Karl Gutzkow
Der Sadducäer von Amsterdam
Karl Gutzkow

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Plötzlich nahmen aber alle diese Verhältnisse eine neue Gestalt an. Einige Worte, welche Uriel eines Abends im Mondschein mit Judith wechselte, gaben dazu die Ursache her. Sie hatte ihn gefragt, ob er denn in Wahrheit den Namen eines Sadducäers verdiene, den man ihm allgemein gäbe. Uriel hatte dessen keinen Hehl und sagte: »Wenn es ein Wort gibt, das eine unabhängige, über Vieles schon im Klaren, über das Meiste noch im Ungewissen befindliche Meinung bezeichnet, so möchte ich mich am liebsten mit dem Namen jener Sekte bezeichnet sehen.«

»Dann glaubest du also auch nicht,« fiel Judith mit Hast ein, »daß unsere Seelen nach dem Tode wieder vereinigt werden?« –

»Moses lehrt darüber nichts,« sagte Uriel spottend. Judith verstand ihn nicht; aber es war ihr in diesem Augenblicke, als öffnete sich ein tiefer, finsterer Abgrund und sie stürze fort und fort durch eine Ewigkeit, die sie nicht zu fassen vermochte. Sie zitterte, schwieg, und erst nach langer Zeit fragte sie ihn zum zweiten Male, ob er habe sagen wollen, daß sie Beide in ewige Nacht untergingen. Uriel nickte mit dem Haupte und erwiederte: »Womit läßt sich nachweisen, daß wir jenseits noch einmal leben sollten? Alle die Hülfsmittel zum Leben, welche uns die Natur mitgegeben hat, sind nur für die irdische Welt berechnet, ja für diese reichen sie nicht einmal aus; denn wir müssen sterben und unser ganzer Bau fällt frühe in Asche zusammen.«

Judith fühlte sich wie von einer wunderbaren Kraft unterstützt, und entgegnete mit einem Eifer, den sie an ihr Letztes zu setzen schien: »Warum strengst du aber deinen Geist an, um Wahrheiten zu erforschen, die ja dann mit deinem Leben verloren gingen, Uriel? O sprich, daß es eine zweite Welt gibt, um deiner hohen Gedanken willen, um Alles, was über Religion, Tugend und Natur gelehrt wird!«

Uriel spürte Judiths Unruhe nicht, vielmehr lachte er und sagte: »Du sprichst so keck, als wolltest du mit mir streiten. Glaubst du denn, daß jedes Ding einzeln, für sich genommen, zu Ende gebracht werden muß? Wenn unser Geist Gedanken erzeugt, so erfüllt er eine Beschäftigung, die ihm übertragen ist, ja noch mehr, er genießt eine Wohlthat, die ihm der Himmel schenkt. Aber was er ersinnt, soll nur dazu dienen, ihm selber eine Freude zu gewähren; die Wahrheit dessen, was er denkt, ist der Ewigkeit gleichgültig; die Wahrheit besteht ja auch ohne ihn. Nimm das Thier! es bedient sich aller der Kräfte, die ihm zu Gebote stehen; wenn es nun nicht alles das vermag, was der Mensch, soll es dann für dasselbe auch ein Reich geben im jenseits, wo es auf diese Stufe erhoben wird?«

Judith wußte keine Antwort zu geben, aber eine neue Frage wagte sie: »Warum, Uriel, sind denn die Menschen in gute und böse getheilt, wenn es einst keinen Ort gäbe, wo dieser Unterschied ausgeglichen wird?«

Uriel fand dieses Gespräch entzückend und lachte noch lauter. »Wie bescheiden du bist, Judith!« rief er aus; »wie artig du die Belohnung und Bestrafung umschrieben hast! Aber sage mir, wenn es wirklich eine Ewigkeit gäbe und sie sich damit beschäftigte, diesen zu belohnen und jenen zu bestrafen, hätte sie damit nicht auch eine große Mangelhaftigkeit in der Weltordnung zugelassen? Denn was hieße dies anders, als Preise aussetzen, welche nicht mehr die Tugend zu erringen hätte, sondern der Eigennutz? Die Tugend ist, wie die Wahrheit, um ihrer selbst willen da. Sie theilt hierin die Eigenschaft, welche der Schönheit noch nie bestritten ist. Von der Schönheit verlangst du nicht, daß sie sich dereinst noch steigere. Ich möchte dich, meine theure Judith, niemals schöner sehen, als du bist, und leugne gerade deßhalb die Unsterblichkeit deiner Seele, weil ich fürchte, daß du einmal anders sein könntest, als jetzt.«

Judith aber hatte mit diesen Worten, denen sie traute, alle Fäden verloren, welche ihren Glauben und ihre Hoffnung noch zusammenhielten. Sie blickte bittend zu Uriel hinauf, denn sie fühlte es, daß sie an der Grenze war, über die hinaus sie ihm nicht mehr folgen konnte. Da er schwieg, so wagte sie, die stillen Sterne über ihren Häuptern zu beschwören und mit ihnen gegen Uriel zu kämpfen. Doch er nannte Alles Täuschung und sagte, die Welt sei nur eine Grille Gottes; denn ein Plan Gottes könne sie nicht sein, da nur die irdische Schwäche, die mit einem Worte nichts schaffen könne, Plane mache. Und Judith sah Alles an, was Uriel so Grausamwitziges sprach, und fühlte es bis in den feinsten Kern ihrer Seele. Sie krümmte sich wehklagend in dem Zauberkreis seiner Worte, beschwor ihn, seine Formeln zurückzunehmen, und richtete sich, wie athemlos, mit der letzten Frage an ihn: ob denn auch die Schwüre ihrer Liebe verhallen müßten in das Nichts, und sich Liebende im Jenseits nicht wieder finden würden? Uriel verneinte Alles. Er legte seine eiskalte Hand in Judiths fieberglühende und sagte: Wie kann man sich lieben, ohne die Reize des Körpers und der Seele zu besitzen, welche dich auf Erden schmücken? Es ist unerweislich, daß wir im jenseits mit denselben Stiefeln und Sporen auftreten, wie hier. Unsere kleinen Gebrechen, die oft so liebenswürdig sind, deine vielen Launen, die mich fesseln, müßten dort alle aufhören. Es könnte doch nur ein seelischer Zustand sein, der uns zwänge, uns in Gedanken, aber keineswegs in Küssen und Umarmungen zu lieben. Diese Seelengenüsse müssen aber ohne sinnliche Empfindung sehr einförmig sein, wie ich mir denn überhaupt dies allgemeine Zerfließen, das man im jenseits zu hoffen pflegt, nicht ohne die größte Langeweile vorstellen kann. So gewiß ich jetzt lebe, werde ich einmal todt daliegen, ohne Besinnung, ohne zu wissen, daß es eine Judith gab. Es gibt nur eine Unsterblichkeit: das ist die im Gedächtnisse der Menschen; jede andere ist eine abergläubische und eigennützige Täuschung.« Dann überhäufte der Atheist seine Geliebte mit Liebkosungen und brachte sie durch seine ausgelassene, fast gemachte Lustigkeit dahin, zu allen seinen grausamen Erklärungen eine gute Miene zu machen. Sie lächelte auch und versprach ihm beim Abschied, daß sie Alles in genaue Ueberlegung ziehen wolle.

Judith war freilich nicht selbständig genug, als daß sie gewagt hätte, jetzt über Uriel den Stab zu brechen; aber eingestehen konnte sie sich, daß ihr Vertrauen zu ihm wankte. Er hatte sie selbst aus ihrer frühern Unbefangenheit herausgerissen und sie gelehrt, auf Fragen dieser Art, wie sie an jenem Abende entschieden wurden, einen Werth zu legen. Sie sah ein, daß sie diesem Fluge nicht mehr folgen konnte. Sie würde nicht geglaubt haben, daß dies Zurückbleiben auch eine Verringerung ihrer Liebe sein könnte, wenn Uriel nicht selbst gesagt hätte, daß man auch ohne Unsterblichkeit lieben könne. Keinem dieser Dilemmen, in die ihr Glaube und ihre Liebe geriethen, war sie gewachsen; sie wurde unwillig, daß sie zwischen sie gerathen war, und es gab Augenblicke, wo sich der Mißmuth über den Urheber dieser Verwirrung bis zum Hasse steigerte. Sie vermied schon zuweilen, Uriel zu begegnen, ob sie ihn gleich, da es sie dann reute, von freien Stücken wieder aufsuchte. Ben Jochai, dessen Rath sie ansprach, bestärkte sie in ihrem Entschlusse, sich von Uriel loszusagen. Es kam immer mehr zum Vorschein, daß Uriels Vetter eine verkappte Rolle gespielt hatte, daß er keineswegs im Sinne hatte, seine Ansprüche auf Judith zu opfern, und es steht zu erwarten, welche Folgen diese neue Veränderung in den wechselseitigen Gesinnungen nach sich ziehen wird.

Uriel selber aber war es, der Alles verdarb. Sein Wankelmuth befiel ihn auf's Neue, da er Judiths verändertes Benehmen sah. Der Augenblick, da er sie als seine Gattin heimführen wollte, war näher als je. Alle seine Gedanken waren um so mehr auf Judiths Liebe gerichtet, und jetzt schien es ihm, als sei sie lauer, zurückhaltender, mißtrauisch geworden. Uriel sah dies in Verzweiflung. Er war auf Alles gefaßt gewesen, was die Zukunft ihm hätte bieten können, nur auf Judiths Verlust nicht. Sie hatte ja die Hälfte der Last zu tragen auf sich genommen, oder doch versprochen, sich durch nichts, was auch eintreten könnte, von ihm trennen zu lassen. Er hatte Alles, was die Zukunft versagen mochte, durch sie ersetzt gehofft, und sich daran gewöhnt, sie als die Theilhaberin jenes künftigen Glückes oder Mißgeschickes zu denken. Jetzt entzog sie sich ihm; noch sah er darin nicht die Untreue, sondern erst die Thatsache des Verlustes, die er nicht fassen konnte. Er stand nicht, wie Andere, denen ein Weib untreu wurde, hob die Hände gen Himmel und blickte auf Alles, was vorangegangen war, um sich an dem Gedanken zu foltern: »es ist unmöglich!« Er ging nicht auf die seligen Stunden zurück, da ihm Judith nicht Liebe konnte geheuchelt haben, er verglich die Gewißheit, die Treue und das Glück des schon Erlebten nicht mit der Ungewißheit und der Untreue, die ihn jetzt vernichteten; sondern er dachte an den Zustand des Kommenden: er glaubte sich Alles erklären zu können, er klagte nur sich an und stieg von der Höhe, zu der er sich in der jüngsten Zeit emporgeschwungen hatte, wie in taumelnder Besinnungslosigkeit herunter.

»So hab' ich jetzt,« rief er aus, »zu allen Verwünschungen, welche mich hier auf Erden schon trafen, auch noch den Fluch des Himmels auf mich geladen! Wo find' ich einen Ausweg aus diesem Labyrinth? Mein Liebstes habe ich selbst von mir gestoßen; ich fand eine Kurzweil darin, eine Perle mit meinen Füßen zu zertreten. Warum flieht mich Judith? Sie haßt mich nicht, aber unheimlich bin ich ihr. Ich zerriß selbst das Band, das sie an mich fesselt: denn welches Weib möchte dem freigeistigen Uebermuth, mit dem ich in ihrer Nähe spielte, vertraut sein? Es ist kein böser Entschluß, daß mich Judith meidet, sondern ich selbst zwang sie dazu. Ich löste sie von einer Welt ab, deren Sprache und Gesinnung ihr verständlich ist, und gab ich ihr dafür eine neue wieder? Nein, nichts als Unvollendung, Zweifel, Grundloses und Luftiges erntete sie aus meinem Umgang. Sie war im Stande, einmal das Elend zu ertragen, das über mich verhängt wurde; aber ich Verblendeter nahm es an, als sie sich vermaß, es zum zweitenmale zu können. Ich erblickte darin eine Aufforderung, was doch nur ein stummes Zeichen ihrer Liebe war, ein Wille, den ich für die That hätte nehmen sollen. Jetzt kann ich täglich die Erneuerung meines Bannes erwarten, alle Verbindung mit meinem Volke ist dann abgeschnitten, ich bin verstoßen, verachtet, gemieden, und konnte in diesen elenden Zustand Judith mit hinein ziehen? Sie gesteht sich ihn vielleicht nicht, diesen neuen Schlag, aber sie ahnt ihn voraus, und ohne zu wissen, was sie thut, meidet sie den, der an ihr in fortwährendem Verbrechen lebt. Wie helf' ich mir und ihr?«

Ben Jochai trat schüchtern in Uriels Zimmer. Seinem Gesichte stand die Maske theilnehmender Freundschaft schlecht, aber Uriel, nur mit seinem Leide beschäftigt, hatte sogar vergessen, daß ihn Jochai seit seinem Widerrufe mied, und ihm Beweise waren hinterbracht worden, die seines Vetters guten Willen in den Schatten stellten. Er klagte ihm sein Leiden und fragte, ob er Hülfe oder Rath wüßte. Jochai ließ die Entschuldigung seines langen Ausbleibens, mit der er begann, sogleich fallen und fuhr fort: »Mein lieber Vetter, diese mißliche Lage deines Verhältnisses zu Judith treibt mich zu dir. Ich sehe, daß Judith sich unter denselben Schmerzen windet, wie du. Ich weiß nicht, ob ein Zwist vorausging, der eure Zungen lähmte zu offenen Geständnissen; aber so ist die Lage, es kommt nur auf eine Mittheilung an.« Uriel flehte ihn an, sich offen zu erklären.

»Du täuschest dich,« fuhr Jochai fort, »wenn du glaubst, Judith hasse dich. Alle Welt sieht freilich, daß ihr Benehmen gegen dich ihr nicht mehr gleich sieht, aber wenn sie dich flieht, so thut sie es nur um ihrer Liebe willen. Judith ist in einer Stimmung, die weit unglücklicher ist, als die Deine. Du hast sie so gefesselt, daß sie nach Licht, Leben und Athem schreit. Du hast ihr Herz in deine Gewalt gebracht, du hast jetzt auch ihren Geist verwirrt; wo soll sie einen Ausweg finden, wenn sie sich selbst nicht verlieren will? Sie betet das Ungestüm deiner Gedanken an, sie glaubt Alles, was du ihr davon mittheiltest, aber es ist schon mehr, als sie tragen kann.« Uriel legte die Hand vor die Augen; denn jedes Wort bestätigte hier, was er sich selbst gestehen mußte.

»Nun ist dies alles nicht so,« fuhr Jochai fort, »daß daraus wirklich ein Bruch zwischen euch beiden entstehen müßte. Es kommt nur darauf an, daß du dich entschließen könntest, hier selbst etwas zu thun.« Jochai stockte, aber Uriel winkte, nur fortzufahren. »Nun denn,« sagte der Vetter; »ich weiß, daß Judith für dich verloren ist, wenn ein Ereigniß, das in der That im Anzuge ist, auf's Neue über dich hereinbräche.«

Uriel sprang auf, ergriff hastig seinen Arm, stammelte: »Du sprichst vom Bann, Vetter!« und lechzte nach dem Worte, das über Jochais Lippen kommen würde.

Dieser sagte: »Es ist wahr, sie würde die Acht nicht ertragen können; darum siehe zu, daß du sie umgehst.«

»Wie soll ich das thun?« rief Uriel verzweifelnd.

Jochai hielt ihn grausam einen Augenblick hin, dann trat er zu ihm heran, ergriff seine Hand und sprach mit gedämpfter Stimme: »Unglücklicher, wie durchschneidet es mein Herz, daß du so vielen Leiden aufgespart bist!«

Uriel stürzte auf einen Sessel und badete sich in Thränen. Jochai schwieg; was hätte er auch sagen können, das Uriel nicht schon wußte? Dennoch sprach er es aus.

»Die Synagoge,« fuhr er nach einer Weile fort, »hat deine Schrift dem Feuer übergeben, der morgende Tag schon ist dazu bestimmt, einen neuen, viel stärkern Bann, als den frühern, über dich auszusprechen. Komm dem Allem zuvor! Stelle dich selbst deinen Richtern und unterwirf dich einer Buße! Ich will alle meine Kräfte aufbieten, daß diese so mild als möglich eingerichtet werde. Entschlage dich dann in Zukunft allen neuen Reizungen der Gemeinde, verlaß entweder diese Gegend, oder hilf bei den Geschäften deiner Brüder, daß du Zerstreuung hast. Judith hast du um diesen Preis zurückgekauft.«

Uriel sah ihn starr an; es kam ihm vor, als habe der Vetter bei dieser letzten Erklärung blässer ausgesehen als zuvor. Es übermannte ihn einen Moment der Gedanke, daß ihn Jochai ja hassen müsse, weil er ihm Judiths Liebe geraubt, daß er unter der Maske der Freundschaft ihm böse Rathschläge ertheilen könnte. Doch strömte das Gefühl seiner verzweifelten Lage über ihn her, er schritt händeringend im Zimmer auf und nieder und beschwor Jochai, ob er Judiths gewiß sein dürfte, nachdem er sich Allem unterworfen hätte? Jochai gestand, daß Judith in dieser Art ihren Willen gegen ihn erklärt habe. »Sie ist nicht grausam,« sagte er, »denn sie versteht nicht, was sie will. Sie dachte auch in diesem Augenblick nicht an die Demüthigung, die dir widerfahren solle, sondern an ihre eigene Ruhe, an eine Herabstimmung deines ganzen Wesens, das sie erdrückt. Sie wird unglücklich sein, wenn sie erfährt, was du bei diesem neuen Schritt hast leiden müssen, aber du wirst dann ihrer gewiß sein.« Uriel rang die Hände, Scham und Verzweiflung peitschten ihn; kein Wort kam mehr über seine Lippen, und Jochai verließ ihn, in einigen Stunden seine Rückkehr versprechend.

Inzwischen hatte sich schon das Gerücht von Uriels neuer Achterklärung in der Stadt verbreitet. In seinem Hause war Alles von den Thränen seiner Mutter und Brüder benetzt, seine Freunde und Bekannten bestürmten ihn, seine Gesinnung zu ändern und den Richtern zuvorzukommen. Er war keinen Augenblick mehr allein und wußte nicht, wo er Besinnung hernehmen sollte. Wo er sich in den Straßen sehen ließ, verfolgten ihn Fingerzeige, Gruppen bildeten sich, wo er stillstand, und begleiteten ihn bis in seine Wohnung, die er vor Scham kaum zu erreichen vermochte. Mitten unter diesen Fortschritten vorschneller Theilnahme und Neugier mußte er den Muth verlieren, selbst wenn er sich ermannen wollte. Alle seine Entschlüsse sanken lahm zusammen; Jochai fand ihn zerschmettert, jeder Zumuthung fähig, ganz ohnmächtigen Willens. Es wurde Abend, eben sank die Sonne. Das Zimmer füllte sich mit Rathgebern und Beileidbezeugern, das Haus umstanden Neugierige, ja es währte nicht lange, so ging der Fanatismus bei der unten versammelten Menge um, und Drohungen und Verwünschungen füllten die Luft. Es ging Uriel nicht besser, wie einem Verbrecher, der zum Richtplatze geführt wird. Die Hoheit des stolzen Mannes war gebrochen; er fragte sich seufzend: »Bin ich denn noch Uriel Acosta, der Vertraute des Plato und Sokrates?« Er zitterte krampfhaft, denn er hörte, wie unten sein Name in den Koth der Gasse geschleift wurde. Er ergriff die Bücher, die auf seinem Tische lagen, und küßte sie weinend. Es schien ihm, als müßte er Abschied nehmen von Allem und die Geister der Weisen, mit denen er zu verkehren pflegte, versöhnen, da es nur noch an einem Haare hing, daß er sie Alle verrieth. Jochai zerschnitt dieses Haar, er hob den Willenlosen vom Sessel auf und führte den, der nicht mehr widerstand, hinaus unter die tobende Menge, durch die Straßen, deren Häuser von Zuschauern besetzt waren, bis sie, nicht ohne Gefahr, gesteinigt zu werden, die Wohnung des Hohenpriesters erreicht hatten.

Uriel befand sich in einem finstern, kerkerähnlichen Gemach. Jochai hatte ihn mit der Versicherung verlassen, daß er Judith gewinnen und Alles daran setzen werde, daß ihm die Synagoge eine gelinde Strafe zuerkennen sollte. Uriel rechnete auf beides; denn es schien ihm immer mehr, als wenn Jochai sein Schicksal in Händen hätte. Er war allein. Welch entsetzliche Demüthigung hatte er erfahren! Durch die volkreichsten Straßen Amsterdams war er wie ein Verbrecher gezogen, von den Schmähungen und Steinwürfen des jüdischen Pöbels verfolgt, den Christen ein Anblick, den sie theilnahmlos ertrugen oder der gar ihren Spott herausgefordert hatte. Hier rief man ihm nach: Abtrünniger! Christ! dort: Gottesleugner! Heide! Philosoph! Aber was stand ihm noch bevor? Von der Rache der Priester war jetzt Alles zu erwarten. Er fluchte seinem Vetter, der sich seines ohnmächtigen Willens bemächtigt und ihn hieher geführt hatte; er lief wie ein wildes Thier im Zimmer auf und ab, stieß seinen Kopf an die Wände und schlug an die Thür, welche man hinter ihm verschlossen hatte. Dann zwang ihn die Ermattung, zur Besinnung zurückzukehren. Er sank auf ein Bett nieder, das im Zimmer stand, und verlor sich in einen dumpfen, träumenden Zustand. Seine Phantasie wurde wach: er gaukelte sich die entsetzlichsten Gedanken vor, sah sich wie den gemeinsten Verbrecher behandelt, sah seinen Vetter, selbst Judith dabei thätig, seine Sinne verließen ihn, denn nichts hatte mehr Mitleiden mit ihm, außer zuletzt der Schlaf, der seine fieberhaften Vorstellungen auflöste und sie in eine kurze Ruhe wiegte.

Der Bote der Synagoge führte Uriel am Morgen in das Versammlungszimmer der Priester, wo er seinen so oft bereuten Widerruf abgegeben hatte. Er fand seine Richter schon versammelt und erstaunte, als man ihn fragte, warum er sich hieher begeben habe. Er selber wußte nicht, wie dies gekommen, und fragte: »Bin ich nicht auf Euern Befehl hier?«

Der Vorsitzer gab diese Frage zurück und sagte: »Was sollte uns treiben, dich in unsere Nähe zu führen? Unser Fluch hätte dich überall getroffen, wo du auch wandeltest.«

»Ich bin hier,« entgegnete Uriel, »um Euern schon ausgestreckten Arm zurückzuhalten. Verdammt mich nicht, ehe Ihr mich angehört habt!«

»Was sollen wir dich anhören?« sprach der Oberrabbi; »du hast dich selbst verdammt in Schrift, in Gespräch und That: hier ist Alles reif, und der Sonnenschein, der deine Verbrechen zeitigte, läßt sich nicht zurücknehmen, es sei denn, daß du freiwillig dich der Kirchenbuße unterwürfest.«

»Deßhalb bin ich hier,« antwortete Uriel; »ich will Frieden mit Euch, mich verlangt nicht nach der Unruhe, welche Eure Verfolgung über mich, meine Familie und meine ganze Zukunft bringt. Beschleunigt deßhalb Euern Beschluß und gebt mich bald wieder aus Eurer Gewalt!«

Uriel brachte aus dem Murmeln, das jetzt durch die Versammlung lief, keinen verständlichen Sinn heraus, bis ihm der Vorsitzer erklärte, daß ihm der Bescheid zur gehörigen Zeit würde bekannt gemacht werden. Uriel bat noch einmal, Alles in Kürze zu beenden, und wurde auf sein Zimmer wieder zurückgeführt.

Jetzt verstrich ein Tag nach dem andern, ohne daß Uriel etwas von seinem Schicksal erfuhr. Man brachte ihm Speise und Trank, doch seine Fragen beantworteten die Wächter nur mit ausweichenden Reden. Seine Ungeduld wuchs, wie seine Kraft abnahm. Sein Angesicht verfiel, die Augen vertieften sich, seine ganze Gestalt sank zusammen. Auch die Lebhaftigkeit seines Geistes verschwand, seine Einbildungskraft stumpfte sich ab; denn was kann vernichtender wirken, als zu einer Demüthigung nicht die Zeit erwarten können! Ein Wahn reihte sich an den andern: Uriel gab seine Hoffnung auf und gerieth auf den Gedanken, daß man ihn gänzlich der Welt entziehen wolle. Aller Mittel beraubt, einen solchen Plan zu hintertreiben, machte er sich endlich mit ihm vertraut und ergab sich einer vollkommenen Resignation. Wenn man dies Mittel gewählt hatte, um seinen stolzen Sinn gänzlich zu vernichten, so war es vortrefflich gewählt. Uriel träumte sein monotones Dasein von einem Tage zum andern fort, seine einzige Folter war die Zeit, an die schwindenden Minuten hatte er sich gleichsam angeschmiedet; diese schleppten ihn langsam mit sich fort und übergaben ihn von einer Stunde, die ihn folterte, an die andere. Zuletzt gewöhnte er sich auch an das Vorrücken der Zeit und stellte an Geist und Leib ein beklagenswerthes Bild der Vernichtung dar.

So mochten einige Monate vergangen sein, als sich eines Tages Uriels Gefängniß zu einer ungewöhnlichen Stunde öffnete. Obschon es heller Tag war, so fiel ihm das Licht von zahllosen Kerzen entgegen, welche von Priestern getragen wurden, die den Gang besetzt hielten. Man trat Uriel selbst an und erklärte ihm, daß der Augenblick seiner Buße jetzt gekommen sei. Dieser schwieg: den Männern wegen seines langen Gefängnisses Vorwürfe zu machen, hinderte ihn seine Muthlosigkeit und die Erwartung dessen, was sich jetzt begeben mußte. Man entkleidete ihn, übergab ihm weite Bußkleider, die er anlegen mußte, in seine Hand drückte man eine brennende Kerze und winkte ihm, jetzt in diesem demüthigenden Aufzuge ihnen zu folgen. Uriel ließ mit sich Alles geschehen. Der Gedanke, bald von dieser Pein erlöst zu werden, bemächtigte sich seiner, und er hoffte nach einer kurzen Plage beim Ziele seiner Wünsche zu sein. Diese Berechnung, wie sehr ihr die Hinfälligkeit seines Geistes und Körpers zu widersprechen schien, erhob ihn doch wieder und flößte ihm soviel Kraft des Bewußtseins ein, als er vielleicht gewünscht hätte, bei den nachfolgenden Scenen nicht zu besitzen; denn schon als er in die Synagoge trat, erschrack er, sie über und über mit Menschen angefüllt zu sehen. Alles war zusammengekommen, um Zeuge dieses seltenen Schauspiels zu werden. Die Priester hatten Mühe, durch die drängende Versammlung einen Weg zu bahnen; Alle wollten dem Opfer des Tages nahe sein, und sich an den Mienen eines Verbrechers weiden, von dem sie sich freilich rühmen konnten, daß sie es ihm niemals nachthun würden. Aber auch das Mitleid wollte ihm in der Nähe bleiben, um ihm Muth zuzusprechen: Alles gleich widerlich für Uriel, den Scham und Verzweiflung schon zu umkreisen anfingen. Er vermochte es nicht, wie er wollte, dreist sein Auge zu erheben und über die Menge wegzusehen; der Kontrast seines elenden Aufzuges überfiel ihn zu mächtig, und auf's Elendeste gedemüthigt, schritt er den Priestern nach, welche ihm Raum machten, daß er unter der Menge sicher seinen Fuß setzen konnte.

Am Hochaltare angelangt, blieb der Zug stehen. Uriel wurde bedeutet, die Erhöhung zu betreten. Hier stand er zuerst, Allen sichtbar, allein, nur damit beschäftigt, wie er die Blicke der versammelten Menge, die ihn jetzt alle gleichmäßig trafen, aufnehmen sollte. Er war aber unfähig, Trotz zu zeigen, sondern senkte die Augen vor Scham und dem überwältigenden Gefühle seiner Leiden nieder. Ein Priester trat zu ihm hinauf, übergab ihm eine Pergamentrolle, auf welcher die lange Reihe seiner Vergehungen verzeichnet stand; er sollte sie mit lauter Stimme ablesen und dies die erste Handlung seiner Buße sein. Uriel hatte dies erwarten können, und ohne zu wissen, was die Rolle Alles enthielt, begann er sie mit gedämpftem, rührendem Tone vorzulesen.

»Ich, Uriel Acosta,« hieß es hier, »von Geburt ein Portugiese und Christ, bekenne öffentlich, daß ich, nachdem ich freiwillig zum Judenthum mich bekannt habe, alle meine Bestrebungen darauf richtete, die Göttlichkeit meines neuen Bekenntnisses anzutasten, seine vorzüglichsten Lehren in Zweifel zu ziehen und zu besonderer Gunst des Christenthums, das ich heimlich nicht abgeschworen hatte, den Dienst Jehovas zu untergraben. Zu dem Ende ergriff ich jede Gelegenheit, mit den Beamten der Synagoge anzubinden, sie in ihrem Wirkungskreise zu stören und sogar heilige Gebräuche in dem Augenblicke, wo sie verrichtet wurden, lächerlich zu machen. Meine Geisteskräfte, nur darauf gerichtet, versteckten Hinterhalt zu legen, Unbezweifeltes durch Trugschlüsse als unerweisbar hinzustellen, und da, wo die Kraft des Verstandes nicht ausreichte, durch Spott zum Ziele zu gelangen, benutzte ich hauptsächlich gegen die heiligen Schriften der alten und neuen Tradition. Ich ließ Erklärungen ausgehen, welche die jetzigen Einrichtungen des jüdischen Gottesdienstes als nicht im Einklang befindlich mit den alten heiligen Schriften nachweisen sollten, und lud so viel Zorn und Groll des Himmels auf mich, daß ich die Achterklärung, welche mich vor einem Jahre traf, nur als verdiente Strafe meiner Verbrechen ansehen muß. O hätte diese Strafe länger gedauert! Doch die Unbequemlichkeit derselben wohl fühlend, entschloß ich mich, ein teuflisches Spiel zu treiben. Ich kehrte, noch in der ganzen Ausdünstung meines Fluches, zu den Vätern der Synagoge zurück und heuchelte Reue und Ergebenheit. Die Langmuth dieser Ehrwürdigen befreite mich vom Banne. Seitdem begann ich aber offener hervorzutreten. Wo es mir nur gelang, suchte ich die Lehre Jehovas in Mißachtung zu bringen, ich richtete mein Augenmerk auf alle, die etwa Lust tragen sollten, sich ihr zuzuwenden, und redete ihnen von ihrem Vorhaben ab. Ich betrog den Himmel um zahllose Seelen. Aber meine Vermessenheit stieg noch höher. Ungeachtet ich alle meine frühern Vergehungen in höherm Grade wiederholte, hielt ich es nicht genug, gegen die Einrichtungen Jehovas zu streiten, sondern ich vergriff mich an ihm selbst. Ich zog das Dasein einer göttlichen Gewalt in Zweifel, leugnete die Fortdauer der Seele und häufte auf Entsetzliches Entsetzlicheres. Doch jetzt auf der höchsten Stufe der Verbrechen schwindelte mir, ich verlor meine Besinnung und stürzte elend zu Boden. Die Strafe Gottes hatte mich erreicht. Ich bekenne, daß ich seines Beistandes gänzlich für verlustig sollte erklärt werden, daß er durch einen martervollen Tod noch bei weitem keine angemessene Genugthuung an mir fände. Allein die heiligen Väter der Synagoge haben versprochen, für meine Seele Fürbitte einzulegen und mich durch eine vollständige Kirchenbuße der göttlichen Huld auf's Neue zu empfehlen. So verhängt denn Alles über mich! Mich dürstet nach dem Lohne meiner Verbrechen!«

Uriel hatte schon bei den ersten Worten, wo gesagt wurde, daß er Christ war, innehalten wollen; denn hier sah er seines Vetters Verrätherei. Er stockte bald an einer andern Stelle, an einer dritten; aber die Priester zwangen ihn, weiter zu lesen; die letzten Worte waren kaum noch hörbar. Uriel wankte zurück, die Priester fingen ihn auf, nahmen ihm die Kerze aus der Hand und führten ihn in einen dunkeln Winkel des Tempels, wo er sein ferneres Schicksal erwarten sollte.

Die Versammlung stimmte inzwischen jenen Psalm an, den David sang, als Doeg, der Edomiter, kam und Saul ansagte, daß David in Abimelechs Haus gekommen: »Was trotzest du denn –« Auf Uriel verfehlte aber dieser Fanatismus seine Wirkung. Die Ohnmacht seines Wesens war verschwunden. Das Blut flog siedend in seinen Adern auf und ab, er hätte mit lauter Stimme gegen diese Menschen losbrechen können, wenn ihn der Gesang nicht übertäubte. Was wollte man noch von ihm? Waren jene lügenhaften Worte keine hinreichende Demüthigung? Uriel glaubte seinen Vetter zu sehen, er drohte ihm mit beiden Fäusten. Er hatte sich getäuscht und knirschte vor Ingrimm. Wer hatte ihn in diese Lage versetzt? Wer die mildeste Strafe versprochen? Wer hatte seine Geburt, seine Meinung über den Tod an die Priester verrathen? Er warf sich zur Erde nieder und wand sich wie ein wildes Thier. Doch überwältigte der Gesang seine Wuth, er mußte sich an die Ermattung übergeben, und wartete jetzt stumm auf Alles, was noch kommen würde.

Nachdem der Psalm zu Ende gesungen war, führten mehre Diener der Synagoge den Büßenden aus dem Dunkel hervor, stellten ihn dicht vor den Hochaltar, banden ihn an eine Säule fest und entblößtem seinen Leib. Ruthenstreiche fielen auf ihn herab, an der Zahl neununddreißig. Uriel schrie nicht, sondern wehklagte nur leise; seine Seele litt fürchterlicher als der gemißhandelte Körper. Er fühlte schmerzlich, was Alles an ihm beleidigt wurde, die Wissenschaft, die Vernunft, Sokrates, Christus. Er war gefaßt, Strafe zu leiden, er hätte den Tod nicht gescheut; aber diese Erniedrigung! Sein Schmerz übermannte ihn, Thränen stürzten aus seinen Augen; doch waren dies wieder neue Qualen für ihn: denn konnten sie nicht mit Thränen der Reue verwechselt werden? Seine Empfindung sprang bei diesem Gedanken plötzlich wieder in Wuth über, er drohte mit seinen zerfleischten Armen, stieß zahllose Verwünschungen aus, bis ihn der Psalm übertönte, welchen David dichtete: »Jauchzet Gott, alle Lande!«

Uriel schwieg; er überlief die Reihe der Leidenschaften, die, alle jetzt entfesselt, wild in ihm tobten, und blieb da stehen, wo die Rache schnaubte. Rache war das einzige Wort, was ihm den Muth gab, noch Größeres zu erdulden; denn noch war das Maaß seiner Leiden nicht voll. Wenn es eine größere Strafe geben kann, als Züchtigung eines edeln, frei gebornen Körpers, in dem eine große Seele wohnt, so traf ihn auch diese noch. Man ergriff ihn zum zweiten Male, führte ihn an den Ausgang des Tempels, befestigte ihn an der Schwelle der Thüre und ließ jetzt die ganze Versammlung, die sich auflöste, über ihn wegtreten. An Mitleid dachte der Fanatismus nicht, auch nicht an Schonung; er half mit rüstiger Hand die Strafe vollziehen und trat grausam auf den sich krümmenden Leib des Unglücklichen. Uriel ertrug Alles, denn die Rache ist eine aufheiternde, tröstende Freundin jeder Kränkung. Sie versagt dem Munde die Kraft, seinen Schmerz auszuschreien; sie macht jede Klage stumm, sie verkürzt sogar die Zeit des Leides und gibt da Leben wieder, wo man glauben sollte, es sei gänzlich geflohen. Die Rache half Uriel bis auf den letzten Moment ausharren, bis das ganze jüdische Amsterdam über ihn hinweg war; jetzt half sie ihm aber die Riemen, die ihn festgeschnallt hatten und durch die Füße der Versammlung fast aufgerieben waren, vollends zerreißen; sie schwang ihre blutige Fackel, und wie ein Rasender stürzte Uriel von dem Orte seiner Erniedrigung fort, durch die Straßen der Stadt in die Wohnung der Seinigen. Mit todtbleichem Angesicht, bluttriefend, mit zerrissenen Kleidern trat er vor seine versammelte Familie, die er in Thränen und Wehklagen aufgelöst fand. Er sprach kein Wort, das sich verstehen ließ, er sagte, er verlangte, man wußte nicht was, er lachte wild auf, er weinte vor Wuth. Der junge Baruch Spinoza wagte allein, ihm nahe zu treten. Er ergriff das Kind, hielt es zum Himmel auf, seine Augen verriethen, daß er sprechen wollte, aber die Zunge versagte ihm. Er sank zurück, er nahm den Knaben auf den Schooß, versuchte noch einmal, zu reden, und diese Worte drängten sich abgebrochen aus seiner lautathmenden Brust hervor.

»Du unschuldiger Knabe, du ahnest noch nichts von den Gräueln dieser Welt, und ein Zerschmetterter, ein bis zum Wahnsinn Mißhandelter trägt dich in den Armen. Zitterst du nicht vor Verbrechen, wie man sie an mir begangen hat? Blicke mich nicht so stumm an, Knabe; was an mir geschehen ist, bleibt unerhört unter der Sonne. Ja, du bebst, himmlisches Kind; selbst deine unschuldvollen Züge müssen erblassen, wo sie diesen Frevel sehen, diesen geschändeten Leib, diesen zertretenen Stolz: Du segnest meine Rache! Du versprichst mir, meine Rache zu Ende zu bringen; poche einst, wenn dein Geist sich erhebt, an die Wohnung Gottes, und forsche, warum er die, welche sein Geheimniß lieben, züchtigt. Mein unvollendetes, zertretenes Werk gebe ich dir, der noch einzig furchtlos ist, und der meines Schwertes Scharten an jenen elenden Knechten der Allmacht auswetzen wird. Das Gegenwärtige sinkt Alles unter mir zusammen, nur auf die Zukunft hoffe ich. O Gott, o Gott, wie elend hast du mich gemacht.«

Seine Familie wollte helfen, wollte das Blut vom Körper wischen, die zerfetzten Kleider abnehmen, aber er wies Alles zurück.

»Auf wie lange? auf wie lange?« rief er; »ein gegeißelter Stolz stirbt! Die Sehnen meines Nackens sind schlaff, ich bin ein angeschossener Adler, der mit den Flügeln um sich schlägt, aber bald ausathmen wird. Laßt mich, laßt mich, die Stunde ist da!«

Mit diesen Worten entzog er sich Allen, eilte auf sein Zimmer, ergriff zwei Pistolen, die fortwährend geladen über seinem Bette hingen, bahnte sich den Weg durch die Menge, die neugierig sein Haus umstand, und stürzte wahnsinnig, seine Mordwaffen nicht verbergend, fort. Er suchte Jochais Haus.

An Vanderstratens Wohnung mußte er noch vorüber. Hier sah er Alles auf das Festlichste erleuchtet. Karossen flogen nacheinander vor das Portal und ließen schön geputzte Paare heraus; Diener rannten Trepp' auf, Trepp' ab; durch alle Säle verbreitete sich köstlicher Ambraduft; die Thüren des ganzen Gebäudes waren geöffnet, um dem Feste den größten Spielraum zu lassen; eine rauschende Musik tönte von oben her. Uriel staunte; so viel Besinnung hatte er noch, dies Alles zu bemerken. Eine Ahnung fuhr ihm durch die Seele, sie schleuderte ihn blitzschnell die Stiege hinauf, in den großen, von tausend Kerzen erhellten, von glänzenden Gästen besetzten Saal. Alles schrie vor Entsetzen auf, als man des Wahnsinnigen ansichtig wurde. Aber schon hatte er sein Opfer gefunden, er legte auf seinen Vetter an, das Pulver blitzte, und Judith, Jochais eben angetraute Braut, schwamm in ihrem Blute. Uriel, der vielleicht nicht sah, wie fürchterlich er sein Ziel verfehlt hatte, ergriff die zweite Pistole; man fiel ihm in die Arme; doch die Verzweiflung gab ihm Riesenkraft. Er wehrte sich mit seiner Waffe gegen die Andringenden und bahnte sich in ein Nebenzimmer den Rückzug. In diesem Augenblick hörte man den zweiten Schuß. Uriel hatte sich selbst das Gehirn zerschmettert.

Dieselbe Erde deckte Uriels und Judiths Leichen. Doch trennte sie der Ausspruch der Synagoge; denn Uriel wurde in einem entfernten Winkel des Friedhofes gebettet. Dafür gesellte sich aber bald seine Mutter, Esther, zu ihm, welche diese Schrecken und den Verlust eines solchen Sohnes nicht ertragen konnte. Auch blieb die Stätte nicht ohne den Schmuck der Liebe: Uriels Schwester bepflanzte sie mit Trauerweiden und klagenden Blumen. Baruch Spinoza sah man oft an seines unglücklichen Oheims endlicher Freistatt. Aus der Erinnerung an diesen theuern Duldner schöpfte er sich die Kraft zu den unsterblichen Leiden, die auch er in Zukunft zu ertragen hatte.


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