Karl Gutzkow
Die Nihilisten
Karl Gutzkow

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Siebentes Capitel

Bewährungen und Ausgänge

Wir brechen die allmälige Entwickelung unserer Erzählung ab; nur noch Resultate können wir geben.

Die Zeit, die auf die bis dahin geschilderten Herzensvorgänge einbrach, wurde zu großartig. Zu umfassend riß sie das einzelne kleine Leid in ihre Strudel. Der Mensch soll schweigen, wenn das Jahrhundert redet. Möge der Leser aus einzelnen Thatsachen, die wir noch angeben wollen, sich die Vermittlungen selber bilden.

Die Februarrevolution wälzte sich über Hütten und Paläste.

Sie berührte Länder, Städte und die entferntesten stillen Plätze des Waldes und Gebirges.

Auch in H., der Universitätsstadt, warf sie Das, was im Vordergrunde stand, sofort um und der Schutz, den hier Viele, die in die Mauern dieses alten Musensitzes flüchteten, suchten, war nicht minder gefährdet.

Ringsum gährten die Dörfer. In Liederbach stürmte man das Amtshaus. Der Justitiar Dammert erfuhr jene tragikomische Art, wie oft die Geschichte ihre Vergeltungen übt. Ihm, der auf dem Amte die Widerreden der Streitenden mit dazwischengeworfenen Geldstrafen zu zügeln pflegte, kam die Parodie, daß er am Fenster seiner Wohnung stehend die wüthenden Haufen haranguiren wollte und ebenso nun von ihnen unterbrochen wurde, wie früher er sie, um ihre trotzigen Einwendungen zu strafen, auf dem Amte unterbrochen hatte. Mitbürger, Freunde, rief er, wie könnt ihr mir den Schmerz anthun? Fünf Groschen Strafe! rief der Haufe.

Ihr Männer von Liederbach, waret ihr bisher nicht ruhige, glückliche Menschen – Sechs Groschen Strafe! rief der Haufe.

Leute, die Gemeindenutzung der Weidekoppel ist seit hundert Jahren nur ein Geschenk vom Stiftshofe – Zehn Groschen Strafe! Zwölf Groschen Strafe!

Wie könnt ihr, ich bitt' euch, euch einbilden, daß die Gemeindenutzung – Fünfzehn Groschen Strafe!

Aber ich bitt' euch – die Weidenkoppel – Einen Thaler Strafe! und so ging es fort an jenem Märzabend voll Wildheit und Spott, bis die Fensterscheiben zertrümmert und die Forderungen über kopfweise zu vertheilende Gemeindeberechtigungen bewilligt waren.

Hansen von Landschütz stürmte man gleichfalls den Stiftshof. Frieda, die gerade anwesend war, hielt eine Rede, die ebenso verspottet wurde wie die Dammert'sche und ohne alle Wirkung blieb. Die Zeit der Matadore von sonst war eben vorüber. Dadurch wurde Hans vollends der Schützling, der Leidensgefährte und Sklave Frieda's. Durch sie gewann der Baron Muth und Sammlung. Durch sie gewann er sogar einen Uebergang in die neue Zeit, die einem Triumphzuge ähnlich sah. Man machte den Baron vom Stiftshof zum Commandeur der Bürgerwehr von H. Es kostete Hansen seinen Stall; er wollte auch Cavallerie unter sich haben und mußte seine halbe Schwadron größtentheils selbst beritten machen; doch saß er zuletzt mit seiner schwarzrothgoldenen Schärpe so majestätisch zu Pferde, er gewöhnte sich so an Alarmirungen, Anerkennungen seiner Würde, Voraussetzungen der Erhabenheit seiner Aufgabe, daß er sich entschieden zur Revolution, respective Reform, bekannte, als in Folge der Reaction die Bürgerwehr misachtet, sein Befehl nicht mehr gehört, seine Autorität an Militär abgegeben wurde. In der That, eine lange Zeit bekannte Hans sich zu demokratischen Grundsätzen, bis er eines Tags von dem ersten Wollmarkte, den er nach der »Anarchie« wieder besucht hatte, im Jahre 1850, als Mitglied der großen Grundbesitzer-Ligue zurückkehrte und sich mit Besonnenheit reuevoll allmälig wieder auf seinem alten vormärzlichen Standpunkte zurecht fand.

Wingolf's Beherrschung der wilden Wogen dauerte verhältnismäßig lange: vierzehn Tage.

Constantin, den Wingolf mit Hertha zugleich in seinen Zimmern ohne weitere Anfrage, ob er jetzt diese Einigung dulden und genehmigen wolle, empfing, Constantin selbst erklärte ihm, daß man ihn leider mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen müsse.

Die Revolution verschlänge, setzte Hertha in leidenschaftlicher Erregung hinzu, wie Saturn ihre eigenen Kinder.

Der Vater, weit entfernt, über diesen ihm gegenüber übelangebrachten Gemeinplatz eine Reflexion zu machen, arbeitete wie ein Löschender an einer Feuersbrunst, die mit bestem Willen nicht zu meistern war und eben ausbrennen mußte.

Er glaubte wirklich die Flammen bewältigen zu können und sagte dies auch, so redlich an sich selber glaubend, wie damals jeder an sich selber glaubte. Von Ironie, von Humor, von der Auffassungsweise so zu sagen des griechischen Chors war keine Rede. Jeder glühte für seine Einsicht und gerieth in Zorn und Vernichtungswuth, wenn man ihm widersprach und etwas irgend wie besser wissen wollte.

Das Ministerium Wingolf war nach vierzehn Tagen das zweite Opfer der Zeit.

Es kamen dann dritte, vierte, fünfte Opfer.

Die Kämpfenden mischten sich oft wunderbar. Wer heute erlag, wurde morgen Opponent. Es war ein seltsames Wirrsal der endlich losgebundenen Geister, die zu lange in Büchern gelebt hatten.

Von den Herzen konnte natürlich keine Rede mehr sein. Ob da Pfarrer Planer in Liederbach fast sein Amt einbüßte und sich in die Stadt flüchtete, ob Eberhard sich mit Agnes vermählte, das Alles hörte zwar Hertha, aber sie nahm es auf wie etwas, was einer völlig andern Welt angehörte. Es machte ihr nur einen vorübergehenden zuckenden Schmerz. Die Besinnung fehlte. Entweder war die Vergangenheit oder die Gegenwart ein Traum. Wer hätte in jenen Tagen auch nur die Auffassung der Wirklichkeit ganz in seiner Gewalt gehabt!

Hertha, so erregt war sie, hätte unter solchen Umständen, wo sie wie eine Manon Roland leben wollte, auch wie eine Roland sterben können.

Constantin hatte sich ganz verändert. Alles war jetzt fest an ihm und Eberhard und Constantin hatten nun gleiche Grundsätze. Hertha lebte nur dem Allgemeinen und den Haß gegen die Widersacher des Menschenwohls hatte sie ja nie aufgegeben, auch als sie einst im Begriff stand, Constantin aufzugeben. War's auch nur um eine Zeitung, um eine Adresse, um eine Demonstration, heiliger Ernst war ihr Alles. Sie wollte nirgends fehlen, sie wollte die höchsten Maßstäbe an jede Unternehmung gelegt haben, sie sah ihren Vater vom Ruder abtreten, wie etwas, was sich von selbst verstand, sie trank gerade den Thee bei ihm, während er abdanken mußte und vor einem eingeworfenen Fenster aus Unwillen zögern wollte. Hertha verwies ihm seine »Halbheit«, sprach mit glühender Ueberzeugung von der Nothwendigkeit seines Sturzes... wo waren die Gedanken an Liederbach, an den Stiftshof, ihre angefangenen Bekenntnisse für Constantin hin!

Ein halbes Jahr ging das so von Tage zu Tage fort; jede Stunde hatte eine Aufgabe. Constantin's Erregung war jetzt die ihrige, ein Band der praktischen Ueberzeugungen umschlang Beide, seine Leidenschaft, sein Zorn, sein Haß, wenn man ihn und seine Auffassung zu überflügeln wagte, war wieder ihre Leidenschaft, ihr Zorn, ihr Haß. Eine Frau weiß kaum, wie ein starker Mann sie führen kann und welch ein Zauber in der männlichen Größe liegt.

Doch zuletzt erlag Hertha diesen Anstrengungen. Sie wurde krank. Dem Tode nahe, sah sie in Eugeniens, ihrer Mutter, Antlitz und erkannte es nicht mehr. Eugenie verzweifelte; funfzig Meilen weit war sie hergekommen, von dem Orte, wo Wingolf seine in der Residenz unhaltbare Stellung in Zurückgezogenheit zu vergessen suchte; es war jene ferne Provinzstadt, wo er als Chef eines Gerichtshofs einst die Liebe und Achtung der Bewohner sich erworben hatte und sie im reichsten Maße wiederfand. Auf Frau von Zabel's Nachricht war Eugenie gekommen. Diese gute Frau von Zabel war die einzige von der so genannten »Gesellschaft«, die in der Residenz bei den Gefahren ihrer Pension ausgehalten hatte. Auch Julie von Reisig war mit ihrem Gatten und den Kindern nach Italien »geflüchtet«, wie damals der Ausdruck war. Eugenie kam verzweifelnd. Sie fand Hertha im furchtbarsten Fieber. Ihr Körper war gebrochen, ihr Geist wie erloschen.

Lange, dumpfe, endlose Wochen vergingen, bis Hertha in treuer Pflege genas und die Eindrücke der Zeit auf sich wieder wirken lassen durfte.

Die Aerzte verboten diese Einwirkung.

Sie verordneten eine Entfernung in ein stilles Bad und verlangten auch dort Hertha's Unbekanntschaft mit Allem, was sich in der Zeit ereignete.

Von Constantin kamen dann und wann eilige, von den Begebenheiten gedrängte Briefe.

Auch ihr Vater schrieb, aber nur kurz. Sie wußte über die »Stellungen«, wie es damals hieß, von Beiden nur wenig.

Der Vater war auf den Schauplatz der Politik in der Eigenschaft eines Deputirten zurückgekehrt; das erfuhr sie, weil Eugenie dadurch in die Lage kam, Wingolf einem verwickelten neuen Leben einige Zeit allein überlassen und Hertha in ein Bad und dann auf den allgemeinen Rath der Freunde in die französische Schweiz begleiten zu können. Für Hertha waren diese Entfernungen unbedingt nothwendig. Ihre Kraft schien hin, die Ueberreizung hatte für den Augenblick ihr Nervenleben gestört, sie brauchte Schonung und fand sie nur in der abgeschlossensten Einsamkeit. So lebte sie ein halbes Jahr mit der Freundin, ihrer Mutter, am Genfersee.

Als sie in großer und herrlicher Natur genesen und gestärkt endlich zurückkehrte nach Deutschlands inzwischen mannichfach bedrängt gewesenem und blutgetränktem Boden, fand sie eine sehr veränderte Welt.

Sie mußte gefaßt sein auf diese Veränderung; denn von ihren Theuern war seit lange nur dunkle Kunde zu ihr gedrungen.

Constantin schrieb nicht mehr... Da waren Aenderungen vorgekommen... Welche, ließ sich schwer sagen.

Fast unmöglich wurde in der Ferne die Uebersicht selbst des Allgemeinsten.

Um daher die Verhältnisse, die sich inzwischen gestaltet hatten und wie sie sich dem beruhigten und mannichfach geprüften Geiste Hertha's darbieten sollten, ersichtlicher zu machen, greifen wir den Faden unserer Erzählung wieder auf und geben nach der Wahrheit jener Zeit und des von ihr bedingten Lebens einige Bilder, die in kurzen Zügen uns verrathen werden, was inzwischen Alles geschehen und wie das Auge aufschauen mußte, um nach einem langen Wahn sich wieder in der Welt und der eigenen Brust zurechtzufinden.

Das erste Bild, das wir aufrollen müssen, ist dieses:

Dumpf läuten die Glocken von den Thürmen der alten Universitätsstadt H., Trauerglocken sind's, Sterbeglocken.

Ein Leichenzug bewegt sich zum Friedhofe.

Frisch aufgeworfen ein Sandhügel. Es ist die Stätte, wo ein Sarg soll eingesenkt werden, dem viel Leidtragende folgen.

Rings hinter Gräbern und Postamenten, hinter hellgrünen Hängeweiden und dunkeln Lebensbäumen stehen Zuschauer und Hörer genug aus Dorf und Stadt.

Ein Greis tritt vor mit ruhig ergebenem Blick und spricht den Nachruf einer Dahingegangenen. Es ist ein Weib, das gestorben, eine junge Mutter, eine junge Gattin.

Der Redner, der ihrem Andenken die Worte der Liebe widmet, ist der alte Planer, der Vater gibt dem eigenen Kinde Zeugniß, die Verblichene ist Agnes.

Eberhard, der Gatte, steht ihm zur Seite. Ergeben sein Blick. Agnes ist nach kurzer Mutterfreude an den Folgen ihres Glücks gestorben. Gute Menschen, deren Freundschaft einem Manne wie Eberhard nicht fehlen konnte, pflegten die Mutter und ihr Kind.

Der Sarg ist niedergesenkt, mit Blumen bestreut, mit Erde beschüttet.

Gefaßt stützt sich der Greis auf seinen Sohn und schreitet dankend für die stillen Grüße des Mitgefühls durch den Friedhof an die Pforte, betritt den niedergelassenen Tritt des Trauerwagens und fährt an Eberhard's Seite zurück in die gemeinschaftliche Wohnung.

Der heilige Dienst, den sie soeben verrichtet, ist in solchen Jammerfällen das letzte Glied einer Kette von herzzerreißenden Mühen. Es ist ein letztes Opfer, dargebracht der schmerzlichsten Nothwendigkeit, furchtbarer als alle vorangegangenen und doch beruhigend. Die geängstete Seele athmet nun endlich auf; das Leben fodert wieder seine Rechte, ein aufgerissener Felsen schließt die grauenvolle Spalte und Moos, Baum und Strauchwerk wächst wieder über ihr, gerade so, wie zuvor, gerade so, wie wenn nie etwas gewesen wäre.

Mitten in solchem Jammer einer nach der Entbindung von einem lieben Mädchen eintretenden und zum Tode führenden Erkrankung seiner Gattin hatte Eberhard noch andere Sorgen.

Man hatte ihn in der Bewegungszeit zum Gerichtsrath ernannt gehabt, er hatte dem neuen Geiste mit Wort und That sich verpflichtet gefühlt; die Wiederherstellung der alten Ordnung stellte ihn zur Disposition.

Er konnte den Ausfall seiner Einnahmen ertragen; sein eigenes kleines Vermögen verband sich mit dem ansehnlichen Besitzthum des alten Planer und mit dessen von Liederbach, wo ihm nach dem Bruch mit der Gemeinde ein Vicar gestellt wurde, noch bezogener Entschädigung.

Doch widerwärtiger war ihm das Gefühl der einstweiligen Muße und die ihm gleichsam gestellte Frist einer bessern Besinnung für seine künftige Brauchbarkeit. Er hatte deshalb die Absicht, den Staatsdienst ganz zu verlassen und lieber als Advocat in die Residenz zu ziehen.

Planer, obwohl Eberhard's Grundsätze nicht theilend, wie Alles, was von seinen eigenen Definitionen nur um die Haarbreite abwich, billigte seinen Plan; er sehnte sich, nachdem ihm der unerbittliche Tod ein braves und in der Ehe mannichfach bewährtes Kind entrissen, auf einige Zeit aus dieser Gegend weg. Beide beschlossen, mit einer Nährerin der fröhlich gedeihenden kleinen Meta diese Reise unverzüglich anzutreten.

Die Uebersiedelung erfolgte.

Eberhard miethete in der Residenz eine entsprechende Wohnung. Eine Führerin des Haushalts wurde auf fremde Empfehlung gewonnen und brauchbar befunden. Dem Kinde gebrach die nächste Obhut nicht und schon der Großvater wurde der kleinen Meta ein treuer Wächter.

Eberhard that die nöthigen Schritte, um aus dem Staatsdienste zur Advocatur zu gelangen. Es boten sich Schwierigkeiten; doch wurden sie beseitigt. Bei dem neugewonnenen und auch erhaltenen öffentlichen Verfahren plaidirte Eberhard Ott mit Glück. Seine Beredtsamkeit war nicht glänzend, aber sie überzeugte. In seinem schlichten Vortrage lag die Bürgschaft seiner Redlichkeit.

Schon waren Wochen vergangen in neubegründeter, ergebener Hoffnung auf die heilende Macht eines pflichtenvollen Lebens. Ein Vater und ein Sohn, verbunden durch eine schmerzliche Erinnerung, verbunden durch eine freudige Hoffnung. Vater und Sohn hütend ein neues junges Reis auf einem Grabe, an dem drei Menschen gemeinsam trauerten. Es war ein schmerzliches, aber gehobenes Leben.

Eberhard sah manchen alten Bekannten wieder. Constantin Ulrichs vermied er. Die Bahnen, die dieser und die er ging, waren getrennt.

Wie man damals auf Umwandelungen gefaßt sein mußte, was man in diesen Zeiten täglich und beim Verwandtesten erlebte, dafür gab es merkwürdige Erfahrungen.

Wir wollen eine anführen, die überraschen wird...

Eberhard wurde eines Tages in den belebtesten Straßen mit seinem Namen begrüßt.

Er mußte sich besinnen, wer vor ihm stand.

Ein kleiner, von Kopf bis zu Fuß schwarzgekleideter Mann, um den Hals so lose ein Tuch geknüpft, daß die Hemdkragen fast jugendlich umgebogen lagen, ein Hut mit breiter Quäkerkrempe, schwarze Handschuhe, ein gepflegtes Antlitz, das lange blondgelbe Haar in der Mitte gescheitelt und auf den Rockkragen niederfallend.

Ein frommer Missionar stand vor ihm oder ein Pfarrer oder ein Schullehrer und doch war es nur Jean Reps und keineswegs als Theolog oder Betstundenhalter oder Schullehrer oder sonst in einem gesammelten geistigen Berufe, sondern in der Anwartschaft, wie er versicherte, auf die ersten Erfolge einer industriellen Unternehmung, die der alte Nihilist, jetzt Novize eines neuen Lebens, sich anzubahnen gedachte. Er wiederholte dem erstaunten Freunde auf Ehre und Seligkeit, er wäre eben im Begriff, da in ein vor ihnen liegendes großes Hutmachergewölbe einzutreten und zwar seines künftigen Berufs wegen.

Bester Freund! erzählte Jean Reps dem Verwunderten. Der Geist des Jahrhunderts hat jetzt in allerlei Zungen zu den Menschen geredet. Auf die Barrikaden rief er mich nicht. Dieser flüchtigen Erregung der Phantasie sind ja auch Sie nicht gefolgt. Nach der Reaction, die ich noch aufrichtig mit Schrecken kommen sah, trat eine Zeit der Verzweiflung ein. Ich folgte anfangs wie immer Constantin. Ich putzte ihm wie immer die Schuhe, klopfte ihm wie immer die Kleider; figürlich und wirklich. Unser Verstand war jedoch zu Ende. Wir sahen gleich in den ersten Tagen des tollsten aller Märzmonde zuviel des Unsinns. Außerhalb und innerhalb Trojas, überall dieselben Dummheiten, sowohl der eigenen, wie der andern Partei. Ich, bester Freund, gewann schon lange die Ueberzeugung, daß all unser Mühen und Sorgen um den Sieg der gesunden Vernunft leeres Stroh ist. Nur die kolossalgelingenden Dummheiten, nur ein grotesker durch seine Dimensionen erhabener Wahnsinn gibt den Funken für all jenes Stroh her und damit der Welt ihre rechten Leuchtfackeln. Columbus, ein halber Narr, entdeckte auf diese Art Amerika. Ferner kam ich zu der Ueberzeugung, daß wir wahrhaft hochverrätherisch und gotteslästerlich hochmüthig erzogen werden für die Situationen, in denen sich unser Planet nun einmal befindet. Ich bitte Sie! Es ist eine Raserei, uns mit Plato, Aristoteles, Spinoza und was dazu gehört schon so früh bekannt werden zu lassen. Es ist ein Verbrechen, unsere Schulen zu Pflanzstätten erst eines idealen Hochmuths zu machen und hernach Menschen in eine Welt abzusetzen, die um eine Schüssel kaltgewordener Erbsen jeden leidlich rangirten Schuster beneidet. Bester Freund, mir ging's sowol was die Erbsen wie was den Schuster anlangt ganz nach meinem Bilde. Was hatt' ich denn nun von Spinoza's Pantheismus, wenn ich in einer Welt leben sollte, wo nur Der zu etwas kommt, der sich ein Sandkorn im Ganzen fühlt, eine geborene Made und Milbe im großen Käse der civilisirten Ordnung! Konnte ich denn nun aufs Schloß rennen, die Eisengitter vor der Auffahrt zum Throne wie Simson ausheben und mich beim König an den Tisch setzen und rufen: Herr, ich will auch leben, so gut wie Sie! Das ging eben nicht. So stieg ich hinunter in einen Keller, der da liegt am hiesigen Wasserglacis. Allda wohnet ein Mädchen, so da heißt Philippine. Ihres Geschlechts eine Pufke, Samuel Gottlob Pufke heißt ihr Vater, und schon in besseren Tagen unserer damals noch vogelperspectivischen Weltanschauung lernte ich, wenn ich an mein wasserdichtes Fortkommen durchs Leben dachte, von unten auf, durch meine Stiefeln, diese treuen Menschen kennen. In Gemeinschaft mit vielen muntern Ratten bewohnten sie einen Keller. Ein Candidat der Gottesweisheit war ich schon sonst ein Glanz für diese Hütte, ein Gott für diesen Keller, und in den Zeiten der Constantin'schen Vogelperspective nährten und speiseten sie mich bereits oftermalen mit irdischer Speise und irdischem Trank. Philippine und ihr Vater sind Erleuchtete. Mein kindliches Gemüth raubte ihnen nie diesen glanzvollen Schimmer ihres Kellerdaseins. Wenn Philippine Sonntag Abends die Suppenterrine nahm, Citrone, Zucker und Rum vom Krämer holte und der alte Pufke beim ersten dampfenden Glase eines in Gottseligkeit genossenen Punsches mit mir anstieß und sprach: Eia, Herr Repse, freuet Euch in dem Herrn allewege! so stimmte ich in sanfter Melodie ein Lied von Gellert an, trällerte dann allmälig mit einem Sebastian Bach'schen Schnörkel in das schöne Lied von der Frau Nachtigall hinüber, regte den alten Nachkommen Hans Sachsen's zu allerhand Wanderliedern und erlaubtester Weltlust an, bis er mit den Pantoffeln zu klatschen anfing und die Worte sprach: Auch David tanzete vor der Bundeslade. Und dann tanzeten wir Alle und tranken Punsch und dies gemüthliche Dasein wurde selbst geführt in den Schrecken der Anarchie. Die Schuhe wurden ja damals noch mehr abgerissen als die Phrasen und Sie wissen, das will viel sagen. Pufke hatte Gönner. Er wurde Wahlmann, er duldete um seinen Glauben, er predigte oft auf der Gasse, zuletzt in Bezirksversammlungen und die Folge waren achtbare und wirksame Empfehlungen nach Oben; ach, nur immer nach Oben, bester Freund! Für mich hat sich dabei eine merkwürdige Wendung herausgestellt. Wie sie mich hier sehen, hab' ich vor den Thoren ein Haus gemiethet und errichte daselbst unter allerdings eigenthümlichen Umständen eine Fabrik von Filzschuhen, von Filzteppichen, von Filzsocken, von Filzgegenständen aller Art, im Filz wird mein ganzes neues Dasein gebettet sein.

Eberhard erstaunte immer mehr und bat um Aufklärung.

Sie fragen vielleicht, wo bekomm' ich das Geld, die Arbeitskräfte her? Sie müssen wissen, bester Freund, daß ich eine Fabrik begründe im Geiste des Jahrhunderts. Ich bin vor Ihnen, Eberhard Ott, vor Constantin und Allen, die den unverbesserlichen Adam meines Herzens kennen, nichts als ein Fabrikant von Filzwaaren, einem gesuchten Artikel, mit dem ich jährlich die Messen bereisen werde. Aber vor den Thoren draußen auf jenem Hause mit zwanzig Fenstern Front, wo ich wirken werde, da wird nicht zu lesen sein: »Jean Reps, sonst Nihilist, jetzt Fabrikant in Filzwaaren«, sondern rathen Sie, was?

Eberhard erfuhr wie in den Zeiten, in denen wir leben, die rechten Bekenntnisse, ausgesprochen den rechten Menschen, immer noch zu Glück und Segen führen können. Repsen fand sich ein stiller Compagnon, ein Geheimrath, der Philippine Pufke schon über die Taufe gehoben hatte. Dieser unterrichtete Kenner der Zeit sagte zu seinen Freunden: Errichtet eine Fabrik – für irgend etwas –, ich schieße alle Mittel vor und gehe nur in halbe Rechnung. Mit der Fabrik verbinden wir einen erhebenden Zweck; wir erwerben uns die Kinder von Armen oder Verbrechern oder Verwahrlosten, kurz einer Menschengattung, an der leider kein Mangel herrscht, wir sammeln dazu die Beiträge der Milde und Barmherzigkeit und lassen die Producte der Fabrik von jenen Kindern verfertigen, die wir dafür zu waschen, zu kämmen, zu kleiden, zu verköstigen und nur recht viel zum Gebet anzuleiten haben. Gesagt gethan. Und während Eberhard über diese Form des Industrialismus, die Adam Smith noch nicht kannte, erstaunte, über diese neue Theorie des ganzen Gewinns und der halben Auslage, sagte Jean Reps:

Besuchen Sie mich, Freund! Sie werden mich bald im Kreise von einigen dreißig bis funfzig hoffnungsvollen Sprossen des Zuchthauses finden, die ich Hundehaare, Kälberhaare, Waldwolle und Schafwolle bunt durcheinander mengen, tüchtig wie man's nennt, kartätschen und so zu fester Gestaltung bringen lasse. Philippine und Pufke leiten die Umformung in Schuhe, in Socken, in Pantoffeln und vielleicht erheben wir uns noch zu kunstvolleren Gebilden, denn Sie glauben nicht, bester Freund, was sich jetzt aus einem guten Filz Alles machen läßt.

Diese Wahrheit mußte Eberhard bestätigen.

In der That, die Residenz war groß genug, um nur Wenigen möglich zu machen, die geringe Würdigkeit des neuen Vorstehers einer der vielen menschenfreundlichen Anstalten, die jetzt solcher Art begründet werden, genauer zu untersuchen. »Johannes Repsen's Rettungshaus« ist jetzt eine der empfohlensten und versorgtesten Anstalten dieser Art, deren jährliche Tabellen durchzulesen dem Freunde der Menschheit einen hohen Genuß gewährt.

Nach dieser Erfahrung konnte es Eberhard nicht Wunder nehmen, als dann eine andere Wendung des Zeitgeistes ihm noch persönlicher sich kundgab.

Wingolf, der frühere Minister, war durch die Wahl der Stadt, in die er sich zurückgezogen gehabt hatte, Mitglied einer gesetzgebenden Versammlung geworden, die im Laufe ihrer Verhandlungen in jene bekannten Extreme der Steuerverweigerung gerieth, die mit öffentlicher Inanklage-Standsetzung ihrer Mitglieder endeten.

Wingolf wählte Eberhard Ott zum Vertheidiger.

Der öffentliche Ankläger, der mit Gewandtheit den Thatbestand der Vergehen gegen Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft zu stellen wußte, war Constantin Ulrichs.

Es mußte eine gewaltige Zeit gewesen sein, die einen solchen Umschwung der Dinge und der Menschen herbeiführen konnte. Constantin Ulrichs fungirte als neuernannter Staatsanwalt, Eberhard Ott als Advocat, Wingolf war der Angeklagte!

Den stenographischen Aufzeichnungen, die über den Proceß des Geheimraths Wingolf und Genossen vorliegen, entnehmen wir, da diese Entwickelungen genauer anzugeben außer dem Bereiche unserer Erzählung liegt, nur drei Stellen, eine die Constantin, eine die Wingolf und eine die Eberhard sprach.

Blaß, scheinbar gefaßt, mit ruhig blitzendem Auge, doch erregt genug unter dem äußern Schein einer sieggewissen Haltung, sprach vor überfüllter Versammlung der Staatsanwalt Constantin Ulrichs:

»Es gibt ein Wort, das der größte Dichter aller Zeiten, William Shakspeare, eine seiner tiefsinnigsten Gestalten reden läßt, eine Gestalt, die uns um so werther sein muß, als sie oft dem deutschen Charakter und dem Genius unsers Volks verglichen worden ist, ich meine Hamlet...«

»Hamlet sagt: ›Die Zeit ist aus den Fugen. Schmach und Gram, daß ich zur Welt sie wieder einzurichten kam!‹...«

»Wer hätte sie nicht einst empfunden die träumerische Willensunfreiheit der blassen Gedankenwelt! Wer dächte nicht mit Schaudern zurück an seine einst zerrissene Sammlung zur That, die ohnmächtige Besinnung der Reflexion einer Welt gegenüber, die uns überlebt und dem Untergange geweiht schien! Wol wir Alle haben sie empfunden, diese Stimmung des gebrochenen Bewußtseins, wo uns das Dasein ekel, schal und unersprießlich schien und Das, was besteht und von der Ordnung der Zeiten überliefert worden ist, ein Garten voll wuchernden Unkrauts.«

»Ein Wetter aber brauste herauf. Gott rüttelte nicht nur an den Grundvesten der geschichtlichen Schöpfungen, sondern auch an dem Mark unsers eigenen Lebens. Aufgerufen wurde die Menschheit von unbekannten Stimmen wie mit den Posaunen des Gerichts und eine Zornschale ergoß sich über die Erde und wie in der Noth einer Ueberschwemmung war zum Denken keine Zeit mehr, zum Rathen nur kurz die Frist und die Spanne Raum konnte verloren gehen in einem Momente der Zögerung.«

»Unser Träumen von Ehemals rächte sich furchtbar. Die Welt wie sie ist hatte man nur zu verachten und zu hassen gelernt. Man bot eine andere. Es kam neue Schöpfung. Aber wer konnte sie lieben? Wer konnte sich finden in diese gemachte Welt! Mit Schaudern gedenkt man der Zerstörung vorhandener Ordnungen, der Experimente, die versucht wurden, um Neues an die Stelle des Alten zu setzen! Es waren Momente der Besinnung gegeben, Momente der Hoffnung gestattet. Dann aber – was blieb übrig, als mit Liebe zurückzukehren zu dem Schooße der Mutter, von deren Knieen man sich zu früh in die Wildniß einer unbekannten Zukunft gewagt hatte.«

»Der Sammelplatz der Gutgesinnten war nicht mehr auszurufen. Er konnte nirgendwo liegen als da, wo der Zusammenhalt der Vernunft uns das Nächste sicherte, die Existenz, die Familie, den Herd, die Gesittung, die Ruhe und das Glück des Einzelnen, der ein unveräußerliches Recht an eine feste Form des Ganzen hat; denn nur im Ganzen liegt die Bürgschaft des Einzelnen; das Einzelne im Menschen ist jene ewige Bestimmung seiner Gattung, jene verheißungsreiche Zukunft seiner auf die Ordnung alles Heils bezogenen Individualität. Wer da fehlen konnte, als sein Fürst, sein Vaterland, sein Haus und seine Familie riefen, der steht als ein Verbrecher vor dem Richterstuhl der Menschheit, auch wenn ihn Vergehen gegen den Buchstaben des Gesetzes nicht schon vor die Schranken der nächsten bürgerlichen Ordnung stellten.«

Wingolf, von mehren Orden, mit denen er seine Brust hätte schmücken können, nur ein einziges Band des Civilverdienstes an seinem Rocke tragend, sprach bei lautloser Stille:

»Wenn eine Welt, deren innere Schäden man aus genauer Kenntniß derselben würdigen lernte, zu wanken beginnt und durch die Natur der Werderuf des Frühlings tönt, wer sollte nicht sein Herz erschließen dem Wehen des milden Hauches, wer sollte nicht auf den Herbst und seine goldenen Früchte hoffen, selbst wenn unter tausend Blüten die Mehrzahl taub erschien oder im Winde zu Boden fiel! Der Unterschied ist nur der, daß Das, was Andere waren, Andere jetzt sind; daß Das, was Andere früher verachteten, von Andern damals vertheidigt wurde.«

»Wer könnte das Wort reden wollen der Brandfackel der Zerstörung, wer wird im Tode Leben suchen! Nur um die Grenze konnte es sich handeln, wo die zugestandene Bewegung still zu stehen hatte. Man sagt, sie mußte vor den Thronen stillstehen. Ich beuge mich dieser Wahrheit. Ich handelte in ihrem Dienste. Aber zum Throne ist es höher und steiler empor, als Die, die sich des Thrones Freunde nennen, den Weg vorzeichnen. Bei ihnen beginnt der Thron sogleich mit ihnen selbst. Ihre Interessen wurden die Interessen der Krone. Ist die strengere Unterscheidung dieser Entfernungen ein Verbrechen gewesen? Wenn die Masse, die Gestalt gewinnen soll, im Flusse ist, wenn das glühende Erz hervorbraust aus dem Kessel und sich den Weg sucht in die gemauerte Form unserer Ideale, wer ist der Künstler oder wagte sich den Meister zu nennen, daß er überall Halt! riefe, wenn vom glühenden Erze ihm in die Form genug geflossen scheint? Wer hütet den Zapfen, öffnet ihn und schließt ihn, wer anders, als die Gottheit, deren Signale ihr doch nicht in eigener Offenbarung besitzt? Gesetzt auch, man hätte Recht, wie ich Dem Recht gebe, der sagt, daß ein Augenblick eintreten mußte, wo ein Hornruf Alle zu ihrer Pflicht rief; wer hörte diesen Hornruf früher? Wer ihn später? Früher gewiß Der, der daheim auf dem Lotterbett lag und auf der Lauer saß, den rechten Augenblick der Umkehr zu treffen, später Der, der draußen auf dem Felde stand und arbeiten mußte im sauern Schweiß und kämpfen gegen den Unverstand der Zeit und sich gewöhnen sogar an die Sprache der Gegner, um sie für die bessere Einsicht zu gewinnen!... Der Vorsprung, den entweder die Feigheit oder die kalte Empfindung für wahres Volkswohl vor dem flammenden Herzen voraus hatte, diesen Vorsprung zu benutzen auf Anklage und Verketzerung ist unedel und die Zeit wird über Die, die der allgemeinen Hoffnung nicht Rechnung trugen und in der Zeit eines schönen Traums und bunten Wahns allein die Nüchternen und die Weisen bleiben wollten, einst ein Gericht niedersetzen, dem ich nach meinem Sinne die mildesten Sprüche wünsche.«

Wingolf's Vermittelung entsprach seinem loyalen Sinn.

Sein Vertheidiger Eberhard Ott stellte den florumwundenen Hut zur Seite, begann ruhiger als sein Client, argumentirte sicherer und traf verwundender.

Eine seiner bezüglichsten Stellen lautete:

»Es ist die verkehrte Welt, die wir spielen. Wer der alten Zeit gegenüber sich als ein Hamlet verhielt, wer diese als einen Garten voll Unkraut, eine schale unersprießliche Wirklichkeit nahm, den brachte die erste That, die er gegen eine Ratte zu vollziehen sich anschickte, dahin, daß er einen Menschen, Polonius, mordete, der hinter einer Tapete verborgen zufällig, ich glaube ja wol, der Vater seiner Geliebten war. Opheliens der Verzweifelnden Anblick brachte den alten echten Hamlet, von dem doch gesprochen wurde, zur Besinnung. Wol auch den neuen, dem ich Glück wünsche, wenn er plötzlich die alte Welt zu schützen als einen Beruf gewählt hat, der ihm Selbsterkenntniß und die Krone von Dänemark verschaffte.«

»Doch wozu Bilder! Man hat die Schöpfung aus dem Nichts für ein Wunder gehalten, das über unsere Vorstellungskraft und Glaubensfähigkeit hinausginge. Allein wie bildungsfähig das Nichts ist, lehrt die Erfahrung aller Tage. Die Negation um jeden Preis, die wir so bedeutungsvoll vorhin schildern hörten, erhebt sich überall jetzt von ihren Trümmerstätten, von ihren Kirchhöfen, ihren Unkrautgärten und fängt zu richten und zu schaffen an, langsam, vorsichtig, besonnen, vorläufig mit Anerkennung der Welt, wie sie sonst war und immer gewesen wäre und immer bleiben werde. Was mag es sein, was diese Besonnenheit, diese vortreffliche Ueberzeugung zu Stande brachte? Irdische Vortheile? Wer könnte diese Vermuthung aussprechen! Innere geistige Umwandlung? Diese zu glauben wäre ich eher geneigt, würde nicht Religion zu ihr gehören, Gottinnigkeit, innere Erleuchtung, eine solche Gesinnung, die vor den Thoren dieser Stadt für verlorene Seelen Johannes Repse's Besserungshaus ins Leben rief. Was ist der Grund ihrer Erleuchtung? Ich sage: Die Erschöpfung ist es. Nihilisten hassen unsere Aufschwünge. Sie hassen Schwarz, sie hassen Weiß, sie finden, daß immer von Dem, was uns Zumuthungen an unsere Liebe und unsern Eifer stellt, nur das Gegentheil berechtigt ist. Der Wolf trübt dem Lamm das Wasser, weil er satt ist. Nichts ist ihnen darum erwiesen, nichts fest. Wie kann es Menschen geben, die aus der Zeit Hoffnungen für die Zeit schöpfen! Was reden wir von Wahrheit! Von Irrthum! Und doch – es gab in unserer Zeit ein Irren, das sich mit allen Lichtgewändern der Wahrheit schmücken durfte. Ein Irren gab es, das zu den Tugenden dieser Zeit ebenso gehört, wie die Parteinahme, die Solon's Gesetze verlangten, zur alten. Dies Irren in unsern Tagen ist ein verlorener Sohn, den nicht die Reue an das Herz des Vaters zurückführt, sondern den der Vater selber aufsuchen muß, weil er ihn elend sieht um seinetwillen und auf seine Schuld hin. Dies Irren der Zeit ist unsere eigene Seele, die sich in Andere flüchtete und in fremder Stätte vollzog, was wir selber in eigener einst träumten. Sie tritt uns entgegen, diese irrende Seele, aus Denen, die wir richten wollen. Sie erhebt sich, eine verhüllte Gestalt, mit dem Haupte der Erinnyen, sie streckt die Hand aus und droht dem Abtrünnigen, der die Mutter des eigenen Lebens nicht anerkennen will. Dies Irren der Zeit hat eine ebenso wahre Berechtigung, wie einst die Unentschlossenheit Hamlet's – aber die Nihilisten kommen zuletzt darauf hinaus, alles Hoffen und Träumen und jedes Wollen und jeden Willen für überflüssig zu erklären. In der That! In einer Zeit solcher Geisteswandlungen ist es schwer, zwischen den Handlungen der Menschen die Grenze abzustecken.«

»Diese Männer hier wagten es, im Vollgefühl einer ernsten Aufgabe, die Mittel zu verweigern, die die Gesammtheit ihrer Beauftragten zur Aufrechthaltung der Ordnung zu gewähren hat. Es war eine Demonstration, mehr der Form als der That nach. Man wußte den Nichterfolg. Man wollte einem Grundsatze huldigen, wie jene Senatoren Roms, die den Sieg des Brennus ergeben in ihren Amtskleidern erwarteten, in den Flammen erstickten und in Asche und Staub zerfielen, als die Sieger sie berührten. Diese Nihilisten, die aus einem schwachen Etwas entstanden, sind höher zu schätzen als die Nihilisten, die, die Ohnmacht alles Widerstandes erkennend, sich lieber entschlossen, zu den Feinden überzugehen.«

Eberhard Ott ging nach diesen durch die Aufregung jener Zeiten hervorgebrachten Abschweifungen auf die rechtliche Seite seiner Vertheidigung über und gab eine so lichtvolle Auseinandersetzung, daß Wingolf's Freisprechung die Folge war.

Nach Beendigung der Sitzung fand man im Nebenzimmer Eugenie und Hertha.

Eben ankommend von der Reise, die sie mit dem Windesfluge um die Wette unternommen, traf Eberhard Beide in seines freigesprochenen, in kurzer Zeit an seinen Schläfen völlig ergrauten Clienten Armen.

Von Eugenie erntete Eberhard den beredtesten Dank, von Hertha den Dank eines starren Auges, das über Thaten zu grübeln und in einer langen brütenden Besinnung auf alles Vorhergegangene verloren schien.

Es lag nahe, daß Hertha sich eine Aufgabe stellte, die ihr so wichtig wurde, wie sonst das Recht der freien Selbstbestimmung.

Diese Aufgabe galt Agnesen's hinterlassenem Kinde.

Hertha übersah Eberhard's Leben, seine Existenz, seine Mühen sehr bald. Neuerwacht war ihr Schmerz um die drückende Pflichtenlast eines Mannes. Wie einst ein Ring, so erschien ihr jetzt ein ganzes Leben als Symbol.

Den alten Pfarrer hatte es zu seinen Aeckern und Wiesen heimgezogen; selbst auf seine Kanzel wieder in Liederbach sehnte sich der alte dogmatische Rationalist. Eine Natur, wie die seinige, begnügte sich mit dem Wohl der Enkelin, die ihm in des Vaters Pflege geborgen schien. Wingolf und Eugenie zogen in die Provinz. Sie wünschten selbst, daß Hertha, um sich zu sammeln und aus sich selbst zu festigen, in der Residenz blieb. Sie behielt ihr Zimmer vor den Thoren, rechnete nach wie vor mit Frau von Zabel und Lisetten, aber die Welt, die sie um sich pflegte und schmückte und zu verstehen und zu begründen suchte, war eine andere geworden. Sie hatte schwere Kämpfe des Lebens durchgekämpft. Eines Tages begehrte sie von Eberhard sein Kind zur alleinigen Pflege in ihren eigenen Wohnräumen.

Konnte er ihr's weigern? Er dachte nicht daran, eine Gattin zu suchen. Eine Mutter aber für Meta war ihm ein Geschenk des Himmels, das er nicht ablehnen durfte. Er gab Hertha Agnesens Kind.

An derselben Stelle, wo sie im Feuerbach einst von einer Liebe gelesen, die in Constantin Ulrichs ihren Himmel zu finden gehofft, saß sie, ein kleines holdes Wesen im Arme, das ihr jetzt der Eingang in jenen wahren Himmel war, der für sie nur noch im Dank gegen den Vertheidiger ihres Vaters lebte. Doch weder ihre, noch seine Lippen sprachen je einen Wunsch aus, der über das Nächste und Nothwendigste der Verständigung hinausging.

Vom Stiftshof aber kam die Kunde, daß Hans von Landschütz sich das Kind Gottes wirklich zur Gemahlin gewählt hatte.

Ein Wesen, das Dichter besungen hatten, ein Mädchen, so sehr Julia Capulet, um in ihr Herz nur einen Romeo einzuschließen, wählte Hans von Landschütz. Sie war jene »ursprüngliche Natur«, die sich mit der blassen Reflexion nicht verleiden läßt, Ideale des Herzens zu haben. Sie neckte den Liebhaber und schmollte mit dem Gatten. Beides that dem Gatten wie dem Liebhaber wohl. Hansen's Leben bedurfte eines Strohhalmes, der ihn vom Einschlafen aufkitzelte. Mehr war auch Frieda von Landschütz nie für den Stiftshof. Sie blieb wie sie war. Wenn sie mit solchen Studenten und jungen Professoren gehen wollte, die ihr zusagten, mußte sich's Hans gefallen lassen, daß sie, ohne darum die mindeste Untreue zu begehen, Tage lang ihn ignorirte.

Es ging das vortrefflich; war doch Alles »unmittelbar« an ihr, wie man es schon wieder auf der Universität nannte und sie wußte es auch und ihre Mutter, das jetzt alternde Riekele, sicherte ihr die Möglichkeit, ganz ihrem Genius zu leben. Der Vater war mit der Zeit ein wenig kindisch geworden.

Constantin's äußere Lage wurde die glänzendste.

Er hatte außer einer guten Anstellung auch das Herz seiner Schwägerin gewonnen.

Aurelie von Landschütz, eine Dame, die zehn Jahre älter war als er, vergaß den Baron von Gleichen um Constantin Ulrichs.

Constantin, reich geworden, konnte jetzt seiner endlich gewonnenen Ueberzeugung, daß von allen, allen Thatsachen, mit denen sich das alberne neunzehnte Jahrhundert quält, nur der Begriff des Comforts der wahrhaft neue und befruchtende Gedanke ist, ganz nach Wohlgefallen leben.

Er hielt sich Wagen und Pferde, er streckte sich auf Divans und Ottomanen, er trieb Blumenzucht in seinen Zimmern und lebte wie ein angebetetes Idol in seiner ganzen Herrlichkeit.

Nicht nur Aurelie lag ihm zu Füßen und küßte, vor aller Welt sogar, seine schönen Hände; Alles, was zu Aureliens hochgestellter Verwandtschaft gehörte, vergötterte den interessanten Mann ihrer späten Wahl.

Constantin ging einen Pfad durchs Leben über schwellende Teppiche. Wo er sich anlehnte, fand er den Rücken weich gepolstert. Was er nur athmete, war Arom. Verzärtelt zu werden war dabei nicht seine Absicht. Er wehrte sich oft mit Gewalt die Ueberfülle seines Glückes ab. Alles was er sprach war »geistreich«, was er unternahm »taktvoll«.

Die Stellung eines öffentlichen Anklägers behielt er als eine Art von Privatunterhaltung.

Dabei wuchs freilich die Bizarrerie seines Gemüthes. Verdrießlich wurde er oft bis zum Exceß, oft wälzte er sich auf all seinen Polstern und stieß ungeduldig mit den Füßen gegen Kissen, Menschen, Welt. Es ergriff ihn dann halb faustische, halb mephistophelische Stimmung. Er konnte seiner Amtswirksamkeit allen jenen scharfsinnigen Nachdruck geben, den man an seinen Anklagen und Beweisführungen bewunderte; aber dies Nichts der Welt, in stillen Stunden, in schlaflosen Augenblicken quälte es ihn doch. Dann hätte er Alles verwünschen, Alles zerreißen mögen. Schal, unersprießlich erschien ihm und hassenswürdig das Dasein, wie sonst. Der Morgen brachte ihm glücklicherweise auf silbernen Schalen dann wieder des Lebens goldene Früchte, den geliebten Mokka, seine braunen Regalien und Upmans, er lächelte und war wie immer und immer »liebenswürdig«. Man bewunderte seine Grazie, seine feine Ironie. Er konnte zuweilen sogar ausgelassen sein, besonders wenn seine Gedanken auf die Filzfabrik vor den Thoren kamen. War er auch zu verdrießlich gestimmt, zu mürrisch und übellaunig, so brauchte man nur von »Vater Repse« zu sprechen und behaglich schaukelte er sich in seiner blumigen Orchideen-Existenz.

Noch eine Freude hatte Constantin.

Er lachte oft darüber, daß jenes sentimentale Geschlecht, zu dem Eberhard Ott gehörte, doch immer in die Lage kommen müsse, Das aufzunehmen, was der Genius fallen läßt...

Eberhard hatte dies schon ein mal gethan, an den Asterbeeten im Pfarrgarten zu Liederbach...

Und das zweite mal...

Wie konnte sich ein Constantin darin täuschen, daß die Pflegerin und Mutter der kleinen Meta noch einst Eberhard's zweite Gattin werden würde? Der Genius verschmäht erst eine Agnes, dann eine Hertha und der Philister nimmt eine Agnes und dann eine Hertha.

Constantin sah vollkommen, was in Eberhard's Seele vorging. Er sah, daß Eberhard unter dem Gedanken, in der That zwei mal in die Fußtapfen eines treulosen Freundes zu treten, litt. Constantin legte, bestaunt und bewundert von seinem Weibe, einen Beweis seiner Menschenkenntniß ab, als er einst sagte:

Ha, was diese Menschen es wurmt, die ewig Seitwärtsstehenden sein zu müssen, die ewig Nüchternen und Gestrigen, während wir die Zukunft für uns haben und vom Wirbel bis zur Zeh' die lebendige Poesie sind!

Constantin rief aus: Hertha pflegt sein Kind. Sie thut es mit dem ganzen Heroismus, der diese Thörin immer ergriffen hat, ob es sich nun um eine Revolution oder eine Stecknadel handelt, sie pflegt die kleine Meta nach allen Lehrbüchern der Pädagogik, sie liest Plato und Aristoteles im Urtext, um sich zu unterrichten, wie das Kind Deutsch am leichtesten aussprechen wird. Es kann nicht anders werden, als daß Eberhard eines Tages zu ihr sagt: Hertha, sei mein Weib! Es wurmt ihn noch. Der Stempel des Philisters ist ihm zu fühlbar auf die Stirn gedrückt. Aber nur Schulmeister wird er ewig bleiben, lesen die Exercitien seiner Schüler, corrigiren, was Andere verdarben! Ihr Eingebildeten! Für jene Worte, die ich von Eberhard einst bei Wingolf's Proceß hören mußte, ohne sie unterbrechen zu dürfen, gönn' ich ihm die Qual, wie ein trappistischer Tantalus zu lechzen nach den goldenen Früchten über ihm, die er sich kasteit, nicht brechen zu wollen.

Constantin Ulrichs betrog sich aber.

Zwei lange Jahre währte es allerdings, bis Eberhard das Gefühl der Beschämung mit dem Gefühl der Dankbarkeit ausgleichen konnte.

Da aber geschah ihm Folgendes:

Julie von Reisig war mit ihrem Gatten und dessen Kindern in den alten Wohnort zurückgekehrt.

Ihre Schwester Aurelie als Constantin's Gattin anzutreffen, that ihr so wenig wohl, daß sie ihrem Drange, alles Widerstrebende auszugleichen, hier zu folgen sich nicht entschließen konnte, sondern die gegenseitigem Verstimmungen ihrer alten Freunde ruhig als begründet gelten ließ. Sie sah sie aber gern in ihren wiedereröffneten Cirkeln und nicht selten zu gleicher Zeit Hertha, Constantin und Aurelie.

Auch Eberhard Ott mußte sie nun kennen lernen, den Vater jenes Kindes, das Hertha erzog, wie die Welt sagte aus Dankbarkeit für die Vertheidigung ihres Vaters.

Es war eine große glänzende Gesellschaft, als Eberhard einst zum ersten male dies Haus betrat.

Die Gegensätze hatten sich schon ein wenig ausgeglichen, die Leidenschaften schon etwas gemildert; man vergaß die Partei schon ein wenig wieder um der Menschen willen.

Constantin und Aurelie wurden erwartet, man erwartete auch Hertha.

Jene kamen.

Wie lange hatte sie Eberhard nicht gesehen! Der früher Gekommene blickte voll Mitleid auf das traurige Paar.

Constantin blaß, verfallen, offenbar krank, tief zerrüttet. Aurelie, gut und wohlmeinend in Wesen und Blick, unschön jedoch, hager, dürr, reizlos, trotz ihrer Diamanten fern von jedem gefälligen Eindruck. Constantin fühlte es und blickte nieder.

Nun erschien Hertha, Hertha, die von Constantin Aufgegebene! Seit zwei Jahren war sie wie umgewandelt. Die Frische war sie und das Leben selbst. Ihr Auge voll blitzenden Feuers, ihre Wange sanft geröthet, ihre Gestalt jetzt erst entwickelt wie nach lang unterdrücktem Wachsthum. Der Ernst von ehemals gemildert. Leicht und gefällig ihre Bewegung unter den Menschen. Jeder drängte sich in ihre Nähe, suchte ihren Anblick und ihr Gespräch zu gewinnen. Hertha war die Königin des Abends.

Und hätte sie es nicht sein wollen, Julie machte sie dazu. Julie hob sie drei mal über die eigene Schwester. Frauen verstehen es, zu erhöhen, Frauen verstehen es, Kronen zu verschenken, Sessel für die, die hoch thronen sollen, aufzustellen und Teppiche darüber auszubreiten, daß man die schlaue Veranstaltung nicht merkt.

Wer war nun der Verschmähte?

Constantin, der verdrießlich und abgespannt mit Aurelien in einer Zimmerecke saß, oder Hertha Wingolf, die allen Augen begehrens-, jedem Herzen liebenswerth erschien?

Eberhard stand am folgenden Morgen an Hertha's Seite und plauderte mit Meta, die zu ihren Füßen spielte.

An derselben Stelle, wo ein Vater einst vor dem Bilde seines ersten Weibes die Wahl eines zweiten vor der Tochter vertheidigen mußte, vernahm dieselbe Tochter das Bekenntniß der Liebe auch aus dem Munde – eines Witwers.

Bebend vor Wonne und Glück wollte sie reden. Sie konnte nicht. Sie ging an den Schrank, schloß ihn, nahm ein Kästchen hervor, öffnete und gab Eberhard den Ring Constantin's, den dieser für ihn einst von Agnes empfangen.

Indem sie mit verhaltenem Athem erzählte, was in der einsamen Kammer ihres Herzens einst sich zugetragen, als sie mit diesem Ringe Eberhard's und eines edlen Mannes Lebensauffassung und die Pflichtenwelt kennen gelernt, sammelte sie sich.

Eine Thräne quoll in Eberhard's Auge dem Andenken an Agnes, die dem Himmel eine tiefe Schuld mit dem Tode bezahlt hatte, ein Blick auf sein holdes Kind gab ihm neuen Muth und der Bund der für einander bestimmt gewesenen Herzen war geschlossen...

Die Zeilen, die aus Hertha's Feder an ihren Vater überströmten, wird sich jedes fühlende Herz ebenso selbst denken können, wie Wingolf's Empfindungen, als er Hertha's Brief empfing und an jenen Abend zurück dachte, da er vor vier Jahren in nächtlichem Dunkel einst zu seinem abtrünnigen Kinde schlich.

An eine bloße Genugthuung aber, die ihm wurde, dachte er nicht. Zu gut kannte er an sich selbst die Wandelungen durch die Zeit.

Er schrieb seiner Tochter:

Die Zeiten und die Menschen, Alles geht im Ringe, nur daß der ewig gleiche Kreislauf in sanfter Linie, wie die Spirale, emporsteigt und – unser Hoffen mit ihm!


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