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Durand hieß den Kutscher zum Telegraphenamt fahren und gab daselbst zwei Depeschen auf. Die eine war an Klesing gerichtet, die andere ging an den Chef des Wiener Sicherheitsamtes ab.
Als dies besorgt war, befahl er dem Kutscher, nach dem Gehölz von Bielany zu fahren. Und so lenkte denn der ganz stattliche Zweispänner in jene Chaussee ein, welche im Nordosten Warschaus das flache Land mit der Stadt verbindet.
Diese Chaussee führt an der Westgrenze des schönen und ziemlich ausgedehnten Gehölzes von Bielany hin.
Man gelangt auf ihr auch zu dem ausgedehnten Militärlager der Warschauer Garnison und befindet sich, sobald man dieses im Rücken hat, auf dem Grund und Boden des kleinen Dorfes Mlociny. Es liegt etwa acht Kilometer von Warschau entfernt. An einem der ersten Häuser erkundigte sich der Kutscher danach, wo die Witwe Malachow wohne. Nach erhaltener Auskunft fuhr er durch das Dorf und noch ein gutes Stück weiter.
Vor einem kleinen, sehr nett aussehenden Hause hielt er an, und Durand stieg aus. Der Kutscher warf Decken über seine heißgelaufenen Pferde, hockte sich in den Wagen und zündete sich seine Pfeife an.
Indessen hatte sein Fahrgast den breiten Vorgarten durchschritten, welcher zwischen der Straße und dem Hause lag, und zog an dem Klingelknopf der verschlossenen Haustür.
Eine kleine, schwarzhaarige Magd steckte alsbald den Kopf aus dem Türspalt.
»Kann ich Frau Malachow sprechen?« fragte Durand.
Das Mädchen hatte offenbar nichts als den Namen, der in dieser Frage enthalten war, verstanden. Aber es konnte sich's vorstellen, was der fremde Herr wolle, und da er in einem vornehmen, zweispännigen Wagen gekommen war, imponierte ihr dieser Besuch so sehr, daß sie ihn sofort einließ.
Kaum aber hatte Durand den schmalen Flur betreten, stürmte eine riesige Dogge mit wütendem Gebell auf ihn ein, und ganz erfolglos war das Bemühen der Magd, den Hund zu beruhigen. Durand blieb nichts übrig, als sich still und regungslos zu verhalten, wenn er nicht das mächtige Tier zu einem tätlichen Angriff reizen wollte.
Er wurde indessen sehr bald aus dieser ebenso lächerlichen als peinlichen Situation befreit, denn kaum hatte sich des Tieres wütendes Gebell erhoben, ließ sich auch schon eine volltönende Frauenstimme vernehmen, welche offenbar dem Hunde einen Befehl erteilte. Es kam nämlich der Name »Cäsar«, den auch die Magd schon angewendet hatte, in dem russischen Ausruf vor, welchem der Hund wohl widerwillig, aber doch sofort Folge leistete, indem er sich knurrend bis zu einer der beiden in den Flur mündenden Türen zurückzog.
Danach kam ein wunderhübscher, blonder Frauenkopf und eine schlanke Gestalt zum Vorschein.
Durand atmete tief auf, als er sich vor der jungen Dame verneigte. Denn diese blonde Schönheit war Nadja Kissilew.
Nach einem verwunderten, fragenden Blick sagte sie irgend etwas auf Russisch, das er nicht verstand. Statt der Antwort verneigte er sich noch einmal und trat ihr einige Schritte näher.
»Wenn gnädiges Fräulein dieses prächtige, aber auch ein wenig unbequeme Tier fortschicken wollten, wäre es mir recht angenehm,« sagte er lächelnd auf Deutsch.
Auch Nadja lächelte und befahl dem Mädchen, den Hund zu entfernen, woraufhin das Mädchen und die Dogge hinter der zweiten Flurtür verschwanden.
»Werden Sie mir jetzt sagen, was Sie hierher führt?« fragte Nadja in einem tadellosen Deutsch.
Da verbeugte sich Durand zum dritten Male und antwortete: »Ich wollte Frau Malachow ersuchen, mir zu sagen, wo ich Sie, mein Fräulein, wo ich Nadja Kissilew finden könne.«
»Mich suchen Sie?«
Nadja sah überaus verwundert aus. Sie war mit einer freundlichen Gebärde, die ihn ihr folgen hieß, in das Zimmer zurückgetreten, in das jetzt auch Durand trat.
Es war ein gemütlich eingerichteter Raum. Nahe dem Ofenwinkel stand ein kleines Sofa und davor ein Tisch und ein altväterischer Lehnstuhl.
Auf diesen zeigte die junge Dame, während sie selber sich auf dem Sofa niederließ. Ihre Augen, ihre Miene drückten Erwartung aus.
»Mein Fräulein,« begann Durand, »gestatten Sie mir, ehe ich Ihnen meinen, Ihnen vollständig fremden Namen nenne, eine Frage.«
»Fragen Sie, aber setzen Sie sich auch.«
»Sie kennen Herrn Viktor Colmar?« fragte er.
Nadja richtete sich steif auf. Alles Freundliche, alles Harmlose, das sich soeben noch in ihrem ganzen Wesen ausgedrückt hatte, war verschwunden. »Ja, ich kenne ihn,« gab sie übrigens ohne weiteres zu.
»Sie kennen ihn genau?«
»Ich kenne ihn genau.«
»Und sind ihm nicht freundlich gesinnt, wenigstens derzeit nicht freundlich gesinnt?«
»Ich war ihm niemals freundlich gesinnt.«
»Niemals?«
»Mein Herr!«
»Fräulein Kissilew, ich bin von weither gekommen, um diese und noch manche andere Fragen an Sie zu richten. Und es wird viel davon abhängen, wie Sie diese Fragen beantworten werden.«
»Von woher sind Sie gekommen, und wer sind Sie, daß Sie mich derartiges fragen dürfen?«
»Ich diene der Gerechtigkeit.«
»Ah! Und da interessieren Sie sich für Herrn Viktor Colmar?«
Nadjas ganzes Wesen drückte jetzt große Spannung, aber auch ebenso großes Überraschtsein aus.
»Für ihn und für noch manch andere Persönlichkeit,« sagte Durand.
Sie schüttelte den Kopf. »Wie haben Sie es in Erfahrung gebracht, daß ich Herrn Colmar kenne?«
»Ich habe Sie mit ihm am Abend Ihrer Abreise von Wien gesehen.«
»In der Tat, er hat mich damals begleitet.«
»Sie sind in der Stephanskirche mit ihm zusammengetroffen.«
»Das weiß man auch? So ist er aus irgend einem Grunde von der Polizei beobachtet worden?«
»Nicht er,« sagte Durand mit Betonung.
»Nicht er?«
»Nein, mein Fräulein, Sie waren es, welche man beobachtete.«
»Ich?« – Nadja hatte sich rasch erhoben. Sie starrte Durand verständnislos an.
»Und weil man nach Ihnen fahndete und Sie gefunden hatte, wußte man schließlich auch, daß Colmar mit Ihnen bekannt sei.«
»Nach mir hat man also gefahndet? Nach mir? Mein Herr, verstehe ich Sie denn wirklich recht?«
Durand griff in die Innentasche seines Rockes. Er entnahm ihr einen Umschlag und diesem ein kleines Bild, das ein Malachitrahmen umschloß. »Nach dem Original dieses Porträts hat man gefahndet,« sagte er, der jungen Dame das Bildchen reichend.
Sie nahm es entgegen. Nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, schaute sie betreten, ja sichtlich peinlich berührt auf Durand.
»Sie kennen das Bildchen natürlich?«
»Selbstverständlich.«
»Auch den Rahmen?«
»Der war nicht darum, als das Bild noch mein Eigentum war.«
»Es ist ein sehr wertvoller Rahmen. Das Bild oder dessen Original muß dem, der ihn kaufte, viel wert gewesen sein.«
»Das Bild ist des Rahmens wert,« sagte Nadja.
Es klang zerstreut. Die junge Dame mochte an ganz etwas anderes denken.
»Sie sind mit Colmar nicht nur in Wien beisammen gewesen!«
War das eine Frage oder eine Behauptung? Nadja entwand sich jetzt ihren Gedanken. Ihr Blick war forschend, ihre Stimme scharf, als sie, seine letzten Worte übergehend, fragte: »Wie und wann kam dieses Bild in die Hände der Polizei? Sie sehen mich peinlich überrascht von dieser ja immerhin unangenehmen Tatsache.«
»Darf ich, ehe ich Ihnen diese berechtigte Frage beantworte, nicht erfahren, mit wem, außer mit Colmar, Sie in Wien verkehrten?«
»Mit niemand! Auf mein Wort – mit niemand! – Warum nehmen Sie denn an, daß ich mit noch jemand außer mit Herrn Colmar verkehrt habe?«
»Weil ich weiß, daß noch ein anderer dort ist, der Sie kennt, denn –«
»Herr König – o ja, Herr König. Ich leugne das nicht. Aber warum kümmert sich die Polizei darum? Und warum –«
»Es kennt Sie dort immer noch einer – einer, dem Sie nahe stehen,« fiel Durand ihr rasch ins Wort.
Weshalb war sie denn jetzt verwirrt? Weshalb schoß ihr denn jetzt eine Blutwelle ins Gesicht? Und warum sah sie denn jetzt so ängstlich aus?
»Was ist Ihnen dieser andere?« fragte Durand dringlich. »Er nennt sich Wasili Alexin.«
»Wasili – ja, Wasili! Er – er ist mein Bruder. Ich hielt mich auch seinetwegen in Wien auf. Ich habe ihn schon länger als ein Jahr nicht gesehen.«
»Und da wollten Sie auch ihn aufsuchen, diesen Ihren – Stiefbruder.«
»Wir hatten denselben Vater und dieselbe Mutter,« sagte Nadja leise.
»Und doch trägt er einen anderen Familiennamen als Sie?«
»Er hat kein Recht dazu.«
»So meinten wir auch, als er uns den Namen Alexin nannte,« entgegnete Durand trocken.
Aus Nadjas Gesicht war alles Blut gewichen.
Angstvoll schauten ihre Augen, angstvoll klang ihre Stimme, als sie fragte, warum denn die Polizei sich für seinen Namen interessiere.
Und als Durand ihr Wasilis Einbringung und deren Ursache bekannt gab und ihr seine Art zu leben und seine Art sich zu verantworten schilderte, weinte sie bitterlich, und dann erfuhr Durand, daß Wasili seit jeher nicht gut getan, und daß er seiner Schwester in früherer Zeit viel Kummer gemacht habe. Die Art dieses Kummers verriet jedoch Nadja nicht.
Durand aber hoffte, heute und hier auch noch über Wasili nähere Auskünfte zu erhalten. Er wollte nur nichts überstürzen, und so kam er wieder auf die Hauptangelegenheit zurück und fragte noch einmal in Bezug auf das Bildchen: »Sie haben es also verschenkt?«
Nadja nickte. »Am 27. Februar war es noch mein Eigentum,« sagte sie seufzend.
»Also bis zum 27. Februar?«
»Ja. Ich werde diesen Tag niemals vergessen.«
»Von solch großer Bedeutung war für Sie der Besitzwechsel dieses Bildchens?«
Nadja lachte herb. »Ah, nicht deswegen – nur weil der, der es gemalt, wenige Stunden, nachdem ich es verschenkt hatte, gestorben ist. Er war mein Bräutigam!«
Nach diesen Worten trat eine längere Pause ein.
Nadja kämpfte gegen ihr junges Leid, und Durand ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen.
Die junge Dame erhob soeben wieder den Kopf, um weiterzusprechen. Da öffnete sich die Tür, und eine alte Frau trat herein.
Sie blieb verwundert auf der Schwelle stehen. »Du hast Besuch?« sagte sie, noch die Klinke in der Hand behaltend.
»Mutter, bleibe!« rief Nadja. »Dieser Herr gehört der Polizei an, er ist mir von weither gefolgt –« sie lachte bitter auf – »denke nur, für wie wichtig man meine Aussagen hält!«
»Du Arme! So belästigt man auch dich, weil du mit uns verkehrst?«
So sagte schmerzlich die alte Dame, dann trat sie rasch auf Durand zu und fuhr mit einer Art bitterer Energie fort: »Aber mein Herr, da irrt man sich. Man kann recht wohl den Sohn eines Verbannten lieben, ohne dem Staat gefährlich zu werden. Man sollte uns wenigstens jetzt in Frieden lassen, da es keinen Malachow mehr gibt.«
»Aber meine Damen, es denkt ja niemand daran –«
»O ja, man hat mich belästigt!« unterbrach ihn zornig die alte Frau. »Müde an Leib und Seele, wie ich es bin, hat man mir die Heimkehr noch bitterer gemacht, als sie es ohnehin schon war. Bis zur Leibesuntersuchung hat man die Vorsicht getrieben. Die letzten Briefe meines Sohnes, der niemals ein Unrecht getan hat, der –«
Sie brach in Weinen aus.
Durand führte sie zum Sofa. »Sie sollten sich nicht unnötig aufregen, gnädige Frau!« sagte er herzlich. »Ich weiß, daß man Sie künftighin in Ruhe lassen wird, und daß Ihres Sohnes Briefe als harmlos befunden wurden. Man wird sie Ihnen wieder einhändigen, seien Sie dessen sicher.«
»Was kann ich Gutes erwarten, da man selbst diese da verfolgt?« schluchzte Frau Malachow, und ihre Hand strich dabei liebevoll über Nadjas Kopf. »Unsere Nadja, die so selbstlos, so edel ist. Ach, wenn man wüßte, wie schuldlos sie ist!«
»Es hält sie ja niemand für schuldig,« fiel Durand ein wenig ungläubig ein.
Die beiden Frauen sahen ihn verwundert an.
»Warum verfolgt man mich dann?« fragte Nadja.
»Man folgte Ihnen nur, man verfolgte Sie keineswegs.«
»Um Fragen an mich zu stellen? Sie erst hier an mich zu stellen, wenn man mich doch schon in Wien zu finden wußte?«
»Mau hat geglaubt, daß unterwegs vielleicht jemand mit Ihnen zusammentreffen würde.«
»Wer?«
»Jene Person, der Sie am 27. Februar Ihr Porträt schenkten.«
»Herr König also, denn diesem habe ich es geschenkt. Warum hätte denn dieser unterwegs mit mir zusammentreffen sollen?«
»Es war eine keineswegs unsinnige Annahme, mein Fräulein. Leider – ich sage das mit voller Überlegung – leider aber war diese Annahme unrichtig.«
»Sie sind so ernst, da Sie dies sagen! – Was ist also mit Herrn König?«
»Sie sind nicht minder ernst, da Sie das fragen, mein Fräulein. König interessiert Sie?«
»Es ist so. Mutter, nicht wahr, Herr König hat ein Recht an unsere Teilnahme, denn er nimmt auch an unserem lieben Toten warmen Anteil – er wird ihm, spät freilich, zu spät, zu den Ehren verhelfen, deren er so würdig war.«
»Gott segne ihn dafür,« sagte unter Tränen die alte Frau, aber ihre Augen leuchteten, als sie hinzusetzte: »Er wird den Menschen erzählen, daß mein Sohn ein großer Künstler gewesen ist.«
Durand heftete seine Augen fest auf Nadja, während er sagte: »Ich fürchte, er wird niemals mehr irgendwelche Äußerungen tun können.«
»Warum?« fragten zwei Stimmen zugleich.
»Er ist verschwunden, unter sehr seltsamen, ja unheimlichen Umständen verschwunden.«
»Verschwunden?« wiederholte ungläubig Frau Malachow.
»Verschwunden?« sagte auch Nadja. Sie hatte sich weit vorgebeugt, ihr Gesicht wurde blaß, ihre Hände begannen zu zittern, und aus ihren Augen schaute das Entsetzen.
»Wir denken jetzt an ein und denselben Menschen.« Durand schaute sie bei diesen Worten mit zwingenden Blicken an.
Sie schlug die Augen nicht nieder. Aber sie schaute nicht ihn an, sie schaute in weite Ferne und sah offenbar irgend etwas Grauenhaftes.
Ihre Augen redeten förmlich – und dann, dann redete auch ihr Mund.
Sich nun mit ihren Gedanken zu ihrem Besuch wendend, fragte sie: »Hat Colmar Herrn König gekannt?«
»Die beiden verkehrten miteinander fast wie Freunde. Colmar war König viel Dank schuldig, denn dieser war ein eifriger Förderer seines Ruhmes.«
»Er hat ihn gekannt!« murmelte Nadja. »Er hat ihn gekannt!«
Und dann tat sie eine Frage, über welche Durand sich wunderte, denn sie schien ihm so gar nicht zur Sache zu gehören. »Wissen Sie, daß König am 27. Februar in Concarneau war und dort meines nun toten Verlobten Kunstwerke gesehen hat? Und – weiß Colmar es? Weiß er, daß König Iwan Malachows Skizzen gesehen hat? Auch die Skizzen zu seinem letzten Bilde gesehen hat – und daß er seine Manier kennt? Und seine künstlerische Auffassung? Weiß Colmar das? Und weiß er, daß König es veröffentlichen wollte, daß Iwan Malachow ein großer Maler war?«
In großer Erregung stellte Nadja all diese Fragen, und dann faßte sie – gegen alles Herkommen verstoßend – Durand an der Hand und zog ihn ins nächste Zimmer.
Da stand eine große, flache Kiste auf einem Tisch.
Sie war offen. Sie war wohl eben erst geöffnet worden, denn noch lagen Stemmeisen und Hammer, sowie etliche Nägel neben ihr, und ihr Deckel lehnte an der Wand.
Zu dieser Kiste führte Nadja ihren Besuch. Es lag ein Bild darin. Eine Meeransicht, eine prächtig gemalte Meeransicht; etliche Fischerboote belebten das Bild, eine charakteristisch wiedergegebene Steilküste machte es besonders interessant.
»Lesen Sie,« sagte Nadja, auf die im rechten unteren Winkel des Bildes befindliche Signatur zeigend.
Und Durand las, unwillkürlich laut, den Namen »Viktor Colmar«.
»Viktor Colmar – ja, das steht hier,« sagte Nadja mit hart klingender Stimme, »gemalt aber hat dieses Bild, wie alle anderen auch, die so signiert sind, Iwan Malachow, den wir am 1. März in Concarneau begraben haben.«
»Und das wußte König seit dem 27. Februar?«
Nadja wiederholte: »Das wußte er seit dem 27. Februar, und nun ist er – verschwunden!«
Ihre Hand, die noch immer auf Durands Arm lag, fühlte sich wie Eis an. Und wie Frost ging es von ihrem ganzen Wesen aus. Man sah es ihr an, daß sie sich der furchtbaren Tragweite ihrer Worte klar bewußt war, und daß sie selber schwer unter dem schrecklichen Zwang der Wahrheit litt.
Endlich ließ sie ihre Hand, die sich geballt hatte, niedersinken. Schweigend ging sie Durand voran in das Zimmer, in welchem Frau Malachow bleich und zitternd im Sofawinkel zurückgeblieben war.
Dann saßen die drei noch eine gute Weile wortlos beieinander.
Selbst Durand war ein wenig verwirrt von der endlichen Lösung des Rätsels, und wenn er noch einen Rest von Zweifel besessen hätte, von Zweifel daran, daß König ermordet worden sei – jetzt wäre auch dieser Rest geschwunden.
Was er, nachdem Nadja und Frau Malachow sich gefaßt hatten, noch durch sie erfuhr, war folgendes: Iwan Malachow, seit zwei Jahren Nadjas Verlobter, hatte wohl große künstlerische Begabung, aber wenig Glück gehabt. Mühselig hatte er, der die einzige Stütze seiner Mutter war – seine viel ältere Schwester war auch schon verwitwet und in ärmlichen Verhältnissen – jene und sich durch seine Kunst erhalten. Da hatte er eines Tages einen Kunstgenossen ins Haus gebracht. Das war Viktor Colmar, der Studien halber reiste und Iwan zufällig kennen gelernt hatte.
Bald waren die zwei schier unzertrennlich, und doch – so sagte Frau Malachow – war es keine richtige Freundschaft, welche sie verband. Sie hatten allerdings eine Menge gleichartiger Interessen und eine Menge – Heimlichkeiten miteinander, aber Iwans wirkliche Sympathie gehörte keineswegs dem neuen Bekannten, der ihn mit geradezu eifersüchtiger Leidenschaftlichkeit ganz in Beschlag nahm.
In jener Zeit, das war vor vier Jahren, wohnte Iwan mit seiner Mutter in Warschau. Sie hatten ein kleines Quartier, darin zuweilen die bittere Not mit ihnen hauste. Das Wohn- und Schlafzimmer Iwans war zugleich sein Atelier; seine Mutter schlief in einer Kammer, die nichts weiter enthielt als ein Bett und einen Kleiderschrank. Zu mehr Möbeln wäre darin, auch wenn man sie besessen hätte, kein Platz gewesen.
Allzeit luftarm, war diese Kammer im Winter auch bitterkalt. Iwan und seine Mutter lebten allezeit in liebevollem Streit darüber, wer darin schlafen müsse: er, jung, aber zart und kränklich – oder sie, alt, aber gesund.
Sie siegte stets in diesem Streit, aber Iwan gab nur sehr ungern ihren von der Vernunft und der Liebe zugleich diktierten Vorstellungen nach.
Er, der ohnehin ein wenig exzentrisch Veranlagte, hätte seine seit langem schon unglückliche, heißgeliebte Mutter am liebsten in Reichtum gebettet, um ihr wenigstens nach dieser Seite das Leben hell zu machen. Aber lange, lange konnte er wenig für sie tun.
Endlich jedoch kam auch zu ihm das Glück – es war mit Colmar zugleich eingetroffen. Seit dieser in Warschau war, verkaufte Iwan seine Bilder merkwürdig schnell und gut, malte infolge davon mit doppeltem Fleiße, mit doppelter Lust. Im Herbst hatte er Colmars Bekanntschaft gemacht, und noch ehe der Winter kam, konnte er seine Mutter in ein heimlich gemietetes, gemütlich eingerichtetes Quartier führen, darin eine tüchtige Magd ihr die anstrengenden Arbeiten abnahm. Bei Malachows war so etwas wie Wohlstand eingezogen. Die alte Frau genoß ihn gern, und auch Iwan freute sich sichtlich der angenehmen Veränderung, die in seinem Leben eingetreten war. Aber wie er früher niemals gewesen, wurde er jetzt ganz merkwürdig leicht erregbar, besonders gegenüber Colmar, welcher noch immer in Warschau weilte und der fast lästige, weil nahezu immer anwesende Genosse Iwans blieb.
Als der Frühling kam, drängte Iwan seine Mutter, irgendwohin auf das Land zu gehen. Sie wehrte sich lang dagegen, war sie ja doch gesund und hatte niemals solchen Luxus mitgemacht und besaß überdies ein solch hübsches Heim, darin es ihr eine wahre Freude war, für ihren Sohn zu sorgen.
Aber all diese Gründe ließ Iwan nicht gelten. Sie müsse fort, behauptete er, müsse Luftwechsel und Zerstreuung haben.
Da entschloß sie sich endlich, für etliche Wochen zu ihrer Tochter zu ziehen, welche im nahen Radom an den Schulleiter verheiratet war. Dort besuchte sie ihr Sohn, und dort lernte er die Freundin seiner Schwester, Nadja Kissilew, kennen.
Nadja, die Waise eines höheren Offiziers, lebte in Radom bei ihrer Tante, der Gutsbesitzerin Johanna Ostrofska, in deren Hause sie wie eine Tochter gehalten wurde.
Oft und immer öfter kam Iwan nach Radom. Zuweilen begleitete ihn sein Freund Colmar. Aber wie sehr der junge Malachow es verstand, sich die Sympathien der Menschen zu erwerben, so wenig war diese Kunst Viktor Colmar zu eigen. Dieser zeigte sich merkwürdig launisch und merkwürdig scheu.
Auch schien er gegen Frauenschönheit unempfindlich zu sein; Nadjas reizvolle Erscheinung wenigstens hatte für ihn keinerlei Reiz. Er wich der, welche sein Freund bald sehr eifrig suchte, in fast auffallender Weise aus.
Und wenn dies aus Antipathie geschah, dann beruhte dieselbe auf Gegenseitigkeit; denn auch Nadja war dieser hübsche, elegante Maler, den man so selten malen sah, widerwärtig. Er war ihr so widerwärtig, daß ihr sogar Iwans Gegenwart durch ihn verleidet wurde.
So ging ein Sommer und ein Herbst hin. Der Winter trennte die jungen Leute.
Iwan Malachow machte mit Colmar eine Reise nach Italien. Sie blieben bis zur Osterzeit fort und beisammen, wiewohl es Iwans Briefe verrieten, daß Colmar ihm lästig zu werden beginne.
Nicht, daß er deutlich über sein Verhältnis zu jenem geschrieben hätte, aber da und dort eine Andeutung verriet, daß es keineswegs eine richtige Freundschaft sei, welche ihn mit Colmar verband.
Was aber war es sonst, das diese zwei in jeder Beziehung verschiedenen Männer aneinander fesselte? So fragte sich oft und oft Frau Malachow, so fragte sich auch Iwans Schwester und noch eine, die ihn innig liebgewonnen hatte und die seiner in zart verheimlichter Treue gedachte, eine, die schmerzlich verwundert darüber war, daß der Mann, der ihr so unverhohlen sein heißes Interesse gezeigt hatte, ihr vor der Welt nichts sein wollte – und diese eine war Nadja Kissilew.
Als aber der Sommer wiederkam, da begann für sie eine glückliche Zeit, da kam wieder die alte Frau Malachow nach Radom und diesmal nicht allein. Auch Iwan wollte die schöne Zeit in dem stillen Städtchen zubringen.
In diesem Sommer fanden sich sein und Nadjas Herz so eng zusammen, daß nichts mehr sie trennen konnte.
Und ehe Iwan diesmal von der Geliebten schied, war sie seine Verlobte geworden. Aber um dieselbe Zeit sollte ihr junges Glück auch eine arge Trübung erfahren, denn sie merkte, daß Iwan ein recht kranker Mann sei, und wußte noch eines: daß er seine Kunst an einen verkauft hatte, der ebenso reich an Geld und Eitelkeit wie arm an Können war. Der, welcher einen für ihn so schmählichen Handel geschlossen hatte, war Colmar.
Daß Iwan Malachow, gedrückt von dem Gedanken, ein für allemal der Armut verfallen zu sein und in Not verkommen zu müssen, der Versuchung erlegen war, ist nicht schwer zu begreifen, und seinerseits war dieser Handel nicht ehrlos. Er gab sein Können für Geld hin; er opferte seinen Ruhm der Not des Lebens, dieser entnervenden Not, welche noch dazu seine von ihm so sehr geliebte Mutter mit ihm teilen mußte. Das war das Ganze!
Nadja Kissilew erfuhr das in derselben Stunde, in welcher Malachow sie fragte, ob sie sein Weib werden wolle.
Geld – o, Geld konnte er ihr jetzt zur Genüge bieten. Nie mehr, solange er noch den Pinsel führen konnte und auch darüber hinaus, brauchten er und die Seinigen Not zu leiden, denn all die Summen, welche Colmar für seine trefflichen Bilder erhielt, flossen nach dem Vertrag, den die beiden Maler geschlossen hatten, ungeschmälert in Malachows Tasche. Aber Ehren, aber den Glanz eines berühmten Mannes – den konnte er ihr nicht bieten, immer würde der Name, den sie doch so gern tragen wollte, unbekannt bleiben, und er würde zugleich der eines Mannes sein, den der Tod schon gegrüßt hat.
So standen die Dinge, ehe Malachow zum zweiten Male in die Fremde ging, aus der er nicht wieder heimkehren sollte.
Er ging gern fort, denn seit er der Mutter und der Braut das trübe Geheimnis seines Lebens mitgeteilt hatte, lastete die Bürde der Scham noch weit schwerer auf seiner Seele als früher.
Und auch die beiden Frauen ließen ihn erleichtert ziehen, denn sie fühlten, daß er das Alleinsein brauche.
Diesmal war er nach Frankreich gegangen, wo auch sein »Freund« Colmar weilte.
Die beiden hatten sich in irgend ein Pyrenäenstädtchen zurückgezogen, von wo aus manch reizendes Bild in die Welt hinauszog, um den Namen »Colmar« immer mehr bekannt zu machen.
Und wieder kam ein Frühjahr und ein Sommer, aber Iwan besuchte diesmal die Seinigen nicht. Er war auf einer Reise durch Spanien begriffen, und dieses Mal, so schrieb er, reiste er gern, denn Colmar war weit weg, den hielt eine Herzensangelegenheit in Wien zurück.
Wohl sehnten die beiden Frauen, deren ganzer Lebensinhalt Iwan geworden war, sich nach ihm, aber sie gönnten ihm, der ja noch so wenig glücklich gewesen, diesen ersten freien Flug in die Welt, die einem Künstler ja viel, viel mehr zu bieten hat als einem gewöhnlichen Menschen.
Es war ein stiller, trauriger Sommer für die Frauen. Die Schwester Iwans war in dieser Zeit Witwe geworden. Man schrieb ihm nichts von diesem Trauerfall, denn man wollte ihm ein ja doch unnützes Leid ersparen.
Einer seiner Briefe meldete, daß er auf dem Wege nach dem nördlichen Frankreich sei. Dieses Schreiben traf im Juli in Radom ein. Dann kam lange kein Brief. Die Frauen wußten auch nicht, wohin sie hätten schreiben sollen, denn in seinem letzten Briefe hatte Iwan ihnen keine Adresse genannt.
Tag für Tag verging ihnen in immer tiefer werdender Sorge, und dann kam ein Tag, der ihnen den traurigen Beweis brachte, daß ihre Angst nur zu wohl begründet gewesen war.
Wieder einmal kam ein Brief aus Frankreich. Es war ein Brief von fremder Hand. Aus dem nordwestlichsten Winkel Frankreichs kam er, aus der Bretagne. Dort befindet sich im Bezirke Quimper die kleine, uralte Stadt Concarneau. Sie ist ein Malernest, von ganz eigenartigem Reiz umflossen. Ihr Ruf hatte auch Iwan Malachow angezogen. Auch er war gekommen, um da zu arbeiten. Und er arbeitete fleißig, und wer seine Skizzen sah, war entzückt davon. Aber es gab auch Zeiten, in denen keiner seiner Kunstgenossen wußte, womit er sich beschäftigte. Zuweilen verschwand er für viele Tage aus ihrem heiteren Kreis, und erschien er dann wieder unter ihnen, so sah er erbarmungswürdig angegriffen aus, war leicht erregt und scheu und verdrossen.
Er war überhaupt ein Original. Er lud niemand zu sich und liebte doch die Geselligkeit; er benahm sich auch gegen seine Wirtsleute überaus seltsam. Sein Atelier zum Beispiel durfte niemand betreten, nicht einmal die alte Dienerin, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte. So liebenswürdig er sich sonst gegen seine Hausgenossen zeigte, so borstig benahm er sich, wenn man sich um sein künstlerisches Tun kümmerte.
All dies meldete andeutungsweise der Brief aus Concarneau, den einer geschrieben hatte, welcher sich auch Maler und Iwans Freund nannte. Er hieß Jan Frit.
Aber er meldete noch anderes, recht Betrübendes, meldete, daß er es als seine Pflicht erachte, der Mutter seines Freundes mitzuteilen, daß es mit dessen Gesundheit nicht gut stehe, daß jemand, der mehr Einfluß auf Iwan habe als der sehr besorgte Schreiber dieser Zeilen, kommen solle, um den Kranken von allem abzuhalten, das sein Leiden gar zu rasch fördern würde.
Es war ein kurzer, kerniger, von einem warmen Herzen und einem klaren Verstande diktierter Brief, der recht viel Leid in das Herz der drei Frauen brachte. Er kündigte übrigens auch einen Brief Iwans an, der in der Tat schon wenige Tage später eintraf.
Malachow erzählte darin, daß eine große Arbeit, mit der er nun glücklich zu stande gekommen sei und welche bald abgesandt werden müsse, ihn so ganz gefesselt hatte, daß er während ihrer Vorbereitung und ihrer Ausführung an nichts anderes zu denken vermochte. Nun er damit fertig geworden sei, wanderten seine Gedanken und seine Sehnsucht wieder der Heimat zu. Er erwarte auch, daß man ihm sein langes Schweigen verzeihen, und daß er recht bald Nachricht bekommen werde.
Einen Tag nach dem Eintreffen dieses Briefes befanden sich Frau Malachow und Nadja auf dem Wege nach Concarneau.
Dort fanden sie nur noch einen Schatten dessen, der vor Monaten noch leidlich frisch und kräftig von ihnen gegangen war.
Und noch etwas fanden sie: ein herrliches, großes Gemälde, welches Zeugnis dafür ablegte, daß sein Schöpfer auf den lichten Höhen seiner edlen Kunst angelangt sei.
Iwan war außerordentlich überrascht über den Besuch, welcher ihm so unerwartet wurde, ja er wurde sogar ein wenig ängstlich und nachdenklich darüber, trotz der großen und unverhofften Freude, die er selbstverständlich empfand, als die beiden Frauen über seine Schwelle traten.
Als er jedoch hörte, daß seine Mutter einen schweren Lungenkatarrh überstanden habe, daß ihr ein Luftwechsel verordnet worden sei, und daß sie, des Arztes Weisung befolgend, zugleich ihren Sohn habe sehen wollen, da schwand der unklare Verdacht, der sich in ihm erhoben hatte, und er gab seiner Freude unverhohlen Ausdruck.
Und Nadjas Anwesenheit, die erklärte sich ja von selber – die hätte gar keinen Vorwand gebraucht. Die Liebe hatte sie hergeführt und nur so nebenbei das Besorgtsein um die alte Frau.
Iwan wußte ja auch, daß in seinem Brief kaum eine Andeutung über seinen allerdings nicht gerade glänzenden Zustand enthalten gewesen war, und so beruhigte er sich schnell wieder.
Eine große Freude war es ihm, ihnen sogleich sein großes Bild zeigen zu können, sein – letztes Bild. Er selbst ahnte das ja nicht, aber die beiden Frauen wußten es, und deshalb tat ihnen des Bildes Anblick trotz aller Befriedigung bitter weh.
Und mehr noch als Nadja war Frau Malachow erschüttert, denn in der Hauptfigur des Bildes erkannte sie ihren toten Mann. Sie nickte ihm wehevoll lächelnd zu, und das Herz wollte ihr brechen.
Aber Frauen werden durch ihre Liebe stark. Der blasse, hohlwangige Iwan hörte nur ihre bewunderungsvollen Worte, sah nur das Lächeln ihrer Lippen und den erhöhten Glanz ihrer Augen – in ihre wunden Herzen aber, in ihr angsterfülltes Gemüt konnte er nicht schauen.
»Ihr seid also zufrieden!« sagte er stolz.
Da küßte ihn seine Mutter, und auch Nadja küßte ihn, und beide lächelten ihn an.
»Du bist ein großer Künstler geworden,« sagte leise das Mädchen, »ich sehe es eben hier wieder und – ich, halte mir viele Zeitungen. Ich habe es da und dort gelesen, wie hoch man deine Kunst schätzt.«
»Ja – Colmars Name gehört schon zu den vielgenannten und zu den vielgepriesenen,« antwortete Iwan bitter.
Seine Mutter forschte danach, ob er sich denn gar nicht von jenem losmachen könne.
»Hat er nicht seinen Vertrag, und hat er nicht mein Ehrenwort, daß ich niemals, solange er noch lebt, meinen Namen auf eines meiner Bilder setzen werde?«
»Gilt denn solch ein Ehrenwort? Du hast es doch einem moralisch ganz wertlosen Menschen gegeben!« meinte zaghaft die alte Frau.
Da sagte Iwan festen Tones: »Ich halte mein Wort, wem ich es auch gegeben habe.« Etliche Tage später wurde das Bild unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln und Heimlichkeiten nach Wien gesandt.
»Es macht das Dutzend voll,« sagte Iwan, als es fortgebracht wurde.
Er hatte dem Bilde auch einen Namen mitgegeben, Es hieß: »Aufstand polnischer Bauern.« Es war in allen Beziehungen wunderbar gelungen. Die ganze Not des Unterdrücktseins hatte der Maler darin ausgedrückt.
Jede der Figuren lebte, die siegenden Soldaten, die überwältigten polnischen Bauern – jede lebte, und eine davon, die Vordergrundsfigur, die mit brennenden Augen vor sich hin starrte, nicht ins Leere, nein, in eine Weite voll Grimm und Gram, diese Figur, deren rechte Hand schier aus dem Bilde herausragte – diese Figur hatte die Züge seines toten Vaters.
Er hatte ihn dargestellt, wie er, von dem Bajonett eines Soldaten durchbohrt, eben zu Boden sinkt. Seiner Hand ist das Gewehr schon entsunken, und die gekrümmten Finger dieser hageren, arbeitsharten Hand graben sich im Schmerz in den Handballen. Es war ein tief ergreifendes Bild, ein Bild, wie es nur ein großer Künstler hatte malen können.
Nachdem es fortgesandt worden war, und nachdem Iwan sich an die Freude gewöhnt hatte, die ihm liebsten Menschen bei sich zu haben, sank er merklich in sich zusammen; sachte schwand seine Lebenskraft, er fing an zu sterben. Das einzig Gute dabei war, daß er es nicht wußte, wie nahe er seinem Ende war.
Übermüdung nannte er seinen Zustand und beruhigte sich damit.
Die Frauen und Jan Frit, den sie bald als ihrer aller wirklichen Freund kennen lernten, wußten es besser. Die fürchteten das Frühjahr nicht umsonst.
Eine große Freude war dem Sterbenden noch vorbehalten. Der ganz zufällige Besuch eines berühmten Kunstkenners und Kritikers, Königs, der sich's zur Pflicht rechnete, die Welt mit dem hohen Wert der Skizzen, die er da in dem Atelier eines unbekannten Künstlers entdeckt hatte, bekannt zu machen.
Diese Freude war Iwan Malachow in seinen letzten Lebensstunden geworden.
Dies hatte Nadja Kissilew voll trauriger Ruhe berichtet, während Frau Malachow, in deren noch wunder Seele das erfahrene Leid aufgewühlt worden war, leise weinend im Sofawinkel kauerte, und draußen die Nacht nicht den Frost, sondern das Tauen mitbrachte.
Der Gast der beiden Frauen war ein ganz stiller Zuhörer geblieben.
Jetzt, da Nadja mit ihrem Bericht zu Ende war, erhob er den Kopf und nickte ihr zu. »Ich danke Ihnen für die sehr wichtigen Aufklärungen, welche Sie mir gegeben haben,« sagte er, »aber zwei Fragen müssen Sie mir noch beantworten.«
»Fragen Sie.«
»Haben Sie König während Ihres Aufenthaltes in Wien gesehen?«
»Nein. Ich war wohl in der Ausstellung und fragte nach ihm, aber er hatte soeben das Künstlerhaus verlassen.«
»An welchem Tage war das?« fragte Durand.
»Am Eröffnungstage, am 3. März. Da merkte ich, welch großen Eindruck Iwans letztes Bild auf das Publikum machte, und war unsäglich stolz auf meinen lieben Toten. Gegen fünf Uhr ging ich zu Colmar. Er sollte mir das Bild überlassen. Ich wollte ihm drohen, den ganzen Handel zu veröffentlichen, wenn er es mir nicht gab, für mich und Iwans Mutter wollte ich das Bild haben – dieses letzte, heilige Andenken an unseren Liebling, der es, man kann wohl so sagen, sterbend gemalt hatte. Ich fand Colmar nicht zu Hause. Er sei zu einem Fest gegangen, sagte man mir. Da schrieb ich in seiner Wohnung an ihn und nannte ihm die Adresse der Freundin, bei welcher ich wohnte. Am nächsten Vormittag kam er zu mir. Er sah auffallend übel aus. Ich wunderte mich nicht darüber. Nach der durchschwärmten Nacht hatte ihm mein Brief vollends den Rest gegeben. Er versuchte es, mich umzustimmen. Ich aber blieb dabei. Da mich kein Ehrenwort binde, würde ich ihn in den Kunstkreisen, in der Gesellschaft überhaupt unmöglich machen, wenn er mir das Bild, nachdem die Ausstellung geschlossen sei, nicht geben würde. Er bot mir an, das Bild, das Sie soeben gesehen haben, an Iwans Mutter abzutreten. Er nannte mich eine Erpresserin. Ich lachte ihm ins Gesicht. Er war wie verrückt vor Erregtheit, redete von ›Erpressersippe‹, zog sogar Wasili, mit dem er ein einziges Mal beisammen gewesen war, in seinen Wutausbruch hinein und gab schließlich doch nach. Wenn die Ausstellung geschlossen sein würde, sollte ich das Bild gegen die Zusicherung ewigen Schweigens erhalten. Ich schlug ihm vor, als Käuferin gelten zu wollen, aber er wollte nicht einmal mehr mit meinem Namen etwas zu tun haben. Das Bild würde auch ohne mich sofort für verkauft gelten, meinte er.«
»Es gilt tatsächlich schon als verkauft,« sagte Durand, »und es ist schon von Colmar die Weisung ergangen, wohin es zu senden sei.«
»So hat mich der Schurke darum betrogen!« Nadjas Augen flammten zornig auf.
Da reichte er ihr das Telegramm des Wiener Künstlerhauses.
Sie las es. Ihre bleich gewordenen Wangen färbten sich wieder.
»Also doch!« sagte sie und atmete tief auf.
»Frau Ostrofska ist Ihre Tante?«
»Ja.«
»Sie haben während Ihrer Fahrt ein Telegramm erhalten?«
»Ja.« Nadja wunderte sich über nichts mehr.
»Und haben sich doch nicht an die darin enthaltene Weisung gehalten. Sie hätten sofort nach Radom reisen sollen.«
»Ja, und meine Karte lautete nach Krakau. Aber ich bin nach Warschau gefahren.«
»Warum nicht nach Krakau?«
»Die Freundin, welche ich dort besuchen wollte, steht mir nicht so nahe wie Iwans Mutter, und von dieser wußte ich, daß sie an der Grenze Unannehmlichkeiten gehabt hatte.«
»Wieso erfuhren Sie davon?«
»Man redete in Trzebinia davon. Ich war da ausgestiegen, um mir ein wenig Bewegung zu machen; da hörte ich zwei Reisende, die von Rußland kamen, von einer alten Dame in Trauer reden. Diese Dame sei in Granica einer scharfen Durchsuchung unterzogen worden. Ich sprach die Herren an, fragte sie, ob die Dame in Trauer Malachow heiße. Die Herren glaubten, dies bejahen zu können. Da fuhr ich nach Warschau.«
»Noch eine Frage.«
»Bitte.«
»Sie hatten einst eine Freundin, welche in Krakau in der Grodzkastraße wohnte und Therese Luise Lubinska hieß?«
»Es ist so. Aber sie wohnt jetzt nicht mehr dort.«
»Nein, jetzt lebt sie in der Schweiz, in Genf. Sie wohnt Rue de la Corrateri?e 7 und heißt jetzt Soigni.«
»Es ist so.«
»Danke. Das wollte ich von Ihnen bestätigt haben.«
»Ich sollte Colmar dorthin schreiben.«
»Ja, aber er ist nicht dort.«
»Wo denn?«
»Ich denke mir, daß er jetzt auf dem Weg nach Radom ist. Ich habe ihn zwar nach Lodz geschickt, aber er wird nach Radom fahren. Er hofft, Sie dort zu finden und Sie beeinflussen zu können.«
»Er könnte mich nicht beeinflussen. Ich werde immer nur die Wahrheit sagen. Haben wir es doch erfahren, wie übel es ausschlägt, wenn man nicht bei der Wahrheit bleibt.
»Gewiß,« sagte Durand voll Mitleid. »Sie und der, den Sie lieben, haben deshalb viel Trauriges erfahren. Aber das eine Herbe wenigstens wird nicht weiter fortbestehen, daß der Name Malachow auch in Zukunft unbekannt bleiben wird. – Freilich,« fuhr er sinnend fort, »der Name Colmar wird auch noch genannt werden.«