Curt Grottewitz
Sonntage eines Großstädters in der Natur
Curt Grottewitz

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Mai.

Der Weg führte mitten durch einen Laubwald, der im vollsten frischen Frühlingsgrün prangte. Das Heer der Bäume bildete ein dichtes Blätterdach, zartgrün und doch unendlich reich und üppig. Die Vegetation war in vollem Zuge; Fülle und Kraft strömte aus dem Schoße der Natur. Im Wettbewerb um Licht und Luft drängten sich die Triebe der Bäume an einander, so daß die Sonne nur schwer durch das dichte Laubwerke drang und nur hier und da unregelmäßige Lichtflecke auf den grünen Waldboden warf. Da, wo die Sonnenstrahlen den meisten Spielraum hatten, wucherte eine üppige Unterholzvegetation hervor, besonders Haselbüsche und Hainbuchengestrüpp, denen sich kleine Stämmchen von jungen Eichen, Birken und Ebereschen zugesellten. Herr Tanzmann sah sich diese jungen Bäumchen näher an. Es waren furchtbar verkrüppelte Wesen, die durch Hasenfraß und Fußtritte verstümmelt, strauchartig wuchsen und so weiter wachsen mochten, bis ein Stamm des Busches die Oberhand gewann und, zum Baume aufwachsend die Nebentriebe unterdrückte.

Genau wie bei uns! dachte Herr Tanzmann; in der Jugend ein struppig individueller Kerl, den jeder Fußtritt nur noch widerborstiger und energischer macht, und dann im Alter ein aalglatter Herr mit dem einzigen Ausblick nach oben!

Es gab aber auch Ausnahmen, mächtige, knorrige Eichen mit weit ausladenden eigensinnigen Aesten und rauher, harter Borke; Eichen, die ihre stolzen Glieder behaglich und energisch ausstrecken, als ständen sie auf freiem Felde und nicht im geschlossenen Walde. Im allgemeinen trugen die Bäume überhaupt kein einheitliches regelmäßiges Gepräge, uralte Riesen standen neben jungen Stämmen, dicke Linden neben schlanken Eschen. Aber gerade diese natürliche Mischung der verschiedenen Bäume gab den vollen Eindruck malerischer Ursprünglichkeit und das in voller Triebkraft stehende und doch maiengrüne Laub erzählte von neuem sein altes Lied von Jugend, Lenz und Liebe.

Der Laubwald gehörte einer kleinen Stadt, die ihn in früheren Zeiten, wo man die Rente pro Morgen noch nicht so genau berechnete, wild wachsen ließ. Später war der Ort gerade wegen des Waldes eine beliebte Aufenthaltsstätte für Sommergäste geworden und damit hatte dieser in finanzieller Beziehung seine Daseinsberechtigung erwiesen. Diesem glücklichen Umstande verdankte der schöne Laubwald, der sonst wie mancher andere vielleicht längst der Holzaxt anheimgefallen wäre, sowohl seine große Ausdehnung als seinen durch keine »rationelle Forstwirtschast« verschnittenen, wilden Charakter.

Herr Tanzmann schlenderte langsam auf dem Waldwege dahin, der von Büschen begrenzt und von Aesten überwölbt, einem herrlichen grünen Laubengange glich. Mitunter kam er an einer zierlich belaubten Birke vorüber, dann blieb er stehen, um den frischen Duft der »Maienzweige« einzuatmen und eine Weile an die Frau Tanzmann zu denken, seine Mutter, mit der er früher als Kind jedesmal Sonnabend vor Pfingsten ausgegangen war, um Birkenzweige zu holen. Er hatte dann zugleich Kalmusstengel vom Seerande mitgebracht, mit denen sich eine herrliche, von der Frau Tanzmann freilich wenig ästimierte Musik anstiften ließ. Sein Freund Mewis kam extra zu dieser Zeit zu ihm auf Besuch, um zusammen mit ihm zu musizieren. Er schnitzte grandiose Pfeifen aus Weidenrinde und blies darauf noch grandioser und mit einer Ausdauer! – Die Frau Tanzmann verletzte dann gewöhnlich schnöderweise die Gastfreundschaft und trieb schließlich Mewis wieder nach der Himmelsrichtung, von der er hergekommen war! Kurzum, es war eine herrliche Zeit!

Der Waldweg führte wieder an anmutigen Ebereschen vorüber, deren große weiße Blütendolden einen berauschenden, etwas giftigen Duft ausströmten. Aus dem grünen Grasboden des Weges selbst standen gelblichgrün blühende Wolfsmilchblumen in niederen Buketts, blaue Kerzen des pyramidenförmigen Günsels und schneeweiße Sternmieren in weithin leuchtenden Trupps neben anderen weniger auffällig und vereinzelter blühenden Frühjahrsblumen. Bunte Falter flogen gaukelnd umher in mannigfaltigen Arten und Farben. Und am Boden kroch ein metallisch glänzender Goldschmiedkäfer schnellfüßig über die Grashälmchen dahin.

Der ganze Wald war belebt vom Gesang der Vögel. Buchfinken trällerten unermüdlich ihre kurze Melodie und Schwarzdrosseln und Rotkehlchen sangen in wunderbar modulationsreichen, ausdrucksvollen Tönen. Auch Herr Tanzmann fing plötzlich an zu singen, blieb leider aber mitten in seinem Liede stecken, teils aus Ungeübtheit, weil er nur im Mai zu singen pflegte, dann aber auch, weil er zu hoch eingesetzt hatte, so daß er in Töne überging, die es in der Musik gar nicht gibt und die alle Vögel verstummen machten. So ließ er es lieber sein und wandte sich Dingen zu, die er besser verstand. Er verließ den Weg und betrat das Dickicht des Waldes. Das erste, was ihm auffiel, waren zarte Maiglöckchenblüten, die, aus breitem Grundblatt aufsteigend, einen lieblichen Duft verbreiteten. Er hatte auch das Glück, im schattigen Gebüsch kleine Waldmeisterpflanzen zu finden, pflückte ein paar ab, warf sie aber wieder weg, da sie im grünen Zustande doch wenig dufteten, und auf die Bereitung eines Maitranks war bei den schlechten Zeiten auch nicht zu rechnen. Und als er nun vollends auch noch Morcheln entdeckte, wurde er ärgerlich über all die Leckereien, die hier ohne die Kochkunst der Frau Tanzmann brach lagen. Morcheln konnte sie vorzüglich kochen, sie seufzte aber jedesmal, wenn er ihr welche brachte. Na, das bilde Dir man ja nicht ein, sagte sie dann, daß Du mir damit einen Gefallen tust. Mit den Morcheln ist es gerade so wie mit dem Portemonnaie: Man muß etwas hineintun können, sonst hat's keinen Wert. Was sie nun für Zutaten nahm, wußte Herr Tanzmann zwar nicht mehr, aber etwas Reelles war es sicher, denn die Frau Tanzmann war ein richtiges Naturkind, das alle Surrogate haßte wie die Pest. Und obwohl wenig Geld im Hause war, herrschte bei ihr doch ein gewisser Ueberfluß. Sie wußte die Schätze des Waldes und des Gartens, des Kellers und der Viehställe zu heben, und eben diese praktische Naturwissenschaft verlieh ihrem kleinen Gutshofe einigen Wohlstand.

Herr Tanzmann ging an den Morcheln vorüber und blieb an einer Buschgruppe stehen. Sein scharfes Auge sah auf den grünen Blättern eine Menge der verschiedenartigsten, meistens sehr kleinen Insekten sitzen, die sämtlich grün gefärbt waren. Wäre er nicht mit der Absicht an die Sträucher herangetreten, Insekten zu suchen, er hätte gewiß kein einziges gesehen. Ihre grüne Farbe verbarg sie ohne Zweifel vor den Vögeln, ihren Feinden, denen sie mit Leichtigkeit anheimgefallen wären, wenn sie durch ein anders gefärbtes Kleid von den grünen Blättern abgestochen hätten. Der Wanderer schlenderte weiter durch den Wald, bis er an den Rand desselben gelangte, wo sich ein Dorf unmittelbar anschloß.

Er hatte das Dorf einige Monate vorher gesehen. Da war es ein trostloses Aneinander von kleinen Hütten, schmutzigen Wegen und kahlen, krummen Bäumen gewesen. Jetzt erkannte er es kaum wieder. Der Mai hatte es in einen vollen blühenden Park umgewandelt, in dem hier und da ein idyllisches Häuschen aus dem Grün hervorlugte. Ganz vorn stand ein Trupp dick-stämmiger Kastanien, deren runde, breite Kronen mit weißen aufrechtstehenden Blütenkerzen dicht besetzt waren. Die Obstgärten bildeten ein einziges, großes, schneeweißes Blütenmeer, das einen wunderbaren zarten Duft nach bitteren Mandeln ausströmte. Als Herr Tanzmann näher herantrat, konnte er die einzelnen Baumarten deutlich unterscheiden, die kleinen krummen Sauerkirschen, deren Hängeäste mit blendend weißen zierlichen Blüten übersäet waren; nicht ganz so schneeweiß waren die Blüten der Birnbäume, die mit aufrechtem, geradem Wuchs in die Höhe strebten, am wenigsten schön sahen die Pflaumenbäume aus, deren hervorbrechende Blätter dem ganzen Baum bereits einen grünlichen Schimmer gaben. Wunderbar aber leuchteten die großen Blüten der Apfelbäume mit ihrem herrlichen Rosenrot. Auf dem Grasboden bildeten die abgefallenen Blütenblätter einen weißen Teppich. In dem einen Garten rannten ein paar Kinder umher, jetzt schüttelten sie einen jungen Pflaumenbaum, wobei einige Maikäfer jählings herunterfielen. Die Kinder sammelten sie auf und eilten damit zu den Hühnern im Hofe, die sie schnell vertilgten.

Der Wanderer ging die Dorfstraße entlang. In den Hecken blühte der Flieder in lilafarbenen Sträußen. In den Gärten prangten Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht neben Aurikeln und roten Hängeherzen, stolze, bunte Tulpen neben weißen Narzissen. Die gelbblühenden Goldbeersträucher und die weißen Spiräen bildeten anmutige Buschgruppen. Auch die Gemüsepflanzen waren in üppigem Wachstum, nur Gurken und Bohnen, die Kinder des warmen Südens, streckten eben erst ihre fleischigen Keimblätter aus dem schwarzen Gartenboden hervor.

Eine Stimmung radikalster Friedfertigkeit breitete sich über Herrn Tanzmanns Gemüt.

Schweigen Sie, Herr Tanzmann, sagte er zu sich, reden Sie nicht davon, daß vieles besser sein könnte! Wunderherrlich ist dieser grüne blühende Frieden im Mai! Wenn die dummen Kerls freilich ein bißchen Verständnis hätten, was für herrliche Sachen könnten sie nicht außerdem in ihren Gärten ziehen! Was hat uns Japan und Nordamerika nicht alles gegeben, was hier trefflich gedeihen würde, was hat uns – doch schweigen wir!

Er schwieg nun wirklich und sah den Schwalben zu, die geschäftig um die Häuser, um Ställe und Scheunen flogen in nimmermüdem, anmutigem Fluge. Mit den zierlichen Gabel-Schwänzchen steuernd, umkreisten sie Herrn Tanzmann in der furchtlosen Zutraulichkeit, die diese Tiere von alters her dem Menschen gegenüber empfinden. Auf den Dächern liefen Tauben gurrend auf und ab, Täuber machten in galanter Aufmerksamkeit den Täubchen den Hof. Und jetzt flog eine Schar hinaus hinter die Gärten über das Feld, wo der Roggen bereits in Aehren ging. Dort drehte die Schar in jähem Bogen um, wobei man einige weiße Tiere im Sonnenschein flimmern sah. Sie kehrten wieder zurück nach dem Hofe, der an einer Seite durch einen morschen Bretterzaun von der Dorfstraße abgetrennt war. Hier am Zaune wucherte bereits das Unkraut sehr stark; das gelbe Schöllkraut und die weißen Taubnesseln, die Freunde der Zäune, gediehen hier üppig und mahnten an kommende Arbeit, an den ewigen Kampf des Menschen mit der Natur.


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