein Leben einmischt ...« Sie stockte und schwieg.
Lewerenz sah, wie sie an ihrer Unterlippe biß. »Nun? Was geschieht dann?«
Angele hatte die Augen niedergeschlagen und starrte vor sich hin. Sie war sehr bleich. »Dann schieße ich ihn nieder!« sagte sie mit fester Stimme.
»Angele!« rief Lewerenz. »Und eben hattest du noch Furcht vor ihm?«
»Eben darum«, erwiderte sie. »Diese Furcht bringt mich noch um. Darum muß es ein Ende haben. So oder so.«
Sie befanden sich auf dem Wege zur Alten Pinakothek. Angele hatte sich gewünscht, sie an Lewerenz' Seite zu durchwandern. Sie pflegte sie öfters an Sonntagen zu besuchen und kannte sie gut. Auch Lewerenz war seit seiner Studentenzeit in diesen Räumen zu Hause. Er hatte auch während kürzerer Aufenthalte in München nie versäumt, hinzugehen. In diesen letzten Monaten war er wieder ein häufiger Gast dort gewesen und hatte an allen Umhängungen, Neuerwerbungen und Leihgaben lebhaften Anteil genommen.
»Weißt du, wie ich meine Besuche hier nenne?« bemerkte Angele, als sie in dem hohen, feierlichen Treppenhause zu den Bildersälen im ersten Stock hinanstiegen. »Ich nenne es meine Sonntagsandacht abhalten. Etwas muß der Mensch doch haben. Ich bin lange nicht in einer Kirche gewesen. Kannst du dir vorstellen, daß ich einmal sehr fromm gewesen bin?«
»Ich kann mir sogar vorstellen, daß du es noch bist. In der Tiefe deines Herzens. Ohne daß du es selbst willst oder weißt.«
Angele sah ihn mit einem zweifelnden Lächeln an. »Vor diesem oder jenem Bild hier kommt es mich wirklich manchmal wie ein Hauch Gottes an. Es ist, als wenn sich Strahlen aus einer anderen Welt auf uns ergössen.«
»Die Ausgießung des Heiligen Geistes«, bemerkte Lewerenz. »Wie hier auf dem Pacher-Altar.«
»Diese gotische Kunst mag sehr schön und sehr innig sein«, meinte Angele. »Aber mir kommt sie doch immer etwas kindlich vor. Dazu bin ich eben doch nicht gläubig genug, trotz deiner guten Meinung von mir, mein Freund. Ich werde vor diesen knienden Heiligen und entrückten Madonnen ein gewisses Unbehagen nicht los. Vielleicht ist es der böse Geist in mir, der sich unbehaglich fühlt.«
Sie sagte es lächelnden Mundes und sah Lewerenz herausfordernd an. Aber er schwieg.
»Gehen wir zum Rembrandt!« rief sie. »Er ist vom Geist unserer Zeit.«
»Und warum nicht zum Rubens?« meinte er lächelnd. »Ist er nicht vom Geist unserer Zeit?«
»Ich finde, nein. Er ist zu erdhaft dafür. Zu fleischlich. Ich kann seine fetten Weiber nicht leiden, die mit den Beinen strampeln und denen man doch ansieht, daß sie sich sehr gern entführen lassen. Es geht mir gegen das Gefühl.«
»Gegen die Selbstherrlichkeit der modernen Frau. Nicht?«
»Kann sein. Wir heutigen Frauen lassen uns vielleicht ebenso gern entführen wie diese Rubensschen Nymphen. Wir benehmen uns nur anders dabei.«
»Und wie denn? Mir scheint, der Unterschied ist nicht gar zu groß.«
»Na, ich muß schon bitten!« rief Angele geärgert. »Wir stellen uns doch net ganz so dumm an.«
Lewerenz faßte lachend ihren Arm und preßte ihn an sich. Er fühlte, wie sie seinen Druck erwiderte.
»Ich glaube,« sagte er mit einem anzüglichen Seiten» blick zu ihr, »wir finden doch noch mal zu Rubens zurück. Das Erdhafte wird wieder Mode werden. Auch Fleisch wird wieder Mode werden. Man wird wieder Busen tragen und alle die anderen schönen Dinge zeigen.«
»Schrecklich!« meinte Angele. »Aber ich fürchte es auch.«
Sie wandelten schweigend durch die Flucht totenstiller Seitenkabinette und standen in stummer Andacht vor dem Selbstporträt des alten Rembrandt, das hier als zeitweilige Leihgabe hing.
»Siehst du wohl,« sagte Angele, als sie nach einer Weile weitergingen, »das war das Gesicht unserer Zeit. Diese gebrochenen, schillernden, rätselhaften Farbentöne. Und dann der Ausdruck in den Augen. Hoffnungslosigkeit. Verzweiflung. Resignation. Erschütternd! Grauenvoll! Ist das nicht unsere Zeit? Sind das nicht wir?«
Als Lewerenz und Angele am Abend dieses Tages ein vielbesuchtes Weinlokal unweit des Maximilianplatzes betraten, sahen sie in einer der abgeteilten Logen Cederholm sitzen. Er war allein, wie gewöhnlich, und hatte einen Haufen Papiere vor sich, in denen er eifrig schrieb. Eine Flasche Burgunder stand vor ihm; er rauchte wieder seine lange Virginiazigarre. Lewerenz und Angele gingen vorüber und grüßten. Cederholm erhob sich und verbeugte sich in seiner feierlich offiziellen Weise. Die beiden nahmen in einer hinteren Nische Platz, die gerade noch frei war. Es war sonst schwer, während der früheren Abendstunden hier Platz zu finden. Alle Welt jubilierte, schmauste, tanzte und trank. Aber vielleicht lag es an der Karwoche, daß es stiller war als gewöhnlich. Auch keine Tanzmusik war zu hören wie sonst.
Angele war unruhig. »Ich wette, daß Cederholm zu uns kommt«, sagte sie. Lewerenz suchte es ihr gegen seine eigene Überzeugung auszureden, aber sie blieb dabei. Sie kenne ihn viel zu gut. Er werde sich das nicht nehmen lassen. Er gab ihr im stillen recht, und so war es denn auch. Als sie gespeist und Lewerenz sich seine Zigarre, Angele sich ihre Zigarette angezündet hatte, stand – im Augenblick doch überraschend – Cederholm vor ihnen. Seine Gesichtsfarbe war auffallend fahl. Er machte einen verwüsteten Eindruck, obwohl seine äußere Erscheinung nichts an der gewohnten Überkorrektheit vermissen ließ.
»Ich störe doch nicht?« sagte er mit einer zähnefletschenden Grimasse und machte eine tiefe Verbeugung vor den beiden.
»Selbst angenommen, es wäre so,« erwiderte Lewerenz, »so würde es dich schwerlich hindern, mein lieber Cederholm, wie ich dich kenne.«
Cederholm stieß eine kurze meckernde Lache aus, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an die Stirnseite des Tisches zwischen Lewerenz und Angele.
»Ich gebe zu,« sagte er, »daß deine Beobachtung von richtiger psychologischer Erkenntnis meines Charakters zeugt. Ich sitze allein, während ihr zu zweien seid. Also warum sollte ich nicht die günstige Gelegenheit wahrnehmen, um eine kleine Ansprache zu finden? Ich weiß, daß man sich mit dir sehr gut unterhält, mein lieber Waldemar. Und mit dir, meine liebe Angele, natürlich noch viel besser.« Er schwieg und sah Lewerenz lauernd an.
Dieser richtete sich ein wenig aus seiner nachlässigen Haltung auf. »Ich darf dich bitten,« sagte er, »bei deiner freundlichen Anbiederung Fräulein Moradelli ganz aus dem Spiel zu lassen. Du siehst, daß dein Verweilen hier am Tisch Fräulein Moradelli nicht besonders sympathisch berührt.«
Cederholms Gesichtsfarbe wurde aschfahl. Seine Miene verzerrte sich.
»Ich werde mich den Teufel darum kümmern,« zischte er mit halblauter Stimme, »ob meine Anwesenheit Fräulein Moradelli sympathisch ist oder nicht. Es bedarf nur einer kleinen psychochemischen Prozedur in meinem Laboratorium, damit sie mir um den Hals fällt, wenn ich es will. Daß ich es noch nicht getan habe, hast du nur meiner Freundschaft für dich zu verdanken, mein lieber Waldemar.«
Lewerenz, der zuerst Mühe gehabt hatte, an sich zu halten, mußte wider Willen über den gespreizten Ton des anderen lachen.
»Und was haben deine psychochemischen Experimente mit mir und mit meiner Beziehung zu Fräulein Moradelli zu tun?« fragte er.
»Sehr viel«, keuchte Cederholm. »Sogar alles. Ich dächte, es dürfte dir selbst am besten bekannt sein, mein lieber Waldemar. Hätte ich nicht die geeignete Emulsion für eure beiden Negative hergestellt, so wärest du nie zu dieser Eroberung gekommen.«
»Wenn dich deine fixen Ideen glücklich machen, du Narr, ich lasse sie dir«, warf Lewerenz mit gleichgültigem Achselzucken ein.
»Fixe Idee!« fuhr Cederholm auf. »Alles, was Säkulargenies im Lauf der Jahrhunderte an Einmaligem und Weltumstürzendem entdeckt und erfunden haben, alles, alles haben ihre Hornochsen von Zeitgenossen fixe Idee genannt.« Er feixte plötzlich und sah Lewerenz an. »Entschuldige!« sagte er. »Ich nehme dich persönlich natürlich aus.«
»Bitte, bitte!« erwiderte Lewerenz lächelnd. »Keine Ursache! Rechne mich nur ruhig dazu! Es ist mir sogar eine Auszeichnung aus deinem Munde.«
Cederholm beugte sich gegen Lewerenz vor. »Dein Hohn soll dir noch vergehen, mein Alter!« gurgelte er. »Du wirst mich vielleicht bald noch einmal anwinseln, daß ich dir wieder zu deiner Muse verhelfe. Sie ist ja schon im Begriff, zu dem langen Ausrufungszeichen hinüberzuwechseln. Und wenn ich es will – vielleicht will ich es –, daß ich dir wieder sympathisch bin, meine liebe Angele« – er hatte sich zu dem stumm dasitzenden Mädchen gewendet –, »so wie ich dir ein Jahr lang sympathisch gewesen bin, so bedarf es nur eines kleinen Experiments von mir, und du bettelst mich vielleicht übermorgen schon an, daß ich dich wieder in Gnaden bei mir aufnehme.«
Lewerenz schlug mit dem Handknöchel auf die Tischplatte.
»Jetzt ist es genug! Bitte, verlasse unseren Tisch!«
Cederholm verzog sein Gesicht zu der gewohnten Grimasse.
»Ob und wann ich deinen Tisch verlasse, entscheide ich selbst. Vorläufig finde ich es noch sehr gemütlich in eurer Gesellschaft.«
Er lachte in sich hinein und zeigte die beiden Reihen seines tadellosen Gebisses.
Lewerenz kreuzte die Arme und lächelte ebenfalls. »Es wird aber vielleicht nicht ohne Einfluß auf deine Entschlüsse sein,« bemerkte er, »wenn ich dir sage, daß ich mich in Japan viel mit Jiu-Jitsu beschäftigt habe.«
Cederholm fuhr unwillkürlich in die Höhe, setzte sich aber sogleich wieder und nahm in geduckter Haltung eine Art von Verteidigungsstellung ein.
»Ah! Du appellierst also an die rohe Gewalt?« rief er halb lauernd, halb triumphierend. »Ich wußte ja, daß für Leute deines Schlages das Faustrecht die Ultima ratio ist. Hältst du es für ein sehr überzeugendes Argument, mein Alter, wenn man jemand eins in die Fresse haut?«
»Manchmal schon«, erwiderte Lewerenz.
»Menschen von einigem geistigen Format sollten über solche rohe Gewaltmittel erhaben sein, mein lieber Waldemar«, sagte Cederholm in einem aufreizend belehrenden Ton.
»So? Und deine berühmten psychochemischen Experimente, gesetzt einmal, daß ich sie ernst nehmen würde, was sind sie denn anderes als rohe Gewaltmittel in geistiger Hinsicht? Unbefugte Einbrüche in den geheiligten Seelenraum anderer? In das Selbstbestimmungsrecht deiner Mitmenschen? ... Also noch einmal und zum letztenmal! Verlasse unseren Tisch! Oder ...«
Cederholm erhob sich und stieß mit dem Absatz seinen Stuhl ein Stück weit von sich. Er zitterte vor Wut. Die Worte kamen stoßweise aus seinem Munde.
»Diesen Augenblick wirst du bereuen! ... Ihr beide! ... Ich will des Teufels sein, wenn ich es euch nicht heimzahle!«
Er entfernte sich einige Schritte vom Tisch, noch immer in geduckter Haltung, als erwarte er hinterrücks einen Überfall von Lewerenz. Als nichts geschah, wandte er sich mit einer plötzlichen Eingebung noch einmal zurück.
»Wenn du deinem geheimrätlichen Pegasus wieder mal ordentlich die Sporen geben willst, mein Alter, laß dir doch von deiner Muse, solange du sie noch hast, etwas von der famosen Landsiedlung bei Ascona erzählen, die sie mit ihrem langstieligen Studenten gründen will. Vielleicht gibt es dir Anregung zu einer neuen Komödie. Ich kann dir auch schon den Titel sagen: Die große Pleite.«
Er machte eine von seinen tieffeierlichen Verbeugungen und verschwand.
Angele hatte während der ganzen Szene geschwiegen. In ihrer Brust war ein Aufruhr von Zorn und Scham. Zwischen ihren Brauen stand eine drohende Wolke. Sie legte über den Tisch weg ihre Hand auf die Hand von Lewerenz, der stumm vor sich hinsah.
»Ich wußte ja, daß etwas geschehen würde«, sagte sie. »Und es ist sicher noch nicht das Letzte, was von ihm kommt. Ich bin auf alles gefaßt. Aber er soll es auch sein!«
Lewerenz faßte ihre Hand und hielt sie fest in der seinen.
»Du wirst nichts tun!« sagte er mit einem entschiedenen Ton. »Das versprichst du mir! ... Sein Gift hat er nun mal verspritzt. Daran läßt sich nichts ändern.«
Angele schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Bewegung.
»Ich werde dir alles erklären. Nur nicht heute. Nicht in dieser Stunde. Ich bin nicht dazu imstande. Aber du wirst sehen, es ist äußerlich vielleicht so, wie er sagt, und doch ist alles ganz anders.«
Lewerenz nickte nur wortlos. Es wurde nicht weiter über den Vorfall gesprochen. Allmählich fanden sie ihre Stimmung wieder, und schließlich stießen sie in der Sektlaune auf Cederholms psychochemische Schwarzkunst an, der sie es verdankten, daß ihre Wege sich in der Dunkelheit des Daseins für eine lichte Strecke innigen Geleits gefunden hatten.
»Sind wir zwei nicht wie die Kinder auf der Schaukel?« meinte Angele. »Eben noch tief unten, und jetzt wieder hoch oben?«
»Haben Verliebte es je anders gehalten?« sagte Lewerenz. »Glaubst du, daß es unter der dritten Pharaonendynastie in Ägypten oder zur Hang-Zeit in China, tausend Jahre vor Konfuzius, nicht ebenso gewesen ist?«
Angele senkte den Kopf. Ein Wolkenschatten schien über ihre Stirn zu ziehen.
»Und alles ist zerstoben und verhallt und verklungen,« sagte sie, »wie wenn einer am Waldrand sitzt und ein Lied auf der Schalmei bläst, und dann steht er auf und geht fort, und es ist niemals gewesen.«
Sie ließen auf dem Tisch ihre Hände warm ineinanderruhen und sahen sich lange und fest in die Augen. Jeder wußte, was der andere dachte, das bald sein würde, aber keiner sagte es dem anderen. Das Tiefste blieb ungesprochen. Als sie die schon stiller gewordene Gaststätte verließen und an Cederholms Platz vorübergingen, war er nicht mehr da.
*
Die Tage der »Heiligen Woche«, wie sie nun schon in ihrem Wörterbuch hieß, vergingen Lewerenz und Angele in Geschwindigkeit. Kaum daß der Morgen heraufgezogen war, so schien auch schon der Mittag, der Nachmittag, der Abend da zu sein. Erinnerte es nicht an die Gnadenfrist der zum Tode Verurteilten? Aber es war keine Qual in dieser atemberaubenden Flucht der Stunden, wie sie dem armen Sünder den Hals zuschnürt und kalte Schauer über den Rücken jagt. Es war nur die süße Melancholie des Entschwindens und Vergehens, deren Becher sie schlürfend am Mund hielten und Zug um Zug bis zum Grund leerten.
Dabei hielten sie mit der Genauigkeit eines Fremdenführers auf die Abwicklung des einmal entworfenen Programms. Angele hatte den Wunsch gehabt, noch einmal Seite an Seite mit dem Geliebten auf echt münchnerisch ein Glas Salvator zu trinken. Sie durchstreiften am Tage nach der Begegnung mit Cederholm die winkligen Straßen der Altstadt, atmeten den Geist der Kurfürstenzeit, der hier noch vor allem lebendig zu sein schien – diese merkwürdig zusammengesetzte Atmosphäre von Stiftshäusern, Spitalkirchen, Lebzeltergeschäften, Weinbeiseln, Bierwirtschaften –, und entdeckten auch wirklich eine, in der es den schweren, malzigen, süßöligen Stoff noch zu trinken gab. Sie saßen in der überfüllten Wirtschaft Stuhl an Stuhl eng aneinander, mit drei, vier Parteien am gleichen Tisch, tranken aus einem Glas, lachten, benahmen sich, wenn man nach dem Gesicht eines alten Grantlhubers am Tisch urteilen wollte, sogar ein bißchen albern, und kauften einem betagten Mütterchen das unerläßliche Veilchensträußchen ab. Alles genau so, wie Angele es sich gewünscht hatte.
Das Wetter war seit einer Woche kalt und unfreundlich. Es war, als ob die Natur sich schadlos halten wolle für den weichen, milden Winter, den sie in glücklicher Geberlaune gespendet hatte. Regenschauer und Hagelböen fegten über die Hochebene hin und ballten sich an ihrem Südrande zu einem drohenden Wolkengebirge zusammen, hinter dem das wirkliche Gebirge liliputhaft verschwand. In den dunstigen Bierstuben rückten die Menschen dichter zusammen und heizten an Stelle der fehlenden Temperaturgrade wacker mit gutem Stoff nach. Alle Welt schimpfte über das »grausliche Wetter«, und doch war für den Kundigen in dem allen ein Unterton von Stolz auf diese echt münchnerische Eigentümlichkeit zu vernehmen.
Und echt münchnerisch war es auch, daß mitten in dieser Reihe verzweifelter Regentage – von keinem gehofft und erwartet, ja nicht einmal von der Wetterwarte geahnt – ein warmer, strahlender Frühlingstag wie ein Geschenk der Götter vom Himmel herniederstieg. An diesem südlich blauenden Gründonnerstag, der neue Hoffnungen in alle Herzen ergoß, hatten Lewerenz und Angele einen Ausflug ins Isartal unternommen. Sie waren ein Stück weit mit der Straßenbahn hinausgefahren, um dann den Fußweg an der Hochleite nach Grünwald einzuschlagen. Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, ganz nur von der Lust des bloßen Atmens, des reinen Vegetierens hingenommen. Es war warm wie im Mai. Die blendenden Sonnenstrahlen hatten mit einem Schlage die ganze Natur alarmiert. Das Käfervolk kroch, schwirrte, summte aufgeregt durcheinander. Um die Büschel von Schneeglöckchen und Leberblümchen tummelten sich Bienen und Hummeln, die gerade aufgewacht zu sein schienen.
Die beiden Ausflügler hatten an einem schönen Punkt, hart am Steilrand, haltgemacht und ihre Mäntel auf den Boden gebreitet. Die Sonne brannte heiß, der Schweiß rann ihnen von der Stirn, und Angele fand, daß man etwas Rast halten müsse. Außerdem habe sie einen verzehrenden Durst: ob er denn nicht imstande sei, eine schöne, kühle Maß herbeizuzaubern, sie sterbe sonst. Wenn dies auch Lewerenz' Kraft überstieg, so brachte er doch aus seiner Tasche unerwartet zwei Orangen zum Vorschein, die wenigstens das Schlimmste verhüten konnten. Sie schälten sie gemeinsam ab, zerlegten sie in Scheiben, und jeder bekam den ihm gebührenden Anteil, nämlich nach dem Verhältnis von eins zu zwei. Er ziehe wie gewöhnlich den kürzeren, meinte Lewerenz, aber Angele ließ sich das nicht weiter anfechten, sondern verzehrte ihren wohlgemessenen Anteil mit dem besten Gewissen von der Welt. Dann legte sie ihren Kopf auf eine kleine Bodenfalte, die mit sprießendem Gras bedeckt war, und heftete ihre Blicke zu dem tiefblauen Frühlingshimmel empor.
Lewerenz saß halb aufgestützt an ihrer Seite und sah auf das Kiesgeröll des tief eingeschnittenen, mit Wald und Buschwerk bestandenen Flußtals hinab, das an dieser Stelle in einer scharfen S-Krümmung dahinzog. Aus der Tiefe rauschte und gischtete das grüne Bergwasser. Tannen und Fichten kletterten die Schluchten und Talwände hinauf wie ein emporstürmendes Heer von Riesen, dessen Flügelmänner schon den Steilrand erklommen hatten. Aber sie waren nur die Vorhut eines noch gewaltigeren Heeres, denn wohin das Auge blickte, talaufwärts, talabwärts und auf den beiden Steilrändern, war Wald und wieder Wald, Tannen und Fichten, Buchen und Eichen, in blauen Höhenrauch gebettet; zart und blaß, da und dort in mattem Lila getönt, standen darüber die weißen Zacken der Berge, eine unendlich gebrochene, auf und nieder steigende und doch nirgendwo abreißende Linie am Horizont. So standen sie da, in einsamer, noch winterlicher Pracht, fast mehr geahnt als geschaut, und unendliche Sehnsucht schien von ihnen in die Herzen zu ziehen. Berge, Wälder und das hellgrüne Silberband des Flusses, wohin das Auge blickte. Nur gerade gegenüber den beiden Rastenden, auf dem jenseitigen Steilrand, grüßten, wie aus einer Spielzeugschachtel ausgeschüttet, die weißen Häuser von Pullach mit ihren grellroten Dächern und der weißen Nadelspitze des alten Dorfkirchleins inmitten.
»Wenn das da drüben nicht wäre,« bemerkte Lewerenz etwas schläfrig, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen und den geheimen Stimmen der Natur gelauscht hatten, »ja, dann könnte man meinen, es sei noch zur Zeit der Agilolfinger, vor tausend Jahren und länger. Der alte Wald hält hier überall noch Wacht. Und dort drüben jenseits der Waldschneise steht auch noch ihre Burg, akkurat so borstig und klotzig, wie sie es schon damals war. Die Burg der Grafen von Grünwald aus der Agilolfingerzeit. An dem Wald und auch an der Burg hat sich nicht viel geändert seitdem, außer daß man jetzt auf der Terrasse Tee trinkt, manchmal auch Maibowle, und Jazzmusik hört. Aber das ist schließlich nur Beiwerk. Das fällt ab, wenn die Nacht kommt und die Sterne darüber blitzen, blank und kalt und ewig fern, und aus der Tiefe die Isar aufrauscht. Dann ist die Erde und die Natur wieder mit sich allein, der Mensch hat da nicht viel zu suchen.«
»Und doch suchen wir sie«, meinte Angele, gleichfalls ein wenig müde, indem sie ihren Arm um seinen Hals legte und den Kopf an seine Schulter lehnte. »Also warum suchen wir sie, Liebster? Siehst du, du suchst sie ...«
»Suche ich sie?« warf Lewerenz achselzuckend ein. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich kenne mich selbst nicht.«
Angele richtete sich ein wenig auf und sah ihm ins Gesicht.
»Aber ich kenne dich. Jawohl. Du suchst sie. Ich verfolge es, seit ich dich kenne. Du suchst Barkoschin. Du suchst deine heimatliche Erde.«
»Und wenn ich sie habe?«
»Dann wirst du vielleicht wieder München suchen. Oder Berlin. Und alles, was damit zusammenhängt. Auch in der Liebe.«
»Soll das denn immer so weitergehen, Angele? Der ewige Kreislauf? Wie der Mülleresel am einen Ende sich denkt, er möchte schon gern am anderen sein.«
Angele hatte ihren Kopf wieder in das sprießende Junggras gebettet und sah zu der unendlichen Bläue des Firmaments empor. Es war wie ein Abgrund, in dem sie sich versinken fühlte, ohne daß ihr dabei bangte.
»Was willst du, Liebster?« murmelte sie. »Sind wir nicht Zweiseelenmenschen? Du? Ich? Wir Heutigen alle? Und wenn du dich von München nach Barkoschin sehnst, und von Barkoschin wieder nach München, ist es nicht eigentlich das gleiche, als wenn du zwischen deinen zwei Frauen stehst und im Arm der einen dich nach der anderen sehnst und nachher wieder umgekehrt?«
Lewerenz richtete sich halb auf und betrachtete das ruhende, sinnende Mädchen. Ihr Busen hob und senkte sich in einem schönen, sanften Rhythmus. Ihre reine Stirn war entwölkt, wie er es selten an ihr gesehen hatte. Ihre Augen hatten jetzt ganz den zärtlichen Ton des veilchenblauen Himmels, der sich in ihnen spiegelte. Ihr schwarzbraunes Haar floß in Wellen über das junge Gras, auf dem ihr Haupt ruhte.
»Angelina! Einziggeliebte!« rief er mit halberstickter Stimme. »Und was ist mit dir? Stehst du nicht ebenso zwischen zwei Männern, zwischen mir und ihm, wie ich zwischen ihr und dir stehe? Was ist das mit uns? Gehöre ich dir? Gehörst du dem anderen? Oder gehörst du mir?«
»In dieser Stunde nur dir!« stammelte sie leise. »Du bist mein, und ich bin dein! Und das ist für ewig!«
Lewerenz' Blut brannte wie eine einzige Flamme. Er riß sie an sich und küßte sie, daß ihr die Sinne vergehen wollten.
»Es werden gleich Spaziergänger kommen«, jammerte sie leise. Aber da hatte er sie bereits in die Höhe gehoben, und während sie hilflos ihre Arme um seinen Hals schlang, trug er sie tiefer in den Tann.
*
Sabine Lewerenz traf am Dienstag der Osterwoche in München ein. Ihre Ankunft hatte sich um zwei Tage verzögert. Es hatte vor den Feiertagen in Barkoschin noch viel zu tun gegeben. In der inneren wie in der äußeren Wirtschaft. Die äußere war zwar eigentlich das Ressort von Onkel Julius, und Sabine mischte sich nicht gern hinein, wenn man sie nicht ausdrücklich darum anging. Neuerdings geschah das allerdings öfters, wie sie mit einem kleinen Lächeln bemerkte. Der alte Herr schien sie, was Landdinge anbetraf, nun allmählich ganz für voll zu nehmen. Er war übrigens mehrere Wochen bettlägerig gewesen, einer hartnäckigen Grippe wegen, so daß sie ihn in der Wirtschaft hatte vertreten müssen. Jetzt war er wieder einigermaßen auf den Beinen, wenn auch natürlich noch etwas klapprig. Aber er räsonierte bereits wieder kräftig herum und rauchte auch schon wieder sein Pfeifchen. Nur mit den fünf Gläsern Grog täglich ging es noch nicht recht.
Lewerenz hörte ihren Bericht über diese Dinge mit einem zerstreuten Lächeln. Es gab soviel Unausgesprochenes zwischen ihnen, das ihn in diesem Augenblick weit tiefer beschäftigte. Zuweilen schien es ihm, als gehe es ihr ebenso und als stimme sie diesen Plauderton nur an, um ihm und sich selbst darüber hinwegzuhelfen. Er hatte sie morgens an dem Berliner Zuge abgeholt, der wegen des Osterverkehrs überfüllt war. Besonders viele Amerikaner hatten sich in den Abteilen breitgemacht.
»Deutschland im Ausverkauf«, bemerkte Lewerenz. Warum sie nicht wenigstens Schlafwagen genommen habe? Aber Sabine liebte Schlafwagen nicht. Wenigstens nicht, wenn sie allein oder mit Fremden zusammen fuhr.
»Und einen Freund hatte ich ja leider nicht, der mich begleiten konnte«, äußerte sie lächelnd zu Lewerenz, als er sie zu der großen Hotelkarawanserei am Hauptbahnhof geleitete, wo sie logieren wollte.
»Ich hatte dich bestimmt schon vorgestern, zu Ostern, erwartet«, sagte Lewerenz, während sie sich im Frühstückszimmer des Hotels gegenübersaßen.
»Deshalb telegraphierte ich dir ja am Karfreitag«, meinte sie lächelnd und strich sich ihre Buttersemmel. »Kam es dir wirklich so überraschend, mein lieber Waldemar?«
»Doch! Sehr!«
»Ich sagte dir ja schon meine Gründe. Die Wirtschaft. Und Onkel Julius. Und ...« Sie stockte und errötete.
»Nun? Und ...?« drängte er und sah sie forschend an.
Sie errötete noch tiefer unter seinem Blick. »Nun ja! Wenn du es wissen willst! Ich wollte deinen Osterfrieden nicht stören. Oder dein Ostervergnügen. Du warst doch eigentlich nicht auf mein so rasches Kommen vorbereitet.«
»Osterfrieden? Ostervergnügen!« erwiderte er achselzuckend.
Sie schwieg, sah ihn von der Seite an und lächelte ein ganz klein wenig dabei. Dann bemerkte sie wie ablenkend: »Du hast mir übrigens noch gar nichts über mein Aussehen gesagt.«
Lewerenz widersprach lebhaft. Er habe es ihr schon am Zuge gesagt, gleich beim Aussteigen.
»Wie hätte ich denn das vergessen sollen! Es fiel mir doch sofort auf. Aber ich wiederhole es gern. Du bist hübscher als je, meine liebe Sabine!«
Sabine sah in der Tat vorzüglich aus. Der Landwinter schien ihr glänzend bekommen zu sein. Ihre Farben waren frischer als in früheren Jahren. Die mädchenhaften Züge ihres Gesichts, die schlanke Linie ihrer Figur waren noch die gleichen wie früher. Die Zeit schien nichts über sie zu vermögen. Lewerenz' prüfendes und geübtes Auge entdeckte in dem weichen Oval ihres Gesichts nicht die leiseste Spur eines Fältchens, obwohl sie doch beinahe vierundzwanzig Stunden gefahren war. Er verglich im stillen ihr gegenwärtiges Bild mit jenem, das seine Seele von ihrer letzten Begegnung in Barkoschin bewahrte, und fand, daß sie sich eher noch zu ihrem Vorteil verändert hatte. Was ihm besonders auffiel, war eine gewisse Eleganz ihrer äußeren Erscheinung, worauf sie in den letzten Jahren nicht gerade viel Wert gelegt hatte. Sie trug ein kleidsames braunes Schneiderkostüm und einen gleichfarbigen Filzhut, der fast ein bißchen kokett, jedenfalls sehr ansprechend zu ihrem kastanienbraunen Haar stand. Sabine schien mit fraulichem Instinkt seine Gedanken zu erraten.
»Nun?« fragte sie mit einem befriedigten Lächeln. »Wie fällt die Kritik des Herrn Sachverständigen aus? Komme ich dir sehr wie eine Landpomeranze vor? Kannst du dich mit mir in München sehen lassen? Ihr seid ja hier in der Stadt der schönen Frauen und Mädchen sehr streng. Kann ich wenigstens den Vergleich aushalten? Ich möchte dich nicht gern in Verlegenheit bringen vor deinen guten Bekannten. Ich werde sie doch kennenlernen? Alle, alle? Du wirst niemand vor mir verborgen halten? Nein?«
»Ganz wie es deinen Wünschen entspricht«, erwiderte er und lachte leise vor sich hin. »Es gibt nichts, was zu verbergen wäre. Oder dessen ich mich zu schämen hätte. Von wannen kommt dir das, meine liebe Sabine?«
»Ach, nichts!« meinte sie leichthin. »Es war nur so. Es hat weiter nichts auf sich.«
»Jetzt wirst du dich ausruhen«, sagte Lewerenz und erhob sich. »Und mittags essen wir dann zusammen.«
»Ja, wenn du Zeit hast«, entgegnete sie. »Ich habe Verschiedenes mit dir zu besprechen. Vielleicht kann alles noch gut werden für dich.«
»Hoffentlich für uns beide«, erwiderte er.
»Auf mich kommt es weiter nicht an«, erklärte sie kurz.
Lewerenz küßte ihr die Hand und verabschiedete sich. Er wollte einen langen Spaziergang unternehmen, er brauchte einen klaren Kopf für das Kommende.
*
Das wäre also der Stand der Dinge, soweit es Barkoschin betrifft und die Wirtschaft. Ich habe es dir gesagt, wie es ist, mein lieber Mann. Du mußt dich jetzt entscheiden, was du tun willst. Onkel Julius ist alt. Er fühlt es selbst, das gibt zu denken. Und ich bin eine Frau. In dieser schweren Zeit gehört unbedingt ein Mann in die Wirtschaft.«
Mit diesen Worten schloß Sabine ihren Bericht, als sie nachmittags in ihrem Hotelzimmer beim Kaffee saßen. Lewerenz hatte mit ernster Aufmerksamkeit zugehört. Was Sabine sagte, hatte nichts Überraschendes mehr für ihn. Es war alles so, wie er es schon nach ihren Briefen erwartet hatte. Barkoschin bedurfte einer festen Hand. Das Rittergut war das letzte, was von dem einstigen Reichtum der Familie übriggeblieben war. Das Schicksal des Stammhauses in Danzig konnte wohl als besiegelt gelten, obwohl noch kein offener Zusammenbruch vorlag. Aber auf das dort angelegte Barvermögen war nicht mehr zu rechnen, selbst wenn es nicht zum Schlimmsten kam. Benno hatte sich in seinen Spekulationen übernommen. Er war ein armer Mann. Lewerenz konnte sich nicht verhehlen, daß ihm das gleiche Schicksal drohte. Er mußte in die Heimat zurück und selbst das Steuer in die Hand nehmen. Es gab keine andere Wahl mehr für ihn.
»Hab Dank, Sabine, für alles, was du für mich getan hast«, sagte er und drückte ihr warm die Hand. »Ich werde meine Pflicht tun.«
»Ich habe auch nichts anderes von dir erwartet«, erwiderte Sabine und sah ihm in die Augen.
Lewerenz senkte vor ihrem klaren, prüfenden Blick den Kopf.
»Es bleibt ja nichts anderes übrig. Also ist auch kein großes Verdienst dabei. Aber das ist ja wohl noch nicht alles. Du hast doch noch etwas auf dem Herzen?«
»Meinst du?« Sabine lächelte schwach.
»Ich fühle es. Ich weiß es. Also sprich es aus! Wir wollen endlich reinen Tisch machen. Wir wollen dieses ganze Gebirge von Mißverständnissen zwischen uns forträumen, Sabine. Es ist ja beinahe schon unübersteiglich geworden. Daß wir Menschen doch endlich einmal die gleiche Sprache zu reden vermöchten! Wenigstens da, wo es um unser Glück, um unser ganzes kommendes Leben geht. Jeder, jeder, jeder redet seinen kleinen, unbedeutenden, nichtsnutzigen Jargon. Keiner versteht den anderen. Es ist ein Jammer mit uns Menschen!«
Er hatte sich in Hitze gesprochen und holte tief Atem. Dann sagte er ruhiger:
»Entschuldige, Sabine! Es mußte einmal heraus. Drückt es nicht uns beiden die Seele ab? So viele Jahre schon? Also sprich! Sprich! Es wird geschehen, was geschehen kann ... Und was geschehen muß.«
Er hielt inne und sah sie erwartungsvoll an. Würde das Eis dieser vielen Jahre gebrochen werden?
Sabine hielt den Kopf auf die Brust gesenkt.
»Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Waldemar«, sagte sie. »Ich habe lange damit gerungen. Es fällt mir auch nicht leicht, das gebe ich offen zu. Aber es muß wohl sein.«
»Und was ist es, Sabine?«
Eine kleine Pause entstand. Dann sagte sie mit einem entschlossenen Aufatmen:
»Ich will der anderen Platz machen. Ich gebe dich frei.«
»Sabine ...?!«
»Halte es für keine billige Geste. Es ist mein ernster Wille und mein fester Entschluß. Du mußt nach Barkoschin zurück. Darüber sind wir uns klar. Weil sonst alles zugrunde geht. Aber du kannst nicht ohne Frau dort sein.«
»Ich war es doch zwei Jahre hindurch.«
»Darum trieb es dich ja auch fort. Ein Mensch wie du kann nicht ohne Frau sein. Ich bin es nicht mehr für dich. Ich bin es schon viele Jahre nicht mehr, wie du eben sagtest. Ich will keinem von uns beiden die Schuld daran geben. Wir haben uns eben nicht verstanden. Obwohl wir uns doch einmal sehr liebgehabt haben.«
Sie konnte einen Augenblick nicht weiter. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. Aber sie bezwang sich tapfer und biß die Zähne zusammen.
»Sabine! Liebste Frau!« rief Waldemar. »Weine nicht! Es wird ja noch alles gut.«
Sabine schluckte ein paarmal auf wie ein kleines Mädchen, dem seine Puppe zerbrochen ist. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Also nimm sie!« sagte sie. »Geh mit ihr nach Barkoschin! Ihr müßt euch natürlich heiraten. Anders geht es dort nicht. Ich trete zurück.«
Sie schwieg und sah in die Luft.
Auch Waldemar schwieg. Sein Herz war zum Überströmen voll. Aber er fand keine Worte.
Sabine lächelte. »Ich kann ja vielleicht manchmal als Schwiegermama zu euch kommen. Natürlich als gute, nicht als böse. Ich nehme an, daß sie jung ist, die du dir ausgesucht hast.«
Waldemar strich sich die Stirn. »Woher weißt du von ihr, Sabine?« fragte er nach einem Augenblick wie erwachend.
Sabine lächelte wieder, diesmal nicht ohne Überlegenheit.
»O du Kind!« rief sie. »Du großes, großes Kind! Als ob es keine Postverbindung zwischen München und Barkoschin gäbe!«
»Es wurde dir geschrieben?«
»Ja, und von mehr als einer Seite. Du scheinst viele gute Freunde und Freundinnen in München zu haben. Sie sind alle sehr um dein Wohlergehen besorgt. Um meins übrigens auch. Du ahnst gar nicht, wie man mich bemitleidet hat. Der letzte Brief war der hübscheste von allen. Sogar mit einem gräflichen Wappen. Nur die Unterschrift fehlte.«
»Ja. Er kam vor etwa drei Wochen. Was blieb mir da übrig, als mich auf die Bahn zu setzen, so schnell ich nur konnte? Jetzt hast du mich hier. Ich will deinem Glück nicht länger im Wege sein. Deshalb bin ich gekommen.«
Sie lächelte von neuem und sah ihn mit einem offenen Blick an. »Kann ich sie kennenlernen?«
»Willst du sie wirklich sehen?«
»Gewiß! Ich muß doch meine Nachfolgerin kennenlernen ... Erinnerst du dich noch an unser Gespräch damals im November? Wir standen an der Grabstatte des Nikolaus von Werden, deines einstigen Vorgängers in Barkoschin. Erinnerst du dich?«
»Als ob es in dieser Minute geschähe, Sabine!«
»Er brachte eine andere nach Barkoschin mit, aus dem großen Kriege. Sie stammte wohl auch aus diesen Landen hier, aus dem Süden, so meintest du damals.«
»Gewiß, Sabine! Es fiel auch das Wort von der Lagerdirne ...«
Sabine erhob den Kopf. »Ja, ich dachte damals so. Heute denke ich eben anders. Vielleicht habe ich etwas zugelernt in den langen, einsamen Winterabenden in Barkoschin.«
Waldemar war aufgestanden und ging erregt im Zimmer auf und ab. Plötzlich trat er auf Sabine zu.
»Wann willst du sie sehen?«
»Wann du willst. Ich bleibe ja sicher noch einige Tage hier.«
»Sabine! Geliebte Frau!« rief er und wollte sie mit einer stürmischen Gebärde an sich ziehen.
»Bitte, nicht!« sagte sie leise und trat einen Schritt zurück. »Du darfst keine Untreue an der anderen begehen.«
*
Es war nachmittags fünf Uhr am selben Tage. Angele stand im Treppenflur des Hauses an der Kaufinger Straße und sah mit leerem, abwesendem Blick zu der Wohnungstafel empor. Sie wußte ja, daß dort zuoberst, im fünften oder sechsten Stockwerk, Cederholms Name zu lesen stand. Sie war zwar seit ein paar Monaten nicht mehr im Hause gewesen, aber was hätte sich an jener Aufschrift ändern sollen? Und doch wanderten ihre Augen rein gewohnheitsmäßig über das Firmengewimmel der Einwohnertafel bis zu ihrem einstigen Lehrer und Meister hinauf. Das würde ja nun das letzte Mal sein, sagte sie sich. Diesen Weg würde sie niemals im Leben wieder gehen. Noch in dieser Stunde mußte sich ihr und Cederholms Schicksal entscheiden. Als sie an der Frauenkirche vorbeikam, hatte es oben vom Turm fünf geschlagen. Fünf erzene, dröhnende Glockenschläge. Wenn es sechs schlagen würde, war alles vorüber. Sie fühlte nach der Handtasche, ob das, was sie brauchte, noch darin war. Vielleicht hatte sie diese Bewegung auf der langen Strecke von Schwabing hierher ein paar Dutzend Male gemacht. Sie wußte es selbst nicht mehr genau. Sie wußte, wenn sie sich einmal prüfte, seit einigen Stunden überhaupt nicht viel von sich.
Mittags war der Brief von Cederholm gekommen. Er forderte sie auf, ihn zu besuchen. Sie hätte nicht hinzugehen brauchen? Gewiß! Aber es war wie ein Befehl, dem sie sich fügen mußte. Lag es an Cederholms Macht über sie? Lag es an ihrer eigenen Schwäche? Sie kam von diesem Manne nicht los, was auch immer seit ihrem Bruch mit ihm geschehen war. Er beorderte sie in seine Wohnung, und sie gehorchte. Warum hatte sie den Brief nicht in tausend Stückchen zerrissen und in alle Winde flattern lassen? Vielleicht war doch ein Körnchen Wahrheit in Cederholms Erfindung! Lewerenz bestritt es. Er lachte darüber, nannte es moderne Schwarzkunst und Scharlatanerie. Aber was wissen wir, was alles hinter den Dingen steckt? Cederholm glaubte jedenfalls an sich und an seine Magie. Darin lag seine Kraft. Lag seine Macht über die Menschen. Nicht zuletzt über sie selbst. Und eben darum mußte es ein Ende haben. Sie ertrug es nicht länger.
Ja, wenn Lewerenz noch bei ihr gewesen wäre! In seinem Arm hatte sie sich geborgen gefühlt wie ein Kind. Aber das war nun vorbei. Mußte vorbei sein, seit die andere da war: seine Frau, die gekommen war, ihn zu holen. Und Kurt Geigenberger? Der Zufall wollte, daß sie auch ihn gerade jetzt nicht hatte. Vielleicht war es gut so. Ehe er zurück sein würde, mußte alles getan sein. Sie wollte ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und wieder fühlte sie nach dem Täschchen, ob auch alles darin sei. Cederholm mußte fort aus ihrem Leben. Das war alles, was sie in diesem Augenblick wußte ...
Sie ging den langen, schwach erleuchteten Korridor hinunter und stand vor Cederholms Tür. Drinnen war alles still. War er vielleicht nicht zu Hause? Wenn es diesmal umsonst war ... Noch einmal hätte sie diesen Gang nicht tun können. Sie zögerte einen Augenblick. Dann klopfte sie mit fester Hand an die Tür.
»Mach auf! Ich bin es! Angele!« sagte sie.
Drinnen wurden Schritte hörbar. Ein Schlüssel drehte sich mehrmals im Schloß, die beiden Riegel wurden zurückgeschoben. Cederholm stand in der offenen Tür. Sein Gesicht war verzerrt, entstellt. Die Falten um seine Nasenflügel waren noch tiefer als sonst eingegraben. Sie zogen sich bis tief zum Kinn hinunter und unterstrichen die uhuhafte Melancholie dieses Nachtgesichts.
»Komm herein!« sagte er mit einer merkwürdig hohl klingenden Stimme und zog sie mit einem kurzen Griff über die Schwelle. Sie hörte, wie er die Tür hinter ihr verschloß. Ihr fiel auf, daß auch seine Haltung etwas Gebeugtes, Verfallenes hatte. Er schien plötzlich ein alter Mann geworden zu sein. Die beiden standen sich gegenüber und maßen sich mit den Blicken.
»Du wolltest mich sprechen«, sagte Angele. »Hier bin ich. Was willst du von mir? Sage es kurz! Es ist nicht viel Zeit.«
Cederholm atmete schwer. Plötzlich schrie er:
»Dich will ich! Dich ganz allein! Das ist alles, was ich will!«
Er keuchte und wollte eine Bewegung auf sie zu machen. Aber es war etwas in ihrem Blick, das ihn auf seinen Platz bannte.
»Rühre mich nicht an!« sagte sie mit tonloser Stimme. »Du könntest es bereuen!«
Cederholm schlug eine kurze, grelle Lache auf.
»Es scheint, du willst knallen? Es käme auf eins hinaus. Ich frage dich zum letztenmal: Willst du mich?«
Angele stand stumm. Cederholm starrte sie an, als ob er es aus ihr herausreißen wolle. Plötzlich brach es aus ihm hervor:
»Ich habe die Nächte nach dir gebrüllt, Weib! Warum kamst du nicht? Du mußtest es doch hören! Du mußtest es doch fühlen! Mit jedem Experiment schrie ich nach dir! Jetzt antworte! Willst du mich? Ich bin dein Sklave für immer, wenn du mich willst.«
Angele streifte ihn mit einem Seitenblick von oben bis unten. Das war, der Mann, vor dem sie sich gefürchtet hatte! Der sie geknechtet hatte! Jetzt stand er als ein armseliger Schwächling vor ihr da. Dieses Bannes Kraft war aus.
»Nein! Ich will dich nicht!« sagte sie klar und bestimmt. »Ich werde dich nie mehr wollen. Du bist erkannt, Karl Cederholm. Leb wohl!«
Ein Schrei wie der eines wilden Tieres quoll aus Cederholms Brust. Er stürzte in zwei, drei pantherartigen Sprüngen zum Arbeitstisch, wischte die Tiegel, Flaschen und Schüsseln, die dort standen, mit einer einzigen rasenden Bewegung vom Tisch, daß sie alle zugleich auf den Boden schepperten und klirrend zersprangen, und schrie, daß es durch das Laboratorium gellte:
»Mit meiner Erfindung ist es Essig! Zum Satan mit der Psychochemie! Ein Trugbild hat mich genarrt. Ein Phantom aus dem siebenten Höllentrichter. Dafür habe ich mein Leben vertan!«
Er trampelte auf den Scherben am Boden herum, bis alles ein einziger Brei war. Der Schweiß rann ihm von der Stirn.
Angele hatte schweigend das Zerstörungswerk des Rasenden mit angesehen. Sie hatte keine Furcht mehr. Sie stand regungslos inmitten des Tobens da.
»Wie bist du zu deiner Erkenntnis gekommen?« fragte sie, als Cederholm etwas ruhiger geworden zu sein schien.
»Durch dich!« schrie er in einem neuen Anfall der Raserei. »Durch dich! Du warst die Probe auf das Exempel. Entweder es stimmte mit meinen Experimenten, dann wärest du mein gewesen mit Haut und Haar. Dann hättest du mir nachlaufen müssen wie ein Hund. Oder es stimmte nicht.«
»Es stimmte nicht«, wiederholte Angele mit ruhiger Bestimmtheit. »Bedanke dich beim Schicksal dafür. Denn wenn es gestimmt hätte, so wärest du jetzt nicht mehr am Leben, Karl Cederholm. Ja, du hattest recht. Ich hätte dich niedergeknallt wie ein tolles Tier, von dem man die Menschen befreien muß. Davor bist du bewahrt geblieben. Leb wohl!«
Sie ging zur Tür, in der der Schlüssel steckengeblieben war, und schloß sie auf. Dann wandte sie ihren Blick noch einmal zurück. Karl Cederholm stand zusammengeduckt inmitten seines Scherben- und Trümmerhaufens, den Kopf auf die Brust gesenkt. Er sah jetzt ganz wie ein zu Tode verwundeter Uhu aus, der den Schnabel ins Gefieder gesteckt hat, um zu sterben. Kein Ton kam aus seinem Munde. Nur seine dunkelblauen Brillengläser waren starr auf Angele gerichtet, wie mit einem letzten Versuch, die Freigewordene an diese Stätte ihrer Lehrzeit und Dienstbarkeit zurückzubannen. Aber es war vorbei.
Angele neigte den Kopf zu einem stummen Gruß. Dann war sie fort. Ihre Schritte verhallten in der Stille des großen Hauses.
*
Angele war pünktlich um elf, wie es ausgemacht worden war, im Hotel. Ihr klopfte etwas das Herz. Aber sie sagte sich, daß ja im Grunde schon alles entschieden sei und es nur darauf ankommen werde, sich selbst und den anderen diese schwere Stunde möglichst leicht zu machen. Viel würde ja auch von seiner Frau dabei abhängen. Sie selbst, wie Waldemar sagte, hatte die Zusammenkunft gewünscht. Ein merkwürdiger Einfall das! Es war keine gewöhnliche Frau, die das tat. Nur kurz mußte es sein. Sonst würde sie es nicht überstehen. Es war zuviel, was seit gestern auf sie eingestürmt war. Gestern Cederholm. Heute dies. Erst der eine Mensch aus ihrem Leben gestrichen, und jetzt dieser zweite, den sie geliebt hatte und immer noch liebte. Es würde verlangt werden, daß sie verzichte. Was wollte man noch? Hatte sie nicht schon verzichtet?
Der Page hatte sie gemeldet und kam zurück. Gleich darauf standen sich die beiden Frauen in Sabines Zimmer gegenüber. Beide musterten sich und fühlten auf den ersten Blick, daß sie sich gegenseitig gefielen. Waldemar Lewerenz stand halb abgewandt am Fenster und blickte in den Hofschacht hinunter. Er hielt den Griff der Fensterschraube in der Hand und drehte ihn nervös hin und her. Einige höfliche Sätze wurden zwischen den beiden Frauen gesprochen. Waldemar warf nur ab und zu über die Schulter ein beiläufiges Wort ein. Dann erklärte Sabine mit einer entschiedenen Gebärde:
»Mein lieber Waldemar, du siehst, daß du überflüssig bist. Willst du nicht etwas Zeitung lesen gehen?«
»Wie du willst, Sabine«, erwiderte er achselzuckend und ging zur Tür.
»Aber kommen Sie bald wieder, Herr Geheimrat!« rief Angele ihm nach. »Sie wissen ja, ich habe wirklich nicht lange Zeit.«
Die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen. Eine Pause des Schweigens entstand.
»Warum sprechen Sie mit meinem Manne nicht, wie Sie es gewöhnt sind, Fräulein Moradelli?« fragte Sabine unvermittelt und sah Angele fest in die Augen. »Sie werden sich doch auch sonst geduzt haben?«
Angele senkte den Kopf. »Es ist nicht ganz leicht, Ihnen darauf eine Antwort zu geben, Frau Geheimrat«, erwiderte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Um es mit einem kurzen Wort zu sagen: es käme mir unpassend vor in Ihrer Gegenwart.«
»Unpassend?« rief Sabine. »Unpassend wäre ja vielleicht manches, wenn man es von einem äußerlichen gesellschaftlichen Standpunkt betrachtet. Aber was soll denn noch verheimlicht werden, wenn man sich heiraten will?«
Angele hatte mit gesenkten Augen vor sich hingeblickt. Jetzt sah sie erstaunt auf.
»Heiraten, gnädige Frau? Wer spricht denn vom Heiraten? Ich glaube, Sie sind ganz falsch unterrichtet. Waldemar müßte Ihnen doch gesagt haben ... Aber gut! Wenn Sie es von mir hören wollen? Ich kann nicht seine Frau werden. Ich werde nie seine Frau werden.«
Sabine schüttelte heftig den Kopf. »Und wer hindert Sie denn daran? Ich doch gewiß nicht. Ich bin hierhergekommen, um Waldemar freizugeben. Das ist der Zweck meiner Reise. Und deshalb habe ich Sie hergebeten. Ich habe mich klar und deutlich darüber zu Waldemar ausgesprochen. Ich dachte, Sie wüßten alles.«
Angele lächelte schwach. »Er hat mir sowenig davon verraten, wie offenbar Ihnen von mir.«
Sabine klopfte lebhaft mit der Hand auf den Tisch.
»Sehen Sie, Fräulein Moradelli, so sind die Männer! Da haben Sie sie in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit! Jeder drückt sich, solange er kann. Klare Entscheidungen sind nicht ihre Sache. Die bleiben uns Frauen überlassen.«
Sie lachte, und Angele lachte unwillkürlich mit. Es war ein befreiendes Lachen, in dem sich beide von neuem fanden. Der Ton zwischen ihnen wurde wärmer, herzlicher.
Sabine faßte über den Tisch hin, an dem sie saßen, lebhaft die Hand des Mädchens.
»Sie heißen Angele, nicht? Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie so nenne, Fräulein Angele? Es klingt nicht so schrecklich förmlich.«
Angele dankte mit einem herzlichen Blick. »Wenn es Ihnen Freude macht ... bitte, gern.«
Sabine beugte sich zu ihr hinüber – sie war etwas kurzsichtig – und blickte ihr von neuem forschend in die Augen.
»Also was hindert Sie, Fräulein Angele, wenn ich es nicht bin, Waldemars Frau zu werden?«
Angele schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es nicht sind, gnädige Frau? Aber Sie sind es doch!«
Sabine schien Angeles Worte zu überhören. Sie verfolgte mit dem ihr innewohnenden Eigensinn ihren Gedankengang weiter.
»Waldemar ist doch schließlich ein Mann, auf dessen Besitz sich jede Frau etwas einbilden kann. Weltmännisch, gescheit, sehr scharmant – das heißt, wenn es ihm paßt –, nicht gerade sehr treu ... Na, das wissen Sie ja so gut wie ich. Aber unbedingt zuverlässig. Im besten Alter. Und gut sieht er doch auch aus, das können Sie nicht leugnen.«
Sabines Gesicht hatte sich im Eifer der Rede gerötet. Ihre Augen leuchteten.
Angele lächelte. »Wissen Sie auch, gnädige Frau, daß Sie noch besonders hübsch sind, wenn Sie von Ihrem Mann sprechen?«
Sabine überhörte von neuem die lächelnde Rede des Mädchens. Sie hielt hartnäckig den Faden ihrer Gedanken fest.
»Also was hindert Sie, liebes Kind? Sagen Sie mir das doch!«
Angele richtete sich entschlossen auf. »Wenn Sie mich auf Herz und Nieren fragen, gnädige Frau: mein Gewissen!«
Eine Pause entstand. Die beiden Frauen sahen sich schweigend an.
»Ihr Gewissen?« fragte Sabine nach einer Weile. »Gibt es das auch in Ihrer Welt?«
»Sie dachten, das gäbe es nur in der Ihrigen, gnädige Frau?« erwiderte Angele mit einem herben Lächeln.
Sabine legte ihren Arm auf Angeles Schulter. »Entschuldigen Sie, mein Kind! Ich wollte Ihnen nicht wehe tun. Aber ich wunderte mich, das Wort aus Ihrem Munde zu hören.«
»Soll ich es vor meinem Gewissen verantworten,« rief Angele, »einer Frau ihren Mann zu nehmen, von der jedes Wort mir zuschreit: ich liebe diesen Mann?« Leidenschaftliche Bitterkeit quoll mit jedem Wort aus Angeles Brust.
Sabine senkte den Kopf. »Und Sie, Angele? Haben Sie Waldemar nicht geliebt?«
Angele schlug die Hände vors Gesicht. Sie zitterte. Ihre Brust hob sich krampfhaft.
»Ja, ich habe ihn geliebt! Und vielleicht liebe ich ihn noch! Ich weiß es nicht. Und jetzt ist es genug! Lassen Sie mich gehen!« Damit stand sie auf.
Sabine hielt ihre Hand fest. »Haben Sie niemand? Verstehen Sie mich nicht falsch. Waldemar sprach von einem jungen Mann ...«
Angeles Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Sprach er von ihm? Ja, ich habe einen guten Kameraden. Vielleicht wird er mir einmal mehr.«
Die Tür wurde hastig geöffnet. Lewerenz stand auf der Schwelle. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand.
»Ist etwas geschehen?« fragte Sabine unruhig. »Wieder ein Attentat? So sprich doch! Du bist ja ganz verstört.«
Lewerenz schloß die Tür und kam näher. Er atmete tief auf und strich sich über die Stirn. Dann legte er die Zeitung auf den Tisch, vor die beiden sich gegenüberstehenden Frauen hin.
»Karl Cederholm ist tot«, sagte er. »Hier steht es im Mittagsblatt. Er wurde in seinem Laboratorium auf einem Scherbenhaufen gefunden. Neben ihm ein leeres Fläschchen. Wahrscheinlich hat er sich selbst ...«
Er zog einen Stuhl heran, setzte sich hin und stützte das Gesicht in die Hand.
»Karl Cederholm?« fragte Sabine kopfschüttelnd. »Der Chemiker? Ich kannte ihn ja auch in unsrer frühen Zeit. Er kam doch manchmal zu uns ins Haus. In Berlin. Ihr hattet oft Streit.«
»Oft Streit. Jawohl.«
»Und dann vertrugt ihr euch wieder. Weißt du auch, daß ich mehrmals mit ihm über dich gesprochen habe? Er behauptete, daß er dich besser kenne als du dich selbst. Er war doch dein Jugendfreund.«
Lewerenz richtete sich aus seiner Versunkenheit auf.
»Mein Jugendfreund?« sagte er, indem er von neuem tief Atem holte. »Wenn man ihn so nennen will. Vielleicht war er sogar noch mehr.«
Sabine sah ihn fragend an.
Lewerenz blickte vor sich hin ins Leere. »Vielleicht war er so etwas wie mein zweites Ich«, sagte er mit tonloser Stimme. »Jetzt verläßt es mich.«
Angele Moradelli hatte bis dahin geschwiegen. »Darf ich es lesen?« fragte sie.
Lewerenz machte nur eine stumme Bewegung auf das Zeitungsblatt hin.
Sabine richtete ihren Blick auf das mit sich kämpfende Mädchen.
»Aber Sie sind ja weiß wie ein Laken!« rief sie. »Haben Sie denn Cederholm auch gekannt?«
Die Studentin antwortete nicht gleich. Sie überflog nur ein paarmal die Spalte der Zeitung.
»Er hat eine glänzende Presse«, sagte sie dann und ließ das Blatt sinken. »Karl Cederholm! Der geniale Erfinder! Der berühmte Chemiker! Der Begründer der Psychochemie! Er selbst ist tot. Aber sein Werk lebt und wird vor der Nachwelt für ihn zeugen.«
Ihr Gesicht hatte sich verfinstert. »Sein Werk lebt?!« sagte sie mit einem bitteren Lächeln. »Er selbst hat anders darüber gedacht.«
Lewerenz schrak aus seinem Sinnen auf. »Angele?! Du warst noch bei ihm? Du warst die Dame?« Er deutete auf die Zeitung.
Angele griff von neuem nach dem Blatt. »Ja, ich war die Dame, von der hier berichtet wird, daß sie kurz vor seinem Tode noch bei ihm war. Und nach der noch geforscht wird. Man hat ein leeres geruchloses Fläschchen an seiner Leiche gefunden ...«
Lewerenz nickte nur stumm.
»Aber dazu brauchte er mich nicht«, fuhr sie fort. »Mein Mittel wäre ein anderes gewesen.«
Lewerenz sprang erregt auf. »Angele! Ich hatte dir verboten, es zu tun ...«
Angele sah ihn fest an. »Und ich hätte es trotzdem getan! Weil ich es tun mußte! Aber dann sah ich, daß ich es nicht mehr zu tun brauchte.«
Waldemar senkte den Kopf. »Wenn du meine Hilfe bei Polizeirat von Lindlar willst? Ich werde ihn von allem in Kenntnis setzen.«
Die Studentin schüttelte den Kopf. »Ich habe nun einmal mein Schicksal selbst in die Hand genommen. Ich werde auch mit Herrn von Lindlar fertig werden. Ich kann ihn ja von dir grüßen, wenn du es erlaubst, und ihm sagen, daß du mit deiner Frau nach Barkoschin gehst.«
Sie neigte lächelnd den Kopf gegen Sabine und wandte sich zur Tür. Plötzlich blieb sie stehen.
»Sie sehen, gnädige Frau, die Entscheidung ist gefallen, ohne daß wir noch viele Worte zu machen brauchen. Das Leben selbst hat entschieden. Meine Welt und Ihre Welt müssen sich trennen.«
Sabine trat auf sie zu. »Glauben Sie nicht, daß Sie mit ihm glücklich werden könnten?«
Angele zuckte die Achseln. »Ach, gnädige Frau, wozu sich noch den Kopf darüber zerbrechen? Es gibt ja so viele Arten von Glück. Aber wer sagt uns, welche die richtige für uns ist? ... Ich werde weiter suchen müssen. Vielleicht werde ich es doch noch einst finden.«
Sabine reichte ihr die Hand. »Sie sind ein merkwürdiges Menschenkind ... Ich glaube, wir hätten uns vielleicht verstehen können. Aber es geht ja so dumm in der Welt zu.«
Die Hände der beiden Frauen ruhten ein paar Augenblicke fest ineinander. Dann wandte Angele sich zu Lewerenz, der wortlos am Tisch stand.
»Waldemar! ... Es war schön mit dir. Ich werde dich niemals vergessen. Es wird mir ein Leuchten davon bleiben, solange ich lebe.«
Die Tür schloß sich leise. Angele Moradelli hatte ihren Weg in die Welt angetreten, um nach neuen Elixieren des Glücks zu suchen.
Waldemar stand am Tisch und stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Hätte Angele ihn noch so gesehen, so hätte sie ihm sagen können, daß er sie in diesem Augenblick ganz an das Bild erinnerte, das sie gestern von Cederholm mitgenommen hatte, als sie ihn auf seinem Trümmerhaufen verließ.
Sabine breitete ihre Arme um ihn. »Mein geliebter, guter Mann! Tröste dich! Denke an ihr Wort! Es gibt ja so viele Arten von Glück. Vielleicht wird auch für uns noch eine darunter sein. Für dich und mich.«
Waldemar richtete sich auf. Er hatte sich gefaßt.
»Wir gehen nach Barkoschin, Sabine!« sagte er und ergriff ihre Hand. »Der Boden der Väter ruft nach uns. Unser Leben war Kampf. Und Kampf wird es bleiben bis zum Ende. Aber wenn du bei mir bist, haben wir nichts zu fürchten.«
Er schwieg. Sie standen beide Hand in Hand und sahen sich fest in die Augen.
»Und einmal wird Frieden sein«, sagte Sabine. »Auch für dich, mein geliebter Mann!«
Er fühlte ihre weiche, lindernde Hand auf seiner brennenden Stirn und schloß sie in seine Arme.