Victor Hadwiger
Abraham Abt
Victor Hadwiger

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Das Buch des Gartens

Abraham Abt teilte das schweigende Gras mit den Händen und zitterte dabei vor Begierde. Immer noch war nur dieser eine Gedanke in seiner Seele, ein Fest unzähliger Vermählungen zu feiern, sich zu vergeuden an das Geliebte. Ihm war, als hätten alle seine Bettler einen Tod gefunden unter den Halmen und Büschen der unendlichen Erde.

»Ein mitleidiger Wind hat die Bettler weggefegt und in den Tod geschickt, den ein Reicher nicht kennt. Ich bin wieder so unermeßlich reich, ich schäme mich des Segens, der die Äste zerbricht. Mein Gott geht mit weißen, glänzenden Füßen durch das Gras, er hat keine Straßen, aus denen Bettler wachsen. – Es ist Morgen geworden, über aller Armut ist ein Bibelwort geboren, und mein heller Himmel wächst über mir und erdrückt die Nächte aller Bettler.«

Er warf seinen Mantel ins Gras wie Knaben, die eine satte Wiese zügellos gemacht hat. Er warf alles weg wie Kinder im Rausch einer unerhörten Freiheit. So stand er da, die nackten Schultern von der Sonne bekleidet.

»Ihr seht mich nicht, Bettler, warum seht ihr mich nicht, wie ich durch den Klee wandere, Felder blühen unter meinen Schritten. Ihr alle seid Winter und habt Eis unter der Wurzel. Ihr seid des Nachts geboren, die grauen Geister werden Euch ersticken. O wie eng ist Euer Schicksal, nur Nacht, nur Nacht zu sein. Seht, wie mein Kleefeld still und licht ist. Hier dürfte ich Kränze winden. Wie die Morgenwolken über mich hinziehen! Ich möchte meine Seele ausbreiten, wie diese Dämmerung.

Du Gefährtin, du Seele, die du mit mir über die Sümpfe zogst, unter den blauschwarzen Flügeln der Märchenvögel, die du mich entführtest aus den Reichen der Feisten und Albernen, wo sind die Giebel der Häuser, wo sind die Wipfel der Pappeln, in denen man Nester baut, wo ist ein Stehen und eine Wärme?«

161 Er kniete in das Gras nieder wie ein einsamer Beter, der auf die Frühmesse wartet. Die Halme schmiegten sich an seinen Hals und die Büsche legten ihre Fülle auf seinen Kopf. Er hielt das Gesicht im Laub vergraben.

»Meine Augen tragen noch die Träume der vergangenen Stunden. Ich will alle Traurigkeit ihrer letzten Nacht im Tau ertränken. Sie fürchten den Tau, weil sie noch demütig sind, denn er ist stark, der die Knospen ruft wie Alle, die des Morgens kommen. Und ich will meine Augen stählen, daß sie stark werden wie der Tau. So stark sollen sie in seinen Garten eintreten und die letzten Erzähler an sich vorübergehen lassen. Dann will ich ein schweres Wort aus meiner Seele emporheben und vor ihn hinlegen.«

Abraham befreite seine Füße von den silbernen Geflechten, die sie umfingen; er stand auf und die jungfräulichen Hände der Bäume glitten über seinen Kopf. Aber sie mußten ihn ziehen lassen, denn die Sonne war schon hoch in den Tag gestiegen und der Garten erwartete ihn im Lichte des Mittags. Wie ein weiches, warmes Adagio war ihm dieser Morgen.

»Wo hast Du diesen andern Thron Deiner Kunst gebaut, wo ist Dein Garten?«

Einen pfeifenden Hirten hatten seine letzten Worte erschreckt. Ein rotes Hemd flatterte aus den Wiesen empor, und zwei braune, schlanke Beine flüchteten.

Abraham folgte der fliehenden Gestalt mit seinem Lächeln.

»Ich will auch nicht allzu laut sein. Komme doch zurück und begleite mich. Ich weiß, Du hast dieses Land erdichtet mit Deiner Flöte. Sieh, mein Herz ist eine Geige. Es ist gut, wenn die Narren sich vertragen.«

Seine Worte fielen auf den Weg vor ihm nieder wie blanke, klingende Münzen. Und er freute sich an diesem Klang, der sein bester Besitz war. Er hatte sich gewöhnt, neben die Menschen hinzureden, die ihn nicht verstehen konnten. Noch einmal suchte sein Gesicht das flammende Hemd des Hirten. Auf einem fernen Hügel stand der verschüchterte Sklave des Pan und trauerte um den Verlust seiner Flöte. Auf einem Hügel voll 162 roter Rosen sah er ihn noch einmal auftauchen inmitten einer Herde weißer Ziegen.

»Nicht alle Narren haben den gleichen Mut. Es ist Zeit, daß ich zu den Narren zurückkomme, die meiner Art sind. Ich will zu den Gästen des Gartens reden, der mir versprochen ist.«

Und er eilte mit seiner Seele über die Felder, er ließ seine Augen über die Bäume und Hügel klettern. Er suchte unter den Wundern der Gegend nach ihrem Paradiese.

Vor einer hohen Mauer, überwuchert von dunklem Grün, hielten seine Augen an. Das Land brandete in lichten, grünen Wogen an diese Mauer. Die Gegend griff gleichsam nach dieser Stelle mit ihrer Sehnsucht. Hier muß ein Paradies verborgen sein, sagten ihm seine Sinne und ruhten aus in einer Hoffnung.

Abrahams Augen hatten den Garten des Marquis gefunden, die Hochzeit seiner Seele stand vor dem Priester.

Er zog schüchtern die Klingel. Der reine Klang einer kleinen Glocke trug sein Begehren über die roten Sandwege. Ein Credo war in dem Klang dieser Glockenschläge, und von unsichtbarer Hand öffnete sich das Tor. Ein Meer von Blüten verschwendete sich an den Ankömmling. Als hätte alles das Jahre hindurch in brünstiger Ergebenheit auf ihn gewartet, strebte es in der ganzen Fülle seiner Pracht an ihm empor.

»Komm an mich heran, du Meer, Geheimnisse stauen sich vor mir, niemals wird wieder eine Armut über mich kommen, alle Tage unserer Erde werde ich mit meinen Erzählungen von Dir erfüllen.«

Der Wind brachte die halblauten Gespräche von Menschen zu ihm. Er fühlte in dem Ton, den alle ihre Worte hatten, wieder das Ferne, Entrückte, das ihm seit jenen Stunden seiner denkwürdigsten Nacht Heimat geworden war. Wie einer Quelle, deren bekannte Sprache zwischen blühenden Büschen ruft, folgte er langsam diesen Lauten, mit den Füßen die Wege prüfend. Seine Augen hingen an großen Kelchen, von Blütenkopf zu Blütenkopf wandernd. Diese Blumen waren wie der Marquis selbst, sie hatten sein Ansehen. Etwas Strenges, das 163 Träume von andern fordert, etwas Zügelloses, Launisch-Verwegenes, das nach allen Seiten greift, etwas von grausamem Sich-selbst-betonen.

»Wie arm seid ihr, meine Gärten und Haine, aus denen ich den Duft getrunken habe, der meine Seele beglückt hat mit dem Rausch des Kindes. Wie bin ich durch euch arme Wiesen gegangen! Ihr seid so sehr Kindheit geblieben.«

Er beobachtete mit einer Art Neugier die grotesken Grenzen einer großen Pflanze.

»Darum will ich so reden lernen wie ihr und euer Gärtner. Man muß mit Farben erschrecken und Formen haben, deren Grenzen wie Irrwege laufen. Man muß sein Gesicht in die Schule der fremden Pflanzen und Bäume geben.«

Seine Hand griff zagend nach den Blumen und berührte sie. Sie aber faßten mit ihren Blättern nach seinen Fingern und schlossen sich über ihnen.

Abraham Abt lachte. Aber eine Furcht kam ihn an, den Mutigen, der Alles berührte.

»Sind Sie da, lieber Abraham Abt?« überraschte ihn die Stimme des Marquis. »Wir haben auf Sie gewartet. Dieser Sommernachmittag hat längst begonnen. Er hat sein Eigenes; er will viele Menschen und gerade die Besten, diese, die in einem reifen Gedanken gipfeln. So viel ist schon ausgeschüttet. Kämpfen Sie um einen Nachmittag, der Ihnen gehört.«

Und er sprach noch weiter von den Taten, die noch nicht vollbracht sind und noch weniger vollbracht werden können. Er saß wie eine Wespe auf der Zukunft und den Erscheinungen der Nachmittage. Er berührte nur Träume, vor Erlebnissen fürchtete er sich. Und wenn er solche berührte, schien sein Atem begrenzter. Er sprach auch von Blumen oder, besser gesagt, er bedauerte einige von ihnen, weil sie sich der Landschaft anpassen wollten und, wie er sagte, nur ein Kraut wären.

»Man muß solche Blumen tottreten, wie es die Kinder tun, die sich mit den Banalitäten eines zu langen Frühlings abfinden. Der Sommer gibt uns manches Abgeschlossene, Berechnete – 164 er gibt uns Fülle. Denken Sie sich eine Landschaft, die einen Medici zu sich emporzieht. Nur im Sommer können wir gipfeln. Wir sind durch das Nordische verdorben, wir haben eine Eisbärphantasie.«

»Warum pflückst Du die Menschen von den Wiesen ihrer Heimat?« dachte Abraham Abt. »Warum willst Du die Menschen verpflanzen?« Aber er konnte die Worte nicht mehr erhaschen, die diesen Gedanken tragen sollten.

»Treten Sie ein, lieber Abraham Abt, eine kurze Andacht ist besser als ein langwieriges Auf- und Abgehen vor den Altären. Denken Sie nicht nach, befühlen Sie die Grenzen dieses Gartens nicht. Jeder schöne Garten ist unendlich begrenzt. Darum wollen wir alle Mathematiker zum Teufel jagen, die seinen Inhalt berechnen wollen.«

Wieder wurde sein Organ lauter und bestimmter, indes er zu Ende kam.

Abraham Abt gedachte seines Lebens, wie es von Anbeginn war. Es huschte wie eine Komödie des Augenblicks an ihm vorbei. Menschen, Tiere, Bäume, wie sie zu wachsen pflegten, das war alles gewesen. Und er schämte sich dieses Augenblicks, der ihm alles so grausam interpretierte, was er geliebt und angebetet hatte.

»Herr Marquis, sind viele Menschen in Ihrem Garten?«

»Nein, Abraham Abt, dieser Garten läßt sich nicht mit Menschen füllen. Aber für einige ist Platz genug; auch Plätze findet man in ihm.«

»Herr Marquis, wie nennt man solche Blumen?« Er rührte mit seinem Finger an eine der Blüten. »Diese sind wie mit Blut begossen oder mit Morgenrot, manche sind wie flatternde Fahnen und viele sehr traurig.«

»Es ist mit solchen Blumen wie mit manchen ausgesuchten Worten. Es ist besser, sie nicht in Stile und Gattungen einzuordnen. Wir gehen an ihnen vorüber, weil sie in Alleen gepflanzt sind, die zum Gehen und zur Nachdenklichkeit auffordern. Man soll immer still sein, wenn man durch schöne Alleen geht und sich aufgefordert fühlt zum Nachdenken.«

165 »Entschuldigen Sie mich, Herr Marquis, ich sehe zuviel, und meine Zunge plaudert mich aus.«

Der Marquis faßte die linke Hand seines Begleiters, die auf dem Herzen gelegen hatte. Sie gingen schneller. Abraham Abt konnte fühlen, wie das Blut des Marquis sich mit dem seinen paarte, es war, als hätte an einer Stelle sich eine Ader geöffnet, und ihr Inhalt sickerte über die Ränder zweier Wunden.

»Kommen Sie, lieber Abraham Abt, kommen Sie. Zählen Sie die Tropfen nicht, welche überfließen.«

Abraham Abt erschrak, seine Füße zitterten. Er ging nicht mehr über rote Sandwege, er watete in Blut.

Erst ein kleines Cedernwäldchen brachte einige Ruhepunkte für die erschrockene Seele.

»Sehen Sie eine Terrasse hier oben? Kommen Sie mit mir auf jene Terrasse. Auch ich bin schließlich ein Familienmitglied. Merken Sie nicht, beständig winke ich den Verwandten und bin traurig über die Abschiednehmenden. Wenn ich einen guten, treuen Hund hätte, würde ich vielleicht alle meine Treibhäuser vernachlässigen und mich an seine Treue verkaufen. Kommen Sie, kommen Sie.«

Sie gingen sehr schnell den steilen Weg hinauf, der zu der Terrasse führte. Abraham Abt sah die strengen, fast brutalen Konturen einer Balustrade, über der sich einige Köpfe bewegten. Er erkannte den Tiefseefisch, der unter einer Fülle von Goldtrauben hinabstarrte. Er schien Rhapsodien an ein Meer auszuschütten, Rhapsodien des Hasses. Er interpretierte wieder etwas.

Eine einzige dunkle Iris stand neben ihm gegen das satte Gelb des Strauches und wetteiferte mit den geschwätzigen Zeichen in seinem gealterten Gesicht.

Abraham Abt erfaßte eine frostige Empfindung, als er dieses Gesicht wiedersah. Aus dem Bad der Gerüche stieg er wie nackt zu dieser belebten Leiche hinauf. Er schüttelte sich, indes der Marquis mittels eines Lachens parlamentierte.

»Herr Marquis, hat Ihre Terrasse sehr viel Sonne? Herr Marquis, wenn man friert, oder wissen Sie, so –« Abraham Abt 166 faßte sich nach seiner Kehle und schnürte sie mit zwei Fingern, wie man es tut, wenn man sich von etwas unangenehm berührt fühlt.

Der Marquis verstand.

»Ja, Sie haben recht, Lieber. Wann wird dieser unglückselige Fisch endlich zu Ende gestorben haben. Immer sind noch Alte da, die uns mit Gedächtnissen belästigen. Die Alten sind so zäh. Man muß immerfort ihrer gedenken, ihnen mit müßigen Gedanken begegnen. Wozu gibt es eigentlich Alte? Sie stinken nach Erkenntnissen, die sie in einem schlecht gereinigten Topf brodeln lassen. Sie sind Koprophagen der Weisheit, und man kann sie des Kotes nicht mehr entwöhnen. Erst wenn sie tot sind, können wir sie wieder beachten. Wissen Sie, eigentlich ist mir niemand so lieb wie die Toten. Sie sind viel jugendlicher als die Sterbenden. Und so schön schweigsam. Die guten Toten würden sich langweilen über uns, wenn wir ihnen immer ihre vorletzte Episode auftischen wollten. Sie hassen die Rhapsodien der Begräbnisse und den Rhythmus der trauernden Hinterbliebenen. Mit Grazie über die Klinge springen und auf weißen Blüten begraben werden, das ist gut. Wir müssen den Toten gefallen, wenn wir sterben. Sie verstehen das Pathos des Todes in den Erzählungen, das Plötzliche daran imponiert ihnen, Leichenhäuser langweilen sie. – Kommen Sie rasch auf die Terrasse, ich habe einen Einfall, der den Toten gefallen wird. Hier mitten in einem blühenden Garten wollen wir ein Totenopfer feiern. Hier, meine Beate will ich erzählen lassen. Beate kennen Sie noch nicht, vielleicht werden Sie sie auch nie kennen lernen. Sie ist der Liebling der Toten, denn sie blüht rasch wie eine Art meiner feinsten Blumen. Sie wird niemals durch Brutgeschäfte aufgehalten werden. Ich habe eine gewisse Schwäche für Beatens Talent. Ich hetze sie gerne auf das Harmlose, das sie mit viel Sündhaftigkeit überkommt. Ich glaube, sie würde gern und rasch sterben, wenn ich es wollte. Unbemerkt, könnte man fast sagen. Sie ist ganz anders als Leonie, die Sie kennen.«

Abraham mußte sich jenes Gesichts und jener Hände 167 erinnern, denen der Marquis unterlegen war. Auch ihre Augen, in welchen sich so viele Möglichkeiten zu einem angenehmen Leben spiegelten, traten wieder vor sein Bewußtsein, und die verwirrte Lebendigkeit der schlanken Glieder.

Sie stiegen über eine bequeme Steintreppe zur Terrasse hinauf, die sich immer mehr mit Köpfen belebte.

»Hier ist Beate!«

Abraham Abt blickte in ein schönes Gesicht, das fast ein wenig zu alt über den schmalen kindlichen Schultern saß.

»Glauben Sie nicht, Abraham Abt,« setzte der Marquis fort, »daß ich zu alt für eine Anbetung bin und zu greisenhaft für eine Liebe? Ich habe mit einem Oheim, dessen Namen ich vergessen habe, ein Erlebnis gemein, das auch der Beate geläufig ist. – Hören Sie, lieber Abraham Abt, denken Sie sich hier ein Publikum von Toten. – Beate, erzählen Sie uns von den Harmlosen, deren einzige Kunst es ist, unvorhergesehen sterben zu können. Unsere Erzählung soll heißen: Der Tod und die Harmlosen. Erzählen Sie.«

Beate schmiegte sich an ihn an. Er saß in einem bequemen Gartenstuhl, während Abraham Abt an die Balustrade gelehnt stand, fast versteckt unter den wild aufstrebenden Glycinen.

Sie erzählte:

*     *     *

I

Der Sommer hat einen Tag vergessen. Der Sommer ist über den schwarzen Teich hinübergegangen in das Land unserer Nachbarn und hat diesen Tag zurückgelassen. – Die Trauben reifen.

Ich sehe weiße Kugelwolken in der Morgensphäre. Sie sind breit und dicht, sie könnten den ganzen Anbeginn eines Schicksals ausfüllen. Die Sonne steigt langsam und vorsichtig die Wolkengloben abwärts durch das Fenster bis zu mir herunter und sie setzt sich auf den alten Großvaterstuhl meines Onkels Oskar. Sie legt sich, sie streckt sich gemütlich aus wie ein sattes Tier auf einem Stück Seide, auf Liebchens 168 Reisemantel, der sich zwischen die geblümten Polster eingebauscht hat. –

Morgen werde ich Dorchen als Gattin heimführen.

Ha ha, und ich habe auch einen Onkel, der von der Jagd lebt. –

Am liebsten erlegt er die Rebhühner, die in den Zwergstauden ihre Abendcantate singen, Rebhuhnjünglinge, Rebhuhnjungfrauen mit weichem, feinbitterem Fleisch. Sein Leben hat nicht Frühling und Sommer und Herbst und Winter. Für ihn gibt es nur zwei Jahreszeiten, Schußzeit und Schonzeit. In der Schußzeit schießt er und ist wie seine Vorfahren ein stolzer fröhlicher Geselle; in der Schonzeit greint und schimpft er über die schlechten Prinzipien der Natur, über Buhlschaft und überflüssige Sentimentalität. Er meint die Liebesereignisse der Rebhühner und schielt dabei auf die Menschen.

Er ist sich nämlich nicht ganz klar über sein Verhältnis zur Mitwelt, aber er ist doch ein guter Onkel. Es gibt eben Menschen, die ihr ganzes Leben lang Schußzeit haben möchten, kein anderer soll in das Handwerk pfuschen, und die Katzen sind niedrige, gemeine, weiche, weibisch geartete Tiere. Darum schwor der Onkel Tod und Verderben allen Katzen.

Aber wie fast alle Menschen einen geheimen Drang haben, ihre Eigenart zu Schanden zu machen, so hatte auch der Onkel eine geheime Sentimentalität. Es war nicht etwa ein spätes Bedürfnis nach Fortpflanzung, und seßhaft war er ja auch. Die alten Mauern einer stattlichen Ruine hatte er sich mit allem Komfort wieder glatt machen lassen, und der terrassenförmige Garten war gut gepflegt, man sah auch ein Stückchen über Land. – Nein, er ist ein starker Mann und noch in den Vierzig.

 

II

Unter dem Dachgiebel nisten die Dohlen. Sie haben Nester gebaut und Eier gelegt. Sie lieben den alten Giebel so sehr, daß des Onkels Flinte alle Autorität verloren hat, und nach drei 169 Sommern gründen sie einen Staat und wählen einen König. Da ist der Onkel nachdenklich geworden und hat in sein Tagebuch etwas über den Nestbau der Dohlen geschrieben.

Die Katzen aber haßt er weiter, besonders jene eine, die dem Fräulein aus dem Nachbargarten gehört, ein Rassetier mit buschigem Schwanz. – Er lauert emsig.

»Ich werde das Tier erlegen« sagt er mit dem Pathos des Allmächtigen und sieht im Geiste schon den roten Punkt, der das Fell der Verhaßten zeichnet.

»Mag sich die alte Jungfer entrüsten, meinetwegen mag sie sich das Leben nehmen aus Verzweiflung. Die Katze muß sterben. –« Und er sagt sich der Reihe nach alle schlechten Eigenschaften des Katzengeschlechtes auf. Dabei vermeidet er peinlich, an das Nachbarfräulein zu denken. Am Schlusse seiner Rede erst knurrt er: »Alte Jungfer« und nochmals, wie um den Rhythmus seiner Rede zu ergänzen »Alte Jungfer.« Dann schielt er abwechselnd in den Nachbargarten und zu den Dohlen hinauf. –

Die Sonne steigt vorsichtig die Terrasse in Onkels Garten abwärts. Die Sonne legt sich und streckt sich und schmiegt sich. Die Dohlen kreischen in die reine Luft hinauf und freuen sich darüber, daß man sich nicht mehr in ihre Familienangelegenheiten einmischt. Die Sonne streckt sich und schmiegt sich. –

»Guten Morgen, mein herzallerliebstes Lieb.«

 

III

Liebchens Reisemantel hängt noch über der Chaiselongue. Wir könnten jeden Tag fahren, aber es liegt etwas Vorfestliches in der Luft, das uns zurückhält. – Der Onkel mit weißer Mullkravatte geht unten im Garten auf und ab, die geladene Büchse nach Jägerart bodenwärts gewandt.

In den Birnbäumen streiten sich die Vögel um die erste Frucht. 170 Die Frühreife fällt unter den Schnabelhieben. Einen Augenblick ist Ruhe. Dann stürzt sich Alles auf den Raub.

Wir betrachten das von einem Dachfenster aus, das wir auf der Reise durch den Dohlenstaat entdeckt haben. –

Wo man Flügel an Flügel ruhen darf, weht Mittagswind. Die Luft ist leise geschaukelt und das stille Auf und Ab teilt sich den Seelen mit. Nur manchmal kommt ein wenig Reisefieber in unsere Wangen, wenn etwa ein Rotkehlchenpaar vorbeischießt und hinter der Scheune im Garten des Nachbarfräuleins verschwindet. Dann fliegen unsere Gedanken unwillkürlich mit. Das Nachbarfräulein ist dann wie eine Brücke auf der Fahrt. –

 

IV

Es gibt Randgenossen im Buche des Lebens. Oft ist es ganz glatt gegangen, und man hatte immer gute Gesellschaft, man lebte sozusagen in einer Kolonie der Harmlosen, man hatte Rebhühner und Wildgänse zu Gefährten, da kommt auf einmal das letzte Kapitel mit einem Kommentar. Da fühlt man plötzlich das große Pantheon. Alles ringsumher ist System eines großen Denkers; man wird wie die Laus am Leib des großen Philosophen, ein kleines, Schlupfwinkel suchendes Insekt in der Tunika des großen Cato.

Das hat mir der Takt jener Schritte da unten gesagt, und ich höre es oben in der Dachkammer. Ich höre es Flügel an Flügel mit meinem Lieb. Ich habe – ich mache mir so viel Gedanken, ich kann das Alles nicht zu Ende denken: den Onkel und die Dohlen, das Fräulein und das Pantheon und mein Dorchen und die Rotkehlchen. Ich möchte Alles vor einen Pulverpfropfen legen und mein Wirrsal von einer Flinte verdauen lassen. –

Da geht sie ja, da drüben, sie hat eine weiße Seidenrobe. Es muß ein vornehmes Fräulein sein. Der Onkel hat sie gewiß sehr lieb. –

171 Ja gewiß, man könnte sie sehr lieb haben. Weiche graue Augen, wie sie sich vorsichtig durch die Büsche schmiegt. Weiche verzehrende Augen. Jetzt sieht sie uns an. – Wie alt mag sie wohl sein? – So grau, so harmlos grau – und doch wieder ganz verworren leidenschaftlich. – Es steckt in jedem Weib eine kleine Magdalena.

Wir sehen Alles von der Dachkammer aus.

 

V

Ich schreibe in aller Eile einen Brief. – Über mir ist der tiefblaue Himmel Italiens, von dem die Literaturen und die Backfische so viel zu erzählen wissen. In meiner Seele aber ist etwas Purpurnes, etwas ganz ehelich Rotes, ganz Heißes, Liebendes – und ein bischen ängstliche Familiensorge. Ich habe unerklärliche Dinge von Onkel Oskar gehört. Wir hätten doch nicht abreisen sollen. – Es ist so seltsam. Wie komme ich nur zu dieser Vermutung. –

Ich habe das Fremde immer interessant gefunden, auch wertvoll war es mir oft; aber nie habe ich noch eine Träne geweint um einen Fremdling. Die sind mir immer fremd gewesen, die dem Gesetz nach mir gehören sollten, weil sie mir alle zu eng waren; ich bin ihnen entwachsen wie alten Kleidern. Aber dieser Eine . . .

Es ist erdrückend, was ich fühle. – Das Fenster ist offen. Kleine Vögel singen in den Pinien unendlich leidvoll, unsäglich traurig. – Ich will nicht – ich will nicht, daß etwas geschehen ist. – Ich verzichte auf mein Erbe.

 

VI

Es ist etwas geschehen. – Mein Lieb hat seinen Kopf an meine Schulter gestützt und streichelt mein Haar, manchmal sagt sie ein Wort. – Ich verstehe es nicht, wie ein krankes Kind sein 172 Spielzeug verschmäht und sich an der Brust der Wärterin verbirgt, flüchte ich vor ihrem Trost in meine Seele. –

Meine Seele ist ein Gewebe Gottes. Er hat ihren Fäden die Wege vorgezeichnet, sein Griffel ist Edelstein, seine Hände sind schmal und leidend, betende Bildnerhände sind seine Hände. Um seinen Thron sitzen viele Frauen, die seine Leiden verstehen, und sie weben die seidenen Schmerzen Gottes. – Dann fallen Sterne vom Himmel in tiefer Mitternacht. –

Seltsamer Fremdling, den ich nun doch beweine!

Wird mich mein Weib immer lieben, wird sie mir ein ganzes Leben mit ihrem Troste ausfüllen und den Tod von meinen Türen scheuchen?

Die Linden auf der Wiese suchen sich mit ihren Ästen in einer schwülen Nacht, und dann kommt ein Tag, da sie blühen. Hab ich mir ein Weib verdient, das den Tod von meinen Türen scheucht, bin ich harmlos wie die Linden und feierlich?

Du hattest Dir das alles verdient, guter Fremdling.

Ich sehe ihn deutlich vor mir, wie er mit gesenkter Flinte durch den Garten geht, einen unschuldigen Haß im Herzen.

Auf die blaugrünen Blätter der Birnbäume fallen steile Strahlen, und dann und wann fällt eine frühreife Frucht.

 

VII

Die Südsee atmet heiße Geheimnisse.

Wir fahren grüngoldene Märchenfahrten. Wir könnten jetzt von schönen Wundern plaudern, aber das Leben hebt seine Wogen hoch über unsere Einsamkeit. Wir stehen vor alten Mauern, wir gehen verwachsene, verfallene Terrassen abwärts, und unsere Gestalten wogen im Hohlweg. Schlanke, weiße Tiere wandern über die Giebel.

Morgen werde ich alles erzählen. – Wir werden bald ans Land kommen. Die Möven führen uns. 173

 

VIII

Und dann hob er das Rohr. Er ließ einen prüfenden Blick über die Jasminstauden gleiten. Seine Augen wurden ruhig. Das Tier kam zwischen den Wurzelgeflechten vorsichtig geschlichen. Er sah den weißen Körper, an dem die Sonne sich freute, wenn die Büsche nachgaben und der Schatten zur Seite wich. Dann ein wildes Feuer in seinen Augen, ein Feuer, das wie eine Erwartung glühte, das Gebet des Jägers. – – –

Ich sehe ihn oben stehen, breitschultrig, gerade, ein Mann, der Zenith des Geschlechts. Er ist wie ein König, der da oben, und ich ein irrender ausgestoßener Sünder, der Hochzeit macht mit seiner Schwäche. Wie lange werde ich noch ein Tor sein, bis meine Kniee deine Stufen finden? – – –

Es fällt ein Schuß. Ein Schrei hallt durch die Brombeerbüsche. Es bricht sich sein Widerhall an verwitterten Steinen.

Ein weißer Punkt irrt über die Plattform, schlüpft durch den Zaun, wie die Lampe eines nächtlichen Boten.

Dann fällt ein zweiter Schuß. Es splittert Holz von den Latten. Es war nur eine ärgerliche Geste in das keimende Dunkel hinaus, dieser Schuß.

Noch immer eine schöne Dämmerstimmung. Der Zaun des Nachbargartens hat noch immer seinen Zauber. Aus meines Onkels Arbeitszimmer fällt ein schmaler Streifen weißen Lichtes hinüber. – – –

Zwischen den Jammertönen des getroffenen Tieres hatte es wie ein menschlicher Todesschrei geklungen.

Auf der obersten Terrasse läuft der Onkel auf und ab und schimpft auf die Katzen, die alle Nester stören. Er steht vor der Bank. Er ist bleich und nachdenklich. Er läßt sich nieder. Etwas plump Abgerissenes war in dieser Bewegung des Sichniederlassens. Er tut das überhaupt sehr selten, er geht meistens auf und ab. Dann nimmt er die Hand vor die Augen und schaut wieder zögernd in den Nachbargarten. Er sieht sehr verändert aus, verstört, unglücklich.

174 Die Sterbelaute des Tieres nehmen kein Ende. Es muß drüben in den Brombeerbüschen liegen.

 

IX

Das Fräulein aus dem Nachbargarten ist tot. Der Onkel hat sie erschossen. Es ist alles wahr, es ist alles bestätigt, besiegelt. Es ist alles wahr.

Wie grausam wir sind, wie bestialisch grausam, daß wir das, woran andere, unsere Nächsten vielleicht, gestorben sind, daß wir das so kaltblütig auf ein armseliges Stückchen Papier niederkritzeln können.

Jetzt fassen sie ihn an, jetzt geht er mit oder er hat es gar nicht überlebt; und wir wärmen uns an unseren Fähigkeiten. So macht man ein Lied aus allem und freut sich über die Tragik und Vollkommenheit der Form und ist doch nur ein Stümper im Sterbenlassen.

Die Südsee rauscht. – Wir liegen Mund an Mund. Über dem bleichen Wasser jagen sich stumme Lieder und haschen einander gleich ungesehenen Schatten.

Wie ist es jetzt bei Dir drüben, lieber Onkel. –

Der Tod geht gemächlich über die Terrasse und klappert sich ein Madrigal auf seiner Totenharfe. Die Cikade knarrt, sie hüpft neugierig in das verlassene Flintenrohr und versteckt sich in die fatale Öffnung. Die Drossel hat sich einen Palast gebaut irgendwo in einem Birnbaum. Kinderlachen schallt jenseits des Zaunes – Kinderlachen.

*     *     *

Der Marquis schien in einer Erinnerung gefangen zu sein. Seine sonst ruhigen Hände wurden lebhaft und gingen ungewohnte Wege über Schläfen und Scheitel. Die andern blieben in der Pose, in der sie die Erzählung angehört hatten. Nur Abraham Abt trat aus dem Dickicht der Glycinien hinaus und näherte sich dem Marquis, den etwas Persönliches belästigte.

175 Der Sommerwind hob die ersten welken Blätter auf und streute sie über die Quader der Terrasse, als wäre es an ihm, mit irgend etwas diese Pause der Erzähler auszufüllen.

»Sehen Sie, Abraham Abt, wie die welken Blätter tanzen? Mitten in dieser Sommersonne ein so aufdringliches Verwelken. Ich verfeinde mich immer mehr mit dem Herbstlichen. Es wäre schrecklich für mich, eine allzu späte Liebe zu haben. Apropos, wie gefielen Ihnen die Birnbäume meines Oheims?«

Er sprach die letzten Worte neben sich hin mit halber Aufmerksamkeit für den Angeredeten. Immer noch schien ihn seine Erinnerung zu knechten.

Abraham Abt schwieg.

»Glauben Sie, Abraham, daß es gut ist, sich ab und zu einmal zu langweilen mit irgend etwas?« Und er erhob sich aus seinem Gartensessel und ging mit steifen Schritten quer über die Terrasse.

»Ja, Herr Marquis, manche Pausen sind eine Art Erlösung innerhalb einer Gegenwart.«

»Aber auch in der Vergangenheit gibt es doch Langweiliges, das uns aufatmen macht,« erwiderte der Marquis fast kleinlaut, in einer Art fragender Schüchternheit. »Ach, wir müssen uns befreien. Zum Teufel, warum ist das Leben so lang, daß es tausend Episoden nötig hat, bevor wir ein bischen müde werden. Wir dürfen alles Persönliche abschütteln. Ich glaube, es täte gut, wenn wir als Leichtbewaffnete kämpfen könnten. Zu viel Gepäck, lieber Abt, noch immer zu viel Gepäck. Man kann leicht umkommen, wenn man zu viel mitschleppt.«

Er stand an der Treppe und suchte mit einem Fuße die nächste Stufe.

»Aber nein, wir wollen unsere Terrasse ganz genießen. Man soll vor uns tanzen. Wir wollen eine Salome mitten in diese Sommersonne hineinstellen. Glauben Sie nicht, daß eine Freundin wie Leonie die Salome gut spielen könnte, mitten in der Sommersonne? – Leonie!« rief er mit der bestimmten Stimme des Dompteurs, und dann trat er wieder zur Seite. Ein 176 weicher, fast bittender Ausdruck lag für Augenblicke in seinen Augen.

Und Abraham erinnerte sich wieder dieses Satzes, der den Marquis so tief besiegt hatte – an seinen einzigen, bittenden Satz: Du, Du, meine Liebe ist eine Angst. –

»Ja, so ist sie noch immer, diese Leonie,« dachte er, »ihr Gesicht, ihr ganzes Ich erweitert sich noch immer, wenn sie näher tritt.«

Und Leonie trat näher.

»Willst Du vor uns tanzen, Leonie?« fragte der Marquis mit einem Klang in den Worten, der Gleichgültigkeit vortäuschen sollte. Aber dann ging er doch ganz nahe an sie heran und küßte sie.

»Bist Du da, willst Du tanzen? Wir sehnen uns nach Dir. Wir haben zu viel Beziehungen, wir wollen uns erlösen durch eine grausame Einsamkeit. Schlage Deinem Liebling den Kopf ab. Wie tust Du es, wie verstehst Du diesen Akt Deiner Liebe? Erzähle uns von einem Getöteten, der Dich vielleicht hätte verraten können. Setze Dich zu mir.«

Sie kniete nieder und lächelte zu ihm empor, zu seinem Gesicht empor. Die Gestalt berührte sie nicht mit ihrem Lächeln.

»Ja, ich bin da. Ich möchte etwas von ihm sagen, von diesem – diesem Einen, dessen besondere Falte ich so hassen kann, die Falte in diesem Gesicht. Aber ich möchte zuerst Deinen Kopf fassen, Arthur. Meine Mutter hat es mich so gelehrt, einen Kopf in die Hände zu nehmen und ihn dann anzusehen, ehe ich mich entschließe. Meine Mutter dachte sicher etwas anderes dabei, wenn sie sagte: entschließen. Ich weiß nicht mehr, was sie dachte. Darf ich Deinen Kopf anfassen?«

»Ja, Leonie, aber was wissen die Mütter von denen, für die man sich entschließt.«

Und dann schwiegen sie. Es war ein Schweigen zweier ratlos sich Ergebender. Vor ihren Sinnen staute sich etwas, etwas wie Blut des Besiegten.

Aber der Marquis gewann zuerst die Sprache wieder.

177 »Tanze mit Deinen Worten von einer Herodias. – Hier sind Schüsseln.«

Er nahm ein breites silbernes Gefäß, das einen Winkel der Terrasse zierte und gefüllt war mit einem Knäuel heißroter Geranien, in seine Hand. Er glitt mit einem flüchtigen Blick über die Kronen der Blumen und reichte ihr dann das Gefäß.

Sie faßte den Teller und stellte ihn vor sich hin, während sich der Marquis über ihre Gestalt beugte und ihr etwas zuflüsterte.

Dann sprach sie. Sie sprach einen seltsamen, über das Maß gedehnten Ton. Von dem Siege eines Abel erzählte sie.

*     *     *

Die Königin nahm den abgeschlagenen Kopf des Abel auf ihren Schoß und sah ihn an und sagte: »Abel, Du bist ein schöner Knecht, aber Deine Augen sind nicht blau genug, und Deine Lippen hängen ein wenig abwärts, heute, da Du gestorben bist, noch mehr als damals, als es Dir noch auf der Stirne stand, daß Du sterben würdest. Sieh, Abel, Dein ganzes Gesicht geht nach abwärts. Warum bist Du so traurig? Abel, hättest Du doch eine andere Linie in Deinen Lippen! Abel, Du hast nicht gut gesündigt, Dein Schmerz ist verworren.«

Und die Königin nahm je zwei Finger der Rechten und Linken und faßte mit ihnen die Falte auf dem toten Kopf.

»Diese Rasse hat starke Backenknochen,« sprach sie und schob den verdorrten Muskel nach oben. So kam es, daß der Sklave Abel doch noch zu lächeln anfing. Er lächelte lang und voll Qual und starb noch einmal im Schoß der Königin.

Dann schloß die Königin das eine Auge, und das andere, das noch viel grausamer war, ging in den Stirnfalten ihres Knechtes hin und her wie ein prüfendes Licht in den Laufgräben der feindlichen Stadt, über die Schläfen und auch ein Stück den Scheitel hinauf.

Ein kleines Äderchen rann über die Wölbung und krümmte sich tiefblau den weiten Weg hinab bis zu den weißen Händen der Königin.

178 »Hier haben alle seine Gedanken getrunken. Alltäglich kamen sie an das Ufer der verwegenen blauen Ader und tranken. Seine Gedanken haben Lippen gehabt, ganz rote Lippen wie er; in der kleinen Ader tranken sie sich satt und widerstanden mir. Ich will nicht, daß Du Gedanken hast, Abel.«

Und sie schlug ihre kleinen weißen Zähne in die tote Haut über der kleinen blauen Ader. Ein ganz feiner Strahl wässrigen Blutes quoll hervor und suchte seinen roten Weg über ihr Kinn, den schmalen Hals hinab.

Aber sie zuckte erschrocken, weil es so kalt war, so kalt, wie ein Blut nicht sein darf, wenn es fließt.

»Abel! Abel! Ich will nicht, daß Du so kalt bist, wenn Du für mich blutest. Hast Du mich nicht gehört, Abel? Soll ich Deinem Kopf ein Schloß bauen lassen und ihn auf ein weiches dunkles Kissen legen, auf ein ganz dunkelrotes, weißt Du, Deinen, diesen da, Deinen weißen Kopf, so wie ich meine Füße immer – weißt Du, Abel, meine Füße – und dann sollen sie alle stumm sein vor Dir, wie Du stumm warst vor meinen lieben weißen Füßen. Abel, Abel, hab ich Dir weh getan damals, als ich Dich trat auf Deinen Kopf, auf diesen da? Ach, es muß Dir so süß weh getan haben.«

Feine Tröpfchen standen auf den Zähnen der Königin, und immer mehr perlten aus der tückischen Ader.

»Abel, Abel, ich will ihm ein Schloß bauen lassen, Deinem süßen, lieben Kopf.«

Aber der tote Kopf des Knechtes starrte sie an mit seinem vermessenen Schweigen – ganz wie damals, als er sterben mußte.

Ein fahler, giftiger Saft rann aus dem feinen Äderchen und suchte ihren Mund und das Herz da unten, das dunkle, zappelnde Herz der Königin.

Und sie schlug ihre kleinen Zähne noch tiefer in den Schädel, so tief, daß sie nicht mehr zurückfanden.

Also rang Abel mit ihr.

*     *     *

179 Leonie verharrte in der Pose ihrer Erzählung. Abraham Abt stand dicht vor ihr. Die Reflexe der roten Geranien auf dem Gesicht des entarteten Weibes hatten so viel Fesselndes für ihn, daß er den Sinn des Gehörten vergessen durfte. Ganz langsam erhob sich Leonie, während der Marquis seinen Willen von ihr nahm.

»Wieder einmal sind die Toten Sieger geblieben, sie sind zu klug neben uns, zu bedeutend in ihrer Philosophie der Verwesung.«

Seine Stimme klang fast resigniert. Vor seinem Gesicht schwebte ein großer, bunter Schmetterling, und er wehrte sich ärgerlich gegen das Tier, bis es endlich einen Platz über den Geranien in der Silberschale gefunden hatte. Es kostete von den Blüten und breitete seine Flügel aus mit der Wollust eines Genießers.

»Sehen Sie, dieses Tier wirft einen Schatten auf die Blumen, die Leonie berührt hat. Giebt es eine Eifersucht auf die Zufälligkeiten der Natur? Ich glaube ja, genau wie es eine Trauer über sich selbst, einen Unwillen gegen sich selbst gibt. Aber man kann solche aufdringlichen Symbole ruhig unbeobachtet lassen. Es wird mir heute schwer, der glühenden Fülle des Tages nachzudenken. Lassen Sie uns einen Gang durch den Garten machen. Wir wollen Beate und Leonie bitten, uns zu begleiten. – Finden Sie nicht, daß Beatens Füße und Hände sehr schön sind? Sie erinnert mich an eine der Bräute, wie sie die späteren Künstler der Renaissance sich ausgedacht haben. Es sind Bräute, die vergeblich auf den Geist warten, der sie für einen Christus befruchten soll. – Ich möchte Beate von einem guten Künstler malen lassen, ehe sie stirbt. Sie hat zu wenig Mitgift für den Geist. – Dort drüben habe ich ein kleines Haus, mit einer Insel mitteleuropäischer Harmlosigkeiten ringsum. Wollen sie das ansehen? Wenn ich sehr müde bin, ziehe ich mich in diese Ecke der Lappalien zurück. Soweit komme ich selten. Es ist sehr einsam, darum wollen wir zwei Frauen mit uns nehmen.«

Die vier Menschen gingen über die absichtlich verwirrten 180 Gartenwege. Sie sprachen kaum ein Wort, und auch mit den Augen verständigten sie sich nur selten.

Abraham Abt suchte wohl in seiner Seele nach Bildern, die er vor sie hinstreuen könnte, um sich von diesen müden Augenblicken zu befreien. Aber es gelang ihm nichts, und wenn er einen Kranz aus seinen Traurigkeiten geflochten hatte, warf er ihn unbefriedigt hinter sich.

»Aus diesem Garten mit seiner wehmütigen Pracht werde ich nie einen Scherz pflücken,« dachte er »und es werden diese Kapitel meines Lebens niemand eine Freude sein.« Seine Augen ruhten auf Beate, die neben ihm ging, mit frommer Heiterkeit auf den Lippen.

»Wer dieses Schweigen besiegen dürfte, müßte ein großer Erzähler sein.« Und er dachte weiter an sein Gestern, das wie von einem breiten Strom der Zeit von ihm getrennt lag. Er erinnerte sich der dummen Plumpheiten, die so manche Spannung gelöst hatten, er erinnerte sich, wie oft er ein Retter mit kleinen Torheiten gewesen war.

Die Vier verließen jetzt die Alleen und querten über ein freies Terrain; das ganze Land schien geflüchtet zu sein, um diesen Beeten den Platz zu räumen. Hinter einem Hügel verbarg sich die Mauer, und der Himmel säumte mit blauem Atlas das zarte Rot einer Pfirsichpflanzung. Nur eine kokette Wolke verdarb dem Tag seine schwerernste Geste.

Der Marquis ging gestützt auf Leonie. Abraham Abt betrachtete ihn. Er sah einen fremden Mann. Bisher hatte er den Marquis nur als einen Einzelnen erlebt, einen Leugner aller Zweiheit, den Jongleur eines Willens, den er über den Seelen der andern balanzierte. Jetzt schien er dieser Stütze zu bedürfen, weil ein Sommertag ihn bedrückte.

Und Abraham schämte sich fast eines Vorwurfs, der in seiner Seele aufkeimte gegen den unentwegten Geber.

»Nimmst Du Einsamer einen Arm, dann dürfen wir uns an Träumen satt trinken, dann sollst Du unsere Worte achten lernen, mit denen wir die Paläste der Armen und Sterbenden bauen. Ja, wir sind Narren, die im Halbschlaf Güte gesucht 181 haben, die sich grämten über die schnöde Brut der Moralisten. So kommen wir durch den Wald gegangen mit unseren Flöten. Zu den grossen Hochzeiten sind wir gekommen, und man warf uns die leeren Flaschen auf unsere Narrenköpfe. Weh Euch, Ihr Gastgeber! Ja, Ihr tut recht, die Toten zu preisen, die so stark sind. Mit den Furchen in unsern Gesichtern werden wir das Gericht der falschen Gastgeber erzählen. So einsam werden wir sein, weit besser einsam, denn wir haben nie ein lautes Wort über die Einsamkeit gesprochen. Es war ein Tag der großen Betrübnis, als Ihr uns schluget mit den leeren Krügen Eures Übermutes, als Ihr Würfel spieltet mit unseren Seelen. Dann werden wir Leichname sein und aufhorchen aus unserer einsamen, lautlosen Wissenschaft. Und ehe Ihr noch genug getrunken habt aus unsern Schädeln, die Ihr zertrümmert, beginnt unser Konzert, Ihr trefflichen Gastgeber.«

Abrahams Mund floß über in diesem Haß. Da wandte sich der Marquis um und sah ihn an.

»Sind Sie noch da, lieber Abraham Abt? Ich glaubte eben, Sie wären uns verloren gegangen. Ich hatte einen Traum. Ich träumte von jemand, der mich verriet. Es war ein großer Gütiger, ein Judas der Güte. Haben Sie gesehen, wie sich hier alles öffnet? Das Land hat sich verleugnet, um diesen Garten darzustellen. Und dort ist dieses kleine Haus, von dem ich Ihnen erzählt habe. Bedrückt es Sie, daß Sie nicht allein gehen können? Beate ist sonst eine gute Partnerin.«

Abraham Abt schloß die Lippen fest, und seine Augen, die den Marquis suchen wollten, irrten zu Beate hinüber.

»Beate ist sehr schön« sagte er wie aus einem Trotz heraus »und sie ist auch fromm genug.«

Der Marquis hob den Arm und deutete auf einen roten Hügel, der inmitten einer Insel dunkler Buchen aufleuchtete. Weiße Tauben schwebten über ihm dahin. Der Marquis zwang sich zu einem Lächeln, dann sagte er leise: »Man soll solche Häuser den Heiligen schenken, weil solche Häuser von einem kleinen Garten umschlossen sind, der wie ein Myrthenkranz ist 182 und das Unheilige abwehrt. Beate, ich schenke Ihnen dieses Haus.«

Seine Stimme ermattete, und er ließ den Arm wieder herabfallen. Nur um das Lächeln kämpfte er noch.

Abraham Abt faßte Beatens Hand, was sie ihm nicht verwehrte. Er wollte sie so gegen die Augen des Marquis beschützen, die sie bedrängten.

»Nehmen Sie Besitz von Beate?« fragte dieser mit gespielter Gleichgültigkeit. Der Eingriff seines Gastes in so alte Rechte ärgerte ihn. Er kehrte sich auf den Fersen um und ging mit Leonie weiter.

»Glaubst Du, Leonie, daß, wenn eine andere Sonne jetzt aufginge, sie diesen Garten und seine Wunder ganz aufsaugen könnte und den letzten Tropfen Gift von den Vielen, die ihn so schön gemacht haben? Es soll noch sehr viele Sonnen geben neben unserem System, und alle sind ewig.«

Abraham Abt hörte die letzten Worte des Marquis nicht mehr. Er küßte Beatens Hand, weil sie ihm sehr schön und reich dünkte. Er suchte nach Entschlüssen und ihrem Ausdruck. Seiner Seele strömten viele Worte zu, die alle Beatens Gestalt umklammerten. Aber er brachte nichts über die Lippen.

Sie half ihm mit kleinen Traurigkeiten, die sie lächelnd vor sich hin plauderte, halbe Erlebnisse und angedeutete Ängste.

So kamen alle in Beatens Revier. Vor dem Hause mit dem leuchtenden Ziegeldach und seinen Tauben hielt das erste Paar. Beate lief rasch einige Schritte vor. Ihre zarten Füße spielten mit einer kleinen Treppe, die zu einer schmalen Plattform vor dem Hause führte. Sie warf sich kichernd in einen Gartenstuhl, der neben der Türe stand. Die Andern sahen zu ihr hinauf. Sie war ganz von Sonne überschüttet.

»Man müßte dieses Bild festhalten« sagte Abraham Abt, dem Marquis zugewandt.

»Ja, man könnte Beate in dieser Sonne malen, die noch sehr hoch steht und doch schon untergeht,« antwortete der Marquis fast mit Kälte.

183 »Ich glaube, ich habe eine Bekannte,« fiel Abraham Abt rasch ein »die ganz wie Beate aussieht.«

»Ja, erzählen Sie, man hat immer viele Bekannte neben seinen Erlebnissen. Wir hören.«

»Aber ich muß in einen Schatten hineinsprechen können, und Beate soll mich nicht hören.«

Er suchte eine dunkle Stelle auf dem Rasen. Unter dichten Trauben eines ihm unbekannten Baumes ruhten seine Augen aus, mit der Geschichte eines kleinen Wesens, dem er Namen, Form und Farbe gab.

»Vor zu vielen Hochzeiten bin ich gestanden, Herr Marquis,« begann er. »Ich bin sehr lange und sehr oft durch den Wald gegangen. Aber weil Sie die Toten so lieben und ich die Hochzeiten, so will ich die Hochzeiten begrenzen und Sie nicht mit Gastmählern aufhalten. Ich finde es weise, rasch das Brautbett zu besteigen. Verstehen Sie mich, Herr Marquis?«

»Ja, ich habe Sie nie mißverstanden. Erzählen Sie nur.«

Abraham Abt erfand eine Betrachtung, die er Beaten zueignete. Er erzählte mit viel Nachdruck. Seine Blicke schöpften von dem Gegenstande eines reinen Begehrens. Beate saß still an der Sonne, die Tauben flatterten manchmal über den Kopf und dämpften mit dem Geräusch ihres Flügelschlages die klare Kraft seiner Stimme.

*     *     *

Annemarie ist alt. Es kommen wieder Knospen zu ihr, aber sie versteht es nicht mehr, unter Knospen zu leben. Die lichtgrünen Hecken heben ihr Haus einen Fuß höher über die Welt. Ihre Rosen haben schon viele Triebe. Auf der Terrasse kriecht der Epheu und würgt eine Bohne zu Tode. Staare zanken sich um einen Baum, und Nachtigallen hört man aus der Schlucht.

Aber Annemarie ist alt. Da ist ein Toter, der hat sie so alt gemacht. Kommt immer auf Stelzen, weil sie jetzt so hohe Fenster hat, einen Fuß höher über der Welt, schaut hinein, zählt etwas und hustet heiser, daß die Scheiben einen blinden Schein bekommen.

184 »Heinrich, es sind noch zwei, zähl nicht weiter. – Von Deinen lieben blassen Kindern nur noch zwei, mein armer Mann.«

Annemarie geht gebückt durch den Gang. Und dann wühlt sie wieder irgendwo, hat heiße Hände und ist ganz verwirrt. Immer gräbt sie irgendwo in den Betten und Laken, und ihre roten Finger lassen tiefe Furchen, wo sie etwas glätten wollte.

Das Fenster ist offen, und Fritzchen, Annemaries Jüngster, ein schmaler Siebzehnjähriger, plaudert von seinem letzten Freudentag. Er ist gleich seinem Vater Heinrich schmal und blaß. Seine Glieder sind wie von einem späten Meister gezeichnet, entworfen, darf man sagen; seine Lippen sind schlaff auch im Lachen.

Hinter den blaßroten Gardinen wächst irgend ein fremdes Kraut in einem hölzernen Kasten, und ein ganz verworrener botanischer Name steht darüber. Über den dunkelgrünen Sprossen der Pflanze sieht man einen Kopf sich bewegen.

Adi sitzt wieder draußen auf der Terrasse. Sie hat noch immer ein Sonntagsgesicht wie Vater Heinrich, aber nur selten bewegt sie sich. Ihre Hände streichen abwechselnd über einander hin, sie zählt ihre Adern und sieht neugierig, wohin sie fließen, wo eine mündet und die andere rätselhaft versandet. Seit zwei Jahren schon trägt man Adi täglich auf die Terrasse – an die Sonne.

Fritzchen ist heute sehr angeregt. Er spricht laut und mit Gesten. »Mutter, ich wollte, man könnte einen kleinen Rausch in den andern Tag mit hinübernehmen, aber man muß immer ausschlafen, zum Teufel, immer ausschlafen muß man. – Muttchen, eigentlich müßte Adi im Hinterzimmer gebettet werden, wenn ich jetzt immer dreimal in der Woche ausbleiben muß. Gott, man geht ja leise, aber weißt Du, wenn man da spät bis in die Nacht hinein erleben soll – und dann auf den Spitzen nach Hause kommen. – Muttchen, die Frauen, die Frauen. Es wimmelt jetzt von schönen Frauen bei uns. Man tanzt auch einen exotischen Tanz nach dem andern. Du, einer, das ist direkt ein Märchen. Denke nur, sechs können wir schon. Tanzen und Sterben, Mutter – ach, aber das mein ich 185 garnicht so melancholisch – wenn ich sage, ich sterbe, so meine ich, ich schöpfe mich aus, weißt Du – weißt Du – so in sich ertrinken. Ich möchte nach Paris, Du, da müßte man tanzen lernen, nein, man sollte Verbrecher werden und nach Paris auswandern.«

Und wenn er nach einem Satz Atem holen muß, sprechen seine Hände weiter. Sie bewegen sich mit derselben Hast wie seine Worte, gleich als pflückte er den Sinn irgendwo im Raume. Seine wasserblauen Augen flackern in einem nervösen Fieber über alle Gegenstände der Stube, nur selten ruhen sie zwischen dem fremden Kraut am Fenster auf Adis Kopf, wie Schmetterlinge auf einer gelben Blume.

»Und weißt Du, Mutti, gerade jetzt im Frühling, da, da fühlt man so, wie Männer und Weiber zusammengehören. Man möchte ordentlich so mit den Flügeln schlagen, jeder ist ein Bräutigam, alle sind Bräute.«

Annemarie wühlt noch immer in den Linnen, glättet wieder, noch ängstlicher, noch tiefer wühlt sie und kann nichts glatt kriegen. – Draußen schlägt ein Vogel.

»Und Du, Mutti, ihr muß man auch einen Bräutigam finden, Adi muß auch einen Bräutigam bekommen – und jetzt geh' ich und hol ihn ihr. Ich habe einen für sie, einen französischen Arzt aus den Kolonien. Du, wenn der so seine Kravatte zurechtstupst. Kavalier bis in die Fingernägel. Immer Smoking, Lack, gelbseidene Strümpfe und dazu Alles Wissenschaft, jedes Wort Wissenschaft.«

Seine Hände zucken wieder und laufen den Gedanken nach, die ihn heiß und müde gemacht haben. Dann eilt er durch die Gartentür ins Freie. Von der Terrasse kommt ein halbgestorbenes Räuspern.

»Adi, nun bist Du achtzehn, nun mußt Du einen Bräutigam kriegen.« Und das Räuspern begleitet ihn durch den Garten, als wollte es mitgehen zu dem französischen Arzt aus den Kolonien.

Frau Annemarie trippelt über die Terrasse. »Willst Du jetzt die Vögel füttern?« Sie zupft verlegen an den Lippen, wie einer, 186 der sich mit seiner Barschaft quält, das Letzte hervorzuholen. Und dann geht sie wieder.

»Muttchen! Muttchen!«

Adi ruft, und dem Rufen folgt ein Keuchen und dem Keuchen das Pfeifen, wie wenn der Wind durch einen ganz feinen Spalt bläst.

»Muttchen, da liegt – da liegt einer im Gras, der sieht mich fortwährend an. Ich will nicht, daß mich jemand ansieht.«

Einer liegt da mit gelben Strümpfen über den dünnen Beinen, ein ganz eleganter, spindeldürrer; den Kopf auf knöcherne Fäuste gestützt, liegt er so da und starrt auf die Terrasse hinüber.

Frau Annemarie trippelt wieder über die Fliesen. Der Vogel im Strauch hält inne mit seinem Adagio, er horcht und hört, wie Annemarie ganz leise weint. Das feine Pfeifen aber, das aus Adis Kehle kommt, hört der Vogel nicht, das hört bloß der im Grase.

Jetzt sieht man erst, wie sein Kopf ganz kahl ist, und er hat das Lächeln eines Genießers, der Tod.

Er lacht lange zur Terrasse hinüber, ein Arzt und ein Bräutigam.

*     *     *

Abrahams Augen ruhten von dieser Erzählung aus, auf denselben Schatten, die ihn schon früher gefesselt hatten. Sie gingen noch einmal über den Teppich ihrer Seele. Ein Hunger überkam ihn, den Mund der Sterbenden dort oben an der Sonne zu küssen.

Der Marquis und seine Begleiterin waren längst fortgegangen; noch ehe Abrahams Andacht beschlossen war, ließen sie ihn allein.

»Lassen wir ihn allein sein mit seiner Erzählung,« hatte der Marquis zu Leonie gesagt, »man muß Epiloge vor dem scheidenden Hause sprechen, wenn man sie ganz als Epiloge empfinden will.« Er hatte an die Augen Abrahams gedacht, die 187 noch immer im Schatten des unbekannten Baumes ausruhten, und vielleicht noch an etwas anderes, das ihn wider Willen berührte.

Abraham Abt stieg einsam die Treppe hinauf. Er küßte jede einzelne Stufe mit seinen Gedanken, bis er vor Beate knieen konnte.

 

Sie kämpften mit den Büschen, die sich ihnen beharrlich verweigerten, der Marquis und diese Geliebte, diese Leonie, der er seine spätesten Sünden zugedacht hatte. Der Schrei wilder Vögel ging ihnen voran.

»Wir haben keine Straßen, Leonie. Häuser haben wir wohl, in denen wir die bewirten, die uns untertan sein wollten. Wir verteilen Häuser unter diese, die so viel von Hochzeiten verstehen wollen. Ja gewiß, sie haben Rechte, wo uns Kräfte eigen sind. Wer wird besiegt werden? Wer kennt den Sieger in diesem Olympia? Überall hin folgt ihnen das Meer ihrer Gefühle, die sie uns veruntreut haben. – Ich bin eigentlich sehr traurig, Leonie, wenn ich diesmal so neben mich hin denke. Sind wir schon sehr alt, Leonie?«

Der Sommertag gab ihnen die Reste seiner Wärme. Der Marquis sprach sehr erregt von etwas Persönlichem. Er bemühte sich um einen reichen Stil für sein Anliegen.

Leonie hing eigenen Gedanken nach. Sie antwortete nur selten mit einem kurzen Satz.

Indessen war der Abend in den Garten eingetreten. Trotzdem lag so viel Licht überall, wunderbares Licht, das Leonies Augen widerstrahlten. Zwei Vögel zankten sich in einem Feigenbaum. Sie hatten die Lieder ihres Frühlings eingetauscht gegen die Gespräche des Sommers.

»Leonie, ich bin zu schwer für diese Erde. Es zieht mich auf die Kniee herab, ich muß sinken, ich muß Boden fassen mit meinen Knieen.«

Er kniete vor ihr, während sie lässig in den von roter Sonne erfüllten Westen hinüber sah.

188 »Das ist ein mißlungenes Amen nach so trefflichen Gebeten. Glaubst Du es mir, Leonie, Menschen wie ich müssen immer siegen können.«

Leonie lächelte über den Knieenden hinweg. Sie hielt ein Bündel kleiner Blumen empor.

»Sieh doch, Arthur, alles ist mir unter den Händen verwelkt. Aber es wird jetzt ernstlich Abend. Warum sollen wir die Nacht abwarten?«

»Laß es doch Abend werden. Das Letzte ist uns gegeben um des Ersten willen. Schließlich liegen wir ja doch so da, feuchte Frühlingserde über uns. Die Bettler freuen sich, weil wir so tief liegen. Mondlicht rinnt durch die Zweige und krönt ihre Bettlerköpfe. Und sie trinken ein Glas auf den reichen Sünder. Ihre fahlen Köpfe bewegen sich, und ihre Trunkenheit will kein Ende nehmen. – Soll ich zu ihnen kommen, sie sitzen unter den Linden. Soll ich ein Glas mit ihnen zerbrechen für den reichen Sünder? Für mich, denke doch Leonie, ich soll dann auferstehen und so dasitzen und mit dem Kopfe wackeln, alles für meine Totenfeier.«

Eine Nachtigall schlug an.

»Horch, Leonie! Es prophezeit ein Vogel in diesem Baum, an dem ich immer achtlos vorübergegangen bin.«

Er hob seinen Kopf und suchte.

»Es ist mir fast zu viel heute, ich fühle mich übersättigt. Ich muß in Dir ausruhen.«

Leonie antwortete nichts. Ihre Hände nahmen seine Liebkosungen entgegen.

»Leonie, ich meine, er tut große Schritte zu kleinen Falschheiten.«

»Arthur, es wäre schlimmer, er täte kleine Schritte zu großen Falschheiten.«

Sie ging mit ihren Blicken einer roten Linie nach, die westlich in grauen Wolken zerfloß.

»Ja, er ist der Fremde unter uns, den wir in unserer Art anstaunen. Er bringt uns etwas – ach, reden wir nicht von ihm. Steh doch auf. – Erzähle mir doch lieber etwas. Ich will sehen, ob 189 Du noch erzählen kannst – oder küsse mich – küsse mich so, daß ich Dir erzählen kann.«

»Ich wüßte eigentlich zu wenig für Dich. Jetzt meine ich; Du bist nunmehr klüger als ich.«

Der Marquis stand auf.

»Wenn wir einen Turm hätten, und ich könnte allein mit Dir hinaufsteigen oder mit allen denen, mit Diesen, mit den Einigen, die . . . Ach Leonie – einen Turm müßte ich haben und mich verklettern können. Du, ich meine, ich habe zu viel vernascht, Leonie. Ich bin zu viel Fanatiker, wenn ich etwas einpflanze. Ich erinnere mich an einen Freund, der wie ich war; ach, es ist nichts, irgend ein Blumennarr, und er stieg zuletzt auf einen Turm und stürzte davon herab. Aber höre einmal:

*     *     *

»Ich hatte den größten Blumenbazar in Paris. Man muß nur an seine Orchideen denken, um Sergius, der lächelnde Sergius zu bleiben. Jede Blüte ein jauchzender Traum aus Gottes glücklichster Liebesnacht. Manchmal bangt es mir vor Sergius, und ich versuche einen steilen Schluck aus meiner ewigen Flasche, um die Schatten meiner Kinder zu verscheuchen . . . . Ja, ich fiel, fiel – sieben Tage lang. Das waren unglückselige Papiere. Aber, da fassen Sie meinen Shlips an: ›Brüssel, Rue d'Eenyer.‹ Fassen Sie nur, verstehen Sie sich auf Seide? Und Sie sehen, daß ich mir auch meine Hosen immer bügeln lasse. – Ja, denken Sie nur, zwei Kinderchen.« –

Der fremde Mann verabschiedete sich an einer Straßenecke, indem er halb ehrlich, halb im Sinne des anständigen Menschen eine Bedauerungsphrase zimmerte. Sergius war allein. Er ging noch einige Schritte, dann trat er vor ein Auslagefenster und untersuchte in einem der dort angebrachten Spiegel, ob sein Ich nicht etwa durch ein ungesuchtes Fältchen Schaden litte. Nein, er war ganz der Sergius. Er verließ den belebten Ort, um ein stilles Gäßchen über seine nächsten Wege zu befragen. Wenn nämlich Sergius seinen Thronschatz 190 revidierte, so tat er das mit großem Widerwillen, wie etwa ein keuscher Ästhet, der den einsamen Wünschen seiner Körperlichkeit Rechnung trägt. So zog er denn sein seidenes Beutelchen hervor. Da war noch ein lediges Zweimarkstück, fast nicht mehr schwer genug, so ältlich, abgebraucht, keine Spur von königlicher Physiognomie mehr zu sehen.

Gott sei Dank, daß er sein Zimmer ersten Ranges gemietet und sein Konto in Verpflegungsangelegenheiten eröffnet hatte. Leuten mit gebügelten Hosen, die noch dazu so treublaue Augen haben, glaubt man mindestens drei Tage. Und heute hatte er sich doch entschlossen, zu seinem Sohne zu gehen. Es ist erst der zweite Tag. »Mein anderer Sohn« nennt er diesen den Leuten gegenüber, zum Unterschied von »meinem Sohn«. Der liebe Bengel wird doch nicht am Ende schon ausstudiert haben und aus Berlin fort sein? Er unterdrückt eine unangenehme Furcht und fährt dort, sich das Bild seiner Kinder zu ergänzen. Der eine, der so gerne Husaren spielte, das wäre etwa seine Spezialität von Sohn. – Ja! – wer weiß, wo – Husaren, haha, Husaren. Der andere (Dorotheenstraße 6), der trägt keine Glaçes. Dorotheenstraße 6 reflektiert er. Der Brief ist vom Frühjahr datiert. – – –

Das ist nun der dritte Tag. Hundertundsiebzig Mark.

»Ich werde meinen guten Sohn nie vergessen.«

Heute gab es niemand, der so ehrlich an seine Weltanschauung glaubte, wie Sergius, niemand, der seine Entschlüsse so detailliert ausreifen ließ. Bis in die allerunwichtigsten Trinkgelder hinab sortierte er die voraussichtlichen Summen und Sümmchen. In den Schmeichelklang der Silberstückchen aber mischte sich das Lied vom Leben, von jenem Leben, das wie ein Zuckerhäuschen ist mit hunderttausend Süßigkeiten.

Und Sergius hatte schon so viel genascht. Ja, aber er kann noch immer redlich arbeiten, er will heute bestimmt zum Agenten, er ist doch – gewiß ist er deshalb nach Berlin gekommen. Was soll denn auch dann werden? Und seinen Jungen noch einmal anpumpen? Lieber Junge! – Wenn er nur diese entsetzlichen Normalschuhe nicht tragen würde. Pfui! Ein 191 Franzose müßte einen Selbstmord begehen, wenn man ihm das anzöge.

Er war eben in der Nähe seines Zieles angekommen. Nummer 47, Agent Rothe. Ein Arbeiter kam des Weges. Sergius näherte sich dem Mann. »Pardon, können – verzeihen Sie, können Sie mir nicht sagen, Nummer 47, Agent Rothe?« – »Na, da jehen Se man da jerade aus mang die Blumen.« Der Sprecher deutete mit einer lässigen Bewegung auf ein in der Nähe befindliches Blumengeschäft. Sergius mußte lächeln über das Wörtchen. Er ergänzte sich aus der Bewegung die Bedeutung der Silbe. »Ja, so etwa – nach – nach. Haha! Mang, immer mang die Blumen.«

Eigentlich war Sergius ein begrenzter Mensch, aber wenn er Blumen sah, wuchs sein Herz in weit entfernte Perspektiven. Er sah dann mit den Sinnen eines selig Betrachtenden; er trat aus den Maßen seines Ichs heraus.

Der dichte Dunst des Bazars hatte sich an die kalten Riesenscheiben geschlagen. Man sah nur ein mattes Verfließen von Grün, Rot und Violett. Aber Sergius' Augen blieben doch gefangen. Er starrte ein Weilchen in das Glasfenster, über seine Lippen glitt die Bewegung des Genusses. Seine Phantasie klammerte sich an die halben Töne des Violett, und er flüsterte ganz leise: »Orchideen«. Dann erhob sich aus seinen Blütenträumen der Stolz und die Erinnerung an seine besten Tage. – – –

Was? – Sollte er hier eine kleine Frauenhand entdecken? Die Wirklichkeit hatte sich seiner Phantasie ergeben. Es kam wirklich eine Frauenhand zwischen den Blumen hervor und regte sich flink unter den Blättern. Ach, wie alles hell wurde, hell, hell, wie herrlich hell, und ein Mädchenkopf – Orchideen – Orchideen.

Und er ging, er wußte nicht, daß er ging; in die Türe des Bazars trat er ein. Ja, er küßte die kleine Hand, ja, wußte er denn, daß er sie küßte, ja, und er plauderte von Blumen, von Orchideen. Die Blumen strömten süße Weiblichkeit aus, alle hatten gierige Lippen, und Sergius küßte die kleine Hand oft, oft.

192 »Mein lieber, guter Sohn, ich werde Dich nie vergessen.«

Sergius kaufte alle Blumen, alle Orchideen, alle violetten Orchideen. Dann sprach er etwas – es mochte wohl das schönste Gedicht gewesen sein, das je ein Blumenfreund gesprochen hat, aber er weiß nichts mehr davon, auch die frische Kleine nicht, die kicherte dazu und sprach dann von einem Wiedersehen und von den Orchideen, haha, von den Orchideen.

Es war um die Mittagspause. Der Sergius hielt seinen mächtigen Orchideenstrauß in der heißen Hand und wartete auf seine kleine Blumenprinzessin. Da küßte sein Herz ein eiskaltes Gespenst. Es war das Gespenst seines letzten Tages, das ihn begrüßte. Eiskalt – eiskalt.

Und er hörte, wie die Orchideen da drinnen kicherten, da drinnen in ihren seidenen Hüllen.

Er sah nach der Turmuhr, es waren drei Stunden vergangen, seitdem er hier wartete. Da begannen die Glocken zu rufen. Sie schrien Hosiannah, Hosiannah.

Er hätte so gerne einen Blick in die Papierhülle getan, um nachzusehen, ob sie wohl noch lebten, die Orchideen. Aber es kam eine große Scham über ihn, er glaubte sich beobachtet, verhöhnt von all dieser jagenden Welt, er, der große Blumennarr. Wenn er nur fortkönnte, empor aus diesem schmutzigen System in der Ebene.

Er stand dicht neben der Turmuhr. Die Glocken schrien noch immer Hosiannah, und es dröhnte durch das schmale Stiegenhaus wie der Ruf des Gerichtes. Es war ein wilder Wunsch, der ihn trieb und zur Wollust einer großen Gefahr emporreifte.

»Ich danke Dir, mein Söhnchen, ich werde Dir ewig dankbar sein.«

Da oben stand nun Sergius, Sergius, der seine irdische Glückseligkeit vernascht hatte, ganz nahe unter dem Himmel, ganz allein. Dann öffnete er behutsam die Hülle und trennte die Fäden des Straußes. Sie fielen einzeln hinab, so seltsam wirbelten sie und glänzten in der Sonne wie farbiger Schnee.

Und Sergius lächelte und sagte irgend etwas.

193 Dann beugte er sich über das Geländer, weil er noch sehen wollte, wie sie unten ankamen, tief, tief hinunter über den Rand seines Lebens, bis es ganz still war in ihm.

*     *     *

»Ja, Arthur, mir gefällt Deine Geschichte, und der Mann, der so aussah wie Du. Aber ich finde, er ist Dir weit vorausgeeilt, und das ist gut für Dein Leben. Du hast zu viel gepflanzt, um alles pflücken zu können und vor die Menschen hinzustreuen. Jener fing mit dem Pflücken an und erlebte einen Bankerott, weil er nicht genug Gärtner war. Du bist doch eigentlich nur Gärtner und suchst überall den Samen aufzuwecken.«

»Aber denke, Leonie, wenn ein großer Triumphator käme, einer mit einem riesigen Glauben, dem ich unterliegen würde. Denke, er käme durch meinen Garten, weil meiner der einzige ist, bereit für ein solches Hosiannah. Würdest Du ihm Blumen hinwerfen, die besten und seltensten, die ich habe?«

»Ja, ich müßte wohl, wenn er sehr groß wäre, Dein Erlöser.«

Der Marquis schwieg, mit gesenktem Kopf ging er langsam neben seiner Begleiterin einher. Auch Leonie schwieg. Ihre Gedanken drängten sich um das Bild des neuen Erlösers.

»Ein Triumphator auf diesem Wege, ein anderer Triumphator, dem der erste huldigt,« dachte sie und malte sein Bild weiter aus. Ihr Gesicht verriet Grausamkeiten, die sie mit einer Art Andacht genoß. Manchmal streifte sie den Schädel des Marquis mit einem flüchtigen Blick.

»Ob er wohl wieder knien wird, wenn er erlöst oder abgelöst sein wird?«

Sie näherten sich einer Schlucht, mit der der Garten an die Berge grenzte, die ihn auf einer Seite beschützten und seine letzten Kulturen verbargen. Große weiße Blumen strebten aus schwarzen, riesigen Schalen heraus, wie Leichen, die das Wasser hebt.

»Sie werden mich Alle verhöhnen, Leonie, ich weiß es« begann der Marquis nach dieser langen Pause. Und er ging von Blüte zu Blüte. »Sie werden mich anklagen mit ihrer Existenz, die, 194 denen ich Häuser und Wachstum geschenkt habe. Er ist mit den Luchsen befreundet, werden sie schreien, wie die Märtyrer der Landstraße mit dem Ungeziefer. Er hat die Schwalben verführt, sich haltlose Nester zu bauen; er hat die zarten Pfänder ihrer Liebe eingekerkert. – Leonie, sage, wie vielen hat dieser Ankömmling eine Seele geschaffen und eine Bühne gebaut, auf der sie ihr bischen Leben zu Ende agieren dürfen? Das war vielleicht meine einzige Art von Liebe, die knöcherne Schale abzuheben und in einen Inhalt hineinzusehen. – E pur si muove, Leonie!« Er straffte unwillkürlich seine Muskeln. »Und ich will keinen Erlöser! Es ist besser, ich lasse mich von dem Getier bestatten, dessen Arten ich genau kenne. Ich bin in vielen Liebesbewerbungen untergegangen, ich habe eine ganze Existenz mit Bewerbungen ausgefüllt, jetzt nistet man durch meinen Willen. Mein Garten wird ein Tummelplatz der Familien sein. Es ist Zeit, daß ich mich bestatten lasse, ich, so ein Alter. Vielleicht findet man einen Sarg, der groß genug ist, namentlich diesen Kopf möchte ich gerne bedeckt wissen. Ich möchte nicht gerne lange bedauert, viel lieber gut und sorgfältig begraben sein. Ich habe mir einmal Hyänen gezüchtet. Sie gediehen vortrefflich, aber ich mußte sie fortgeben, denn ich begann mich vor diesen Tieren zu fürchten, von denen man sagt, daß sie Menschen ausgraben.« –

»Ja, ich kann es verstehen, daß man Furcht vor einer solchen Vorstellung hat. Die Sentimentalität für ehrliche Begräbnisse ist zu populär. Ich habe mir ein Märchen ausgedacht, das dieses Thema aufnimmt, das Thema der großen Begräbnisse. Es sind nur Notizen meiner Phantasie. Aber ich will es Dir doch ganz ausführlich erzählen. Ich denke es mir sehr lustig, wenn das Ungeziefer die Gelehrten begräbt, die es für die Wissenschaft gerettet haben. Ich finde das einen famosen Samariterdienst. Es muß ein schöner Augenblick sein, wenn ein Mistkäfer Kavalier wird. Ich will Dir von dem Sarg eines Riesen erzählen, in meiner ganz ungefeilten Art. Du sollst mir nur zuhören, und nicht über meine Art nachdenken.

*     *     *

195 Der Berg blühte, die Schlucht atmete Blüten, und irgendwo rief ein Dorf mit seiner Glocke in den Abend hinaus.

Der Berg war voll von Herrlichkeiten, auf seinen Schultern trug er einen Wald, und an seinem Fuße wuchsen die Märchen.

Da stand ich oft und starrte hinunter in die Feier der Landschaft. Ich sah das graue Haus mit dem leuchtenden Kranz seiner Fenster in Nebel sinken, und es lud mich zu Gaste, meine Augen und mein Herz lud das Haus des Riesen zu Gaste.

So war er, ein Riese, thronend auf den Schalen menschlicher Träume, in eine Welt hinaufragend, ein Atlasnacken des Geistes. Über seinen halbgeschlossenen Lidern lasteten die Stunden einer langen Sorge, und ein Haß brannte in ihm, der besser war als alle Liebe des Weltalls. Alles ahnte ihn, Mensch und Tier. Tausend klebrige Hände streckten sich nach seiner Weisheit, und doch glitt sein Stift leicht und ungehindert.

Und er schrieb sein Werk als ein Evangelium der Kraft – sein Werk über das Insekt – das böse Prinzip in der Natur, das Insekt, das ewig feige, das fäulnistrunkene, übelriechende Insekt. –

Weiße Rosen grüßten in seine Einsamkeit und warfen ihre Räusche in seine Gemächer. Und doch verzehrte sein Griffel den Frieden der Mondnacht, die Schritte seines Lebens dröhnten durch den Dom Gottes wie Glockenrufe der Vergeltung. –

Da stach ihn eine Fliege in den Scheitel – eine Schmeißfliege. Die Pest der Verwesung rann in sein Blut und staute seine Pulse. Er starb infolge des Stiches einer Schmeißfliege. –

Was irgend ein Zwerg war, nahm seinen Pilgerstab und wanderte nach dem Haus in der Haide, den toten Riesen zu sehen. Aus allen Höhlen kroch und krabbelte es; gewaffnet mit ihrer kleinen höhnischen Freude kamen sie in breiten Scharen, denn es ist das Recht der Zwerge, dem Riesen in sein Grab zu speien. Ringsum roch es nach Feiertagskleidern, und man sah nichts als gesenkte Koboldköpfe. –

196 Die Sonne stieg in den Tag hinauf und füllte ihn bis zum Rande mit Glanz und Glück. Über den Sand der Haide hatte sie Gold gegossen, und die Kronen der weißen Rosen senkten sich hinab, beschwert von der weichen Wärme. Aus allen Spalten der Erde rief sie das Geschöpf zur Feier. Auf allen Blättern saß das Getier, einzeln und in Gruppen saßen sie da, geschwätzig und übelriechend. Keiner glaubte hoch genug zu sitzen für ein Insekt. So warteten sie auf den Trauerzug und scharrten und schnarrten und putzten aus ihren Freßzangen die Überbleibsel der letzten Beute. Eine Wanderheuschrecke wollte eine Rede halten, sie rieb ihr gezähntes Bein an den Flügeldecken, um sich Gehör zu verschaffen. Sie sprach von Idealismus und vegetarischer Kost. Aber niemand wollte sie hören, alles putzte an seinen Freßzangen. Ein dicker Scarabäus schwirrte vorbei, rollte fröhlich durch die Luft, stolz auf sein Mistkäfertalent. Sein blauer Bauch schlug an eine weiße Rose, und jauchzend spreizte er die Beine, versuchte sich festzuhalten. Sanft gewölbte, lichte Kelche schlossen sich und empfingen ihn. – »Pfui, er hat Läuse an den Beinen,« bemerkte eine alte, erfahrene Rose, die alles beobachtet hatte. –

So saßen sie da, Insekt an Insekt, lachend oder streitend, und es war ein Wiegen und Schmiegen in den Zweigen, als käme der Kaiser von Rußland, um eine Allianz mit dem Scarabäus zu schließen.

»Ungeziefer!« schrie der Grasfloh einer Baumwanze zu, die ihn aus Versehen angetastet hatte.

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« entgegnete die Wanze. Und eine grüne Träne stand ihr gut an. Kurz, man wartete und sehnte sich, man drängte sich und begann das Gleichgewicht der Insekten zu verlieren. – Da, endlich – – –

»Sie kommen, sie kommen!« Der Scarabäus guckte über den Kelchrand der weißen Rose und spähte mit müden, verträumten Augen die Waldlichtung entlang. Die Cikaden stellten sich in Positur. Einige schlugen einen Walzer vor, viele einigten sich auf eine Symphonie, schliesslich wurde »Das deutsche Lied« angenommen. Und wirklich, sie kamen. Eine Schar 197 dickbäuchiger Gnomen trug den Sarg. Sie wären schon längst gekommen, aber der Metallsarg! – »Einen Sarg, einen Sarg, ein Königreich für einen Sarg!« hatte der Shakespeareforscher, ein ganz kleiner, häßlicher Zwerg, gerufen, und die Bakteriologen mußten stundenlang über die Unzuträglichkeit einer unzureichenden Bestattung sich unterhalten. Aber doch blieb der größte Sarg des Landes zu klein für den toten Riesen, er ließ den Kopf unbedeckt.

»Nur fort, nur fort mit dem Aas, ganz egal wie,« blieb schließlich die Parole. Die ästhetischen Zwerge hatten sie durchgedrückt.

»Sie kommen, sie kommen!« Und es rauschte in den Blättern von Jubelrufen. Da waren sie auch schon. Man sah die verdrossenen Sargträger, Koboldköpfe, Palmwedel, Fackeln und man sah den Spalt, aus dem der Kopf des Riesen starrte, die weit aufgerissenen Augen und das wirre Haar, man sah den Zug der Tanten und Gelehrten, wie bei einem anständigen Begräbnis, man sah den Senat der Zwerge.

Leichenstille, Begräbnistrott, streng gemessene Takte der Heuchelei, schwüles Gemurmel der Beter und Beschwörer.

»Er gehört uns! Er gehört uns!« schrie etwas mitten in die Andacht hinein. Hoch oben vibrierte ein Ton, es klang wie ein Barrikadenruf in der Insektengruppe. »Er gehört uns!« Wieder ein Winken und Wogen in den Zweigen und Krabbeln und Schaukeln, und weit in den Glanz empor schillerte ein Flügelpaar.

»Die Schmeißfliege – Schmei – Schmeißfliege«. – Der Mistkäfer hob noch einmal seine übernächtigen Augen, einen Augenblick war es ihm, als hätte er sein Krönlein verloren. Aber bald tröstete er sich in seiner Eifersucht auf die Schmeißfliege. »Sie klebt nur an der Oberfläche, ich aber dringe tief hinein,« flüsterte er trunken und sank in seinen weißen Kelch zurück. Der Scarabäus hat eine Weltanschauung.

Die Cikaden hatten den Aufruf der Schmeißfliege vernommen und intonierten. Die Asseln rasselten mit ihren Panzern, die Schildläuse bildeten Spalier.

198 »Er gehört uns!« quoll es noch einmal aus Millionen Insektenkehlen, und das Heer der reisigen Kerbtiere flatterte auf gegen das Geschlecht der Zwerge.

»Sein oder Nichtsein!« röchelte der Shakespeareforscher, und ein letztes Lüftchen Pathos kräuselte sich über seine Lippen. Da stach ihn eine Schnake in die linke Backe, und er jagte davon. So wurde er der Anführer eines flüchtenden Heeres, das über den Waldweg stampfte. Ein Summen und Schnarren erfüllte die Luft, und ein ängstliches Näseln antwortete auf dem Grunde des Waldes.

»Hurrah, hurrah, er gehört uns, der Riese gehört uns! Es lebe die Anarchie und der absolute Fraß!« – »Beinfraß!« ergänzte eine junge Knochenmade und platschte fett und wollüstig auf den Sargdeckel.

Die acht gebeugten Koboldköpfe hatten am längsten Stand gehalten. »Wir sind ja garnicht Eure Feinde« jammerten sie, »wir lieben ja die Insekten;« aber es nützte nichts, auch sie wurden in die Flucht gestochen. Am Rande einer Schlucht glitt der Sarg von ihren Schultern und fiel auf blaugrüne Moospolster.

»Die schönste Stelle für einen Leichnam« dachte der Scarabäus, als er den dumpfen Ton des fallenden Sarges vernahm.

»Bon soir, monsieur! Die Glückseligkeit ist eine breite Straße. Ich bin sehr glücklich.« – – –

Die weißen Rosen hatten böse Träume in dieser Nacht, mit leuchtenden Stirnen lagen sie nebeneinander, und zu Zeiten ging ein Zittern durch ihre Blumenseelen, die Jüngste aber sprach etwas in die Nacht hinaus, etwas von einem Reich, in dem weiße Blätter zur Erde fallen, wie Schnee. Ängstlich flackerte der Atem aus ihren Kelchen und schlug einen duftenden Tau an die Blätter. Ein leises Weinen schwebte über der Schlucht.

So träumten die Rosen und begannen zu welken, die Insekten aber feierten ein Bacchanal der Weisheit und Fortpflanzung. Alles fühlte sich befriedigt und satt.

199 Nur die Schmeißfliege schwirrte durch das Revier und deklamierte eine Ballade vom ungetreuen Untertan.

Aber die Tage glitten ins Meer, lautlos und welk: »Die Pest – die Pest geht!« –

Grüne Verwesung kroch wie ein Reptil über den Leib des Riesen. Leichengift quoll aus dem klaffenden Spalt des Sarges. »Er stinkt, er stinkt schon!« riefen die Blattläuse. »Wie kann ein Riese so stinken?« schnarrten die Asseln, »es ist nicht mehr schön, pfui, in anständiger Gesellschaft so zu stinken! Es ist ja geradezu sanitätswidrig!« – Eine ganz alte Assel trat hervor: »Meine Damen, es muß etwas geschehen, der Riese hier stinkt. Denken Sie an den Bund für Insektenrechte. Wie beseitigen wir den Riesen?«

»Fressen, fressen, nur immer weiter fressen« rief es in der Runde: »es lebe der große Fraß und die Verdauung!«

»Also wir konstituiren uns von Neuem« setzte die alte Assel pathetisch fort. »Ich bestätige hiermit den Bund der Insektenrechte und beantragte als erste Vereinstat die vollständige Aufzehrung dieses Riesenleichnams, zunächst die Beseitigung des Kopfes als des gefährlichsten Teiles. Im Interesse des allgemeinen Wohles ersuche ich, den Rumpf und die Glieder vorläufig zu ignorieren. Sie sehen diesen gewaltigen Kopf, Sie sehen die starre Schale, unter der einst das Gift einer egoistischen Denkungsart hervorquoll, gerade wie itzt das Gift der Verwesung. Hinweg mit diesem Scheitel, auf daß der Nacken in den Sarg sinke und dieser sich schließe – auf ewig!« Die alte Assel hob ihren siebenten Fuß zum Zeichen der Bekräftigung des Gesagten. Andächtige Stille erfaßte die Gemüter der Insekten. Nur wenige wagten sich näher und schüttelten der alten Assel den siebenten Fuß.

»Ich danke Ihnen« nickte ein schwarzgesprenkelter Totengräber. »Ich danke Ihnen – wir werden fressen.«

Die nächsten Tage brachten eine große Organisation. Die Schnarrheuschrecken wurden als Herolde gewonnen. Die Cikaden versahen eine Art Fest- und Kriegskapelle; dem Scarabäus wurde eine gelbe Binde um den Leib geschlungen, 200 die zu dem Titel »Fahnenjunker« berechtigte. Die Schmeißfliege erhielt ein Kommando über die Chasseure, die Bombardierkäfer durften sich Artillerie nennen. Als Zentrum empfanden sich die Blattläuse und Asseln. Grau und grün wuchs das Heer der Pestilenzamazonen in das beleuchtete Land hinaus, und man durfte den Nachtrab der Fresser als geradezu unermeßlich bezeichnen.

»Es lebe der große, festliche, allesvertilgende, allbildende, gottselig ewige Fraß!« Über die Böschung taumelte trunken das Heer der Billionen. Im Schatten der Halme krochen sie, und die Sonne segnete lächelnd, was sie nicht bescheinen wollte. Endlich standen sie vor seinem Schädel, ein Gebet flackerte ihre Gier in den Himmel hinauf. Ein Schnaufen und Schnappen, ein Schmatzen und Schnabulieren, es war wie an der Tafel des Bischofs an einem fetten Dezembertage. Vier Tage lang währte das Fest. In fahlen Fetzen hing das Gehirn über die kupfernen Wände. Bis an den Atlas war alles überwunden. Immer schmaler wurde der Spalt im Sarge, langsam sank der Deckel. Schon sägte das Insekt an dem Wirbel.

»Den Kopf ab, den Kopf ab« rief es. – Da, ein lauter Krach – ein Schmettern wie tönendes Erz, und der Sarg des Riesen schließt sich. – – –

Und während sie so dasitzen, die Reste des Unrats noch zwischen den Kiefern, schleicht sich eine Feier in die Gemüter der Insekten. Der Scarabäus zupft an seiner Binde, die Blattläuse präsentieren, die Bombardierkäfer schießen einen Salut. Da, horch, horch, ein Schwirren in der Luft, ein Vibrieren von Flügeln. – »Laßt die Toten schlafen! Gott mit uns! – Wer hat den Riesen gestochen? – Ein Königreich müssen wir haben, wir müssen ein Königreich werden! Aus unserem Bund der Insektenrechte erhebe sich ein Schmarotzerkönigreich!«

Die Schmeißfliege hatte diese Worte gerufen. Schon waren auch Minister da, die sich verneigten, die alte Assel hielt eine Rede und pries das geordnete Staatswesen, der Scarabäus schlug sich an den blauen Bauch und entschuldigte sich als schlechter Redner. So wurde die Schmeißfliege König, und 201 noch einmal trat jene alte Assel hervor und lächelte mild wie eine Ministersgattin. »Ich verleihe Dir denn das Großkreuz des Kloakenordens erster Klasse am grauen Bande« antwortete die Schmeißfliege noch immer schwebend. – »Ich danke« entgegnete die Bandassel und verneigte sich noch tiefer. »Vive la reine!« flüsterte sie, denn sie sprach das Französische geläufig und liebte es in Erinnerung an ihre Mädchenzeit.«

*     *     *

»Ja Leonie, Du erzählst gut,« gab der Marquis als Antwort auf die Erzählung, die ihn betroffen und verstimmt hatte. »Du mußt Dir erst nur noch eine Richtung geben. Ich weiß, ich werde Dich einmal im Traum hören mit einer Geschichte, die über Kadaver frohlockt. Es ist gut, wenn eine Frau das Mitleid nicht empfindet, wenn Frauen Deiner Art ihre Götter mit frechem Lachen begraben. Das Elend des zweiten Geschlechts wuchs bisher immer auf dem Boden dieser unphilosophischen Eigenschaft.«

Er betrachtete sie noch einmal mit einem richtenden Blick, und überlegte, ob er diesem Blick jemals noch einen zweiten folgen lassen dürfte. Sie kam ihm zu Hilfe, indem sie hinter ihn trat, sich mit der Enge des Weges entschuldigend. Er fühlte noch wie ihre Gedanken ihn umschwärmten, schwärmten wie mitten in der Abendsonne.

»Ich möchte sehr allein sein in dieser kurzen Zukunft, auf die ich jetzt Anspruch erhebe,« sagte er warm, aber mit viel Bitterkeit, fast im Tone eines Abschiednehmenden. »Meine Sonntage der Lobpreisungen sind vorüber. Erinnerst Du Dich noch, wie wir früher einmal durch diesen Garten gegangen sind, und wir stammelten den Anfang dieser großen Lobpreisungen?«

»Ja, Arthur, damals lernte ich mit Dir spazieren gehen.«

»Es war ein ungleiches Vergnügen für uns beide,« höhnte der Marquis als Antwort. »Aber das Jahr war noch jung. Man fühlte sich gedrungen zu Gemeinsamkeiten. Es war ein deutliches Frühjahr. Leonie, Sie bewunderten damals die grünen 202 Kanarier, die ich mit einer ganz einsamen Pädagogik aufzog. Es war ein unansehnliches Häufchen. Sie bewunderten auch den Nestbau dieser Vögel und lobten mich. Ich denke gerne dieser Episode, von der ich viel ableiten kann. – – – Es stehen Käfige gefüllt mit toten Kanarienvögeln zwischen uns. Doch Sie haben Recht, Leonie. Ein Klosett mit kräftiger Spülung ist besser als tote Kanarienvögel.« 203

 


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