Paul Grabein
Firnenrausch
Paul Grabein

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Zweiter Teil

Immer noch das alte Bild!

Die Berge grau verhängt, man konnte kaum den Waldhang drüben, jenseits des Trafoier Bachs, erkennen, und der Regen rieselte unaufhörlich hernieder; kaum dem Auge bemerkbar, aber mit jenen allerfeinsten Tröpfchen, die durch jede Pore des Tuchs dringen und auch die beste Imprägnierung auf die Dauer illusorisch machen.

Also Resultat: Weiter zur Haft hier unten im Hotel verurteilt – wer weiß, wie lange noch!

Mit leicht gerunzelter Stirn wandte sich die Dame im schlichten Touristenkostüm um, die da eben von den Eingangsstufen der »Neuen Post« in Trafoi her Ausschau gehalten hätte, und langsam, unschlüssig ging sie in den Flur zurück, daß der Hall ihrer Tritte in den schwer benagelten Bergschuhen laut von den Steinfliesen wiederklang.

Im Vorübergehen fiel ihr Auge auf einen Eispickel, der neben Rucksack und Seil – der Ausrüstung eines ebenfalls hier zu unfreiwilliger Rast verurteilten fremden Bergführers – an der Wand lehnte, wie zu einem vernunftbegabten Wesen, wie zu einem verständnisvollen Kameraden sprach da ihr Blick zu dem blanken Stahl: »Ja, ja! Auch aus dir leuchtet der Unmut! Rasten heißt rosten. Wär uns beiden wohler zumut, könnten wir uns droben in den Firn hau'n!«

Die Touristin bog dann langsam nach rechts ein, in den Korridor, an dem die Führerstube lag. Mußte es denn schon einmal sein, daß sie hier in dem Kasten hockte, dann wenigstens doch noch unter ernsthaften Leuten, gleich ihr zu Hause droben in den Bergen – um Gottes willen aber nur nicht unter dem Volk der Talschleicher, das schwatzend und flirtend da drinnen im Speisesaal beieinander saß, sich gemeinschaftlich über die fatale Regenzeit zu trösten.

Bei ihrem Eintritt in die tabaksdunstige Leutestube lüfteten die meisten der Insassen aufschauend den Hut. Gottliebe Rhyngaert war ihnen allen ja wohlbekannt. Seit einer langen Reihe von Jahren, seit jenem ersten Besuche damals, wo der Spängler-Toni – Gott hab ihn selig – das Malheur hatte, war das Fräulein dem Orte treugeblieben. Fast in jeder Saison hatte sie sich in Trafoi sehen lassen, wenigstens auf der Durchreise; sie schien – gewiß infolge der ernsten Umstände dazumal – ein besonderes Interesse an dem Ort gewonnen zu haben.

Sie war inzwischen eine firme Bergsteigerin geworden, so zu Haus droben in Fels und Eis, daß sie seit den letzten Jahren fast stets führerlos ging. Nur bei einigen wenigen, besonders schwierigen Partien ging sie in Begleitung; dann nahm sie stets aus alter Anhänglichkeit den Stadler, trotz seiner 63 Jahre noch heute ein unverwüstlicher, sehnenstarker Steiger.

Zu ihm wandte sich denn jetzt auch Gottliebe. Ohne Umstände ließ sie sich neben ihm bei den Männern nieder, die zusammenrückend Platz auf der Bank gemacht hatten.

»Was halten Sie vom Wetter, Stadler, will's noch immer nicht werden?«

Der Alte wiegte bedächtig den Kopf und warf einen Blick zum Fenster hinaus, aufs Grau der Bergwand drüben.

»Es ist ja leicht möglich, das Wetter schlagt bald um – aber i glaub halt nit recht dran.«

»Ich auch nicht, Stadler!« Mit einem Anflug von Galgenhumor sagte es Gottliebe und folgte hoffnungslos mit den Augen seinem Blicke, die Arme über der Brust verschränkend. »Eine schöne Aussicht, hier noch, wer weiß wie lange, so zu sitzen! Ihr Mannsleut habt's gut. Ihr habt eure Pfeife – die vertreibt euch die Langeweile. Aber was soll ein armes Frauenzimmer wie ich anfangen?«

Die Männer lachten treuherzig zu ihrem Scherz; einer der jüngeren Leute machte dabei eine halblaute Bemerkung zu seinem Nachbar.

»Was meint Ihr, Almbacher?« horchte sie auf. »Ich sollt's doch auch einmal damit versuchen?«

Gutgelaunt lächelte sie zu dem jungen Menschen hinüber. Der nickte nun vergnügt ein Ja.

»Meint wohl, ich wär so schon ein halbes Mannsbild?« Sie faßte ihn scherzend, aber doch mit festem Blick ins Auge, daß der junge Mensch etwas verlegen wurde. »Na, nur heraus mit der Sprache! Geniert Euch nicht! Weil Ihr mich gestern nachmittag auf meinem Balkon mit der Zigarette gesehen habt? – Gelt?«

Sie weidete sich mit überlegener Sicherheit an seiner offenbaren Verlegenheit.

»Nun, die Zigarette zum Nachmittagskaffee ist freilich meine kleine Schwäche – will's nicht leugnen, Almbacher. Aber zur Pfeife kann ich mich darum doch noch nicht entschließen. Da müßt Ihr schon noch ein Weilchen warten, bis ich vielleicht auch auf den Geschmack komme.«

Die Männer lachten wieder in harmloser Fröhlichkeit. Gottliebe aber setzte die Hände, ineinandergefaltet, vor sich auf den Tisch, sich bequem an die braungetäfelte Zirbelholzwand zurücklehnend.

»Ja, aber im Ernst – was soll werden, wenn's so fortgießt?« wandte sie sich wieder an Stadler.

Der Alte kraute sich ratlos am Kopf.

»Jo, dös wär scho schlecht«, gab er zu.

Eine Pause trat ein, während der die Männer nachdenklich vor sich hinrauchten.

»Wenn man wüßte, daß es anderswo besser wäre!« kam es schließlich von Gottliebes Lippen.

»In Landeck und drunten in Bormio regnet 's halt auch«, meldete Stadler wenig tröstlich, was er von den Rutschern der Post und Mail coaches heute vernommen hatte, »'s scheint halt an rechter Landregen zu sein.«

»Das ist ja aber trostlos!« nun wirklich mißmutig, sagte es Gottliebe. »Dann tät man ja faktisch am besten, man reiste ganz ab aus den Bergen.«

Stadler zuckte die Achseln, aber da warf der Almbacher ein:

»Dös tät vielleicht doch nit not, Fräula. Der Pingazza«, er meinte den fremden schweizer Führer, der gestern abend mit seinem Herrn aus dem Münstertal heraufgekommen war, »sagt, drüben, im Bündnerland, sei schönster Sonnenschein gewes't all die Zeit, wo's hier schon regnen tat.«

»Wirklich?« Gottliebe horchte interessiert auf. »Das wär ja ein Gedanke! Nach Graubünden zieht's mich so wie so schon lange.«

Sie wurde nachdenklich.

»Wie kommt man denn am ehesten da hinüber, Stadler?« fragte sie nun den Alten.

»Übers Stilffer Joch, die Umbrailstraße und dann durchs Münstertal wär's doch wohl am besten, wenn's nach dem Engadin zu wollten«, gab er Auskunft.

Gottliebe erhob sich, der Plan beschäftigte sie bereits ernsthaft.

»Die Sache will ich mir doch jedenfalls mal überlegen. – Nun ade – einstweilen!«

Sie verabschiedete sich kopfnickend von den Männern und ging hinauf auf ihr Zimmer, ihre Karten einzusehen.

Als Gottliebe eine Stunde später, in ihren Lodenmantel gehüllt, hinaus in den zwar dünnen, aber immer noch unaufhaltsam rieselnden Regen trat, war es beschlossene Sache: Sie wollte morgen mit der Post hinauf nach der Ferdinandshöhe und dann hinüber ins Bündnerland.

Das Unternehmen lockte sie bereits aufs lebhafteste. Sonnenschein drüben und die Aussicht auf genußreiche Touren durch das grüne, eisbediademte, alte Rhätierland – das hatte ihr mit einemmal wieder frischen Mut gemacht, vorbei war das langweilige Sitzen und Warten hier, das sie nun schon genug gekostet hatte. Nun wollte sie nur noch einen Weg hier tun, eine altgewohnte Pflicht der Pietät erfüllen, dann war hier nichts mehr für sie zu schaffen.

Über den Wiesenhang, der sich von der Straße zum Trafoibach hinstreckt, schritt Gottliebe den schmalen, heute völlig aufgeweichten Pfad hin. Sie hätte die bequemere Chaussee benutzen können; aber sie hatte mit Absicht diesen Seitenweg gewählt. Sie wollte möglichst unbeobachtet auf diesem Gang sein. Niemand brauchte es zu wissen, wohin sie ihre Schritte lenkte, und was sie da unterm Cape trug.

Mit leisem Rauschen raschelten die Blätter des Lorbeers und die Tannenzweige, die zum Kranz gewunden ihre Linke trug, gegen ihr Kleid. Ihr Ziel war der kleine Gottesacker da drüben neben der Kirche, die Ruhestätte des Spängler-Toni.

Alljährlich, wenn sie hier war, pflegte Gottliebe zu diesem Grabe zu gehen und den Kranz darauf niederzulegen, den sie sich aus Bozen mit der Post schicken ließ. Auch heute erfüllte sie diese gewohnte, sich selbst auferlegte Pflicht.

Nun stand sie an dem schmucklosen, efeuumsponnenen Hügel, der schlicht und einfach dalag wie all die andern ringsum. Nur ein hübscher Denkstein aus weißem Marmor am Kopfende zeichnete das Grab von den übrigen aus, die nur ein einfaches Holzkreuz hatten; auch diesen Schmuck verdankte es Gottliebe.

Mit ernstem Sinnen ruhte Gottliebes Auge auf dem Hügel, nachdem sie den Kranz dort niedergelegt hatte.

Nun acht Jahre schon, daß der stille Schläfer dort drunten lag. Acht Jahre – eine lange Spanne Zeit! Und im Geist flogen, diese Jahre mit all ihrer Lust und ihrem Leid noch einmal vorüber.

Das Leid, wenigstens der Ernst, wog doch wohl vor darin. Das hatte gleich eingesetzt mit harten Kämpfen, damals nach dem Unglück mit dem Toni.

Heimgekehrt, hatte Gottliebe ihr Versprechen an seinem Totenbette eingelöst und sich ihr kleines Vermögen von der Tante eingefordert, um des Tonis Familie damit zu unterstützen. Das hatte aber bei der Frau Major Morell, die schon durch die Abweisung Bessows, ihres Protegés, aufs tiefste verletzt war, das letzte getan.

So hatte sie denn schließlich wohl Gottliebe ihr mütterliches Erbteil herausgegeben, aber darüber war es zum offenen Bruch mit der Nichte gekommen, und diese hatte ihr Haus verlassen, um fortab auf eigenen Füßen zu stehen.

Gottliebe hatte ihr kleines Kapital damals geteilt. Die Hälfte hatte sie Tonis Mutter gegeben, die sich damit ein Logierhäuschen für Sommergäste drüben in Sulden erbaut hatte. Die andere Hälfte reichte etwa gerade hin, um Gottliebe bis zur Ausführung ihrer Pläne mit sich selbst zu erhalten, die sie nun mit ernster Energie ins Auge gefaßt hatte.

Zunächst war dies Ziel das Lehrerinnenexamen. Nach drei Jahren voll ehrlicher Arbeit war es erreicht, aber nach wenigen Monaten des Probeunterrichts fühlte sich Gottliebe bereits völlig unbefriedigt.

Seitdem sie damals die Berge in ihren Bann gezogen, die in ihr so lange schlummernde Lust an ihrer Jugendkraft geweckt und hell entfacht hatten, ließ es sie nicht mehr los. Jahr für Jahr zog es sie wieder hinauf in das Reich der freien Höhen, und der Gedanke erstickte sie fast, nun ihr Leben lang dazu verurteilt zu sein, in stickiger Schulstubenluft ihren noch jungen Leib verwelken, ihre elastische Kraft ungeübt verkümmern zu lassen.

Gottliebe hatte den Lehrerinnenberuf ja eben nur ergriffen, weil er das Nächstliegende für ein Mädchen ihres Standes war, weil alle ihre Bekannten in gleicher Lage es ebenso gemacht hatten, nicht aber aus innerem Drange. Nun, wo sie den neuen Beruf aber wirklich kennengelernt hatte, zeigte er sich ihr erst im rechten Lichte – unerträglich für sie, wie sie nun einmal war.

Aber was nun?

Da war ihr schließlich ein Ausweg gekommen. War es nicht mindestens ebenso verdienstlich, sich statt der Pflege des Geistes die Kultur des Körpers der heranwachsenden Jugend angelegen sein zu lassen? Nur im gesunden Leibe kann eine gesunde Seele wohnen – eine alte Wahrheit! Und hatten unsere hastende Zeit mit ihrer nervenzerrüttenden, geistigen Überanspannung nicht am allerersten ein Geschlecht mit stählernem Leibe nötig? Auch ein Frauengeschlecht, das dereinst gesunde Kinder gebar, geschaffen für den unbarmherzigen Daseinskampf im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität?

Der Gedanke hatte Gottliebe immer mehr gefaßt, sie nicht mehr losgelassen, und endlich hatte sie ihm nachgegeben. Sie hatte die vorgeschriebenen Kurse genommen, sich auch als Turnlehrerin noch ausgebildet, und nachdem sie ihr Examen auch für dies Fach noch gemacht, war sie auf ein Jahr nach Schweden gegangen, um dort an der Quelle moderner Gymnastik zu studieren.

Dann wieder heimgekehrt, waren ihre Mittel allerdings fast ganz erschöpft; aber das Erlernte war ja nun ein Kapital, von dem sie bald zu leben wußte.

Der freie Hauch des Lebens droben in dem skandinavischen Reich hatte den Rest altererbter deutscher Vorurteile bei Gottliebe abgestreift. Sie scheute nun nicht davor zurück, aus ihrem gründlichen Können sich einen Beruf und Erwerb zu machen, wie ungewöhnlich er auch in ihrer Heimat war. Sie eröffnete in Berlin gymnastische Kurse für junge Mädchen, die darauf abzielten, ihren Schülerinnen eine heilsame körperliche Ausbildung und Gewandtheit zu geben.

Der Erfolg war überraschend groß, gerade weil es sich um etwas Neues handelte, und so warfen denn jetzt diese Kurse, zu denen sich die Töchter wohlhabender und vornehmer Familien drängten – war doch die Lehrerin auch eine völlige Lady, selbst Angehörige dieser Kreise –, Gottliebe so reiche Einnahmen ab, daß sie aller Sorgen um die Zukunft enthoben war.

Soweit hatte sich ihr Los also nun freilich günstig gestaltet; aber dennoch fehlte ihrem Leben die wahre Befriedigung. Sie fühlte ihr Dasein trotz aller Arbeit und Berufserfolge nicht voll ausgefüllt, sie war trotz eines regen, gesellschaftlichen Verkehrs in den angenehmsten Kreisen innerlich einsam.

Auch heute fühlte das Gottliebe wieder, wie sie so ernst sinnend an dem Grabhügel im leise herniederrieselnden Regen stand.

Einsam – ja, nur zu einsam! Mit einem unbewußten, dunkel sehnenden Seufzer gestand sie es sich.

Aber wonach stand ihr geheimes Verlangen?

Sie blieb sich selber die Antwort auf diese so oft auftauchende Frage schuldig; oder wenn sie kommen wollte, drängte sie sie schnell wieder zurück – unwillig, oder gar wohl mit einer geheimen Furcht, denn sie wollte diese Antwort nicht hören. Was da aus den Tiefen ihres Gefühls in dunklem, instinktivem Drange aussteigen wollte, ihr klarer, geschulter Verstand, ihr stark entwickelter Wille litten es nicht, bestritten ihm die Berechtigung zum Dasein.

Oder sollte sie, die an der Hand großdenkender, starkgeistiger Männer und Frauen das Leben sehen gelernt hatte, die die mystisch lockenden Rätsel der Natur all ihres verhängnisvollen Nimbus entkleidet in brutaler Nüchternheit vor sich liegen sah, sollte sie den törichten Taumeltanz der Eintagsfliege mitmachen, dem raffiniertesten Trick der Natur auch ihrerseits verfallen und die uralte Tragikomödie der Liebe auch an ihrem Teil mitspielen?

Was da die große, schlaue Kupplerin den blindvertrauenden Menschenkindern vorgaukelte von höchstem Glück durch die dauernde Vereinigung zweier Individuen, es war ja der dreisteste Betrug, den man sich denken konnte! Was lag der dunklen, gigantischen Macht, die das Weltall lenkt, an dem Wohlergehen des winzigen Atömchens, das sich Mensch nennt? Gottliebe sah das große, kalt-grausame Lächeln hinter der Maske, die so mütterlich-freundlich anlockte. Ja freilich, die große Mutter war jene Macht, aber was ihr am Herzen lag, das war lediglich die Erhaltung der Gattung, nicht die des Individuums.

Mit tausend bewundernswert sinnreichen Kniffen lockt die Natur alles, was da atmet im rosigen Lichte und sich in dunkelsten Meerestiefen birgt, zur Vereinigung; aber nur zum Zweck der Fortpflanzung, eben zur Erhaltung der Gattung. Die junge Brut, der Sicherheit halber oft mit einer unglaublichen Verschwendung ins Leben gerufen, wird umhegt und geschützt wie der kostbarste Schatz des Weltalls. Aber was liegt an den Eltern, wenn sie ihren Zweck erfüllt, der nächsten Generation das Bestehen gesichert haben? Am besten hinweg mit ihnen, sie sind überflüssig, nur nutzlose Mitesser, die dem kommenden Geschlecht nur Licht und Lust wegnehmen. Das klassische Beispiel eben der Eintagsfliege, die am Ende der Brautnacht tot zu Boden taumelt.

Nicht anders auch der Mensch! Wenn er der Natur den Gefallen getan, wenn die Vereinigung mit dem so heiß begehrten andern vollzogen war, dann kommt das schnelle Absterben auch bei ihm. Zwar nicht körperlich – obwohl der unbarmherzige Existenzkampf, die Sorge für die Familie ja so manchen Mann, das Gebären und Großziehen der Kinder so manche Frau auch leiblich zugrunde richtet –, aber auf alle Fälle seelisch. Der holde Wahn zerreißt alsbald, sobald die beiden Betörten einsehen, für welchen plumpen Zweck sie sich haben einfangen lassen, vereint nicht als Freie, zum Genießen höchsten, verfeinerten Seelenglücks, sondern als Tributpflichtige, als Sklaven harter Alltagsfron und eines niederen dumpfen Triebes, der mit brutaler Breitspurigkeit im Mittelpunkt des gesamten Schöpfungswerkes steht. Nun selber dieser unwürdigen Sklaverei verfallen? Wie all die Dutzendmenschen ringsumher?

Nein! Alles bäumte sich in zitternder Empörung bei Gottliebe auf: Nimmermehr – lieber allein und frei!

Diesem Entschluß getreu, war Gottliebe all die Jahre hindurch einsam ihren Weg gegangen, und ein wissender Skeptizismus, eine Geringschätzung des Mannes hatte ihr dies Alleinbleiben erleichtert.

Der Keim dazu hatte schon immer in ihrem Wesen gelegen, und der tragische Zwischenfall hier mit dem armen Toni hatte ihn sich ganz entfalten lassen. Seit jenem Schreckenstage, wo sich ihr Bessows Charakter in seiner kalten, brutalen Art enthüllt hatte, hatte sich eine leise Verachtung alles dessen, was Mann heißt, in ihr festgesetzt, und da sie fortab das andere Geschlecht nur mit spöttisch kritischen Augen, mit festgewurzeltem Vorurteil betrachtete, entdeckte sie auch meist nur Schattenseiten an ihm, seelisch wie körperlich.

Allein schon das Äußere war meist hinreichend für sie, um zu einem absprechenden Urteil zu kommen. Was war das für ein entartetes, verweichlichtes Geschlecht, das den Ehrentitel eines »Herrn der Schöpfung« für sich so anmaßlich in Anspruch nahm! Namentlich bei uns daheim im lieben Vaterlande. Zumeist recht rundlich und wohlgenährt, aber ohne markige Kraft; dazu von einer entsetzlich nüchternen Auffassung der Dinge und einer inneren Leere, die sich aber als lächelnde Überlegenheit aufspielte und für befugt hielt, alles, was verfeinertes geistiges Leben heißt, als Kinderei kurzerhand abzutun.

Wohl gestand Gottliebe Ausnahmen von diesem Durchschnittsbilde zu, aber da entdeckte sie wieder bei manchen blendenden Seiten Minderwertigkeiten des Charakters, die ihr den Betreffenden fast noch unsympathischer machten als jenen Dutzendmann, der doch schließlich im Grunde wenigstens ein anständiger Kerl war.

Diese Geringschätzung des andern Geschlechts steigerte sich noch, je mehr Gottliebe ihre Energie und körperliche Leistungsfähigkeit im Beruf und Sport ausbildete. Sie, die ohne männlichen Beistand auf kühnen Bergtouren vollführte, was Tausende von Männern nicht fertig brachten, sie sollte sich jenen nicht überlegen fühlen?

Dies Empfinden, das ihr den Mann nichts weniger als ein Ideal, in keiner Weise begehrenswert erscheinen ließ, hatte Gottliebe den Verzicht auf eine Ehe also leicht gemacht. Aber dennoch dies Unausgefülltsein im tiefsten Innern! Und wenn sie sich ehrlich prüfte, bis in die Tiefe ihrer Seele, so kam dies dunkle Sehnen eben doch aus jenem Punkte: die Weibesnatur in ihr ließ sich doch nicht mit allem klügelnden Verstande ausmerzen – der uneingestandene Wunsch nach Anlehnung an einen Stärkeren und Größeren, das Verlangen nach Betätigung schlummernder Mutterliebe klang als ein leiser, wehmutsvoller Unterton in ihr sonst so starkes und gesundes Empfinden hinein.

Was half es ihr, wenn sie es auch vor sich selbst ableugnen wollte? Vogelstraußendummheit! Nein, – lieber offen und ehrlich zugegeben: Es ist so, leider – aber ich will und werde mir das nicht über den Kopf wachsen lassen! In der Unvollkommenheit der menschlichen Natur ist dieser Zwiespalt zwischen dumpfen Trieben und klarem, vernunftgemäßem Wollen eben einmal unausrottbar; nur dafür sorgen, daß der Wille der Stärkere bleibt! Und die Lebenskunst erfordert es, trotz jenes Konflikts, trotz ungestillter Wünsche, sich die Freiheit der Seele zu bewahren.

Das sagte sich Gottliebe auch jetzt wieder, und mit einer kraftvollen Bewegung schüttelte sie die Gedanken ab, die ihr hier an dem stillen Hügel angeflogen waren.

Mit wieder gleichgültig fester Miene machte sie sich noch einige Minuten am Grabe zu schaffen und entfernte einige abgestorbene Efeuranken. Sie war frei von sentimentalen Regungen bei diesem Werke der Pietät, das dem Toten da drunten galt. Die Jahre hatten ihr inneres Verhältnis auch zu ihm ruhig gestaltet.

Die sie im Anfang befallende Reue war verflogen. Sie dachte jetzt leidenschaftslos über jenes unselige Vorkommnis. Sie konnte sich keine besondere Schuld an dem tragischen Ende des armen Jungen beimessen. Sie hatte doch nichts getan, um seine unglückliche Leidenschaft anzufachen, und die Entrüstung, mit der sie seinen Übergriff zurückgewiesen, war demnach ihr gutes Recht gewesen, wenn er sich das dann so zu Herzen genommen, war es nicht ihre Schuld. Gewiß, sie hatte das tiefste Mitleid mit dem armen Toni, hätte wer weiß was darum gegeben, hätte sie das alles ungeschehen machen können; aber sie konnte es doch nun einmal nicht ändern.

Was sie hatte tun können, war geschehen, für seine Familie war gesorgt worden, und ihm selbst bewahrte sie ein pietätvolles Andenken. So konnte sie ihm denn im Geiste ruhig ins Antlitz sehen, wenn das Bild des Toten dann und wann vor ihrer Seele erschien. Um so mehr, als sie keinem Mann nachher je ein Recht auf sich eingeräumt hatte.

Keinem! Herb und kühl hatte sie vielmehr jeden Verehrer von sich gehalten, trotzdem ihre herangereifte Schönheit die Männer nach wie vor angezogen hatte. Sie war selbst jetzt, trotz ihrer 28 Jahre, noch jung und schön. Die ständigen Sportübungen hatten ihren Leib ja vor einem altjüngferlichen Welken bewahrt, ihm im Gegenteil eine wunderbare, kraftstrotzende Frische verliehen. So war denn das Werben der Männer um sie nichts verwunderliches, trotz ihres abweisenden Wesens. Ja, vielleicht reizte das gerade nur noch mehr zum Erobern an. Aber sie gewährte keinem auch nur die leiseste Vertraulichkeit.

Er konnte also ruhig schlummern da unten, der arme Junge mit dem heißen, leidenschaftlichen Herzen. Keiner konnte und würde sich je dessen rühmen, was ihm versagt worden war!

Wie in einem stillen Gelübde beteuerte es Gottliebe von neuem an dem Grabe und strich mit leiser, mütterlicher Zärtlichkeit über das Kopfende des Hügels, als könnte sie damit beruhigend die heißen Schläfen eines fiebrig unruhig Schlummernden berühren. Dann richtete sie sich auf und ging langsam vom Friedhofe fort.

* * *

Heiß stach die Julisonne auf die Felshalde hernieder, die sich in mäßiger Steigung zur Jochhöhe des breit vorgelagerten Bergkamms hinaufzog. Trotz der Schwüle und des sicherlich nicht leichten Rucksacks schritt aber die einsame Wanderin, deren Tritte hier von öden Felskaren widerhallten, rüstig aufwärts, mit weiten, elastischen, aber mäßig schnellen Schritten.

Der Weg war nur ein schmaler, wenig betretener Saumpfad, der über Gletscherschliffe zwischen Blöcken und Felsschutt entlang führte; nicht selten durch Mulden sonnenerweichten Schnees hindurch, wo der Fuß bis weit über die Knöchel versank. Das ermüdete aber schließlich auf die Dauer doch, so daß die Touristin, wieder auf eine glattgescheuerte Matte gelangt, sich nun auf den trockenen Felsboden zu kurzer Rast niederließ.

Das Haupt auf dem Rucksack, lag Gottliebe Rhyngaert so einige Minuten in wohliger Ruhe, in langen tiefen Atemzügen die reine Luft der Höhe einschlürfend. Ihre Blicke schweiften dabei über die sonngebleichten, zerrissenen Bergflanken, die ringsum die Aussicht verschlossen, und darüber hinaus in den tiefblauen Himmel, an dem nicht der leiseste Hauch eines Wölkchens stand.

Ungebrochene Stille in diesem weltentrückten Winkel; nicht einmal das Rieseln eines Schmelzwasserrinnsals scholl durch die Einsamkeit. Nur bisweilen ein schriller Pfiff, irgendwoher aus dem Blockgewirr am Boden – ein Murmeltier, das einzig lebende Wesen, das diese Einöde beherbergte.

Plötzlich aber brach ein scharfer, peitschender Knall durch die Stille – Gottliebe hob lauschend den Kopf – nun zum zweitenmal, ohne Zweifel: Schüsse.

Mit einem Ruck sprang sie auf und schickte die Blicke umher an den Felswänden. Ein Gemsjäger oder gar ein Wilderer? Aber nichts zu sehen.

Sonderbar! Gottliebe stand lauschend, den Kopf vorgeneigt. Da – wieder der scharfe Knall, dessen Echo die Wände rollend zurückwarfen. Also doch ein Schütze hier und offenbar in nächster Nähe.

»Hallo!« Laut scholl ihr heller Ruf durch die Bergstille.

Da eine Antwort, und nun erschien droben vor ihr auf der Jochhöhe eine menschliche Gestalt, scharf und groß stand sie gegen den blauen Äther da: Ein Mann in Hirtentracht, in der Hand eine Peitsche.

Gottliebe mußte leise vor sich hinlachen, das also war der vermutete Wildschütz – ein harmloser Ziegenhirt! Langsam nahm sie ihren Rucksack wieder auf den Rücken und stieg die kurze Strecke zu dem Mann hinauf, der gelassen stehenblieb, nur mit verwunderten Blicken auf das weibliche Wesen hier in seiner Felseneinsamkeit starrend.

Der Paß hier war ein wenig begangener Weg. Die gebräuchliche Touristenstraße führte drüben, jenseits der Höhen, über das Wormser Joch ins Münstertal. Selten nur verirrte sich einmal ein Fremder hierher, am wenigsten aber eine Frauensperson und noch dazu allein.

Mit berechtigter Verwunderung blickte daher der Hirt auf die Herannahende, die nun auch ihn ins Auge faßte, eine verwitterte, altersgebeugte Gestalt in einem verschlissenen, rotbraunen Lodenmantel und breitkrämpigem Hut von nicht mehr zu erkennender Farbe.

»Grüß Gott, Alter!«

Gottliebe trat zu ihm heran und fragte ihn nach dem Weg. Sie war absichtlich von der üblichen Route abgewichen, weil sie nach ihrer Karte dieser Seitenpfad schneller ihrem nächsten Ziele, dem Piz Murtero, zuführen sollte.

In seinem schwer verständlichen, von ladinischen Ausdrücken durchsetzten Dialekt gab der Alte Auskunft, während sich einige Tiere der jetzt sichtbaren Ziegenherde neugierig herandrängten und an Gottliebes Rock schnupperten, als ob sie einen Leckerbissen in ihrer Tasche vermuteten.

Gottliebe entnahm mehr den Gesten als den Worten des Alten, daß sie erst geradeaus gehen, sich dann aber nach rechts halten müsse. So dankte sie denn freundlich für die Auskunft und machte sich dann auf den Weg, der sich zunächst über ein langgestrecktes, schräg abflachendes Trümmerfeld zog, auf dem kärgliche Grasstreifen den zerstreut werdenden Ziegen die Nahrung boten. Sie beschleunigte jetzt ihren Schritt nicht nur, da es bergab ging, sondern weil vor ihr nun plötzlich drohendes Gewölk am Horizont, über dem scharf abschneidenden Rande des Plateaus, sichtbar wurde, das ihr bisher durch den Bergsattel verborgen gewesen war.

Ein schweres Wetter braute sich da vor ihr zusammen; die schwarzgraue Wolkenwand vor ihr stand breit und massig da, alle Aussicht auf die gegenüberliegenden Höhen verbergend. Sonst hätte sie, nach ihrer Karte zu urteilen, von dem Joch hier einen weiten Blick über das ganze Berggebiet des Münstertals bis hin zum Piz Umbrail und Murtero haben müssen. Schade, daß sie so um diesen ersten Gruß des Bündner Landes kam, auf dessen Boden sie hier schon dahinschritt.

Doch es war jetzt keine Zeit, darüber zu trauern, das drohende Unwetter trieb, zu Tal zu kommen, in ein schützendes Obdach.

Ein kurzer Marsch, aber im Eilschritt, brachte Gottliebe an den Rand des schräg geneigten Plateaus, das nun plötzlich steil zum Tal abfiel.

Ah – was für ein wunderbarer, einzig schöner Blick!

Trotz der Wetterwand drüben blieb Gottliebe bewundernd stehen. Eine echt bündner Tallandschaft tat sich da vor ihren Blicken aus.

Gerade unter ihr, einige hundert Fuß tiefer, eine Alm, saftig grün, über die jetzt gelbe, fast metallisch gleißende Töne hinschillerten, die auf der schwefelgelben, plötzlich sonnendurchleuchteten Wetterwand brachen; ganz tief drunten aus der Sohle des schmalen Seitentals ein kleiner See, mit tief grünblauem, fast schwarzem Spiegel, über den sich ein winziger Nachen hinflüchtete, noch vor dem Unwetter ans schützende Gestade zu kommen. Jenseits des Wassers stieg steil die Felswand auf; an ihre dunklen, vielfach geborstenen Flanken klammerte sich bis in schwindelnde Höhen lichtgrünes Buschwerk, im Stein nistend wie die Adler.

Das Schönste aber, was dem wunderbaren Bilde den Augenpunkt gab, war ein altes Gemäuer da unten auf der Alm zu ihren Füßen, ein uraltes Bergnest, ein Kastell mit trutzigem, sechseckigem Turm und hoher, halb verfallener Zinnenmauer, rings umwuchert von einem lebenden grünen Schutzwall, einem wahren Dickicht von Bergahorn, Kastanien- und Haselnußgesträuch. Gegen die grauverwitterte Turmwand aber standen, schlankschäftig wie zwei riesige Pylonen, zwei italienische Pappeln, deren dunkle Pyramiden jetzt in einem grüngoldenen Bronzeton flimmerten.

Gottliebe stand ganz versunken in dies Bild voll einer großen, ernsten, schwermutsvollen Stimmung. Zu dem weltverlorenen Felsennest da unten gab die düstere Wetterwand ja einen wunderbaren Hintergrund. Sie war wie eine sichtbare Verkörperung der grauen Zeit, wilder, düsterer Schicksale, die dies kalte Gemäuer im Laufe vieler Jahrhunderte gehabt haben mochte.

Ein jäher Windstoß machte Gottliebe auffahren. Keine Zeit jetzt zum Träumen – der Tanz ging los! Die Windsbraut lag schon im Arm des wilden Freiers. Der erste dumpfe Donner brach sich von den Felswänden des Tals.

Mit hastigem Griff holte Gottliebe das Lodencape aus dem Rucksack. So! Und nun hinab, dem Kastell dort zu – soweit das Auge reichte, ja der einzige Unterschlupf hier in dem verlassenen Tal. Schon fielen die ersten schweren Tropfen, und in Sprungschritten eilte Gottliebe den Zickzackweg die Felswand hinab.

Aber trotzdem zu langsam. Noch ehe sie die Alm erreicht hatte, prasselte klatschend der Regen hernieder, und die drei Minuten, während derer sie über den Rasen zum Kastell hinlief, genügten mit ihrem wolkenbruchartigen Wasserschwall, um selbst die imprägnierte Pelerine zu durchnässen.

Gott sei Dank, daß sie an ihrem Asyl angelangt war! In die tiefe Wölbung des Tores sich rettend, schüttelte Gottliebe lachend die schwer gewordene Kapuze ihres Umhanges ab. Dann spähte sie nach der Gelegenheit zum Einlaß.

Uralte, starke Eichenbohlen mit schweren, verrosteten Eisenbeschlägen versperrten ihr den Eintritt, vergebens sah sie sich nach einer Klinke um, lehnte sie sich mit dem ganzen Gewicht des Körpers gegen das Tor; es wich und wankte nicht – verschlossen.

Ein gelinder Schreck durchrieselte Gottliebe. Daran hatte sie ja noch gar nicht gedacht, wenn das Kastell hier nun unbewohnt war! Was dann? Eine schöne Aussicht, naß bis auf die Knochen hier in dem offenen Torbogen dem Gewitter standzuhalten, vielleicht stundenlang!

Da fiel ihr Blick auf den altertümlichen Türklopfer, und unwillkürlich griff sie nach dem schweren Eisenring. Dumpf dröhnend rasselte er jetzt dreimal, viermal gegen die Eisenplatte darunter, daß es das Prasseln des Regens laut übertönte.

Eine Weile regte sich nichts, plötzlich aber ein Geräusch zur Rechten, und etwas oberhalb in der Torwölbung schob sich ein kleiner hölzerner Fensterladen zur Seite. Ein Kopf war sichtbar, ein runzliges, bartloses, altes Gesicht; im Dämmer der kleinen Öffnung war nicht gleich zu entscheiden, ob Mann oder Weib, wortlos starrte der Mensch da oben auf die Einlaßheischende mit mürrischen, mißtrauischen Blicken.

»Ach bitte, erlauben Sie mir doch unterzutreten – ich bin vom Unwetter unterwegs überrascht.«

Hinaufschauend bat es Gottliebe. Es kam keine Antwort von droben, doch das Schiebefenster schloß sich wieder, war das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Geduldig wartete Gottliebe mehrere Minuten. Als sich aber drinnen noch immer nichts rührte, begann ein heftiger Unwille in ihr aufzusteigen, war sie denn eine verdächtige Landstreicherin, daß man sie hier in diesem Hundewetter vor'm Tor stehen ließ?

Und im wachgerüttelten trotzigen Stolz wollte sie eben den Fuß weitersetzen – lieber im strömenden Regen weiterwandern, als hier wie ein abgewiesener Bettler vor'm Tor lungern! –, als plötzlich drinnen der Riegel sich knirschend beiseite schob. Eine kleinere Einlaßpforte in dem einen der schweren, großen Torflügel öffnete sich. In ihrem Rahmen stand ein alter Mann in einfacher Kleidung, offenbar der Kastellan, und, sie erkannte ihn nun an den Zügen wieder, derselbe, der sie da vorhin so mißtrauisch beobachtet und so lange hatte stehen lassen.

Diese Feststellung bestärkte Gottliebe nur noch mehr in ihrem Vorsatz, und ohne sich um den Mann da weiter zu kümmern, wollte sie eben aus der Torwölbung wieder in den Regenschwall hinaus, doch da trafen die Worte ihr Ohr:

»Herr v. Malmort läßt die Dame bitten, näher zu treten.«

Verwundert blieb sie nun doch stehen und sah zu dem Alten zurück.

Also das Schloß war doch bewohnt, und das lange Warten erklärte sich damit, daß der Diener da erst seinen Herrn um eine Weisung bitten mußte. Das änderte ja freilich die Sachlage, wiewohl der Alte doch mit einem Wort ihr das vorher hätte sagen können. Nun, Europas übertünchte Höflichkeit war offenbar noch nicht bis in dieses entlegene Alpental gedrungen. Gottliebe war also bereit, zu verzeihen; außerdem lockte es sie mit einem Male so sonderbar, in dieses alte Schloß einzutreten und seinen Herrn kennen zu lernen, der hier in stiller Weltabgeschiedenheit in dem halb verfallenen Gemäuer wie ein Einsiedler hauste. So trat sie denn in den tiefen, dämmernden Torgang ein, der sie hinter der Pforte angähnte.

Das war ja hier noch ganz mittelalterlich! An dem aus schweren Felsquadern gefügten Tonnengewölbe hing in der Mitte der Decke, aufgezogen, noch das Fallgatter, aus mächtigen Eichenbalken mit fußlangen Eisenspitzen gefügt, bereit, mit malmender Wucht auf jeden unbefugten Eindringling niederzuschmettern. Im Drunterweggehen sah Gottliebe unwillkürlich zu den verrosteten Eisenketten empor, die das Gatter hochhielten: Ob sie auch wohl noch fest waren?

Dann folgte sie dem Alten, der schweigend, immer mit der gleichen ernsten, fast mürrischen Miene vor ihr herging, durch einen nach dem Hof zu offenen Laubengang, der sich rings um das Viereck des Burghofs zog, und, wie sie an der gegenüberliegenden Seite gewahrte, mit seinen Arkaden den Wehrgang trug, von dem aus einst die Verteidiger der Burg ihre Geschosse durch die Scharten auf die Angreifer entsandten. Nun gewahrte sie auch, daß zwar der eine Teil der hohen Außenmauer an seiner Zinnenkrönung zerfallen und strauchüberwuchert war, daß aber das Innere des Kastells doch wohlerhalten war. Offenbar ließ der Besitzer also nur des altertümlichen, malerischen Eindrucks wegen jenes Stück Außenmauer so im Ruinenzustande.

Jetzt traten sie in den massigen, vierschrötigen Bau der Burg ein, der die Wohnräume für die Herrschaft enthielt. Eine weite Halle nahm sie auf, ein Raum, der Gottliebe plötzlich geradezu mit Entzücken erfüllte. Was für ein Stil, was für eine Stimmung in dieser Diele!

Durch die Rundbogenfenster mit alten Glasmalereien, die in drei tiefen Nischen lagen, in denen Stufen zu hochgelegenen steinernen Sitzbänken emporführten, fiel das feierlich gedämpfte Licht wie in einem alten Dom in den weiten Raum, mit Marmorfliesen belegt, das Gewölbe von drei schweren gedrungenen Säulen aus dunklem Granit getragen. Alte Gobelins, Jagdtrophäen und altes Gewaffen schmückten die Wände des sonst der Möbel entbehrenden weiten Vorraums; und doch wirkte er nicht kalt und öde. Denn da drüben an der Hauptwand, unter der breiten, ausgetretenen Steintreppe mit feindurchbrochener Ballustrade aus schwarzem Marmor, leuchtete traulich die rotflackernde Glut eines Kaminfeuers herüber, eines tief eingebauten Kamins mit einem Nischenvorraum, der rechts und links zwei Sitzbänke enthielt, deren weicher Polsterbelag zum versonnenen Träumen von alten Zeiten in der wohlig anstrahlenden Wärme des Herdbrandes lockte.

Noch stand Gottliebe und blickte entzückt auf den traulichen Winkel, da war's ihr plötzlich, als würde sie beobachtet; unwillkürlich hob sie, einem dunklen: Zwange gehorchend, die Blicke empor nach der Treppe hin, und wirklich – da war jemand!

Eine weibliche Gestalt in lichtem Gewande hob sich dort von dem dämmernden Hintergründe ab, ein noch ganz jugendliches Mädchen, vielleicht sechzehnjährig, mit einem blassen, feinen Gesicht unter der schweren Fülle braunen Haares, die gescheitelt über die Schläfe hinwallte. Die dunklen Augen der unbeweglich Stehenden, die geräuschlos von oben herabgekommen sein mußte, hafteten mit einem stillen, ernsten Ausdruck, halb verwundert, halb in scheuer, leiser Neugier, auf der Fremden, die da in Regensturz und Donnergegroll ihren Einzug in diese Bergklause hielt.

Nun aber kam Leben in die unbewegliche Erscheinung dort oben: Langsam, mit einer feinen Anmut und doch einer gewissen schweren Würde in den Bewegungen, schritt sie die Stufen herab und trat jetzt auf Gottliebe zu, eine zarte, nur mittelgroße Gestalt.

»Grüß Gott! Seien Sie uns willkommen.«

Einfach sagte sie es und hielt der Fremden die Hand hin; aber in dieser vertrauensvollen Begrüßung und in dem ernsten Blick der großen, klaren Augen dabei lag etwas, was diesem Gruß etwas Weihevolles gab. Gottliebe war's, als träte ihr die reine Priesterin eines uralten, ehrfurchtgebietenden Heiligtums an dessen Schwelle entgegen. So nahm sie, fast mit einem leisen Anflug von Scheu, diese feine weiße Hand, die sich leicht wie ein Lilienblatt in ihre eigene kraftvolle Rechte legte, was war das für ein Kind – süß und doch so herb, mit einem Hauch überirdischer Klarheit und Überlegenheit, trotz all ihrer zarten, unberührten Jugend!

»Grüß Gott!« erwiderte Gottliebe den Gruß des Mädchens, es drängte sich ihr im Augenblick nichts weiter über die Lippen, und fast befangen schaute sie, die Reife, Welterfahrene, dem jugendlichen Geschöpf in die hoheitsvollen, ernsten Augen. Noch immer ganz die Beute ihres Staunens: wie kam dieses Märchenwesen, diese feine Elfe, in das düstere Bergnest hier? Es wurde ja immer geheimnisvoller, rätselhafter hier oben, wer weiß, was ihrer noch für Wunder hier harrten.

»Sie sind gewiß ganz naß geworden,« sagte das Mädchen nun, mit einem Blick auf Gottliebes triefenden Lodenmantel, von dem das Wasser schon reichlich abgelaufen war, seine Spuren auf den Marmorfliesen zeichnend.

Gottliebe folgte dem Blicke.

»Ach – entschuldigen Sie nur!« Unwillkürlich nahm sie das triefende Kleidungsstück auf.

Aber das Mädchen lächelte freundlich und trat dienstbeflissen auf sie zu, ihr den wasserschweren Umhang abnehmend, zugleich den Alten heranwinkend, der abseits stehengeblieben war:

»Anselm – hängen Sie den Mantel der Dame hier ans Feuer. Und wenn ich Sie nun bitten darf, näher zu treten – vielleicht in mein Zimmer, um das Schuhwerk zu wechseln?«

»O – wie freundlich Sie sind!«

Mit einem herzlichen Blick dankte Gottliebe dem jungen Mädchen, von dem sie die Augen gar nicht lassen konnte. Alles was sie sprach und tat, atmete eine so würdegetragene, ernste Ruhe, die zu der noch halb kindlichen, anmutsreichen Erscheinung in einem ganz seltsamen, aber reizvollen Widerspruche stand.

Über die breite Treppe, dann durch einen langen dunklen Gang, den ein Lämpchen mit rötlichem Schein nur spärlich erhellte, überall umwittert von dem leisen Moderduft uralten Gebälks und verblaßter Gobelins an den Wänden, folgte Gottliebe der Führerin in ihr Zimmer.

Es mußte wohl in dem alten Wachtturm liegen, den sie von droben gesehen hatte; denn der Grundriß hatte die Gestalt eines Sechsecks. Ein eigenes Mädchenstübchen dieses Turmgemach mit den meterdicken, trutzigen Mauern! Schwere, altersbraune Eichenmöbel, ein Himmelbett mit vier wuchtigen gewundenen Säulen und einem Baldachin aus kostbarem, aber verblichenem Goldbrokat, bildeten seine Ausstattung; der Moderduft der Jahrhunderte auch hier, nur die tief eingebaute Fensternische ließ auf die jugendzarte Bewohnerin des Rittergemachs von schwerem, altertümlichem Prunk schließen. Dort stand ein modernes Nähtischchen und daneben ein zierlicher hellackierter Handarbeitsständer mit rosaseidener, schleifchengeschmückter Tasche, und das Fensterbrett schmückten lichtfarbig blühende Monatsrosen.

»Bitte, wenn Sie sich nun bedienen wollen –« Das Mädchen legte noch ein frisches Handtuch auf den Waschtisch mit dem blinkenden alten Zinngerät und zog sich dann diskret zurück. »Ich erlaube mir dann, nach einer Weile wieder nach Ihnen zu sehen.«

Mit ihren leichten, kaum hörbaren Schritten war sie schon hinaus, ehe Gottliebe ihr noch einmal hätte danken können.

Wie sonderbar das alles war! wirklich, wie in einem verwunschenen Schloß, dachte Gottliebe, während sie nun aus dem Rucksack alles Nötige für ihre Toilette entnahm.

Etwa zehn Minuten später, sie war gerade fertig geworden, klopfte es leise an die Tür; ihre Führerin war wieder da.

»Wenn ich nun bitten darf – mein Vater wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Jetzt aber trat Gottliebe auf das Mädchen zu und nahm ihre Hand, ihr tief in die klaren Augen sehend.

»Sie sind so gütig zu mir, Fräulein v. Malmort, Sie und Ihr Herr Vater, und kennen mich ja noch gar nicht, die Wildfremde.«

Die andere sah sie ruhig an.

»Sie sind unser Gast.«

In den schlichten Worten lag doch ein unbewußter Stolz: wer an das Tor von Schloß Malmort pocht, sei es, wer es sei, der findet gastliche Aufnahme, wie sie ein Edelmann sich selbst schuldig ist.

Gottliebe fühlte es wohl heraus, und diese unaufdringliche, selbstverständliche Vornehmheit einer Jahrhunderte alten Tradition erfüllte sie abermals mit einer respektvollen Hochachtung vor diesem jugendlichen Geschöpf, wie da edles Blut in jeder Ader war!

»Ich weiß diese Ehre zu schätzen,« entgegnete sie nun mit aufrichtigem Ton, die Gastfreundschaft des Hauses Malmort annehmend, und fest umschloß ihre Rechte noch einmal die zarte Mädchenhand, ehe sie sie freigab. Dann nannte sie ihren Namen und folgte Fräulein v. Malmort, die sie nun zu dem Wohnzimmer hinübergeleitete.

Auch dieses wieder ein altertümlicher Raum, bei dem Dämmerlicht des Wetterhimmels draußen im übrigen nicht in seinen Einzelheiten zu unterscheiden.

Als sie eintraten, zeigte sich ihnen in der Fensternische, die ein erhöhtes Podium ausfüllte, die dunkle Silhouette eines schlanken, hochgewachsenen Mannes, der abgewandt dort am Fenster stand und in das tobende Unwetter hinaussah. Im ersten Moment hätte man meinen können, es wäre wirklich ein Mann in der Tracht jener verflossenen Zeiten, denen noch die Einrichtung des Schlosses entstammte. Erst bei näherem Zusehen zeigte es sich, daß der Mann dort Joppe, Kniehosen und hohe Strümpfe eines modernen Alpenjägers oder Bergsteigers trug.

Beim Geräusch der eintretenden Damen drehte sich die Gestalt am Fenster langsam um und kam nun, als sie die Eingetretenen gewahrte, ruhig die Stufen herunter. Auch jetzt, wo er bei ihnen in gleicher Höhe stand, noch ein Mann von seltener Größe und dabei doch fester, kraftvoller Haltung. Mit einer höflichen, aber würdegetragenen Verneigung begrüßte Herr v. Malmort die Fremde.

»Fräulein Gottliebe Rhyngaert, Vater,« stellte ihm die Tochter den Gast vor.

Mit einem einzigen, aber das Auge der Fremden durchdringenden Blick hatte der Schloßherr diese überflogen; nun reichte er ihr artig die Hand.

»Seien Sie uns willkommen, mein Fräulein, im schützenden Obdach.« Eine selten weiche und tiefe Stimme schlug ihr ans Ohr. »Hoffentlich hat Ihnen das Unwetter nicht schon vorher zu arg zugesetzt?«

Gottliebe erwiderte den Handschlag mit einem festen, nervigen Druck, der Herrn v. Malmort unwillkürlich überrascht auf ihre schlanke, wettergebräunte Rechte sehen ließ, während sie mit einem Lächeln erwiderte:

»Oh, es war nicht der Rede wert. Ich habe schon manch Gewitter schutzlos in den Bergen durchgemacht und gut überstanden.«

Wohlgefällig blickte Herr v. Malmort ihr in die offenen, hellen Augen.

»Sie sind für eine Dame selten abgehärtet, ich vermute wohl nicht mit Unrecht, eine ernste Alpinistin?«

»Ich denke dafür gelten zu dürfen.«

»Dann freut es mich um so mehr, daß Sie uns dieser Zufall ins Haus geführt hat – ich selbst bin ein großer Freund der Berge. Aber bitte, mein Fräulein, nehmen Sie doch Platz – vielleicht da droben im Fenster? Es sitzt sich gut da, wenn draußen das Wetter tobt – bitte!«

Gottliebe schritt dankend die Stufen empor und ließ sich auf der einen Bank in der Nische nieder, ihr gegenüber Herr v. Malmort mit der Tochter. Sie hatte nun im Licht Gelegenheit, auch den Schloßherrn zu sehen. Er mochte ein Mann vielleicht von vierzig Jahren sein. Sein dunkles Haar und der spitz geschnittene Bart wiesen aber bereits einen grauen Anflug auf. Das wettergebräunte Gesicht mit den dunklen ernsten Augen erinnerte sofort an die Tochter, und doch waren da wieder Unterschiede zwischen den beiden. In dem Mädchen lag bei aller Herbheit zugleich eine so schmiegsame Grazie, etwas so Weiches, Suchendes im Wesen, das nicht zu der festen, scharf ausgeprägten Eigenart in Aussehen und Wesen des Mannes da paßte – ein fremdes Element im Blute der Malmorts, wohl ein Erbteil der Mutter.

Der Mutter!

Im Fluge drängte sich Gottliebe, während sie den Blick zum Fenster hinausschickte, die Frage auf: Wo mochte die Frau des Hauses sein? vielleicht – wahrscheinlich nicht mehr am Leben! Das einsame Hausen hier von Vater und Tochter ließ wohl darauf schließen.

Doch Herr v. Malmort lenkte ihre Gedanken alsbald anderen Dingen zu.

»Der arme Domletsch unten kämpft noch immer mit dem See,« er wies hinaus auf die wild aufgepeitschte Wasserfläche drunten, wo in der Tat der kleine Nachen, den Gottliebe vorhin gesehen hatte, noch immer auf und nieder tanzte.

»Der Ärmste!«

Mitleidig rief es die Tochter aus. Sie stand, das Antlitz dicht an die Scheiben gepreßt, jetzt zwischen Gottliebe und dem Vater, den rechten Arm um dessen Schultern geschlungen.

»Ist der See gefährlich?« forschte Gottliebe.

Herr v. Malmort nickte, mit ernster Miene auf den gebrechlichen Nachen drunten schauend.

»Bei solchem Wetter, ja! Der Sturm stößt unvermutet aus allen Ecken, und es sind heimtückische, scharfe Riffe im Wasser. – Sieh, sieh – wie es ihn umherwirft!«

Zur Tochter sprechend, war Herr v. Malmort plötzlich unruhig aufgestanden. Sein geübtes Auge unterschied drunten deutlich die schwere Not des Fährmanns in dem hoch mit Heu beladenem Nachen.

Auch Gottliebe war aufgesprungen, den Blick besorgt nach drunten richtend.

»Sie kennen den Mann da?«

»Ja – mein Fischereipächter, der Jürg Domletsch aus Thalwys drunten,« und mit zusammengezogenen Brauen verfolgte Herr v. Malmort weiter den Kampf drunten.

Gottliebe ahnte die Gedanken, die sich hinter seiner hohen freien Stirn bargen: Ob es nicht Pflicht sei, dem Mann dort unten beizuspringen.

Plötzlich ein leiser Aufschrei der Tochter, unwillkürlich hatte sie den Arm des neben ihr stehenden Vaters gepackt, und Gottliebe warf die Blicke wieder hinab nach dem See. Eine gischtsprühende Woge hatte eben für einen Moment lang das Fahrzeug drunten begraben. Um Gottes willen! Wenn – Aber, nein! Da tauchte der Nachen ja, Gottlob, wieder auf. Aber wer weiß, wie lange er dem Ansturm der Wogen noch standhalten würde?

»Man muß dem Mann da unten zu Hilfe kommen!«

Fest klangen die Worte plötzlich von Gottliebes Mund, im selben Augenblick, wo Herr v. Malmort in schnellem Entschluß die Tochter beiseitegeschoben hatte.

Nun trafen sich einen Moment ihre Blicke: Sie hatten dasselbe gedacht.

»Ja – und das schleunigst!«

Und schon war Herr v. Malmort die Stufen hinab.

»Ich komme mit.«

Gottliebe eilte ihm nach. Stehenbleibend, musterte sie einen Moment der Hausherr, erst verwundert, dann mit einem Aufleuchten im Blick. Zugleich fiel ihm der Händedruck von vorhin ein; es war Mark in ihr, da konnte ihre Hilfe wohl von Nutzen sein.

»Kommen Sie!«

Kurz nickte er ihr zu, aber sein Blick machte sie stolz.

»Vater! Du wirst aber an dich denken – und mich?«

Leise bat es die Tochter, nun auch herzugekommen, und ihre durchsichtigen Hände umfaßten beschwörend die Hand des Vaters.

»Es wird mir nichts geschehen!«

Ein flüchtiger Kuß auf ihre weiße Stirn, dann drängte er die Tochter sanft beiseite. Stumm, aber in geheimer Angst leuchteten ihm die dunklen Augensterne nach. Sie kannte wohl nur zu gut sein edles Selbstvergessen in fremder Menschen Not.

Da hörte sie plötzlich und herzlich tröstendes Flüstern im Ohr:

»Seien Sie ohne Angst! Ich wache über Ihren Vater!«

Mit weichem Dank blickte sie Gottliebe an, die ihr dies Versprechen gab und dann Herrn v. Malmort nacheilte.

Zwei Minuten später lief sie, wieder in den nassen Mantel gehüllt, mit dem Schloßherrn über den Hang der Alm hin, alsdann den Zickzackweg der Wand hinabstürmend, die steil zum See abfiel. Weit hinter ihnen folgte mit seinen steifen Beinen der alte Anselm, erst sorglich darauf bedacht, sich dicht in seinen Wettermantel zu hüllen; er brachte ein Seil mit für alle Fälle.

Als erster war Herr v. Malmort drunten am Gestade. Auch er hatte sein Bergseil von droben mitgebracht, um es dem mit den Wogen Kämpfenden zuzuwerfen.

Noch aber war der Domletsch für seine Hilfe unerreichbar. Er trieb wohl an hundert Fuß weit ab draußen auf dem See, dessen nachtdunkle, schaumgekrönte Wellen wild brausend und sich überschlagend ans steinige Ufer rollten.

Nun war auch Gottliebe heran, und mit Sturm gepeitschtem, flatterndem Mantel stand sie jetzt neben Herrn v. Malmort.

»Er treibt gerade auf eine Felsbank zu!«

Aufgeregt wies er auf eine Stelle vor ihnen im See, wohin Sturm und Wogen den Kahn drängten, trotz der verzweifelten Anstrengungen des Mannes darinnen, ihn nach dem Ufer hinzudrängen.

Ein Moment bangen Harrens und Ratschlagens. Da richtete sich Herr v. Malmort auf, in einem Entschluß.

»Anselm – dein Seil her!«

Auch der Alte war inzwischen herangekommen. Mit einem Griff entriß ihm sein Herr das Seil und wand sich das eine Ende um den Leib.

»Mein Gott – Sie wollen doch nicht –?«

Angstvoll trat Gottliebe auf ihn zu, ihres Versprechens eingedenk.

»Ohne Sorge!« beschwichtigte sie Herr v. Malmort. »Anselm und Sie werden mich halten. Bitte, hier!« Er reichte ihr schnell das andere Ende des langen Seils hin, das sie nun stumm, mit geübten Griffen, sich selbst um die Taille legte, den Rest Anselm zu gleichem Tun hinreichend.

»So – und nun Gott befohlen!«

Malmort hatte inzwischen auch eilends das zweite, ihm gehörende Bergseil um seine Lüften befestigt, und das andere Ende aufgerollt vor sich hinhaltend, stürzte er sich jetzt mit Sprungschritten in die schäumend heranrollende kalte Flut des Sees, in der Richtung des treibenden Kahnes hin.

Klopfenden Herzens sah ihm Gottliebe nach, wie seine hohe Gestalt sich mit mächtiger Kraft durch den Wogenprall vorwärtsarbeitete. Bald stand er bis an die Schultern im Wasser, und nun verschwand er ganz im Gischt der Brandung.

Mein Gott! Er hatte den Grund verloren.

Gottliebe krampfte sich sekundenlang das Herz zusammen, während sie mit schmerzend aufgespannten Augen hinausspähte.

Halt! Da tauchte er wieder auf, er schwamm offenbar durch eine tiefere Stelle des Sees. Aber nun hatte er wieder festen Boden unter sich, stand, ging wieder, und jetzt ein Ruck, den sie leicht am Seil spürte – er war am Ende, weiter reichte es nicht. Nun kam es darauf an.

Mit angehaltenem Atem schaute Gottliebe Malmort zu, wie er, hoch in der Rechten das zusammengerollte Bergseil haltend, wuchtig ausholte und es dann nach dem Kahn hinwarf, dem er sich bis jetzt auf etwa dreißig Fuß genähert haben mochte.

Da, jetzt flog es los – aber leider, vom Sturm abgetrieben, etwas zu weit rechts.

Also noch einmal!

Schnell holte Malmort das Seil wieder ein, rollte es auf, und abermals ein Wurf! Aber zugleich ein heftiger Ruck am Seil und dann ein Schlaffwerden – ein heller Angstruf aus Gottliebens Munde – Die Gestalt da draußen im Wogenbraus war verschwunden. vom allzu starken Schwung mochte sein Fuß ausgeglitten sein, er war gestürzt und von den brandenden Wellen begraben.

Barmherziger Gott!

Gottliebe hatte plötzlich die Empfindung, daß das angstvoll harrende Mädchen da droben im einsamen Schlosse diesen Moment furchtbarer Spannung ahnte, mit durchlebte; sie sah ganz deutlich das blasse Gesicht mit den verzweifelt aufgerissenen dunklen Augen: wo habt Ihr meinen Vater? Was wachtet Ihr nicht besser über ihn? Du versprachst es mir doch!

Sekundenlang verwirrt sich alles in Gottliebe, aber nur einen Atemzug lang. Dann ein Aufzucken: Los – hin zu ihm! vielleicht, daß du ihn noch retten kannst!

Schon wollte sie mit fliegender Hand die Schlinge des Seils um ihren Leib lösen, da fühlte sie an diesem ein erneutes Rucken, ein so starkes und anhaltendes Anspannen des Seils, daß es sie, die dessen nicht gewärtig war, fast umgerissen hätte.

Nun aber stemmte sie sich mit stählernen Muskeln dagegen; ihre geübte Kraft verdoppelte plötzlich ein frohes, jubelndes Gefühl: Er lebt, er hat das Seil mit den Händen ergriffen, er zieht sich daran empor! Und du gibst ihm Halt und Schutz.

Ja, sie wirklich allein! Denn sie verschmähte es, den Alten hinter ihr zur Mithilfe heranzurufen. Sie ganz allein wollte ihm helfen, ihn vielleicht retten – den flehenden dunkeln Augen da droben erhalten. Sie hielt ihr Wort! Noch nie hatte sie das Bewußtsein ihrer Körperkraft und eisernen Energie so stolz gemacht wie in dieser Stunde, wo sie vielleicht ein Menschenleben damit vor der Vernichtung bewahrte.

So hielt sie dem kurzen, aber gewaltigen Ruck am Seil, den Leib weit hintübergeworfen, die Füße in den Fels gebohrt, mit zum Zerspringen angespannten Muskeln stand. Dann aber tauchte die Gestalt da draußen im See wieder auf.

Gott sei Dank – unversehrt!

Einen Augenblick rang Malmort nach Luft, das Haupt entblößt, er hatte beim Sturz die Mütze verloren, schaute er während dieses Luftschöpfens her zum Ufer. Sein Blick traf Gottliebe, und sein scharfes Auge erkannte an der Stellung der beiden, daß sie allein eben die Kosten der Arbeit bestritten hatte. Da winkte er ihr lebhaft zu, dann aber ging er gleich wieder ans Rettungswerk.

Zum drittenmal holte er das Seil ein, zum drittenmal warf er es aus, nach kurzem Zielen mit neuem gewaltigen Schwunge, und sieh! – endlich gelang es: Der Mann im Nachen erhaschte im Fluge das über ihn dahingleitende Seil.

Fast wäre zwar im gleichen Augenblick der Kahn umgeschlagen von seiner heftigen Bewegung beim Auffangen, aber er kehrte doch noch einmal wieder ins Gleichgewicht zurück.

Nun wurde das Seil am Kahn vorn befestigt, und mit riesenhaften Kräften begann jetzt Malmort den Nachen zu sich heranzuziehen, während der Mann darin an seinem Teile mithalf.

Schritt für Schritt nur kam das Fahrzeug zwar heran, aber das Werk gelang doch. Wie schade nur, daß sie beide hier am Ufer dabei müßige Zuschauer bilden mußten! dachte Gottliebe, wie sie dem Anringen der beiden Männer gegen die Wut des Sees so zusah.

Endlich aber war der Kahn bei Malmort angelangt. Nun schwang sich dieser hinein, das zweite Seil ward befestigt, und den vereinten Bemühungen jetzt aller vier gelang es, den Nachen so ans Ufer zu bringen.

Schwer atmend traten die Männer ans Land, unter der gebräunten Haut beide bleich von der schier übermenschlichen Anstrengung.

»Vergelt's Gott, Herr!«

Der Domletsch, ein untersetzter, bärtiger Mann, drückte dem Gutsherrn mit seinen harten, schweren Fäusten bewegt die Rechte.

»Das war Hilfe zur rechten Zeit! Hätt's allein wohl nimmermehr geschafft. Ich wollt schon von Kräften kommen. Daß ich doch noch einmal heil zu Weib und Kindern komme, das dank ich Euch mein Lebtag, Herr!«

»Laßt's gut sein, Domletsch; einfach Christenpflicht,« wehrte Malmort gelassen ab. Dann aber wandte er sich nach Gottliebe herum, die sich inzwischen vom Seil befreit hatte.

»Wenn Ihr aber dankt, dann vergeßt auch hier die Dame nicht. Domletsch! Sie hat sich um Euch und mich verdient gemacht, bei meinem Purzelbaum da vorhin unter Wasser.«

Treuherzig hielt der Mann auch Gottliebe die Hand hin.

»Vergelt's Gott auch Ihnen, Fräulein.«

Dann aber ergriff Malmort ihre Rechte; ein machtvoller Druck preßte sie, während sein Auge mit warmem Aufleuchten sie traf, und halblaut sagte er ihr:

»Brav gemacht, Kamerad!«

Wie sie das schlichte Manneswort stolz machte, als wäre ihr eben ein Orden verliehen worden! Und war es nicht auch berechtigt? von einem Hochgesinnten, der sein Leben unbedenklich für einen seiner Leute einsetzte, als Kameradin eingeschätzt zu werden, war das nicht etwas?

Sie erwiderte Malmort nichts; aber die helle Freude in ihren offenen Augen sprach für sie.

Die drei kehrten dann ins Schloß zurück; während Domletsch weiter hinab ins Tal eilte, heim nach Thalwys, wo die Seinen in Angst seiner harren mochten.

* * *

Auch am nächsten Morgen hielt der Regen noch an, in den das Gewitter übergegangen war. Gottliebe war daher gern der Einladung Malmorts gefolgt, noch weiter hier zu rasten. Sie hatte es gern gesehen, war sie doch durch die Stunde ernster Gefahr gestern den beiden Menschen, von deren Existenz sie vor vierundzwanzig Stunden noch nicht einmal etwas gewußt hatte, nahegerückt worden. Die Unterhaltung des gestrigen Abends im dunkelgetäfelten Wohnzimmer hatte dann das weitere getan, um die drei vertraut zu machen.

Jetzt nun durchschritt Gottliebe Arm in Arm mit der Tochter, die sich in leiser Zärtlichkeit an sie schmiegte, alle Räume des alten Schlosses, deren Besichtigung sie lebhaft interessierte.

»Wie lange ist das Schloß schon im Besitz Ihrer Familie?« forschte sie.

»Alter Tradition zufolge soll der erste Herr von Malmort von Karl dem Großen als Gaugraf und Richter auf diesem Kastell eingesetzt worden sein; urkundlich ist es allerdings nicht zu beweisen. Unsere alten Familiendokumente sind leider bei einem Brande des Schlosses schon vor langer Zeit sämtlich vernichtet worden.«

»Wie schade! Nun, ohne Zweifel ist aber hier Ihr Geschlecht seit Urzeiten ansässig.«

»Das sicherlich. Denn viele Orte ringsum heißen danach schon seit ältesten Zeiten.«

Die beiden schlanken Frauengestalten standen in dem Erker eines Vorsaals, und Gottliebe schaute in das weite Tal hinab.

»Es muß doch ein stolzes, herrliches Gefühl sein für Sie, sich so zu sagen: All das ist unser, seit Menschengedenken. Wie kleine Fürsten hausen wir hier auf eigenem Grund und Boden; wohin unser Auge fällt, auf Berg und Tal, es ist unser eigen, nie hat es fremde Hand besessen.«

Das junge Mädchen antwortete nicht gleich; über ihrer klaren Stirn lagerte ein leichter Schatten. Den Blick verloren hinaus durchs Fenster sendend, erwiderte sie dann:

»Glauben Sie, daß dies Bewußtsein genügt, um den Menschen glücklich zu machen?«

Gottliebe schwieg einen Moment zu dieser Erwiderung. Eine Gegenfrage wollte sich ihr auf die Lippen drängen, aber ihr Takt hinderte sie danach zu forschen, warum sie mit ihrem Vater hier so in einsiedelhafter Weltabgeschiedenheit hauste. Natürlich, das konnte sie sich ja nur allzu wohl denken, daß ein jugendliches Herz sich hier, fern von allem freundlichen, lichten Schmuck des Lebens, unbefriedigt fühlen müsse. Aus diesem Gedankengang heraus sagte sie dann warm, des jungen Mädchens Arm näher an sich ziehend:

»Ich verstehe, Sie entbehren hier viel. Sind, waren Sie denn aber immer hier? Sind Sie nie einmal herausgekommen in die Welt zu den Menschen?«

Langsam schüttelte das Mädchen das Haupt.

»In die Welt nicht. Denn das Kloster, in dem ich meine Erziehung erhalten habe, rechnen Sie ja wohl auch nicht mit dazu?«

Gottliebe verneinte schweigend.

Armes Kind! So einsam von Jugend an? Wieder wollte sich ihr eine Frage aufdrängen, nach ihrer Mutter; aber wieder tat sie sie nicht.

Ihre Begleiterin aber machte nun dem Thema selbst ein Ende.

»Wollen wir weiter? Es gibt noch allerlei zu sehen, wenn es Sie interessiert.«

Gern folgte Gottliebe der Führerin.

Durch mehrere Gemächer waren sie so geschritten, eine Flucht modern eingerichteter Säle und kleinerer Zimmer, deren kostbare farbenfrohe Pracht auffallend abstach von dem gedämpften altersbraunen Ton und der altväterischen Behaglichkeit der sonstigen Schloßräume. Übrigens verrieten die tief herabgelassenen Fenstervorhänge und der Staub auf den blankpolierten Möbelflächen, daß diese Gemächer lange außer Gebrauch waren.

Gottliebe staunte. Es wehte sie hier ein so ganz anderer Geist, etwas Lebensfrohes, Luxusgewohntes aus diesen modern zugestutzten Räumen an.

Fräulein v. Malmort bemerkte Gottliebes fragenden Blick, aber sie gab keine Auskunft, vielmehr schritt sie schneller weiter, wie um einer solchen enthoben zu werden.

Sie waren so in das letzte Zimmer der Flucht gelangt, einen kleinen Damensalon, der mit einer koketten, kapriziösen Eleganz ausgestattet war. Schon wollte Gottliebe ihrer ohne haltzumachenden, insgeheim vorwärtsdrängenden Führerin durch eine Seitentür wieder hinausfolgen auf den Gang draußen, da stockte unwillkürlich ihr Fuß.

Ihr Auge war auf ein Bild gefallen, ein großes Frauenporträt in kostbar geschnitztem, altgoldenem Rahmen, das auf einer Staffelei in der Ecke stand. Ein Frauenkopf von einer bezaubernden, pikanten Schönheit und – wie seltsam! – in diesem weichen, süßen Gesichtchen waren Linien, ein Ausdruck, der ihr so bekannt vorkam. Wo hatte sie diese Dame schon einmal gesehen?

»Wer ist das – bitte?«

Unwillkürlich entschlüpfte ihr die Frage, und sie wandte sich nach Fräulein v. Malmort um, die schon auf der Schwelle der geöffneten Tür stand.

»Meine Mutter.«

Eine leise Falte erschien im selben Augenblick auf der reinen Stirn des Mädchens, und mit einem harten Zug um den lieblichen Mund – ganz wie der auf dem Bilde dort! – wandte sie schnell den Kopf herum, auf den Gang hinaustretend.

Gottliebe schämte sich tief ihrer unbedachten Frage. Kein Zweifel mehr: die Mutter war früh verstorben! Nun löste ihr sich ja das ganze Rätsel dieses düsteren Schlosses. Der Mann hatte den Verlust der angebeteten jungen Frau nicht verwinden können; darum hatte er sich hier als ein weltlicher Einsiedler vergraben mit dem Kinde, das sie ihm gelassen, das vielleicht gar der Mutter das Leben gekostet haben mochte. Darum war das Mädchen hier eben auch so schmerzlich zusammengezuckt; in ihrer Seele vernarbte nie das Flammenmal des quälenden Bewußtseins: du hast deiner Mutter das Leben, deinem Vater die Gattin geraubt! Daher all der schwere, frühreife Ernst an diesem süßen Kinde.

Ein inniges Mitleid mit dem armen Geschöpf, ein mütterlich-zärtliches Aufwallen kam über Gottliebe.

Im nächsten Augenblick war sie draußen bei ihr und zog die schlanke, zarte Gestalt an sich.

»Verzeihen Sie mir!« bat sie leise.

Das Mädchen sah sie aus den dunklen, klaren Augen, in denen jetzt ein tiefstes Weh schimmerte, gütig an.

»Sie konnten es ja nicht wissen,« gab sie still zurück.

»Liebe, kleine Raye!«

Mit zärtlichem Druck umfing Gottliebe die feinen Schultern des Mädchens. Sie hatte den Namen von dem Vater gehört.

»Ich darf Sie doch so nennen, ja?«

Ein freudiges Erstrahlen der Augensterne und ein schüchternes Anschmiegen des lieben Kindes gab ihr Antwort, wie glücklich sie das Anerbieten machte. Sie hatte ja noch nie eine Freundin gehabt.

Da beugte sich Gottliebe schnell zu ihr nieder und küßte ihr die reine, weiße Stirn. Und so den neuen Freundschaftsbund besiegelnd, forderte sie:

»Und Sie müssen mich Gottliebe nennen, Raye, meine kleine Raye! – Aber sagen Sie, was ist Ihr Name seltsam, wohl die Abkürzung eines alten rhätischen Frauennamens?«

Das Mädchen schüttelte mit leisem Lächeln das Haupt – wie sonnig schaute in solchem Augenblick das Gesichtchen aus, ganz das Zauberische, Liebreizende der toten Mutter!

»Der Name ist gut deutsch! – Rehe heiß ich, Rehe Malmort!«

»Wie – Rehe?«

Sie nickte noch einmal bestätigend, fast heiter über die Verwunderung der anderen.

»Es ist ein alter Familienname in unserm Hause.«

»Und Sie tragen ihn mit Recht, mit Ihren lieben, großen, dunklen, glänzenden Rehaugen!«

Gottliebe blickte sie innig-zärtlich an.

»Ich bin Ihnen ja so gut, Rehe!«

Statt jeder Antwort warf plötzlich das junge Geschöpf die Arme Gottliebe um den Hals. In einem übermächtigen Ausbruch des Glücksgefühls und jahrelang verhaltenen Sehnens nach solch einer Stunde preßte sie sich an die neugewonnene Freundin, die ihr mütterlich-liebevoll über das lose, gewellte Dunkelhaar strich.

So drang plötzlich mitten in dem grauen Regentage ein warmer Sonnenstrahl in das finstere Gemäuer des alten Schlosses ein.

* * *

»Ja, Vater, sing doch – bitte!«

Auch Rehe Malmort schloß sich den Bitten Gottliebes an, die durch das an der Säule drüben hängende Saiteninstrument angeregt worden waren.

Die drei saßen traulich in der Halle vorm Kamin, während draußen immer noch der Regen hernieder rieselte.

Herr v. Malmort, der in dem alten, schön geschnitzten Lutherstuhl zurückgelehnt ruhte, machte eine leis abwehrende Bewegung.

»Ich kann ja doch nicht singen, Kind. Wenigstens nicht, was man in der Welt draußen darunter versteht. Mein bißchen Singsang, der dir sehr schön vorkommt, weil du noch nichts Besseres gehört hast, ist sicher kein Genuß für verwöhnte Ohren wie die Fräulein Rhyngaerts.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich verwöhnt bin, Herr v. Malmort?« Gottliebe blickte von der Kaminnische her, wo sie eng an Rehe geschmiegt, auf der Marmorbank vorm Feuer saß, zu ihm hinüber, der außerhalb des Kaminvorbaus seinen Platz hatte. Es lag eine leiser Vorwurf in diesem Blick, und auch nun noch, wie sie fortfuhr:

»Trauen Sie mir nicht zu, auch an schlichtem, kunstlosen Gesange meine Freude zu haben, wenn er nur mit richtigem Empfinden geboten wird?«

Herr v. Malmort sandte ihr seinen eigenen, still fragenden Blick zu; er hatte so die Art, einem sekundenlang schweigend ins Gesicht zu sehen – und auch Raye hatte das von ihm – aber Gottliebe empfand das bei diesen beiden eigenartigen, vornehmen Naturen nicht lästig, was sie an anderen sicher als ungezogen vermerkt hätte. So hielt sie denn auch jetzt diesem stillen Durchdringen stand, bis Herr v. Malmort langsam die Gegenfrage tat:

»Und Sie sind sicher, bei mir diese Voraussetzung zu finden?«

»Ja – unbedingt! Und nun bitte, Herr v. Malmort, lassen Sie sich nicht länger nötigen.«

Der Schloßherr erhob sich.

»Ich singe sonst nie vor einem Dritten,« sein Blick streifte Gottliebe ernst, »aber ich will vor Ihnen eine Ausnahme machen.«

Gottliebe hatte dieser flüchtige Blick ganz eigen durchrieselt, versonnen sah sie der hohen Gestalt nach, die nun zu der Säule hinüberschritt, die Gitarre vom Nagel nahm und dann, das Instrument stimmend, sonore, tiefsummende Akkorde darauf griff. Es war also eine seltene Auszeichnung, daß er sie für wert hielt, Zeugin dieser nur ganz intim geübten Kunst zu sein. Dem Kameraden in ernster Stunde gegenüber – ihr klang das Wort noch immer so wohltuend im Ohr – ließ er seine stolze Zurückhaltung fallen.

Zum zweiten Male kam jenes leise, frohe Gefühl über sie; die Auszeichnung dieses Mannes galt ihr etwas. Sie vergaß ganz, wie kühl ablehnend, überlegen sie sich bisher immer dem andern Geschlecht gegenüber gezeigt hatte. Die Welt da draußen war ja für sie versunken, seitdem sie die Mauern dieses alten, düstern Schlosses umfingen, in denen die Zeit jahrhundertelang stillgestanden zu haben schien. Ihr war wirklich zumute, als lebe sie hier im Mittelalter; die Gestalten Rehes und ihres Vaters in seiner ritterlichen, aber schweren, altfränkischen Art paßten ja auch viel mehr in jene grauen Tage als in das moderne Leben hinein. Das war noch ein Mann, dieser Träger eines uralten Namens! Ein Mann von hoher, echt adliger Gesinnung und entschlossener, kraftvoller Tat. wo gab es davon noch draußen etwas in der Welt?

Jetzt ließ Gottliebe das Näherkommen Herrn von Malmorts aus ihrem Sinnen auffahren. Er trat bis dicht an den Vorbau des Kamins. Dort blieb er aufrecht stehen, den linken Fuß auf den etwas erhöhten Nischenboden gesetzt und die am Band um den Hals getragene Gitarre nun zum Spiel bereit haltend.

Wie er so da stand, schlank und hoch in seinem eng anliegenden Bergkostüm – er trug sich, wie es schien, stets nur so – das dunkelbärtige Antlitz von roter Feuerlohe übergossen, erschien er Gottliebe wie einer jener adligen Sänger des Mittelalters, deren schwertgewohnte Hand auch das Schlagen der Laute in höfischer Zucht nicht verschmähte.

Nun ein paar einleitende Akkorde, dann setzte leise die Stimme ein, wie es Gottliebe gleich beim ersten Begegnen empfunden hatte, eine selten weiche, tiefe Mannesstimme von großer Innigkeit des Tons, deren Eindruck noch durch die Art des Vortrags gesteigert wurde, durch ein dämpfendes Zurückhalten oder ein seelenvolles Anfärben des Tons.

Herr v. Malmort sang ein fremdländisches Lied, das sie nicht verstand – vermutlich ein ladinisches Volkslied hier aus den Bergen –, aber die schwermutsvolle Weise sprach zu ihrem Herzen. Es lag eine so ergreifende, müde Traurigkeit in dem Liede und der Art des Sängers.

Nun war es wieder still. Keiner von den dreien sprach. Gottliebe war ergriffen, aber sie mochte ihm kein banales Wort über sein Singen sagen.

Er schien es aber auch gar nicht zu erwarten. Mit seinem unveränderlichen, ruhigen Ernst stimmte er einige der Saiten noch einmal genauer. Dann griff er wieder ein paar Akkorde; diesmal ein heiteres, schnelles Tempo.

»Nun mal etwas Froheres,« sein Blick flog mit einem eigenen Ausdruck zu Gottliebe hin. »Eine Lapreser Künstler-Reminiszenz!«

Und er gab nun eine lustige Romanze, die ein heiteres kleines Abenteuer an Bord des Sorrentiner Marktschiffs schilderte. Er sang wieder sehr ausdrucksvoll; aber Gottliebe gefiel das weniger. Der Ton lag ihm nicht; daran hatte seine Seele keinen Anteil. Er hatte das lustige Intermezzo wohl auch nur gewählt, um den ersichtlich tiefen Eindruck des ersten schwermutsvollen Liedes auf Gottliebe schnell wieder zu verwischen.

Jetzt sah er, das Instrument vom Hals nehmend, mit leichtem Lächeln zu ihr hin.

»Nun sind Sie doch enttäuscht – nicht wahr?«

Ein ernster Blick traf ihn, mit geheimem Vorwurf, und leise schüttelte sie den Kopf.

»Ich höre Sie mit innerstem Genuß. Nur gefiel mir Ihr erstes Lied besser – ich sag' es ganz offen –, bitte, singen Sie noch eins in dieser Art!«

Ihr Auge bat ihn mit einem weichen Ausdruck, den er bisher noch nie bei ihr bemerkt hatte. Mit einem leisen Verwundern im Blick nahm er es wahr; dann aber senkte er die Lider und griff, wie gedankenverloren, schweigend auf dem Instrument.

»Siehst du, Vater? Ich sage es dir ja auch immer,« bestätigte schnell Rehe Gottliebes Meinung. »Und nun sing das schöne Lied aus dem Rattenfänger – mein Lieblingslied, bitte, bitte, Vater!«

Herr v. Malmort antwortete nicht ja und nein. Als hätte er nichts gehört, spielte er weiter, in sich versunken. Dann begann er leise zu pfeifen, mit weichem, schmelzendem Laut; es klang wie eine schluchzende Vogelstimme in grünem Waldgedämmer. Gottliebe stützte lauschend, in ein Träumen hineingelockt, den Kopf in die Hand.

Er phantasierte offenbar auf dem Instrument; es war keine bestimmte Weise, die er hören ließ, sondern nur der andeutende Ausdruck dunkler Stimmungen, die in dieser Minute seine Seele bewegen mochten.

Nun aber entwickelten sich die zerflatternden Tonbildungen zu einer festen Melodie, einer wunderbar zu Herzen sprechenden, wehmütigen Melodie. Und dann begann er zu singen – es war das von der Tochter erbetene Lied.

Und nun seine letzte Strophe:

»Ich habe durchfahren das weite Land,
Durchfahren dahin, daher.
Und was allerwegen vom Glück ich fand,
Davon ist das Ränzel nicht schwer.
Die Blumen am Wege, am Himmel die Sterne,
Die einen verwelkt, die andern so ferne –
Mein Herz, in der Welt so allein.
Wer denkt noch dein?« –

Und wie er das Lied sang!

Gottliebe konnte den Blick nicht von dem männlich-ernsten Antlitz wenden, dessen Züge der rote Feuerschein des Kamins jetzt warm überlohte; den Kopf ein wenig nach vorn geneigt, starrten seine dunklen Augen mit halb geschlossenen Lidern verloren in die Glut des Feuers. So sang er, seiner Hörerinnen nicht achtend, allmählich von dem Zauberklang der Weise selbst umsponnen, wie für sich allein – ein Ausströmen der Empfindungen, die ihn in tiefster Seele bewegten, in Tönen, in halblauten, aber unbeschreiblich ans Herz rührenden Tönen.

Was mochte er empfinden bei seinem Sange?

Gottliebe ahnte es: Bei der heißgeliebten, früh verlorenen Frau waren sicherlich seine Gedanken, die sein Glück mit sich ins Grab genommen hatte, daß er seitdem nur noch als ein Armer, Heimatloser auf Erden wallte, im tief innersten, unstillbaren Sehnen nach der Verschiedenen – Sehnen nach einem verlorenen Glück.

Eine tiefe Wehmut, ein leis zitterndes Gefühl stieg in Gottliebe auf. Wie mußte das für eine Frau sein, so geliebt zu werden, von einem echten Manne, keinem Weichling! Ein dunkles Sehnen überkam sie und eine Trauer zugleich, daß sie das nie kennenlernen sollte, was doch – wie sie in dieser Stunde zum erstenmal klar empfand – das Höchste, das Seligste im Leben einer Frau war. Wie arm, bettelarm war die, die das nie genossen! Was war dagegen der fadenscheinige Stolz mannweiblicher, vermeintlicher Überlegenheit? Er reichte nicht einmal hin, die jammervolle Blöße zu decken!

Noch nie hatte sie das so empfunden. So saß sie denn auch noch zusammengesunken, einen Ausdruck herben Wehs um den Mund, regungslos da, als Malmort längst geendet und die Rechte über die Saiten gebreitet hatte, um das Nachschwirren nach dem letzten, wie einen heimlichen Aufschrei hinausgestoßenen Ton zu verhindern.

Wieder suchte sein Blick Gottliebe, und wieder stand ein Verwundern darin, als er sie so in sich gesunken, schmerzlich bewegt, sitzen sah. Hatte das traurige Lied bei ihr solch wehes Echo geweckt?

Langsam wandte er sich der Tochter zu:

»Da hast du nun deinen Willen gehabt, Rehe; aber ich fürchte, unserm Gast ist damit kein Gefallen geschehen; nicht, Fräulein Rhyngaert?«

Da sah sie auf zu ihm, und ihre Blicke trafen sich, was für ein feuchter, sehnender Glanz lag doch in ihren Augen, die sonst so selbstsicher und gelassen blickten! Wie verschönte sie dieser Ausdruck weiblicher Hingabe überraschend! Ganz betroffen, festgebannt, hielt er die Blicke in die ihren getaucht. – Das war wie ein plötzliches Ahnen bei den beiden, daß da in der Tiefe beim andern etwas heimlich schlummerte, was er scheu der Welt verbarg; etwas Verwandtes bei beiden, das sie plötzlich mit unsichtbaren Banden, aber stark und lockend, zueinander hinzog.

So schauten sie einander tief in die Augen, bis Gottliebe die Lider niederschlug und wegsah, den Kopf neigend, war es nur die Kaminglut, die ihr Antlitz so rosig übergoß?

Rehe aber brach das so beredte Schweigen der beiden.

»Wahrhaftig, Gottliebe! Sie sind ja ganz still und traurig geworden!« Zärtlich schmiegte sich das liebe Kind an die ältere Freundin. »Was haben Sie denn?«

Da kam es plötzlich über Gottliebe. Mit einer fast leidenschaftlichen Bewegung riß sie das Mädchen an sich und vergrub ihr erglühendes Gesicht in die duftigen weichen Locken; insgeheim, ihm nicht sichtbar, preßten sich ihre Lippen heiß auf den feinen Nacken. So küßte sie sie wortlos – Malmorts Tochter.

Er aber stand und sah es mit großen Augen. Ein eigenes Leuchten erschien darin. Ahnte er, was da in ihr vorging?

Doch wohl nicht! Denn er kehrte sich langsam ab und hing die Gitarre an ihren Platz zurück. Und als er dann wieder zu den Mädchen trat, war sein Ton unbefangen, von ruhigem Ernst wie immer.

*

Den vierten Tag war nun schon Gottliebe zu Gast in dem alten Kastell; auch heut noch, wo die Sonne wieder lachte und hinauflockte auf die Firnenhäupter da drüben, die ihre Silberkronen heute um so glänzender in den in neuem, jungen Blau erstrahlenden Himmel reckten.

Sie war auch heut noch geblieben, in einem ihr selbst ganz fremden, plötzlichen Hang zur Seßhaftigkeit. Und wenn eine innere Stimme sie eine Treulose, eine Verräterin an der alpinen Sache schalt, der sie sich doch mit Leib und Seele verschrieben hatte, ihr Vorwürfe über das müßige Verliegen machte, so wandte sie schnell als Entschuldigung ein, daß Herr v. Malmort ihr ja versprochen hatte, mit ihr einige noch kaum bekannte Hochtouren in seinem eigensten Reich hier zu machen, im schneegekrönten Zackengebiet der Fumarellagruppe, deren steil ansteigende Vorberge das Tal drüben, über dem See, begrenzten.

Also doch keine verlorenen Tage hier! beschwichtigte Gottliebe sich selbst, wenn sie freilich auch heute nur, zu dritt mit Rehe, deren Zartheit ihr eigentliche Bergfahrten verbot, einen harmlosen Almenschlender machten, hinauf zur Breza dei Malmorti. Einer kleinen Bergkuppe, die das ganze, dem Geschlecht seit altersher gehörige Tal beherrschte und wo auch, nach einer Familiensage, einst der erste Malmort von Hirten als hilfloses Kind aufgefunden worden sein sollte – dem Gemunkel nach – der Sohn einer »Saligen« und eines verwegenen Alpenjägers, der sich bis ins Reich der Berggeister verstiegen hatte.

So wenig reizvoll für Gottliebe sonst ein derartiger Familienausflug gewesen wäre, so sehr freute sie sich heute dieses harmlosen Weges in der Gesellschaft der beiden prächtigen Menschen, die ihr so schnell Freunde geworden waren, verband sie doch sogar, seit einer traulichen Stunde gestern abend in Rehes Erker, auf deren Bitten das innige Du mit dem lieben Kinde.

So schritten sie langsam, in heiterem Geplauder, über grüne Almen, hinauf zu der Felsenkuppe. In anderthalb Stunden waren sie auf der Höhe.

»Willkommen an der Wiege unseres Geschlechts!«

Mit einer Handbewegung deutete Herr v. Malmort auf einen verwitterten, moosgedeckten Felsblock vor sich:

»Hier ist sie – der Sage nach.«

Mit einem leisen Lächeln schaute er ein Weilchen sinnend auf den Fels; dann aber flog sein Blick hinaus in die Weite, das ganze Tal entlang mit seinen grünen Matten, bis es eine Biegung weit hinten dem Auge entzog. Und stolz wies er über die schönheitsreiche, farbensatte Berglandschaft:

»Soweit das Auge reicht, Malmortscher Boden – seit Menschengedenken. Und das ist keine Sage!«

Gottliebe sah auf den hohen, straff aufgerichteten Mann, aus dessen Zügen ein edler Stolz leuchtete, wie ein rechter Herr stand er hier auf eigenem Grund und Boden, des uralten Besitzes sich freuend.

Bewundernd folgte dann Gottliebes Auge seinem Blick.

»Wie herrlich!« entfuhr es ihr warm. »Solch stolzer Besitz, immer in der Hand eines alten Geschlechts!«

»Immer?«

Der scharfe, bittere Ton machte sie aufsehen. Mit einem Male hatte sich sein Gesicht verdüstert. Betroffen, fragend traf ihn ihr Blick.

»Ich bin der Letzte meines Namens. Mit mir erlischt das Haus der Malmorts.«

Gottliebe blieb stumm. Daran hatte sie ja gar nicht gedacht. Aber nun bewegte es sie im Innersten. Das mußte dem Stolzen ein tödlicher Schmerz sein, daß der Name verklingen sollte, der an tausend Jahr mit Ruhm hier getönt hatte, daß gerade ihn es treffen mußte, ohne Sohn zu bleiben, die lange Kette der Vorfahren nicht um das nächste Glied vermehrt zu haben.

In ersichtlichem Schmerz ruhte Malmorts Blick auf Rehe, und auch auf ihrer klaren Stirn stand eine Wolke. Sie empfand es ja fast wie eine Schuld, daß sie gekommen war und nicht der so sehnlichst erhoffte Erbe des Namens und Besitzes.

Malmort ahnte ihre Gedanken, und in seiner vornehmen Güte strich er leise, zärtlich über das Haupt der Tochter, als wolle er sagen: Laß gut sein, mein Kind. Du kannst ja nichts dazu, bist meinem Herzen auch so teuer.

Gottliebe sah schweigend auf Vater und Tochter. Daß ihm, dem Schwergeprüften, auch dies letzte nicht erspart geblieben war, daß ihm das Schicksal, das ihm die geliebte Frau entrissen hatte, nicht wenigstens zum Trost dafür den Sohn gegeben hatte!

Aber dann kamen ihr andere Gedanken, wie sie ihn so kraftvoll und jugendschlank trotz seines angegrauten Haars da stehen sah: warum hatte er, da ihm doch so viel an dem Erben gelegen war, nicht noch einmal geheiratet?

Gar leicht hätte er ja doch wieder eine Frau gefunden, die ihm ihre Hand gereicht hätte. Ja, welch hohes Glück müßte es nicht für eine Frau sein, sich gerade einem Mann wie ihm zu weihen, ihm den innersten Wunsch seines Lebens zu erfüllen – den ersehnten Sohn und Erben zu schenken?

Ein geheimer, süßer Schauer überrieselte plötzlich Gottliebe; aber schnell, als könnte Malmort ihre geheimsten Gedanken ahnen, wandte sie sich ab, anscheinend aufs Gebirge drüben blickend.

So bemerkte sie nicht, wie Malmort plötzlich die Hand über die Augen legte und schärfer hinabblickte auf die Alm drunten.

»Da kommt doch jemand, ganz eilig, vom Schloß herauf?«

Auch Rehe beugte sich vor, und Gottliebe drehte sich gleichfalls wieder herum, wirklich, da bewegte sich ein Mensch auf dem Sennenpfad drunten, und jetzt, so schien's ihrem scharfen Auge, schwenkte er den Hut in der Rechten, um die Aufmerksamkeit der drei da oben auf sich zu lenken.

»Das gilt mir. Eine Bote ohne Zweifel, in dringlicher Sache. Aber was?«

Herr v. Malmort wandte sich, seine Schritte beschleunigend, bergab; die beiden Mädchen folgten ihm.

Auf halbem Wege trafen sie so den heraneilenden Mann. Malmort erkannte ihn schon von weitem: Ein Bauernsohn von drunten aus Sta. Maria, dem Postort, der gelegentlich Botengänge für die Post übernahm. Schon aus einiger Entfernung rief der Bursch, etwas in der Hand hochhaltend, ihm herüber:

»A Depesch'n!«

»Eine Depesche?«

Rehes Gesicht zeigte plötzlich einen erschreckten Ausdruck. Weltfern, wie sie mit dem Vater lebte, verband sich für sie mit dem Begriff des Telegramms unwillkürlich die Vorstellung einer Hiobspost. Im Fluge tauchten auch Erinnerungen an ferne Kindertage auf, wo die Ankunft solcher unscheinbaren Zettel – ganz unbegreiflich für ihr Kindergemüt – den Vater immer in tiefsten Schmerz oder hohe Aufregung versetzt hatte.

Aber das war doch nun alles schon so lange vorbei – was konnte denn jetzt nur sein, das so dringlich und wichtig war, daß der Bursch da die vier guten Wegstunden von Sta. Maria eigens heraufeilen mußte?

Ganz atemlos vom letzten anstrengenden Stück des Wegs bergauf stand nun der Bote beim Vater und wischte sich mit dem roten großen Sacktuch den Schweiß von der Stirn.

Malmort hatte indessen bereits die Depesche erbrochen und ihren Inhalt überflogen. Nun falteten seine Finger langsam das Papier wieder zusammen; aber er blieb unbeweglich stehen, das Haupt gesenkt und sah mit einem fast finsteren Ausdruck vor sich hin – so in Anspruch genommen von seinen Empfindungen, daß er des Boten und der Mädchen neben ihm vergaß.

Aber nur für einen Augenblick; dann raffte er sich zusammen, und seine Züge zeigten wieder die gewohnte Ruhe.

»'s gut, Pankraz! Bist brav heraufgesprungen. Nun pfleg dich aber auch gut im Wirtshaus in Thalwys. Hörst du?«

Und er reichte ihm ein Geldstück hin.

»Dank, Herr!« sagte der Bursch einfach, nahm das Geld ohne Ziererei und machte wieder kehrt.

Herr v. Malmort aber wandte sich jetzt seiner Tochter zu.

»Rehe – die Mutter kommt, ist schon unterwegs.

Das Telegramm kommt von Glurns. Also heute abend wird sie hier sein.«

»Die Mutter?«

Wie ein leiser Ruf des Schreckens kam es von Rehes Mund, und ganz fassungslos starrte sie mit großen, geängstigten Augen den Vater an.

Die Mutter! Auch Gottliebe fuhr unwillkürlich zusammen – die Mutter, die sie tot geglaubt, sie lebte noch! Ja, aber was war das dann alles hier? Warum lebten da Vater und Tochter ohne sie in dieser Einsamkeit, taten ihrer mit keinem Wort Erwähnung und erschraken jetzt beide vor ihrem Kommen wie vor etwas Furchtbarem? Was für ein düsteres Geheimnis barg das graue Gemäuer da drunten? Diese Gedanken jagten sich in ihr, wie sie nun mit ihren Begleitern gleichfalls talab schritt.

Malmort ahnte wohl, was für Gedanken den Gast beschäftigen mochten, denn er wandte sich nun an sie.

»Meine Frau« – es war, als ob das Wort ihm nur schwer über die Lippen wollte – »lebt ihrer Gesundheit, ihres Nervenzustandes wegen stets außerhalb, im milderen Klima. Sie ist daher leider nur ein Gast, ein sehr seltener Gast, in unserem Hause.«

Er vermied es aber, bei diesen Worten Gottliebe anzusehen; mit einem gezwungen ruhigen Ausdruck blickte er vor sich auf den Weg, und auch auf Rehes durchsichtig klarer Stirn lag eine Wolke; auch ihr Blick floh scheu die Freundin.

Gottliebe überfiel eine dunkle Traurigkeit, was hatte sich da mit einem Male zwischen sie drei gestellt, die eben noch so freundschaftlich vertraut zueinander waren? Unsichtbar, ein Nichts und doch so düster und schwer. Sie empfand es mit jenem Instinkt, mit dem Frauen blitzschnell, ahnungsvoll eine ganze Zukunft vorausschauen. Nun war das alles aus, was sich so schön angesponnen hatte! Der Schatten, den die Fremde da vorauswarf, er genügte bereits, sich erkältend auf die zarten Triebe zu legen, wie nun gar erst ihre wirkliche Anwesenheit? – Nein, das wollte sie gar nicht erst abwarten.

Und mit bitterem Gefühl im Innern, aber entschlossen, antwortete sie, ebenfalls ohne Malmort anzublicken:

»Wenn Ihre Frau Gemahlin nur so ein seltener Gast in Ihrem Hause ist, so will ich selbstverständlich nicht stören. Ich breche sofort auf.«

»Nein – nein!«

Heftig klammerte sich plötzlich Rehe an Gottliebes Arm, und ihre dunklen Augen flehten aufgeregt die Freundin an.

»Nein – bleiben Sie. Ich bitte Sie darum!« bat nun auch Malmort eindringlich, und auch aus seiner Stimme zitterte kaum vernehmbar, aber ihrem feinspürenden Empfinden nicht verborgen, eine geheime Bewegung.

Nun blickte sie zu ihm auf und begegnete seinem Blick. Ein stummes schweres Weh stand darin und ein so warmes Bitten. »Bleiben Sie!« bat er noch einmal. »Sie erweisen Rehe und mir,« leiser kam das Wort, »den größten Dienst.«

Da konnte sie nicht anders.

»Dann bleibe ich!« entschied sie sich, und ein warmes, glückliches Gefühl überkam sie trotz allen Wehs. Sie fühlte, sie sah ja: Sie konnte ihm wirklich einen Dienst erweisen mit ihrem Hiersein. Inwiefern? Sie übersah es noch nicht; aber ganz gleich, es war so. Da blieb sie, und sollte es ihr noch so hart ankommen.

»Dank, tausend Dank!«

Wie mit einem Gefühl der Erlösung schmiegte sich Rehe an den Arm der Freundin.

Von der anderen Seite her streckte sich ihr eine Manneshand hin, die nun ihre Linke preßte – wortlos.

So schritten die drei schweigend nach Schloß Malmort zurück.

* * *

»Da – der Wagen!«

Rehe wies, zusammenfahrend, auf ein Gefährt, das eben drunten auf dem Wiesenhang erschien, auf dem seit Jahr und Tag nicht mehr befahrenen Wege, der sich in Schlangenbiegungen heraufwand bis ans Kastell.

Sie standen hier zu dritt, die beiden Malmorts und Gottliebe, auf dem offenen Wehrgang hinter der Mauerkrönung und schauten so schon seit einer Weile hinaus nach der Erwarteten.

»Ja – sie ist's.«

Herr v. Malmort bestätigte es. Freilich, die Insassin des Wagens drunten war noch nicht zu erkennen; aber wer anders sollte hier im Wagen sich heraufverirren? Und wenn es noch wirklich eines Beweises bedurft hätte, der turmartige Aufbau hellgelb lackierter eleganter Koffer hinten auf dem Wagengestell und vorn beim Kutscher hätte ihm jeden Zweifel benommen. So reiste nur seine Frau. Selbst auf eine Almhütte am Gletscherrand – wenn je ihr Fuß sich in eine solche gesetzt hätte – hätte sie ihre Koffer hinaufschleppen lassen. Sie war ja nicht denkbar, einfach nicht lebensfähig, ohne jenen luxuriösen Komfort, den ihr dieses Reisegepäck ermöglichte.

Mit gerunzelter Stirn sah Malmort sich das Gefährt langsam heraufquälen. Der schwere Landauer mit dem unsinnig vielen Gepäck – wirklich eine Tierschinderei! Wenn sie es schon nicht empfand, aber der Kutscher hätte es wissen müssen. Daß der Kerl nicht mal wenigstens abstieg. Der hätte nicht von drunten sein dürfen, aus Thalwys oder Sta. Maria, er hätte den Burschen mit eiserner Faust geschüttelt, daß ihm Hören und Sehen vergangen wäre; mit der Herrenfaust der Malmorts, die auf ihrem Grund und Boden strenge Zucht hielten von altersher. Aber natürlich so ein fremder Kutscher – offenbar ein Saisonbediensteter irgendeines Hotels da draußen in Glurns oder Schluderns – was lag dem Patron an den armen Tieren? Ein paar Wochen später trieb er sich ja vielleicht schon wieder ganz wo anders herum.

Nun war der Wagen in die letzte Serpentine eingebogen, die zum Kastell hinführte, und jetzt beugte sich die Insassin aus dem Wagenschlag heraus. Die Personen zwischen den Mauerzinnen bemerkend, winkte sie jetzt lebhaft herauf und ließ einen hellen, heiteren Zuruf hören – auf französisch, wie es schien. Aber er weckte droben kein Echo. Mit einer schweren, gezwungenen Bewegung nur hob Rehe die Hand und erwiderte so mit mattem Winken den ersten Gruß der Mutter.

Herr v. Malmort war bewegungslos geblieben; nun aber wandte er sich ab und stieg langsam die Holzstufen des Aufgangs hinunter, der Ankommenden entgegenzugehen. Langsam folgte ihm Rehe mit Gottliebe nach.

Der Wagen hielt jetzt vorm Tor, und Herr v. Malmort öffnete den Schlag – wortlos, ohne willkommen.

»Bon jour, mon ami!« Die schlanke Frau in elegantem sandfarbenen, seidenen Reisemantel, entstieg graziös an seiner Hand dem Wagen und reichte ihm nun, den Schleier lüftend, die Wange zum Kuß hin.

»Wie ist's dir gegangen, Bester? Du siehst gut aus, immer noch gut,« sie musterte mit der Ungeniertheit eines naiven, verwöhnten Kindes seine Züge, Haar und Bart. »Nur hier die Krähenfüße!« Sie tippte lächelnd mit dem zierlichen Zeigefinger im zarten dänischen Handschuh auf die jetzt besonders scharf hervortretenden Falten um Augenwinkel und Nasenflügel. »Das solltest du dir abgewöhnen, mon cher. – Aber wo ist das Kind?«

Rehe war scheu, mit starren Blicken auf die Frau dort im Wagen, in der Türwölbung stehengeblieben. Bei den Worten der Mutter kam sie nun heran.

»Ah, te voilà! – Kind, du hast dich herausgemacht. Sieh doch nur, Wulfrin!« Sie fuhr zu dem Mann herum. »Die Kleine entwickelt sich ja zu einer regelrechten beauté, mais vraiement

Und in einem Anflug von mütterlichem Stolz schloß sie Rehe in die Arme. Die Tochter machte im ersten Moment unwillkürlich eine zurückweichende Bewegung; dann aber gab sie sich gehorsam der emphatischen Liebkosung hin, doch nur mit einem geheimen Erbeben.

Jetzt gab Frau v. Malmort die Tochter wieder frei. Noch einmal überflog sie, befriedigt nickend, deren Erscheinung.

»Famos, ganz famos! wenn ich denke, als ich dich das letztemal sah – es sind ja wohl zwei, nein, gar schon drei Jahre! – was für ein kleines Greuel warst du da! Nicht, Wulfrin?« Sie lachte hell auf, höchst amüsiert in der Erinnerung daran. »Schlenkrig, lang aufgeschossen, und Hände und Füße so –« sie beschrieb mit ihren zierlichen Händen einen tellergroßen Kreis in der Luft – »wie ein tapsiger, junger Jagdhund.«

Rehe stand stumm und unbeweglich, mit gesenkten Augen vor der Mutter; nun aber erschien eine feine Falte zwischen ihren klar gezeichneten Brauen, wie Frau v. Malmort glaubte, aus verletzter Eitelkeit.

»Nun laß, Kind! Kannst jetzt ja sehr zufrieden mit dir sein, wirklich äußerst!« versicherte sie, wohlwollend lächelnd ihr über die Wange fahrend. »Nur dein Anzug! Bon Dieu!« Ihr Blick glitt plötzlich chokiert an Rehes schlichtem Kleid herab.

»Horrible! Wo läßt du nur arbeiten? Ich glaube wahrhaftig beim Dorfschneider drunten in Thalwys, oder wie das gottverlassene Nest da unten sonst heißt, wie? – Na, da gibt's ja gleich was hier für mich zu tun. Doch gut, daß ich hier bin! Nicht, ma petite? Wenn's nach deinem Vater ginge, so ließe er dich ja wahrhaftig wie eine Vogelscheuche rumlaufen, ohne daß er's überhaupt merkt.«

Sie sagte es lachend, mit einer ganz harmlosen Lustigkeit, und sah dabei vergnügt von der Tochter zum Vater. Aber nun bemerkte sie doch die ernsten, starren Mienen der beiden, die da unbeweglich vor ihr standen.

»Aber mein Gott, was hab ich denn nun gleich wieder verbrochen, daß ihr steif wie die Stöcke dasteht, mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter? Ein schöner Empfang für eine Frau und Mutter nach drei langen Jahren!«

Ihr Ton wurde plötzlich schmollend und weinerlich.

»Dazu kommt man nun von Pontresina eigens herübergefahren, und läßt sich zwei Tage lang im Wagen durchrütteln, daß man wie zerschlagen ist!«

Wozu bist du überhaupt erst gekommen, hierher, wohin dich keiner rief, wo dich keiner begehrt! Malmort dachte es in tiefster Bitterkeit. Aber sie war, wie es auch stand, doch immer die Frau, die seinem Kinde da unter Schmerzen das Leben geschenkt hatte – das wollte er nicht vergessen. Und sie hatte ein Recht, hier zu sein.

So war denn sein Ton ernst aber mild, wie er ihr nun erwiderte und begütigend ihre Hand nahm:

»Du bist müde von der langen Fahrt, natürlich. Komm herein, daß du dich ausruhst.«

Und er führte sie nun ins Schloß.

In der Halle, wo Anselm und die alte Magd die Herrin mit einem Handkuß begrüßten, stand weiter zurück auch Gottliebe, sich leicht verneigend. Wie Frau v. Malmort ihrer ansichtig wurde, stutzte sie unwillkürlich und nahm die Lorgnette ans Auge. Ah, was war denn das für eine neue Erscheinung – überraschend modern und Weltdame für diese Entourage! Denn die Person da war ja doch wohl Rehes Gouvernante.

»Bon jour, Demoiselle

Ehe noch Malmort die Vorstellung ausführen konnte, sagte sie es schon, und mit herablassender Freundlichkeit nickte sie im Vorbeigehen dem vermeintlichen Fräulein zu.

Ein leises Rot schoß in Gottliebes Wangen, und Malmort zuckte zusammen.

»Pardon, mein gnädiges Fräulein!« Zum erstenmal gebrauchte er die formelle Anrede Gottliebe gegenüber, und zwar mit einem besonderen Nachdruck. »Erlauben Sie, daß ich Sie mit meiner Frau bekannt mache? – Fräulein Rhyngaert, ein lieber Gast unseres Hauses – eine Freundin unserer Rehe.«

»Ah!«

Höchstlich überrascht griff Ninon Malmort noch einmal zur Lorgnette. Eine Freundin der Kleinen, des Kindes da, war diese Dame, die doch fast doppelt so alt wie Rehe war? Sonderbar, dies merkwürdige Freundschaftsverhältnis!

Mit leis ungläubigem Lächeln musterte sie Gottliebes Züge, mit einer Ungeniertheit, die dieser einen Ausdruck unverhüllten Unmuts auf die Stirn trieb und in Wulfrin Malmorts Augen ein Wetterleuchten aufblitzen ließ. Er schämte sich für seine Frau; aber seine Lippen preßten sich fest aufeinander.

»Freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, mit einer nachlässigen, leichten Bewegung streckte Frau v. Malmort nun Gottliebe die Fingerspitzen hin, die diese nur mit äußerstem Zwange flüchtig berührte.

»Sie sind Deutsche – nicht?« Ihr Blick streifte dabei Gottliebes einfache Bluse und den Touristenrock.

Nur ein stummes Kopfneigen war die Antwort Gottliebes, zu der jetzt Rehe, sich zärtlich anschmiegend, trat, als wolle sie die Taktlosigkeit der Mutter eben gut machen.

Frau v. Malmort bemerkte es wohl, und ein mokanter Zug erschien um ihren reizenden Mund.

»So sind Sie wohl schon lange mit Rehe befreundet?« forschte sie.

»Wir kennen uns erst seit vier Tagen.«

»Tiens! Das ist ja schnell gegangen!«

Leise lachte die schöne Frau auf; aber aus der glockenhellen Stimme klang unverkennbar der Spott.

Da traf sie ein Blick Gottliebes, scharf, durchdringend und kalt, ein Blick voll einer überlegenen Geringschätzung. Unwillkürlich wandte da Frau von Malmort die Augen fort. So etwas war ihr immer fatal. Im regelrechten Frauenkampf – in boshaften, eleganten Sticheleien unter liebenswürdigem Lächeln – war sie Meisterin; aber wenn ihr einer entgegentrat, der mit kalter Gelassenheit zufaßte, da war sie entwaffnet. Solch plumpem Drauflosgehen – wie sie es bei sich nannte – war ihre zierliche Geschmeidigkeit nicht gewachsen. Schnell wandte sie sich daher jetzt dem Gatten zu.

»Aber gehn wir nun! Ich habe einen guten Appetit bekommen von der langen Fahrt. Hoffentlich hat eure alte Bärbe recht was Gutes in Bereitschaft.«

Und mit leichten Schritten eilte sie seideknisternd die Treppe zum ersten Stock empor.

* * *

Gottliebe saß allein in dem Gastzimmer. Sie hatte sich alsbald nach dem gemeinschaftlichen Abendessen zurückgezogen. Nun saß sie hier in der Dunkelheit am Fenster und hing ihren Gedanken nach.

Trüben, wehmutsvollen Gedanken!

Es war ja nun gekommen, wie sie es geahnt hatte gleich heute morgen bei der Ankunft der Depesche. Die schöne Harmonie zwischen ihnen allen war gestört. An ihre Stelle eine gezwungene Konversation, ein ängstliches Sichzurückhalten – keiner sagte mehr, was er dachte.

Was sollte das? Wozu blieb sie denn noch? Sie an ihrem Teil brauchte doch wenigstens diese traurige Komödie nicht mitzuspielen.

Wenn sie wenigstens wirklich Rehe oder ihrem Vater mit dem Opfer ihres Bleibens hätte nützen können! Aber wie sollte sie das? Ihr war ja als Gast dieses Hauses der Mund einfach verbunden gegenüber dieser Frau, hinter deren bestrickendem Lächeln so viel Bosheit lauerte.

Armer Malmort! Was mußte er leiden unter dieser Frau! Gerade er, der vornehme, ernste, gütige Mann.

Wie hatten sich diese zwei so grundsätzlich verschiedenen Naturen nur jemals finden können? Und wenn nun doch – warum tat er nicht den einzigen Schritt, der ihn befreien konnte von dem Unheil seines Lebens? Was trennte er sich nicht von dieser Frau, die seiner so wenig wert war, die ihm ja nichts mehr galt, ja die selbst ihrem eigenen Kinde eine völlig Fremde geworden war?

Dunkle Rätsel – wer gab ihr die Lösung?

So starrte Gottliebe, immer tiefer in ihre Gedanken versinkend, vor sich hin. Sie achtete nicht darauf, daß drüben die Lichter im Hauptbau des Schlosses allmählich verloschen und es ganz finster um sie wurde.

Da plötzlich ein leises Pochen an ihrer Tür!

Auf ihren Zuruf huschte es leicht herein, sie sah nichts, aber sie wußte, wer.

»Rehe?«

Statt jeder Antwort ein leises Aufschluchzen, und im nächsten Augenblick hielt sie das Mädchen, das fassungslos vor sich hinweinte, in ihren Armen.

Gottliebe ließ sie eine Weile ruhig so gewähren; dann zog sie die Schmerzerschütterte zu sich auf einen Diwan.

»Sprich dich aus, meine Rehe, erleichtere dir dein Herz. Du weißt ja, ich verstehe alles und ich habe dich lieb, so lieb, meine arme, kleine Rehe!«

Da umschlang das Mädchen sie und klagte verzweifelt:

»Mich zerreißt so ein furchtbarer Zwiespalt! Du kennst ja nun meine Mutter und wirst verstehen, wie es bei uns ist, daß mein Vater und ich die unglücklichsten Menschen sind – durch sie!«

»Ach, es ist ja so entsetzlich! Seine Mutter bei Lebzeiten zu verlieren, nein, sie überhaupt niemals besessen zu haben! Seit ich denken kann, war es so wie jetzt. Die Mutter auf Reisen irgendwo draußen in der Welt, und mein armer Vater einsam hier mit mir. Ein verbitterter, freudloser Mann, ein menschenscheuer Einsiedler.«

»Und das alles nur durch sie! Früher ist er ganz anders gewesen, von unserm alten Anselm und der Bärbe weiß ich es. Frisch und froh war er da und gern in heiterer Gesellschaft. Er hatte viel Freunde, namentlich unter jungen Künstlern, mit denen er lange in Italien zusammengelebt hatte. Die waren dann nachher oft hier bei ihm zu Gast – das sollen herrliche Tage hier auf Malmort gewesen sein!

Aber alles das war dann vorbei mit der Heirat. Meine Mutter hat ihren Mann, statt ihn glücklich zu machen, fast zugrunde gerichtet. Er ist ja jetzt nur noch ein Schatten von sich selbst. Und sie ahnt es nicht einmal, was sie ihm angerichtet hat. Lächelnd kommt und geht sie, wenn die Laune – Sehnsucht nach mir, wie sie sagt! – sie einmal nach jahrelanger Frist wieder hertreibt, als ob nichts gewesen sei. – O, wie ich sie hasse, wie ich sie verachte!!«

In einem leidenschaftlichen Ausbruch ballte Rehe, krampfhaft am ganzen Körper bebend, die zarten Hände.

»Nicht doch, nicht!«

Erschrocken über die furchtbaren Worte, hielt ihr Gottliebe die Hand auf den zuckenden Mund.

Wieder machte die leidenschaftliche Erregung einem völligen inneren Zusammenbrechen bei dem armen Geschöpf Platz. Schluchzend und weinend lag sie nun, wie aufgelöst, in den Armen der Freundin.

Dann richtete sie sich wieder auf.

»Siehst du, das ist es ja gerade, was mich so martert im Innersten – dieser entsetzliche Zwiespalt: Ich kann meine Mutter nicht achten und lieben – und ich soll sie doch lieben und ehren; die Natur, die Religion fordert es, es ist das heiligste aller Gebote. Wie verworfen bin ich, daß ich gegen dieses Gebot verstoße! Wie soll mir Gott jemals solche Todsünde verzeihen?«

In zitternder Pein bebte alles an dem jungen Leibe.

Erschüttert schwieg Gottliebe eine Weile, nur liebevoll beruhigend das tränenfeuchte Antlitz an ihrer Brust streichelnd, was sollte sie der Ärmsten erwidern? Endlich fand sie aber die rechten Worte.

»Du hast recht, Rehe!« Sehr ernst sprach sie es. »Das heiligste aller Gebote ist das: du sollst deine Mutter lieben und ehren; die Mutter, die mit Einsatz ihres Lebens dir das deine geschenkt hat. Darum mußt du deine Mutter mit anderen Augen betrachten als bisher, was deine Mutter auch an deinem Vater gefehlt hat, du bist nicht berufen, es zu richten.«

Rehe zuckte leise zusammen, und mit dem Gefühl, daß sich ihr mit diesem Wort plötzlich ein nie geahnter Lichtschimmer, ein Ausweg aus dem Wirrsal ihrer Empfindungen böte, lauschte sie weiter den Worten der Beraterin.

»Lerne deine Mutter als eine arme, schwache Frau betrachten, der das Schicksal die schöne Charakterfestigkeit, all die herrlichen inneren Gaben deines Vaters versagt hat. So glänzend sie erscheint mit ihrer blendenden Schönheit, so arm ist sie im Innern, was hat sie, das ihr das Herz warm, das sie wirklich zufrieden macht? Eine innere Unruhe, ein ewiges Sehnen nach Neuem, nach Genüssen treibt sie unstet umher; sie ist im Grunde nur ein bedauernswerter Sklave ihrer Triebe, für die sie doch nichts kann, die die Natur in sie hineingelegt hat, ohne ihr das Gegengewicht eines festen, sittlichen Willens zu geben.

Sie ist also, sie muß so sein, wie sie ist. Darum, Rehe, richte du nicht über sie! Sei im Gegenteil freundlich und milde zu ihr, suche das Gute, das doch auch irgendwo in ihr steckt – kein Mensch ist ja ganz schlecht – zu wecken, zu stärken mit deiner Kindesliebe – werde du, die Starke, die Gute, die Führerin deiner blinden Mutter auf dem Wege zum Bessern! Das, meine Rehe, muß fortab deine Aufgabe sein. Nimm sie ernst und groß, so wird der Zwiespalt in deiner Seele schwinden. Und solltest du dich wirklich vergebens mühen, so wirst du still sein im Bewußtsein, voll getan zu haben, was deine Pflicht war.«

Rehe antwortete nicht gleich.

»Sag, Kind, hab ich denn nicht recht? Fühlst du es nicht auch?«

Zärtlich besorgt, wie eine Mutter zu ihrem Kinde, beugte sich Gottliebe zu ihr nieder. Da fühlte sie plötzlich brennende Küsse auf ihrer Hand.

»Bleib bei mir, Gottliebe – immer, immer! daß ich gut werde wie du!«

* * *

»Sehn Sie, da! – jetzt lugt der Gipfel durch – da haben Sie den ›Garten der Saligen‹«.

Malmort wies auf einen wildgezackten, mit silberigem Firngeäder durchzogenen Felsenkamm, der durch den Einschnitt in den Vorbergen plötzlich hoch oben vor ihnen sichtbar wurde.

Gottliebe musterte die kühnen Bergzinnen mit aufleuchtendem Blick. Ein doppeltes Interesse boten sie ja für sie. Dort droben hin verlegte ja die Volkssage das Reich der »Saligen Fräulein«, der geisterhaften Bergfrauen, deren eine die Stammutter des Geschlechts Malmort geworden sein sollte. Aber noch mehr reizten sie die wilden Schroffen als Bergsteigerin.

Waren sie doch ihr Wanderziel und hatte sie doch von Malmort gehört, daß der »jardiz delle domnizelle«, der »Garten der Saligen«, eine Tour ersten Ranges sein sollte, obwohl seiner Lage wegen in dem unerschlossenen Bergwinkel hier in Alpinistenkreisen noch kaum bekannt. Aber der Aufstieg, besonders über die schwindelnde Südwand, die »Diavolezza«, sollte ganz seinen Mann fordern.

Schweigend, doch mit beschleunigtem Herzschlag, in prickelnder, kühner Erwartung des kommenden Kampfes, grüßte Gottliebes Auge die Hochburg, die es zu nehmen galt.

»Es ist keine leichte Arbeit.«

Noch einmal überflog Malmort mit ernstem Blick die schlanke Gestalt der Begleiterin, gleich ihm in voller Bergausrüstung, in Beinkleid und Gamaschen, wie forschend, ob sie auch wirklich dem Kampfe gewachsen sein mochte. Aber sie sah ihn fest an:

»Sie können sich auf mich verlassen wie auf einen Mann.«

Ihre Blicke trafen sich einen Moment.

»Dann vorwärts!«

Mit einem frohen Schein im ernsten Antlitz nickte er ihr zu, und eifrig stiegen sie die Geröllhalde hinauf, die es zunächst zu passieren galt.

Nun war es also doch noch zu der verabredeten Hochtour gekommen. Frau v. Malmort hatte darauf bestanden, mit ihrer Tochter nach Glurns zu fahren, wo während der Saison eine Modistin aus Mailand ein Schneider-Atelier unterhielt. Dort wollte sie Rehe wenigstens »einigermaßen« einkleiden lassen, denn sie könne das arme Ding gar nicht so »verwahrlost« herumlaufen sehen. Und Rehe hatte, ihren neuen Vorsätzen getreu, sich gehorsam den Wünschen der Mutter gefügt.

Diese Zeit des Alleinseins nun wollten Malmort und Gottliebe zu einer Bergtour ausnützen. Es war namentlich ihm ein tiefstes Bedürfnis, seine durch die Ankunft der Frau wieder von neuem aufgestörte Seele in der großen Bergeinsamkeit zur Ruhe zu bringen.

Die beiden sprachen nicht viel miteinander, während sie jetzt anstiegen; aber dennoch tat jedem die Nähe des andern im Innersten wohl.

Ein herrliches Wandern so zu zweit, in stillem Sichverstehen und Miteinandergenießen!

Durch die grüne Dämmerung von Tannen und Lärchen waren sie so hinaufgestiegen, durch geheimnisvoll dunkle Waldhallen mit phantastisch wehendem silbergrauen Flechtenbehang an Ast und Stamm. Dann durch die ernste Region der Arven bis hinauf zur Grenze des Waldes, wo die sturmgezausten Wetterbäume, kahl von Nadeln, ihre schwarzen, sehnigen Arme ausstreckten, krumm vom ewigen Kampf mit den brausenden Winden. Und noch höher hinauf, wo nur die Legföhre noch über den Boden kriecht, hinaus auf die offenen, sonnengeküßten Alpenweiden mit ihrem saftig grünen Rasenteppich.

Dann plötzlich ein schroffer Übergang aus blühendem Leben in starre Felsenwildnisse, hinauf in einer engen und langen Schlucht, tief drunten in lichtlosem Schlunde eine brausende und gurgelnde Ache, den Wanderern unsichtbar; nur ihr Tosen klang dumpf herauf an ihr Ohr. Dann mußten sie sich in einer alten Gletschermoräne durch Blöcke und Schutt mühsam emporarbeiten. Nun wieder galt es, sie zu überschreiten und nach rechts hinauf, über glatte Felsplatten, den weiteren Weg zu gewinnen. Es war eine mühsame Arbeit, und noch schwieriger als die Überwindung der Platten war die der stellenweis aufgesetzten, schlüpfrigen Rasenhänge, auf denen selbst der nägelbeschlagene Schuh nur allzu leicht glitt. Aber mit einer Energie, die kein Ermüden kannte, blieb Gottliebe dem großen, weit ausschreitenden Manne zur Seite.

»Brav, Kamerad!« nickte er zu ihr hin. »Es wird übrigens bald besser.«

Malmort hatte recht. Sie kamen nun auf einen langgestreckten, mäßig geneigten Hang mit Moos und Alpenrosengebüsch überwuchert. Eine kurze Rast hier, und dann ging es weiter, hinein in die Wildnis öder Kare, sonnendurchglühter Felsmulden, deren scharfe, ausgezackte graugelbe Wände gegen den dunkel tiefblauen Äther standen. An ihren sonnengebleichten Felsenflanken war alles Leben verdorrt; nur zwischen ihren Rippen schimmerten schmale, verlorene Firnstreifen und Gletscherzungen, jene in blendendem Weiß, diese in meergrüner Glasur, im flimmernden, sengenden Sonnenlicht schillernd.

In einer dieser Rinnen galt es jetzt hinaufzudringen zum Gletscher selbst.

»Hier!« Malmort blieb stehen und deutete auf das lang sich hinaufziehende Couloir. »Wir müssen die Steigeisen anlegen.«

Eifrig ging Gottliebe ans Werk.

Er neigte sich hilfsbereit zu ihr nieder, aber sie wehrte entschieden ab:

»Danke vielmals! Bitte absolute Selbständigkeit für mich. Galanterie in den Bergen finde ich, offen gesagt, beinahe lächerlich!«

»Ganz meine Auffassung,« pflichtete er ohne jedes Verletztsein bei, schon selber niederkniend und die Eisen anschnallend. »Sie werden sich, nun wo ich Ihren Standpunkt kenne, auch sicherlich nicht über mich zu beklagen haben.«

Lächelnd sah er zu ihr hin, die, schon fertig, wieder aufsprang. Ihre Wangen erstrahlten vor Eifer, nun, wo der Ernst der Sache begann, sich ihm ebenbürtig zu zeigen.

»Wir werden doch wohl am Seil gehen?« fragte sie nach einem prüfenden Blick in die Rinne, denn gerade gleich der Eintritt kündete nicht geringe Schwierigkeiten an.

»Selbstverständlich,« nickte er. »Es ist eine der unangenehmsten Stellen hier. Das Couloir ist ein berüchtigter Lawinenweg. Indessen ich denke, wir haben heute nichts zu befürchten.«

Ordentlich fiebrig vor Kampfbegier nestelten ihre Hände am Seil, das sie sich um die Hüften schlang. Mit Ruhe und Sorgfalt seilte Malmort sich dann selbst an und trat voran, den Pickel in der Rechten, wenige Schritte über den Firn hin, dann galt es, an dem glatten, sich wölbenden Eisüberhang hinauf in das Couloir selbst zu kommen.

Mit klingenden Streichen schlug seine Eisaxt Stufen und Griffe in das spröde, glasharte, zur Seite spritzende Eis. So! Nun war es geschehen, und mit wenigen festen, gewandten Bewegungen stand er droben, die Eisen fest in das Eis gebohrt. Aufmerksam verfolgte er Gottliebes Nachkommen, mit geheimer Freude, wie sie zugriff und sich elastisch heraufarbeitete, Fuß und Hand mit gleicher Sicherheit einsetzend – das war eine wahre Lust zu sehen.

Weiter ging es nun die Rinne hinauf, Malmort zunächst allein, während Gottliebe, ihren Pickel tief in den Eisboden getrieben, unten am Eingang harrte, das Seil zur größeren Sicherheit für den vorangehenden Gefährten mehrfach um den Axtstiel schlingend. Sollte wirklich etwa eine Lawine niedergehen, so war wenigstens eine gewisse Sicherheit für ihn geboten: Er vermochte sich schneller zurückzuflüchten und es konnte ihn, im Notfall, auch nicht zu weit hinabreißen. Sie selbst war ja weniger gefährdet; sie stand im Schutz eines Felsvorsprungs, der sie wohl gedeckt hätte.

Mit angehaltenem Atem stand Gottliebe so und lauschte nach dem voraufgegangenen Gefährten hin, in jenem Gefühl nervenkitzelnder, höchster Spannung. Sie konnte Malmort von ihrem gedeckten Platz aus nicht sehen. So hörte sie nur den regelmäßigen Schlag seiner Eisaxt, deren metallischer Klang in das tiefe, ernste Schweigen der Bergwildnis um sie her klang. Bei jedem dieser scharfen Schläge stockte ihr jedesmal unwillkürlich leise das Herz in gespannter Erwartung: Ob die Erschütterung der Eisrinne nicht droben die Decke gefrorenen Neuschnees lösen würde, die sich während der letzten Regentage drunten im Tal hier sicher gebildet hatte!

Ein nervenspannendes, langes Warten; aber alles blieb Gott sei Dank still. Nichts von jenem leisen Rieseln, das die heimtückischen ersten Schneebrocken herabgleitend hervorrufen, die Anzeichen der bald darauf donnernd niedergehenden Lawine.

Aber nun ein Ruck – das Seil war abgelaufen.

An ihr selbst war es jetzt, sich in die Gefahr zu begeben.

Ohne Zögern trat Gottliebe in die Rinne ein. Um sich selbst kannte sie keine Furcht. Mit fester Hand packte sie jetzt ihren Pickel, um Stufen und Griffen, wo nötig, nachzubessern. So arbeitete sie sich aufwärts, bis zu Malmorts Standpunkt hin; in wenigen Minuten war sie bei ihm. Dann noch einmal dasselbe Warten und Nachkommen, und nun waren sie am oberen Ende des Couloirs angelangt.

Hochaufatmend trat Gottliebe zu ihm, der bereits draußen im Freien stand; die erste Gefahr des Aufstiegs war glücklich überwunden.

»Sie sind schnell nachgekommen,« lobte er, »aber lassen Sie sich ja Zeit; übernehmen Sie sich ja nicht.«

Er bat es mit warmer Besorgtheit, nach einem flüchtigen Blick auf ihre etwas lebhaft arbeitende Brust, die sich unter der Wollbluse hob und senkte.

Aber sie lachte ihn fröhlich an.

»Sie unterschätzen mich wirklich. Nun, Sie werden schon noch sehen, was ich leisten kann.«

»Also keine Pause?«

»Meinetwegen sicher nicht!«

»Gut – weiter denn!«

Über einen sanft abgedachten Firnhang ging es dem Gletscher zu, der sich, wild zerborsten, in einer gewaltigen Breite vor ihnen auftürmte, die ein Umgehen verbot.

Wie ein in wilder Brandung plötzlich erstarrtes Meer standen dräuend die hoch aufgetürmten, dämonisch zerfetzten Eismassen in grauenhafter, gigantischer Schönheit vor ihnen – ein Gewirr von Schlüften, Spalten und Séracs.

Der »Garten der Saligen«!

Nun verstand Gottliebe die Bezeichnung des Orts durch den Volksmund. Freilich nicht wie ein Garten der Berggeister, aber wie eine Zauberstadt erschien ihr dies Gewirr sonnendurchleuchteter, bläulich-grün glitzernder Eispaläste voller Türme, Zinnen und kühner Bögen – wirklich wie gebaut von Geisterhand.

An Vineta mußte sie plötzlich denken, die meerversunkene! Hier war eine eiserstarrte Stadt vor ihren Augen, eine Märchen- und Geisterstadt voll lockenden Zaubers, voll schauerlicher Geheimnisse in den dunklen, gähnenden Tiefen klaffender Schlünde, über die sich die zierlich spielenden, sonnenglitzernden, lichtblauen Eisbrücken schwangen.

Wie sich diese Zauberpaläste in bizarren, zackigen Linien, wie sie keine Menschenphantasie erfinden konnte, haushoch vor ihnen auftürmten und im Sonnenschein aufleuchteten, gleißende Strahlen schießend im herrlichsten Grün und Blau, ein brennendes Farbenspiel, wie von Geisterhänden entzündet.

In verzücktem Staunen stand Gottliebe neben Malmort. Aber dann die Frage: Wie sollte sich ein Menschenfuß durch diese Geisterstadt, dieses Labyrinth von starren Eismauern finden?

Doch ihr Führer kannte genau den Weg. Bald überschritten sie so schwindelnde Klüfte auf fußbreiten Schneebrücken, bald hieß es tief in einen Schlund hineinsteigen, rings umdroht von überhängenden, wild zerborstenen Eistürmen, absturzbereit. Dann wieder galt es, solche steil sich vorlegenden, hohen Gletschertürme und ‑wände auf schneidend schmalem Grade zu überklettern, jeden Schritt vorwärts erkämpft mit einem wuchtigen Axtschlag, mit Anspannung aller Muskeln im Klettern und Einbohren des Fußes.

Nach einstündiger schwerer Arbeit standen die beiden endlich wieder luftschöpfend still. Der Eisgürtel war überwunden, der sich ringsum trotzig um das eigentliche Bergmassiv des »Gartens der Saligen« lagerte.

Auf ihren Rucksäcken ließen sie sich nun zu einer kurzen Rast nieder; galt es doch, neue Kräfte zu sammeln für den letzten und schwersten Teil des Ansturms auf die Zinnen da droben, deren Anblick ihnen jetzt durch vorgelagerte Türme und Kämme entzogen war.

Wenige Schritte vor ihnen bog sich die Bergflanke scharf nach Süden, und dort stieg die gefürchtete Wand empor, deren Bezwingung nur wenigen beherzten Männern erst gelungen war. Nun sollte Gottliebe als erste Frau an das verwegene Werk gehen, wie würde sie dabei bestehen vor seinen Augen? Nur das setzte ihr Herz in schnellern Takt, während sie so neben Malmort saß und seinen Erzählungen von den früheren Besteigungen lauschte. Er selbst hatte die Wand schon zweimal gemeistert; das erste Mal mit einem Begleiter, einem Gemsenjäger aus Thalwys, das zweite Mal allein. Nun sollte sie die erste sein, die er würdigte, mit ihm, unter seiner Führung, das ernste Wagnis zu bestehen. Kaum konnte sie daher den Augenblick erwarten, wo er wieder das Zeichen zum Aufbruch gab.

Elastisch flog sie empor, Wickel und Rucksack wurde diesmal nicht wieder aufgenommen. Sie blieben zurück, um sie nicht unnütz zu beschweren; denn die bevorstehende Kletterei im Fels machte jedes Mehrgewicht von Bedeutung. Nur die Kletterschuhe wurden angelegt und das Seil mitgenommen.

Wenige Schritte nur noch auf dem First des plötzlich steil abfallenden Firnhangs; dann bog in scharfer Kante die Felsmauer zur Rechten herum, und ein Ausruf halb verzückten Staunens, halb fröstelnden Grauens kam von Gottliebes Munde.

Da war die Wand – die Diavolezza!

Abgrundtief, fast senkrecht, fiel sie nach unten und stieg sie nach oben, so himmelan, daß Gottliebe den Kopf weit in den Nacken zurückwerfen mußte, um hinaufschauen zu können.

Eine furchtbare, grauschwarze gigantische Mauer, wahrhaft wie von Höllengeistern aufgerichtet, noch schauerlicher jetzt gerade durch den Schatten einer riesigen Wolke, der sie mit blauen, düsteren Tinten übergoß.

Auf den ersten Blick bot diese grauenerregende, sich himmelantürmende Wand auch nicht einen Zoll breit Raum für den Tritt eines lebenden Wesens. Und angesichts dieser erbarmungslos starren, einen fast lähmenden Schrecken einflößenden Unnahbarkeit ihnen zu Häupten, zu ihren Füßen eine gähnende Hölle der Vernichtung, die dämonisch, schwindelerregend den Vermessenen zu sich hinabzog. An die tausend Fuß tief stürzte der Berg noch weiter hinab in eine Schlucht mit gigantischen Blöcken und Felsgetrümmer wüst besät – im Laufe der Jahrtausende von der Wand im Donnerkrachen herniedergefahren.

So zwischen der schwindelnden Tiefe und Höhe auf schmalem First klebend, der unmittelbar vor ihnen jäh abschnitt, schauten die zwei hinaus, beide stumm, aber Gottliebe mit leis pochendem Herzen. War es denn wirklich möglich, an dieser Riesenmauer hinaufzukommen, wo nur der fittichschlagende Aar sich halten konnte, um seinen Horst im Felsenriß zu bauen.

Aber nur einen Augenblick überwältigte sie der Gedanke des anscheinend Unmöglichen. Dann begann sie mit festem Blick die Wand in ihren Einzelheiten durchzugehen, und sieh – alsbald verlor sie für sie ihre Schrecken. Gewaltige Risse durchfurchten sie, die Kanten abgebröckelten Gesteins boten Hand und Fuß doch die Möglichkeit, sich saugend festzukleben an dem starren Fels.

So ging es denn ans Werk.

Ein schmales Band leitete, nur einen halben Fuß breit, hinüber zur Wand; es zog sich dort, vielfach zwar unterbrochen durch Längsrisse, schräg hinauf, so eine zwar stark exponierte, aber für kaltblütige Steiger doch gangbare erste Wegstrecke bildend.

Malmort trat zuerst hinaus auf den gefährlichen Pfad. Schräggestellt, die rechte Schulter an die Felswand gepreßt, begann er auf dem schmalen Felssims entlang zu schreiten. Bewundernd blickte Gottliebe ihm nach, wie Auge, Hand und Fuß aufeinander eingearbeitet waren und mit der Präzision einer Maschine gleichzeitig funktionierten. Kein Zaudern und Versuchen. Wo das scharf und doch blitzschnell prüfende Auge den Tritt und Griff erkannt, da faßten im selben Moment auch schon Hand und Fuß mit stählernem Griff zu. Ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit überkam einen, wenn man ihn so selbstsicher, Herr des Berges, auf dem schwindelnden Felsstreifen dahinschreiten sah.

So folgte denn auch Gottliebe, nun ganz wie er in Anspruch genommen von der schwierigen Aufgabe, die alle Geistes- und Körperkraft voll anspannte. Da war jetzt gar keine Zeit, über die Gefahr der Lage nachzudenken, und wenn überhaupt noch für ein Gefühl Raum war in ihrer Seele, so war es das eines frohen Stolzes auf ihre Kraft und ihren Mut, die sie hier festen Fußes zwischen Himmel und Erde dahinschreiten ließen.

So ging es langsam, aber ein gut Stück bergan. Plötzlich aber versagte der Weg – das Band verlor sich am Felsen.

Unwillkürlich zum Halt gezwungen, fest an die Wand zur Rechten geklebt, mußte Gottliebe denken: Wie den gewöhnlichen Sterblichen da drunten wohl zumute gewesen wäre in dieser Situation? Das Bild der verzärtelten Modedame, der Frau v. Malmort, die sie so hochmütig über die Schulter angesehen hatte, stieg unwillkürlich vor ihr auf. Hier! – rief sie ihr im Geist stolz zu – hier laß uns messen miteinander, wer der stärkere von uns beiden ist, wer das Recht hätte, auf den anderen herabzusehen! wer wirklich das Recht hätte, sich diesem Manne als ebenbürtige Gefährtin zu gesellen – du oder ich!

»Nun – wie weiter?«

Lächelnd sah Malmort von vorn zu ihr her. Es reizte ihn, zu sehen, wie sie diese Situation ertrug.

Aber ruhig begegnete ihm ihr Blick und studierte dann die Wand vor und über ihr.

»Hier den Fels hinauf – Griffe sind da – dann im Kamm droben hoch.«

»Bravo, bravo!«

Laut rief er es ihr zu.

»Ich glaube wahrhaftig, Sie können auch allein hinauf, ohne mich!«

Sein Blick traf sie in freudigem Stolze.

»Es ist ja eine Freude, mit Ihnen zu gehen, eine Herzensfreude, Fräulein Gottliebe! Könnten Sie mich doch immer begleiten.«

Zum erstenmal sah sie aus dem sonst stets so ernsten Antlitz eine helle, lachende Freude strahlen. Das machte sie so glücklich! Und zum ersten Male hatte er sie, wie seine Tochter es tat, vertraulich mit dem Vornamen genannt.

Wie sonderbar klang ihr das im Ohr. Es war ihr, als habe sie eben ihren Namen zum allererstenmal gehört. Gottliebe – sie hatte den Namen bisher immer so altfränkisch, bigott gefunden; nun aber schien er ihr mit einem Mal gar nicht mehr häßlich. Im Gegenteil! Und plötzlich schoß es ihr durch den Kopf: Der Name paßte in seiner altertümlichen Art sogar recht gut zu ihm, zu der ganzen, vergangenheitsumwitterten Umgebung in Malmort drunten, und es würde gar nicht schlecht geklungen haben: Gottliebe v. Malmort – viel besser, würdevoller und ernster als Ninon v. Malmort, wo etwas so Kapriziöses, Leichtfertiges mitschwirrte.

Aber im nächsten Augenblick schüttelte sie unwillig diese Gedanken ab. Wie albern, wie kindisch! Und mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte sie Malmorts Bewegungen, der sich bereits am Fels hinaufwand. Den Körper dicht an die Wand gepreßt, zog er sich mit elastischen, ruckweisen Bewegungen empor. Aber nun ein Halt!

Überhängendes Gestein über ihm benahm ihm die Möglichkeit weiterer Griffe. Ein kurzes Überlegen, dann warf er die freie Hälfte seines Seils um den Felszacken über sich, eine Schlinge in das herabhängende Ende gemacht, den Fuß wie in einen Steigbügel hineingesetzt, und dann zog er sich selbst bis zu dem Felsvorsprung hinauf, auf den er sich nun mit einem Ruck schwang.

So – glücklich oben!

»Nun nur auch herauf! Aber Sie brauchen den Fahrstuhl nicht – ich schaff's so!«

Und mit gewaltiger Kraft hielt er ihr das straffgespannte Seil, an dem sie nun, wie in der Turnstunde, regelrecht hinaufklomm.

»Sie klettern ja wie ein Bube!«

Lachend half er ihr ganz auf die kleine Plattform – sie bot gerade zweien Raum – herauf. Indem er ihr dabei den Arm nachhelfend um die Schultern legte, berührte seine Rechte, ohne es zu wollen, ihre von der Anstrengung wogende Frauenbrust unter der leichten Wollbluse. Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag.

Malmort fühlte das Zittern, das ihren Leib durchfuhr, aber er ahnte seine wahre Ursache nicht. Er glaubte vielmehr an einen augenblicklichen Anfall von Schwäche.

»Oh – ich mute Ihnen aber doch zu viel zu?«

Zärtlich besorgt hielt sie noch immer sein Arm, und sein bärtiges Antlitz beugte sich dicht über sie.

Einen Moment litt sie mit geschlossenen Augen, von einem süßen, nie geahnten Schauer durchrieselt, diese Berührung; es war wirklich eine augenblickliche Schwäche über sie gekommen – aber nicht durch die Anstrengung, nein, erst jetzt durch dies Umfangen, durch das Fühlen seines Leibes, so dicht, so nah, daß sein warmer Atem sie im Gesicht streifte.

Aber nun warf sie sich fast heftig wieder empor, einen Zug von Unwillen über sich selbst im Gesicht.

»Es ist nichts. Entschuldigen Sie nur! Ich bin wieder ganz au fait. Und nun – bitte weiter!«

Er sah sie ein wenig verwundert an – wieder jener stille, prüfende Blick, vor dem sie unwillkürlich das Auge wegwandte – dann aber wandte er sich schweigend wieder dem Angriff auf den Berg zu, der sich nun in dem lang hinaufsteigenden Kamin wesentlich leichter gestaltete.

Eine letzte große Schwierigkeit stellte sich dann nachher noch einmal den kühnen Angreifern entgegen, ein glatter, wie polierter Plattenhang, an dem weder Hand noch Fuß einen Halt fanden, und den es also durch ein Traversieren weiter unterhalb zeitraubend zu umgehen galt. Dann aber gelang es, in einem neuen Kamin weiter hinaufzukommen, auf das die Wand oben abschließende Plateau, dem die wild zerborstenen Schroffen des jardiz delle domnizelle aufgesetzt waren. Nun nur noch eine kurze, aber strapaziöse Kletterei am Fels und im Firngeäder der Hauptzinne, dann war die Hochburg genommen. Auf dem winzigen Dreieck der abgeplatteten Zinne standen Malmort und Gottliebe, am Ziel – als Siegespreis den erhabenen Rundblick über das weite Bündnerland mit seinem Meer von Schnee und ewigem Eis eintauschend. In den wolkenlosen blauen Himmel ragten all die hundert lichtflimmernden, bediademten Häupter – so flog der Blick der kühnen Bezwinger der gefürchteten Bergzinne stolz und ungehindert über das Zauberreich grandioser Schönheit.

Schweigend hielten die beiden Einsamen da droben Heerschau. Dann brach Malmort die Stille. Aus tiefster Brust kamen seine Worte:

»Wenn es nicht diese Momente gäbe – was wäre am Leben? Es lohnte wirklich nicht, die elende Last weiter zu schleppen, jahraus, jahrein! – In dem Erkämpfen solcher Momente, ihrem restlosen Auskosten suche ich Ersatz für alles, was mir das Leben sonst versagt hat. – Sie verstehen mich, Fräulein Gottliebe?«

Sein Auge suchte mit tiefem Ernst die Gefährtin, und wieder stand darin jener feuchte Glanz wie in jener Stunde, da das wehe Lied aus seinem Munde, das Lied vom verlorenen Glück, ihr Herz bis ins Innerste aufgerührt hatte. Und wieder quoll in ihrem Herzen jetzt jenes heiße, überströmende Gefühl auf: Könntest du ihm helfen, ihn entschädigen für alles, was ihm das Leben schuldig geblieben ist!

Da griff sie nach seinen Händen. Die Erhabenheit des Augenblicks – zwei Menschen so verloren allein hier in weiter Unendlichkeit hingedrängt, angewiesen aufeinander – ließ alle falsche Scheu schwinden. So entfuhr es ihr, während in ihren Augen eine grenzenlose Hingabe an ihn leuchtete:

»Ob ich Sie verstehe, Herr v. Malmort? Helfen möcht ich Ihnen, mit meinem Herzblut – könnt' ich es nur!«

Mit jähem Druck preßten seine starken Hände ihre schlanken Finger; es arbeitete gewaltig in ihm, während seine Blicke auf den Grund ihrer Seele drangen, mit einem Leuchten, das sie selig machte, und dann in einem so trostlosen Weh, daß es ihr das Herz zerschnitt.

»Mir kann niemand helfen – auch Sie nicht, Gottliebe. Aber unvergessen sei Ihnen dies Wort!«

Und plötzlich führte er, ehe sie sich dessen versah, ihre Linke an seine Lippen – fühlte sie seinen Kuß auf ihrer Hand.

Gottliebe hatte ungezählte Male dies Zeichen kavalierer Ehrenbezeugung empfangen, ohne den leisesten Hauch eines Empfindens dabei. Aber in diesem Augenblick durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag.

Mit Gewalt fast entzog sie ihm ihre Hand. Er sollte an ihrem Erbeben nicht merken, wie es um sie stand, und, um es zu verbergen, zeigte sie, deren Herz in diesem Augenblick in hellem Aufruhr war, ein Lächeln um die zuckenden Lippen, und leichthin sagte sie in scherzhaft mahnendem Ton:

»Unser Pakt, Herr v. Malmort! Keine Galanterien, wenn ich bitten darf!«

Er sah sie einen Moment an, mit durchdringendem, starrem Blick. Konnte sie wirklich glauben, daß ihm in dieser Minute nach oberflächlicher Tändelei zumute war?

Aber sie wich diesem Blick aus und wandte sich ab; sie wollte ja nicht verraten, wie es um sie stand. Mit einer plötzlichen Bewegung ließ sie sich auf den Boden nieder.

»Verzeihen Sie – aber ich bin doch etwas müde.«

Langsam folgte er ihrem Beispiel und lagerte sich auch auf den sonnendurchglühten Fels, notgedrungen dicht neben ihr, denn das winzige Plateau bot kaum für die beiden hingestreckten Körper Platz.

Sie lag ihm abgewandt, den Kopf in die Rechte gestützt und verloren in die Weite schauend; der Ausdruck ihrer Züge war ihm so verborgen. Aber dennoch sagte ihm ein untrügliches Ahnen, daß ihre Gedanken bei ihm waren, daß das leise Scherzen eben nur eine Maske gewesen war, hinter der sie ein tiefes Empfinden verbarg. Ja, er fühlte es nur zu gewiß, was sie dachte – was für eine quälende Frage sich immer und immer wieder in ihr erhob, die sie doch nicht laut an ihn richten mochte.

Da gab er ihr unaufgefordert die Antwort.

»Ich weiß, was Sie denken«, leise sprach er es mit seiner tiefen, schwingenden Stimme zu ihr hinüber, die, aus so großer Nähe kommend, fühlbar an ihr Ohr schlug. »Sie verstehen es nicht, warum mir nicht zu helfen sein soll – nicht wahr?«

Er sah zu ihr hin. Es war ihm, als ob den schlanken Körper des Mädchens neben ihm ein geheimes Erzittern durchlief; aber kein Laut kam von ihren Lippen. Da sprach er unbeirrt weiter:

»Sie fragen sich, warum ich die Banden, die mich niederziehen, die mich umschlingen und alle Lebensfreude in mir ersticken, nicht mit starker Hand zerreiße – ich weiß es wohl, Fräulein Gottliebe, auch wenn Sie es taktvoll nicht aussprechen.«

Eine heftigere Bewegung, ein Zucken, ging jetzt über sie hin.

»Nun, Sie sollen es wissen; so hören Sie mein Schicksal:

Die Frau, die Sie da drunten kennengelernt, die dem Namen nach mein Weib und mir doch fremder ist im Innern als jede sonst auf der Welt, sie hat einst mein Herz besessen, mein ganzes Sein in jedem Atemzuge.

Freilich, das ist schon lange her, in goldenen Jugendtagen, wo ich ein schwärmender Jüngling noch mit gleichgesinnten Genossen jauchzend, mit ausgebreiteten Armen, der Sonne nachlief über lachend grüne Auen – ein arkadischer Romantiker, ein großes Kind mit schönheitsdurstigen Augen. Unter der Künstlersippe hauste ich damals auf Capri, selber ein halber Künstler, wenigstens den Augen und dem Herzen nach, wenn auch die Hand nur laienhaftes Pfuschwerk vollführte.

Aber was tat's? Es machte mich ja so glücklich, so selig, dies Schlürfen elysischer Luft am blauen Golf, mich, der in der düsteren Enge des grauen väterlichen Schlosses aufgewachsen war ohne Licht und Luft. Aber nun, früh verwaist und großjährig geworden, hatte es mich hinausgelockt in die Freiheit. Mit einem Jugendfreunde, einem reich begabten Künstler, hatte ich die Fahrt ins Land der Sonne schüchtern, zaghaft unternommen, und nun war ein jauchzender Bacchant aus mir geworden.«

Mit einem trüben Lächeln sah er zu ihr hin, die sich während seines Erzählens langsam ihm zugekehrt hatte.

»Sie glauben es wohl nicht? Freilich, es mag schwer fallen, in dem Grillenfänger im Grauhaar den rosenumkränzten Schwärmer wiederzuerkennen. Und doch – es war so.

Da war's, in diesen Tagen des Jauchzens und der Rosen, daß mir ein Mädchen begegnete – auf einem Künstlerfeste in Sorrent –, süß, zauberisch lieblich, berauschend für mich in ihrem Gemisch von verführerischer Grazie und kindlicher Unschuld in den dunklen, strahlenden Augen – Ninon Laroche, eine junge Genferin aus vornehmem Patrizierhause, die mit ihrer Mutter zu längerem Aufenthalt im Süden weilte. Sie kennen sie – die Frau, die jetzt meinen Namen trägt.

Wie zwei große Kinder, in Lachen und Scherzen, flogen wir uns in die Arme, gingen wir dann in die Ehe – wie zu einem ewigen Rosenfeste, wie zu einem lustigen Tanze, ohne uns je einmal auf den Ernst des Lebens, auf unsern Zusammenklang in Stunden des Leids geprüft zu haben. Was wußten wir damals auch von Leid, von der Not des Lebens? Beide sorgenfrei ins Leben gestellt, sahen wir ja um uns herum nur Sonne, lachende Sonne – ein jauchzendes Meer von Glück und Seligkeit.

So bauten wir uns denn am blauen Golf ein freudeschimmerndes, lichtes Nest, darin sollte unser Kinderglück weiterdauern, immer, immer bis ans Ende.

Wir armen, betrogenen Narren! Die Natur rächte sich an unserm vermessenen Ikaruswahn, der die Sonne zu erhaschen dachte, mit ihren unerbittlichen, ehernen Gesetzen: Ein Kind kam.

Schon seine Ankündigung genügte bei Ninon, um aus der süßen, ewig lächelnden Grazie eine haltlos verzweifelte – eine leidenschaftlich gegen das Schicksal wütende zu machen, die nur zu bald mich die Lasten und Leiden entgelten ließ, die die Natur der Mutter auferlegt hat. Freilich empfand sie ja auch nichts von den stillen Seligkeiten, die keimendes Mutterglück dem echten Weibe dafür zugleich verleiht. Sie empfand nur das andere: Ihr götterschöner Leib, mit dem sie selbst einen wahren Kultus getrieben, war entstellt – für immer. Und immer hing ihr nun wie ein Hemmschuh für ihre flatternde Vergnügungssucht das Kind an – das unselige, nie gewollte, glühend gehaßte, schon während seines Werdens verwünschte Kind!

Was ich dabei empfand, erlassen Sie mir zu beschreiben! Das Bewußtsein meiner Vaterschaft hatte plötzlich den in der Tiefe meines Wesens schlummernden Ernst erweckt: Ich freute mich unbeschreiblich des kommenden Kindes, meiner ernsten Pflichten und seligen Freuden, die mich dann erwarten würden – freute mich in plötzlich auch erwachtem Stolze der Malmorts auf den künftigen Erben meines Namens, denn ich dachte ja gar nicht anders, als daß es ganz selbstverständlich ein Sohn sein würde.

Da mögen Sie ermessen, wie grauenhaft mir die widernatürlichen Wutausbrüche der Mutter dieses kommenden, mir so ersehnten Kindes waren – wie ich in starrem Entsetzen davor stand. Nur ein Trost stützte mich: daß das alles nur krankhaft bei meiner Frau sei, der ja immer noch angebeteten, ja jetzt doppelt angebeteten Frau – eine Folge ihres leidenden Zustandes.

Aber dann war das Kind da, und es ward noch schlimmer. Das Unglück hatte es gewollt, daß durch die Geburt ein gewiß ja lästiges Frauenleiden bei der Mutter zurückblieb. Nun wuchs ihr Grimm, ihre Raserei gegen das Kind und mich ins Maßlose. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen; aus dem strahlenden, lichten Engel war ein Dämon geworden, der mich erbarmungslos zerfleischte.

Und das Schicksal tat dann das übrige. Während der sorglosen Schlenderzeiten im sonnigen Süden hatte mein väterlicher Besitz, den ich jahrelang ohne Aufsicht gelassen hatte, schweren Schaden genommen. Nun ereilte mich die Hiobspost, daß der Pächter, dem ich alles anvertraut, mich furchtbar betrogen, eine grenzenlose Mißwirtschaft getrieben hatte. Nun hatte er, dicht vorm Zusammenbruch, das Weite gesucht.

Ich eilte angstgetrieben, von Selbstvorwürfen gepeinigt, in die Heimat und sah, ich war zwar kein völlig ruinierter Mann, aber es war vorbei mit dem Wohlstand. Freilich, die Meinen brauchten darum ja nicht Not zu leiden; meiner Frau war ja ihr Vermögen geblieben, und wenn sie ein Teil davon hergegeben hätte, so wäre auch in einigen Jahren der Schaden wieder zu reparieren gewesen.

Ich erstattete über den Stand der Dinge meiner Frau nach schleuniger Rückkehr nach Capri Bericht. Selbstverständlich müßte nun das Luxusleben hier unten aufhören und wir in die Heimat übersiedeln. Aber statt in ihr eine tapfere, tröstende Gefährtin zu finden, sah ich eine Rasende vor mir, die mich mit Schmähungen überhäufte, ich hätte sie ruiniert, um ihr Lebensglück gebracht, und nun wollte ich sie ganz zugrunde richten, sie in eine Berghöhle schleppen, wo sie ersticken würde – unfehlbar!

Vergebens all meine Bitten und Vorstellungen, jeder Appell an ihre Liebe und Frauenwürde, und sie würde auch niemals erst mit mir gekommen sein, wenn nicht ihre eigene Familie darauf gedrungen hätte. So folgte sie mir denn schließlich hierher, aber nur als eine Gefangene, die bald herzzerbrechend schluchzend, bald maßlos tobend, mit ihrem Kerkermeister geht.

Vergebens umgab ich sie mit aller Liebe und Sorgfalt, ließ unsere Einrichtung aus der Villa in Capri herschaffen, daß sie sich wenigstens etwas heimisch in Malmort fühlen möchte – sie blieb wie sie war.

So quälten wir uns zwei Jahre nebeneinander her, nur noch äußerlich Mann und Frau; denn es war in unserm Innern ja alles furchtbar zerstört – unheilbar. Alles Hoffen von mir auf eine Besserung unseres Verhältnisses und auf den heimlich so heiß ersehnten Sohn sank so unaufhaltsam dahin.

Dann machte meine Frau selber diesem unhaltbaren Zustand ein Ende. Eines Tages war sie verschwunden, und ein zurückgelassener Brief sagte mir: sie könne so nicht weiter, sie ginge zugrunde hier in dieser trostlosen Bergöde. Es wäre auch für mich besser, sie sei nicht mehr da, damit ich wenigstens meine Ruhe hätte. Wir wollten aber durchaus als Freunde scheiden, und sie würde von Zeit zu Zeit wiederkommen, um nach mir und dem Kinde zu sehen.

So ist es denn auch gekommen. Meine Frau lebt – bei ihren reichen Mitteln ganz unabhängig – meist auf Reisen in all jenen eleganten Saisonorten, wo sich die große Welt trifft, wo das Leben bunt und heiter rauscht; alle paar Jahre aber läßt sie sich einmal auf Wochen bei uns sehen; damit beschwichtigt sie die Stimme ihres Gewissens, wie sie es hat, glaubt sie ihren Pflichten gegen uns zu genügen: Wir aber, Rehe und ich, hausen als die stillen Einsiedler, die Sie kennen gelernt haben; denn uns zwingt die harte Not, auf der engen Scholle zu sitzen – ich muß im langwierigen, zähen Kampf Schritt für Schritt das verlorene Gut meiner Väter wieder zurückgewinnen, um der Zukunft meines Kindes willen.

So!« – Malmort schöpfte tief Atem – »nun wissen Sie alles, um unser Leben hier recht zu verstehen. Und nun sei auch noch das letzte gesagt, was Ihnen immer noch unbegreiflich erscheinen mag: Warum ich dieses lose, an einem so schwachen, unnützen Faden hängende Band zwischen jener Frau und mir nicht längst völlig zerschnitten, warum ich meinem armen, vereinsamten Kinde nicht durch eine zweite Ehe die Segnungen einer liebedurchstrahlten, warmen Häuslichkeit – mir selbst vielleicht die Hoffnung auf den ersehnten Sohn gegeben habe? – Weil unsere Religionsgesetze es verbieten, Fräulein Gottliebe – meine Frau und ich sind beide Katholiken, unsere Ehe ist unlösbar!«

Schwer fielen die Worte, und der Blick Malmorts traf sie ernst und hoffnungslos; es war, als hätten diese Worte noch eine andere, für sie bestimmte Bedeutung, die das leise, schmerzvolle Zucken um seine Mundwinkel ihr verriet, wie sein Auge sie so trostlos anschaute, als nähme es von einem geheimen, schönen Wahn Abschied.

Gottliebe sah an ihm vorbei, hinaus in die unermessene Ferne.

»Ja freilich, wenn es so ist –«

Ihre Stimme klang müde und tonlos.

Dann schwiegen sie beide, ein lastendes Schweigen, in dem sich jeder seinen grauen Gedanken überließ, in dem jeder ängstlich verbarg, was der andere doch nur zu gut ahnte.

Endlich brach Malmort die Stille.

»Wir werden aufbrechen müssen – die Sonne steht schon hoch.«

Still erhob sich auch Gottliebe, und sie traten nun den Rückweg an. Diesmal aber nicht wieder über die Wand, sondern den Kamm entlang, oft auf schneidend scharfem Grat, für den geübten Gänger ein zwar weiterer, aber doch erheblich bequemerer Weg.

So kamen sie, diesmal jedoch am andern Ende, wieder auf jenem Firnhang an, wo sie ihr Gepäck abgelegt hatten. Eine weitere halbe Stunde brachte sie an die Stelle, und sie machten hier nun Rast. Auf Malmorts Drängen sprach auch Gottliebe dem mitgeführten Proviant zu, denn sie hatten den ganzen Tag bisher kaum etwas Nennenswertes zu sich genommen.

Es war ein anfangs schweigsames Mahl; aber allmählich tat der mitgeführte Wein bei ihnen seine anregende Wirkung. Malmort entriß sich seiner trüben Stimmung, und es gelang ihm schließlich, auch bei Gottliebe wieder die Lust am Wandern, die Freude an der Bergwelt wachzurufen.

Ihr Blick fiel ja von ihrer Raststelle aus auch auf eines der herrlichsten Hochgebirgsbilder. Weit drüben, über dem Rand des in der Sonne gleißenden weißen Firndachs, leuchteten die grünsatten Almhänge über Thalwys zu ihnen her, und darüber die grandiose zerklüftete Kette des Hochgebirges, mit gewaltigen, steilen Abstürzen und wild zerborstenen Hängegletschern. Und hoch über diesen wildgetürmten, blauschimmernden Eismassen ragte ein hornförmiger, spitziger Zacken auf, der Herrscher über diese wilden Heergesellen unter ihm.

Der Anblick war für die zwei herzerhebend, lockend.

»Eigentlich ist es doch ein Jammer, daß wir schon wieder zurück müssen!«

Mit einem traurigen Blick nahm Gottliebe Abschied von der erhabenen Bergwelt hier oben. Nun ging es wieder hinab in die düstere Talenge, in das graue Gemäuer, wo sie der Alltag umfing mit seinen bleiern-schweren Banden.

»Wir müssen ja nicht.«

Erstaunt fragend sah sie auf ihren Begleiter. Aber dessen Blick traf sie mit jenem stillen Aufleuchten, das sein ernstes Antlitz so verschönte.

»Was hindert uns, weiter zu wandern? – heut noch und morgen!«

»Aber Ihre Frau – Rehe! Sie erwarten uns doch.«

»So mögen sie! Es ist nicht das erstemal, daß ich über Nacht bleibe auf meinen Bergfahrten. Rehe wird sich also nicht ängstigen. Und meine Frau –« er zuckte mit einer bitteren Miene die Schultern – »wird uns nicht weiter vermissen.«

Gottliebe erwiderte nicht gleich. Ihr Blick flog in die Weite, hinüber zu den Firnen, wie das lockte! Wer wußte, wie kurz ihr die Spanne noch bemessen war, die sie mit ihm zusammen sein durfte? Nun der Gedanke, noch länger so mit ihm in kameradschaftlicher Vertrautheit zu zweit sein zu können – ein wehmutsvolles Glück, aber doch ein Glück! Ein Etwas doch, an dem das Herz sich wärmen konnte später in stillen Stunden der Einsamkeit, wieder daheim in weiter Ferne.

Ihr Schweigen verletzte ihn.

»Sie mögen nicht – Sie scheuen den Gedanken, mit mir über Nacht fortzubleiben?«

Traurig kam es von seinen Lippen.

Da schaute sie ihn fest an, Auge in Auge.

»Können Sie das wirklich glauben?«

»Verzeihung!« Er griff nach ihrer Hand. »Es hätte mich nur so traurig gemacht, wenn unser schönes Zusammensein schon ein Ende hätte haben sollen. Sie wollen also doch?«

»Von Herzen gern!«

Aus ihrem Auge brach es warm. Elastisch sprang er da vom Boden.

»Dann kommen Sie! Sehen Sie die prachtvolle Spitze da drüben mit dem bläulichen Schein?« Er wies hinüber auf den Bergbeherrscher drüben oberhalb Thalwys. »Die Punta d'Urso. Dort soll uns morgen früh der erste Sonnenstrahl grüßen! Eine zauberische Aussicht – tief hinein nach Italien.«

»Oh – wundervoll!«

Begeistert stand sie neben ihm und schaute leuchtenden Blicks nach dem kühn geformten Berghorn aus.

»Aber wo bleiben wir zur Nacht?«

»Auf halbem Wege liegt ein verlassener Schafstall, der bietet uns gute Unterkunft. Die Grenzwächter übernachten häufig dort; es ist also immer Heu da und Brennmaterial.«

»Also, vorwärts!«

Voller Freude auf das kleine Abenteuer trieb sie zum schleunigen Aufbruch, wieder ganz Jugend und Tatenlust. Auch über ihn kam eine jugendliche Frohheit. Eilends schnürten sie so wieder ihren Rucksack und machten sich marschfertig.

Trotzdem sie aber rüstig wanderten, brauchten sie doch länger, als sie gedacht hatten. Sie mußten mehrere langgestreckte Firnfelder mit Neuschnee überschreiten, der ihr Tempo stark verlangsamte, so daß sie erst in der fünften Nachmittagsstunde auf die Halde kamen, wo jener verlassene Schafstall stand – in dem nach Westen zu von Berghöhen umschlossenen Hochtale bereits die Stunde, da das Tagesgestirn zur Rüste ging.

Langhin fielen die Bergschatten über die geröllbesäte Halde, wo zwischen Blöcken und Schutt noch jetzt kärgliche Grasreste sich zeigten. Es war eine Stätte trostloser Verwüstung, der Tummelplatz der vernichtungsfrohen Bergdämonen; in der Mitte der Mulde, im Schutze eines Felsvorsprungs, lag das niedrige, roh aus Steinen gefügte Gebäude.

»Früher eine gute Schafweide; aber der kolossale Bergsturz vor fünfzehn Jahren hat eine Wüstenei daraus gemacht«, erklärte Malmort im Nähergehen. »Nun um so besser für uns. So brauchen wir die Streu nicht mit blökenden Hausgenossen zu teilen. Bitte –« er machte die morsche Holztür des Stalls auf und ließ sie eintreten – »hier unser Hotel!«

»Großartig!« Gottliebe lachte fröhlich auf. »Mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet – bis auf die fehlende elektrische Beleuchtung.«

Sie vermochte im Halbdunkel des niederen Raums noch gar nichts zu erkennen.

»Bitte, auch das hier!«

Er ließ scherzend seine kleine elektrische Taschenlampe spielen, und der blendend weiße Lichtkegel irrte über Boden und Wände, hinten in der Ecke neben einer primitiven, rauchschwarzen Feuerstätte ein weiches Heulager zeigend.

»Nun, hab' ich zuviel versprochen?«

»Nein, wahrhaftig nicht. Wir sind tadellos aufgehoben.«

Malmort ließ das Licht wieder erlöschen; statt dessen stieß er einen kleinen hölzernen Fensterladen nahe dem Herde auf, so daß nunmehr ein dämmeriges Licht in dem Raum entstand.

Gottliebe hatte indessen schon abgelegt und sich dem Herd zugewandt, bereit, dort ein Feuer zu machen.

»Ein warmer Tee wird uns gut tun, denke ich.«

»Ohne Zweifel«, bestätigte er und wollte ihr beim Feuermachen zu Hand gehen, aber sie wehrte ihn energisch ab.

»Das ist Frauenarbeit – nur Ihre Streichhölzer, bitte!«

»Sehen Sie, Sie können ohne uns Männer nun doch einmal nicht fertig werden, wie gern Sie es auch möchten!« neckte er.

»So? Möchte ich das?« gab sie ihm mit heiterem Augenblitzen zurück, während sie hurtig an ihrem Herd weiter hantierte. »Wie kommen Sie übrigens darauf?«

Er hatte sich inzwischen an der Rückwand auf eine Art Bank niedergelassen, ein über zwei Steine gelegtes Brett. Die Hände um die Knie geschlungen, saß er dort behaglich und sah ihr bei ihren frauenhaft anmutigen Bewegungen zu.

»Nun, Sie schätzen die Männer doch nicht übermäßig hoch ein – gestehen Sie es nur ruhig.«

»Im allgemeinen allerdings nicht«, gab sie zu und blies energisch ins Feuer.

»Aha! Also doch im Ausnahmefall?«

»Man muß nie zuviel fragen!« gab sie neckend zurück, aber sie sah ihn dabei nicht an.

Schweigend verfolgte er weiter ihr emsiges Hantieren. Es war ihm eine Freude, ihr bloß so zuzusehen. Wie ihr alles so glatt und schnell von der Hand ging. Erinnerungen stiegen ihm auf aus frühesten Kindertagen, wo er träumerisch, in friedvollem Behagen, der toten Mutter auch so beim häuslichen Schaffen zugeschaut hatte.

»Ich hätte Ihnen diese Talente gar nicht zugetraut«, gestand er nach einer Weile. »Ich glaube, Sie gäben sogar eine ganz famose Hausfrau ab.«

Sie lachte hell auf; aber es klang doch ein leises Zittern aus dem Ton.

»Ach du lieber Gott! Ich und Hausfrau. Der arme Mann! Der würde schnell davonlaufen.«

»Das wäre doch sehr die Frage!« Mit Nachdruck entschied er es, und dann kam es ganz unvermittelt von seinen Lippen:

»Warum heiraten Sie eigentlich nicht?«

Die Büchse mit dem Tee, auf die sie gerade wieder den Deckel setzen wollte, klirrte leicht in ihrer Hand. Ganz betroffen starrte sie ihn an. War das ein Scherz? Aber nein! Er sah sie ganz ernst an.

»Bitte – verstehen Sie mich nicht falsch! Meine Frage ist keine plumpe Taktlosigkeit. Wenn eine Frau wie Sie keinen Mann gefunden hat, so ist doch das natürlich nur Ihr Wunsch und Wille so gewesen. Nun würde ich das verstehen, wenn Sie ein Blaustrumpf oder ein rechtes Mannweib wären, aber so –«

Sie wandte sich ihm jetzt schnell zu:

»Sie vermuten demnach in mir die geborene brave, deutsche Hausfrau – die kein höheres Ziel kennt, als ihrem Manne Strümpfe zu stopfen und Kinder zu schenken?«

Spöttelnd warf sie es ihm hin, aber sein unwillig aufblitzendes Auge, sein tiefernster, strafender Blick ließ ihr plötzlich das spottende Lachen ersterben.

»Das Wort hätte ich lieber nicht von Ihnen hören mögen – Schade darum.«

Langsam erhob er sich und ging hinaus vor die Hütte.

Gottliebe blieb zurück, eine Beute von Scham und Trotz. Wie kam er dazu, sie so zu schulmeistern? War sie denn ein unreifes junges Ding? War denn nicht vielmehr, was sie eben gesagt, der Ausdruck fester Überzeugung, gewonnen aus tiefblickender Beobachtung des Lebens? Warum hatte sie ihm also nicht scharf ablehnend geantwortet?

Zornig auf sich selbst, arbeitete sie mit hastigen Griffen am Herd weiter.

Warum nicht? Immer wieder fragte sie es sich, und immer wieder klang da in ihrem Innern die Antwort, die sie doch nicht hören wollte: Weil er recht hatte – weil gar nicht ihre wirkliche Meinung war, was sie da so spöttisch hingeworfen hatte!

Oder waren denn all jene Stunden geheimer Trauer über ihre Einsamkeit, über die Nutzlosigkeit ihres Lebens nicht gewesen? Jene Stunden eines dunklen Sehnens nach Mannesliebe, nach Mutterglück! Jene Stunde erst vor wenigen Tagen, droben auf der Breza dei Malmorti, wo wie ein süß berauschendes Gefühl der Gedanke über sie gekommen war, wie selig es eine Frau doch machen müßte, einem Manne wie ihm den so heiß ersehnten Sohn und Erben zu schenken?

Lichte Röte schoß ihr auch jetzt beim Gedenken daran wieder in die Wangen.

Und dies heilige Muttersehnen hatte sie gelästert mit höhnischem Wort, vor ihm, vor dem schwergeprüften Mann, dessen Lebensglück vernichtet war durch eine Frau, solch echter Weiblichkeit bar – dessen ungestilltes Sehnen nach einem Sohn sie kannte – vor ihm, der die geheim immer noch genährte, heilige Verehrung der Frau ihr huldigend zu Füßen hatte legen wollen!

Heiß schoß es ihr plötzlich in die Augen. Sie hätte laut aufschluchzen, ihm nachstürzen mögen und zuschreien: Nein, nein! Glaub mir doch nicht! Es ist ja nicht wahr, was ich da eben sprach. Mein Herz weiß nichts davon.

Aber sie blieb wie gebannt am Herd stehen, mechanisch weiter ihr Werk dort verrichtend, und nur in ihrer Brust brannte ein heißes, großes Weh: Etwas Köstliches, Großes hatte sie da eben verloren – unwiederbringlich.

Der Tee war so fertig geworden, aber Malmort ließ sich noch immer nicht sehen. Da ging sie pochenden Herzens hinaus, ihn zu suchen.

Sie fand ihn abseits auf einem Block sitzend, wie er, in düsteres Sinnen verloren, in die heraufziehende Dämmerung starrte.

»Herr v. Malmort –«

Leise, zaghaft schlug ihre Stimme an sein Ohr, und er drehte langsam das Antlitz nach ihr herum. Der müde, bittere Ausdruck seiner Züge schnitt ihr ins Herz. Das ertrug sie nicht, und – sie wußte nicht, daß sie es tat – zitternd streckte sie ihm beide Hände hin mit einem flehenden Blick.

Wortlos griff er da nach ihren Händen, und tief blickte er ihr in die feucht schimmernden Augen.

»Es war nicht Ihr Ernst – sagen Sie es mir!«

Fast leidenschaftlich drängte er sie, mit zuckenden Fingern.

Da schüttelte sie stumm das Haupt.

»Gottliebe!«

Nur das eine Wort entfuhr ihm, aber es durchbebte sie bis ins Innerste, und schnell entzog sie ihm die Hände.

»Kommen Sie«, bat sie, schnell sich abwendend. »Daß mein Mühen nicht umsonst war.«

Wieder ein Froher, mit strahlenden Mienen, folgte er ihr in die Hütte, und der ärmliche, dämmernde Raum ward ihm unter ihrer liebreizend waltenden Frauenanmut zu einem traulichen Heim. So saßen sie, beide in einem Gefühl wunschlosen, stillen Glücks, beieinander, wenig sprechend, nur mit der stummen Sprache der Blicke einander gestehend, was die Seele so heimlich-süß durchdrang.

Dann aber litt es Gottliebe nicht länger. Es drängte sie, von sich selbst zu ihm zu sprechen, von ihrem inneren Werdegang, daß er die Worte von vorhin richtiger verstand, den Schlüssel zu den Widersprüchen ihres Innern bekam. Und so erzählte sie ihm denn von ihrem äußeren Leben und ihrem seelischen Heranreifen; erzählte so, während draußen die Dämmerung in Dunkelheit sich wandelte und nur die knisternde, rötlich flackernde Flamme vom Herde her noch ein spärliches Licht in den Raum warf.

Malmort hatte schweigend zugehört, jetzt ganz im tiefen Schatten auf der Bank hinten sitzend, während Gottliebe nahe am Herde ihren Platz hatte, wo sie von Zeit zu Zeit die Glut schürend ein neues Holzscheit in die Flammen schob. Nun vernahm sie aus dem Dunkel eine Bewegung, und er trat auf sie zu. Dicht stand jetzt seine hohe Gestalt vor ihr; so traf sie sein bewegter Blick.

»Ich danke Ihnen für diese Stunde, Fräulein Gottliebe, die Sie mir erst wahrhaft nahegebracht hat. Nun sehe ich klar in Ihrer Seele – sehe, daß Sie einsam und arm sind wie wir hier, Rehe und ich, trotzdem Sie draußen im Gewühl der Welt stehen. Und nun, wo ich auch weiß, daß das Leben da draußen Sie nicht glücklich macht, nun finde ich den Mut, Ihnen einen Vorschlag zu machen, eine Bitte an Sie zu richten – zugleich in meines Kindes Namen.«

Gottliebe sah überrascht zu ihm auf.

»Sie werden erstaunt sein, sehr – mein Vorschlag wird Sie befremden, und doch muß ich zu Ihnen sprechen. Mir ist, als wäre das alles so eine Fügung, daß Sie hier in unsern Bergwinkel verschlagen wurden, als habe das Schicksal uns dazu bestimmt, daß unsere Wege ineinanderlaufen.«

Sein ernster, fast prophetischer Ton ließ sie unwillkürlich leise erschauern.

»Also hören Sie: Meine Frau und ich hatten gestern eine inhaltsschwere Unterredung. Sie bestand darauf, Rehe mit sich zu nehmen in die Welt; das Kind verkomme ja hier in Einsamkeit und Freudlosigkeit.«

Gottliebe machte eine jähe Bewegung.

Beschwichtigend erhob er die Hand.

»Natürlich kann davon keine Rede sein, und mein ist die Gewalt über mein Kind. Es bleibt, wo ich es für gut befinde! – Aber in einem mußte ich dieser Frau doch recht geben, deren Kopf sonst nur nichtiger Tand ausfüllt: Rehe entbehrt eines weiblichen Einflusses, sie leidet unter der Vereinsamung, sie wird weltfremd und menschenscheu, ist es schon geworden, und, sollte ich einmal nicht mehr sein, wie soll sie, die weltfremde Einsiedlerin, sich unter den Menschen zurechtfinden?«

Mit ernstem Kopfneigen stimmte Gottliebe ihm zu.

»Nun läge es ja nahe, ich selbst ginge mit ihr hinaus ins Leben; aber das erlauben die Verhältnisse nicht, selbst wenn ich es wollte. Obschon ich einen Abscheu, einen Ekel vor dem verlogenen Treiben da draußen habe, das bloß mit anzusehen mir schon widerwärtig ist. Aber es handelt sich hier eben gar nicht um meine persönlichen Neigungen, die ich selbstverständlich dem Wohle meines Kindes opfern würde – es geht einfach nicht, aus wirtschaftlichen Gründen. Ich kann meinen Besitz hier nicht allein lassen; durch eigenes Zugreifen und Schaffen muß ich allmählich wieder aufbauen, was jene Träumerjahre draußen niedergerissen haben.

Also hier bleiben ist für mich die Parole, und ich mag mich nicht von meinem Kinde trennen. Es ist nicht Egoismus – glauben Sie mir das! – nein, nur eine geheime Furcht, die Gewißheit, es würde sich da draußen in der Welt ohne meine stützende und schirmende Hand doch nicht zurechtfinden.

So bleibt nach allem nur ein Ausweg: Ich muß Rehe eine Gefährtin, eine Erzieherin und Freundin zugleich, ins Haus holen. Aber wo die geeignete Persönlichkeit finden, die nicht bloß aus kühler Pflicht, sondern mit warmem Herzen sich ihr zugesellte?«

Eine Pause trat ein, in der Malmorts Blick erwartungsvoll auf Gottliebe ruhte. Sie saß am Herd, den Kopf in die Hand gestützt, so daß die beschatteten Züge ihm nicht erkennbar waren.

»Da kam mir ein Gedanke, ganz wie selbstverständlich, und mein Kind sprach ihn aus, in derselben Minute, wo ich ihr von all dem sagte: ›Gottliebe! – Schaff mir Gottliebe, Vater; keine Fremde, ich flehe dich an! – Bitte sie, dring in sie, daß sie immer bei mir bleibt, und du machst mich glückselig, Vater!‹

Nun wissen Sie den Herzenswunsch meines Kindes, Fräulein Gottliebe, und er ist der meine.« Leiser fügte er es hinzu. »Auch ich wäre so dankbar, wenn der warme, frohe Schein, den Sie in unser trauriges Leben hier getragen haben, uns erhalten bleiben könnte. Und jetzt, wo ich von Ihnen selbst gehört, wie Ihr Lebensgang, Ihr Beruf Sie ja gerade zu einer solchen Aufgabe wie geschaffen gemacht hat, wie Sie Ihr gegenwärtiger Wirkungskreis doch nicht voll befriedigt, wo ich dagegen hoffen darf, daß Sie an meiner Rehe mit innerer Zärtlichkeit hängen – nun frage, nun bitte ich Sie: Wollen Sie unser werden, Gottliebe, die dritte in unserem kleinen Bunde?«

Ein leises Zittern lief über Gottliebe hin. Wie da mit einemmal das Schicksal mit schwerwiegender Entscheidung vor sie hintrat. Sie fühlte es dunkel, aber so wuchtend: Etwas Gewaltiges vollzog sich mit ihr in dieser Minute, ihr selbst in seinen Endfolgen noch verborgen, aber entscheidend über ihr ganzes Sein.

Was sollte sie dem Manne da vor ihr erwidern, dessen erwartungsbange Blicke sie fühlte?

Wohl war sie dem lieben jungen Geschöpf da drunten in herzlicher Neigung zugetan. Aber wenn sie ehrlich gegen sich war, nur Rehe zu Gefallen würde sie den folgenschweren Schritt nicht tun. Aber da stand etwas anderes daneben mit geheimem, brennendem Locken. Um ihn sollte sie immer sein, stets ihm zur Seite als treue Kameradin im stillen, traulichen Haus wie draußen auf seinen Wegen, bei seiner Arbeit – ihm, dem Verdüsterten, sollte sie freundliches Licht ins Leben tragen!

War das nicht etwas, was endlich die so lang empfundene Leere in ihrem Sein ausfüllen könnte? War da nicht die wirklich befriedigende, frohmachende Lebensaufgabe, nach der sie sich so gesehnt hatte, Jahr für Jahr?

»Ich sehe, Sie können sich nicht entschließen – Sie können uns das Opfer nicht bringen«, traurig klangen seine Worte ihr plötzlich ins Ohr. »Bitte, verzeihen Sie meine Anfrage, die Sie in diese peinliche Lage brachte.«

»Opfer?« Sie war aufgestanden; dicht vor ihm traf Auge das Auge. »Kein Opfer, Herr v. Malmort. Eine Freude, eine Herzensfreude ist mir Ihr Ruf. Und ich folge ihm – hier haben Sie mich!«

»Wahrhaftig?«

Er ergriff ihre beiden, ihm hingestreckten Hände, aber immer noch ungläubig starrten sie seine Blicke an. Als er aber in ihrem Auge das feste Ja las, da flog ein Freudenschein über sein Gesicht, so strahlend hell, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte.

»Gott segne Ihnen diesen Entschluß!«

Und in köstlicher Vorfreude saßen sie nun noch lange beisammen, sich ihr trauliches künftiges Miteinanderhausen ausmalend.

Endlich aber gebot ihnen die vorgerückte Stunde, an die Ruhe zu denken. Unter heiteren Scherzworten über ihre primitive Unterkunft richtete Malmort von dem Heu zwei Lagerstätten rechts und links des Herdes her.

Dort lagen sie dann, in ihre Wettermäntel gehüllt. Aber der Schlaf kam beiden noch lange nicht. Die Gedanken flogen noch immer unablässig um den neuen Plan, mit frohem, hoffnungsleichtem Flügelschlage.

* * *

Malmort und Gottliebe hatten die beabsichtigte Tour auf die Punta d'Urso nun doch nicht ausgeführt. Der Drang, Rehe von dem neuen Entschluß in Kenntnis zu setzen, alle Vorbereitungen zu treffen, um ihre Beziehungen in Berlin zu lösen und in Bälde die Übersiedelung zu bewerkstelligen, hatte namentlich Gottliebe zur sofortigen Heimkehr bestimmt. Gegen Mittag langten sie so wieder in Schloß Malmort an.

Voll frohester Stimmung, in geheimer Freude, was wohl Rehe zu der großen Neuigkeit sagen würde, wie glückselig sie wohl sein würde, klopften sie ungeduldig ans Schloßtor.

Aber wie ein leichter Frost legte sich auf ihre hoffnungsgeschwellten Herzen gleich die Miene des Alten und seine Meldung, daß die gnädige Frau sie schon gestern abend zurückerwartet habe und höchst aufgeregt über ihr Ausbleiben über Nacht sei.

Malmorts Stirn verfinsterte sich alsbald gleichfalls, und mit Schweigen schritt er schnellen Fußes ins Schloß hinein, wie in heftigem Begehr, schleunigst hier eine klare Situation zu schaffen. Gottliebe ging ihm zur Seite, plötzlich schwer beklommenen Herzens.

Bei all ihren schönen Plänen für die Zukunft hatte sie gar nicht Frau v. Malmorts gedacht. Sie war ja nur eine vorübergehende Erscheinung hier, ohne jede Bedeutung für das Leben auf Malmort, die in den nächsten Tagen schon wieder spurlos verschwunden sein würde, sobald die Laune gestillt war, die sie hergetrieben hatte. Nun aber sagte ihr plötzlich ein dunkles Gefühl, daß ihrem Vorhaben von dieser Seite her sicherlich unerwartete Hindernisse sich entgegenstellen würden.

Schweigend schritten sie so dahin. Sie hatten erwartet, daß Rehe wenigstens sie schon unten in der Halle begrüßen würde; aber niemand war da.

Malmort biß sich auf die Lippen. Sonst hatte die Tochter ihn stets hier empfangen. Daß sie heute nicht da war, war unfehlbar das Werk seiner Frau. Immer unheilvoller zog sich das finstere Gewölke auf seiner Stirn zusammen, während er nun mit Gottliebe die Treppen hinaufstieg.

Als sie droben in den Vorsaal des ersten Stockes traten, war es ihnen, als ob sich hinten eine Tür auf dem Gang schlösse, in der Richtung, wo Rehes Zimmer lag, und nun trat ihnen, aus dem Korridor biegend, um den Pfeiler herum unvermutet Frau v. Malmort entgegen. Mit einer eisigen, verächtlich-hochmütigen Miene stand sie unbeweglich und ließ so die beiden herankommen, die dort an ihr vorüber mußten.

Auf Malmorts Stirn zuckte es in dem feinen, lichtblauen Geäder der Schläfe, aber völlig beherrscht, grüßte er seine Frau mit korrekter Höflichkeit. Sie dankte mit einem kaum merklichen Nicken, während sie Gottliebes Gruß kalt übersah.

Malmort bemerkte es, und ein Zittern der Erregung klang nun doch leise aus seiner Stimme, wie er sich an die herausfordernd im Wege stehende Frau wandte:

»Ich hörte schon zu meinem Bedauern, daß du dich wegen unseres Ausbleibens über Nacht beunruhigt hast, aber –«

»Beunruhigt?« Mit spöttischem Ton schnitt sie ihm das Wort ab. »Da irrst du gänzlich, mein Freund. Meinetwegen bleib fort, so lange du willst. Nur,« und jetzt hob sie die Lorgnette vors Auge und musterte Gottliebe mit kalt-verächtlichem Blick, »daß du in Gesellschaft übernachtetest, das hat mich frappiert, mein Bester!«

Gottliebe zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Im selben Moment war aber auch schon Malmort bei ihr.

»Verzeihung, Fräulein Gottliebe, meine Frau weiß bisweilen nicht, was sie spricht; sie kann Sie jedenfalls nicht beleidigen.«

Schneidend kalt sprach er es, ohne seine Frau eines Blickes zu würdigen; vielmehr bot er, sich verneigend, Gottliebe seinen Arm:

»Bitte – Sie erlauben, daß ich Sie auf Ihr Zimmer geleite. – Wir sprechen uns nachher!«

Über die Schulter hin warf er schon im Fortgehen seiner Frau das Wort hin, mit dumpfem Drohen. Das raubte der Erregten jede Beherrschung:

»Allerdings – wir werden uns sprechen, mein Lieber!« Zischend stieß sie es hervor. »Ich bin deine Frau, wenn du auch aufs schamloseste vergißt, was du meiner Ehre schuldig bist. Aber ich werde mich nicht in meinem eigenen Hause ungestraft beschimpfen lassen, vor den Augen dieses – Fräuleins! Ich nicht! Du wirst's sehen!«

Und türkrachend stürzte sie ins Zimmer zur Rechten.

Zitternd hing Gottliebe in Malmorts Arm; ihre Füße, ihre ganze Gestalt wankten. Dann aber raffte sie sich zusammen:

»Lassen Sie mich – ich will weg, sofort!« Sie rang, ihren Arm frei zu bekommen; aber er hielt sie mit sanfter Gewalt.

»Ich schaffe Ihnen Genugtuung, Gottliebe!« Durch die Zähne stieß er es dumpf hervor. »Nicht Sie – jene wird mein Haus verlassen. Auf mein Wort!«

So geleitete er sie auf ihr Zimmer, wo sie matt, ganz gebrochen, auf einem Sessel zusammensank.

»Fassung – Ruhe!« beschwor er sie noch einmal. »Jene Rasende kann Sie nicht beleidigen – ich wiederhole es noch einmal. Ich gehe, sie jetzt zur Rechenschaft zu ziehen. Erwarten Sie mich hier – ich bitte, ich flehe Sie an. Ich sende Ihnen einstweilen Rehe.«

Und schnell eilte er hinaus, sein Versprechen auszuführen.

Er suchte seine Frau drüben in einem ihrer Zimmer, aber er fand sie nirgends. Da stieg ein banges Ahnen in ihm auf, und mit bebenden Knien eilte er hinüber in den Turm, zu Rehes Stübchen.

Sein Ahnen hatte ihn nicht getrogen, schon von draußen hörte er die schrille Stimme seiner Frau und der Tochter herzzerbrechendes Aufschluchzen.

Mit fliegender Hand riß er die Tür auf.

»Und du willst es mir nicht glauben?« hörte er gerade noch die wutrasende Frau hohnvoll, gellend ausrufen. »So hättest du nur dabei sein sollen, wie er die Person vor meinen Augen mit zärtlichem Kosenamen nannte und vertraulich am Arm wegführte. Der Elende – der Ehebrecher!«

Ein Aufschrei aus Rehes Munde, als hätte sie eben einen Vernichtungsstreich empfangen! Im selben Augenblick sah sie den Vater im Türrahmen stehen – totenblaß zurücktaumelnd, mit einem Gesichtsausdruck, so entsetzlich, daß sie ihn nie im Leben wieder vergessen würde.

In Todesangst wollte sie auf ihn zustürzen und doch blieb sie wie erstarrt stehen. Ein furchtbares, dunkles Gespenst hatte sich zwischen sie und den Vater gestellt – wenn es nun doch wahr war, was die Mutter da eben gesagt hatte? Sie hatte es ja doch mit eigenen Augen gesehen!

Im nächsten Moment stand Malmort wieder fest da, aber etwas Steinernes im Antlitz.

»Rehe!« seine Stimme klang rauh und heiser vor furchtbarer Erregung. »Geh hinüber zu Fräulein Gottliebe.«

»Wie? – zu deiner Maitresse?«

Wie eine Besessene wollte sich Frau v. Malmort auf die Tochter stürzen; aber da packte sie plötzlich seine Faust mit eisernem Griff.

»Geh!« gebot er noch einmal der wie angewurzelt stehenden Tochter.

»Laß mich! Du Miserabler, du Henkersknecht!« Ninon Malmort wand sich verzweifelt unter seinem schmerzenden Griff. Dann heulte sie plötzlich auf.

»Nun siehst du's ja!« schrie sie zur Tochter hin. »Wie er mich mißhandelt, mich foltert, um jener Dirne willen.«

Auf Malmorts kreidebleicher Stirne schwollen die Adern dickblau an, zum Zerspringen. Er sah in diesem Augenblick zum Fürchten aus.

»Hörst du nicht!«

Donnernd scholl der Ton an Rehes Ohr. Noch nie hatte der Vater so zu ihr gesprochen.

»Ich befehle es dir: Auf der Stelle zu Fräulein Rhyngaert!«

Da zuckte das Mädchen zusammen, wie vom Blitzschlag getroffen, und dann flog sie hinaus, die Hände vors Antlitz schlagend.

Sowie sie hinaus war, gab Malmort seine Frau frei, aber trat schnell zur Tür, den Schlüssel umdrehend und abziehend.

»Was tust du? Laß mich hinaus!«

Wie eine Tolle sprang sie auf ihn zu, vergeblich ringend, ihm den Schlüssel zu entreißen.

»Hilfe, Hilfe! Er will mich morden!«

Die Rasende stürzte ans Fenster, und ihr gellendes Rufen drang kreischend auf den stillen Schloßhof hinaus.

»Ruhe!«

Donnernd gebot er es, zu ihr tretend.

»Oder ich vergesse mich wirklich!«

Der furchtbare Ton machte die Tobende verstummen. Zitternd starrte sie auf den gewaltigen Mann vor ihr, der ein Bild nur mühsam noch niedergehaltener, entsetzlicher Erregtheit war.

»Ein Wunder wäre es bei Gott im Himmel nicht, wenn ich dich vernichtete, – die du da eben vor meinem Kinde – Ah!«

Er vollendete nicht; ein Stöhnen brach aus seiner Brust, so schrecklich, daß die Frau in Todesangst die Hände zu ihm aufrang.

»Wulfrin! verzeih mir – ich war wie von Sinnen!«

Da war die Krise vorüber; er wurde wieder Herr seiner selbst.

»Verzeihen!« Bitter lachte er auf.

»Daß du in die reine Seele meines Kindes den Gifthauch des Argwohns gegen den eigenen Vater gesandt, von ihrem Auge den Schleier der Unschuld gerissen – das soll ich dir verzeihen?«

Ninon Malmort brach nach all der furchtbaren Erregung haltlos in einem Sessel zusammen; dort lag sie nun krampfhaft schluchzend.

Er ging eine Weile, ihrer nicht achtend, vor sich hinstarrend im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihr stehen. Ein Blick namenloser Verachtung traf sie: Das war nun das Weib! Erst Schlangenbosheit, in besinnungsloser Wut vergiftend und würgend – und dann erbärmliche Schwachheit, die sich nichts anders weiß als wohlfeile Tränen.

Sie sah trotz des Tuchs vorm Gesicht und ihrer anscheinenden Schmerzversunkenheit, daß er jetzt vor ihr stand, und, an eine mildere Regung glaubend, sah sie nun zu ihm auf und hob flehend die Hände:

»Verzeih mir doch, Wulfrin; ich will ja alles wieder gut machen, Fräulein Rhyngaert um Entschuldigung bitten – ich bin ja nun einmal so namenlos leicht erregbar – und Rehe –«

»Ja, Rehe!« Mit einem herzzerschneidenden Blick sah er sie an, während es in tiefstem Weh, verzweiflungsvoll, um seinen Mund zuckte.

»Kannst du auch den Stachel aus ihrer Seele ziehen, sie diese Stunde vergessen machen, ihr ihre Ahnungslosigkeit wiedergeben?«

Vor diesem furchtbar anklagenden Blick verstummte sie, und schuldbewußt preßte sie wieder das feine Spitzentüchlein vors Gesicht. Dann faßte sie einen Entschluß – wirklich einen Entschluß. Nebenbei fiel er ihr nicht schwer; es war ja jetzt das beste für sie, wegzukommen, sobald wie möglich, nachdem sie hier Unheil genug angerichtet hatte. So erhob sie sich plötzlich, und die Miene einer entsagungsvollen Märtyrerin annehmend, erklärte sie plötzlich mit dumpfer Stimme:

»Ich werde abreisen – noch heute! So schaffe ich ja den Stein des Anstoßes für euch alle drei aus dem Wege. Und es wird mit der Zeit schon alles wieder gut werden.«

Ein billiger Trost! Er hätte auflachen können, wenn ihm nicht so todestraurig zumute gewesen wäre.

»Ja, reise. Es ist jedenfalls das beste so.«

Und ohne noch einmal nach ihr hinzusehen, ging er zur Tür, öffnete und schritt hinaus – zu Rehe und Gottliebe hinüber. Düster war seine Stirn und langsam ging er; das Schwerste stand ihm ja noch bevor.

Aber als er an die Tür des Gastzimmers klopfte, keine Antwort – kein Laut von drinnen. Noch einmal pochte er an, stärker, aber wieder nichts. In Sorge riß er da die Tür auf – niemand drinnen!

Betroffen zuckte er zusammen, dann stieg eine dunkle Angst in ihm auf. Er eilte durch die langen Korridore, hinunter in die Halle. Dort traf er auf Anselm.

»Hast du die jungen Damen nicht gesehen?«

»Doch Herr!« nickte der Alte. »Das gnädige Fräulein ist auf ihrem Zimmer, aber das fremde Fräulein ist hinaus – sehr eilig.«

»Und wohin?«

»Ich sah ihr vom Tor aus nach. Sie ist über die Alm hinab – zum See hinunter!«

Ohne ein weiteres Wort stürzte Malmort die Treppe hinauf, in Rehes Zimmer. Er fand sie weinend am Fenster kauern. Bei seinem eiligen Eintritt schreckte sie zusammen und sah nun namenlos verstört, in furchtbarer Angst auf den Vater.

Dieser Ausdruck in den sonst immer ihn so klar und vertrauensvoll anstrahlenden, dunklen Augen erschütterte Malmort bis ins Innerste.

»Rehe!« schnell trat er auf sie zu und strich ihr mit der Rechten über das Haar; aber es war, als zucke das junge Geschöpf unter seiner Berührung zusammen. »Ich werde dir alles erklären, dich beruhigen, mein Kind – nachher! Aber jetzt sag mir, wo ist Fräulein Rhyngaert hin? Warum bliebst du nicht bei ihr?«

Das Mädchen erbebte, einen neuen Zornausbruch des Vaters wie vorhin befürchtend. Nur nicht wieder das! Es war ihr ja gewesen, als habe sie der bisher immer so vergötterte, gütige Vater plötzlich mit Füßen getreten. Eine zitternde Angst in den Augen, gestand sie:

»Ich bin zu ihr gegangen, wie du mich hießest. Aber – dann konnt ich doch nicht bei ihr bleiben. Immerzu gellten mir Mutters Worte im Ohr. Ich konnte Gottliebes Anblick nicht ertragen – da bin ich wieder weggelaufen, hierher, vergib mir, Vater – aber ich konnte nicht anders.«

Des Furchtbarsten gewiß, starrte sie auf den Vater. Aber er blieb ruhig – ganz ruhig; nur sein Blick traf sie, doch gar nicht strafend – nein, vielmehr mit einem brennenden Weh, daß es ihr das junge Herz zerriß.

In diesem Augenblick schrie es wieder in ihrem Innern: Nein, nein! Es kann ja doch nicht sein! Der Vater in seiner reinen, großen Gesinnung und Güte kann ja doch so etwas Furchtbares nicht tun – das Verworfenste, das es für sie nach ihrer strengen, klösterlichen Auffassung und ihrem weltfremden, keuschen Mädchenempfinden gab!

Rehe zuckte es in den Knien, sich ihm abbittend zu Füßen zu werfen, doch es kam nicht dazu.

Malmort wandte sich plötzlich zum Gehen – eine qualvolle Angst um Gottliebe hatte sich plötzlich in seiner Seele festgekrallt: Sie, die Stolze, die Ehrliebende, war, todwund von den Schmähungen seiner Frau und von der noch furchtbareren stummen Verdächtigung Rehes, hinweggestürzt – zum See hinunter. Barmherziger Gott, wenn –

»Auf nachher! Ich muß jetzt Gottliebe suchen.«

Er stürmte fast hinweg. So sah er nicht den plötzlich wieder ganz veränderten Ausdruck in Rehes Blicken, mit denen sie ihm nachstarrte.

Also wichtiger als das eigene Kind, teurer war ihm die Fremde, die er eben so vertraut benannte! Zu ihr stürzte er mit einer Hast, einer Sehnsucht, wie sie sie noch nie an ihm gesehen hatte.

Also hatte die Mutter doch recht gehabt!

Mit einem dumpfen Laut brach das gequälte junge Geschöpf plötzlich zusammen. Vergebens suchte sich ihre Hand noch an der Stuhllehne zu halten. Die Kräfte verließen sie und die Besinnung. Ohnmächtig sank sie so auf den Boden nieder.

* * *

Angstgehetzt stürmte Malmort zum Schloß hinaus und über die Alm hinab.

Nun war er so tief den Hang hinabgeeilt, daß drunten der See sichtbar wurde; aber die erhoffte weibliche Gestalt zeigte sich nirgends seinem umherfliegenden Blicke.

Gott im Himmel! Sollte er zu spät kommen? War das Entsetzliche etwa schon geschehen?

Das Herz stockte ihm, und die Knie versagten ihm, wie er so einen Moment stand und Umschau hielt, fast ihren Dienst. Und in diesem Augenblick, wo er sie für eine schon Verlorene hielt, in den Tod gehetzt um seinetwillen, da stand klar ein Erkennen vor seiner Seele, was sie ihm gewesen war – was sie ihm hätte sein können!

Er hätte aufschreien mögen in dieser Sekunde würgender Qual.

Dann aber stürzte er weiter talab, ganz mechanisch, ohne klare Überlegung. Nur ganz dumpf sprach da etwas zu ihm: weiter, weiter!

So stürmte er über den steilen Hang hinunter, die Windungen des Weges verschmähend – in einem rasenden Springen. Ein Straucheln hätte ihm schwere Gefahr bringen können; denn gerade unter ihm fiel der Hang an dreißig Fuß tief senkrecht zu der Talstraße herab. Aber er achtete nicht darauf – nur hinunter, an den See, die einzige Vorstellung, die ihn ganz beherrschte.

So kam er an eine vorspringende Felsklippe, die ihn zwang, sich nun seitlich zu halten, und wie er gerade eilends nach links abbog, so ein neues Gesichtsfeld auf das Seeufer drunten bekommend, sah er dicht unter ihm, unterm Hang des Berges eine weibliche Gestalt regungslos sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt – Gottliebe!

War der Name wie ein Aufschrei von seinen Lippen geklungen? Er wußte es nicht. Aber sie wandte drunten jetzt plötzlich den Kopf zu ihm herauf – eine müde Bewegung; und starr blieben auch ihre Züge, als sie den Herannahenden nun gewahrte.

Wenige eilige Schritte, halbe Sprünge, und er war bei ihr.

»Gottliebe – was tun Sie hier?«

Aus schwer atmender Brust stieß er die Worte hervor.

Sie gab keine Antwort, sondern wandte den Blick wieder mit einem leeren Ausdruck auf den See hinaus.

Da legte er die Hand, zitternd von der furchtbaren Anstrengung dieses tollen Laufes, auf ihre Schulter, und mit einer Stimme, aus der all die Todesangst um sie bebte, nannte er noch einmal, beschwörend, zärtlich vorwurfsvoll, ihren Namen.

Wie dieses »Gottliebe« in ihre Seele drang, wie sie der Griff seiner zitternden Hand erschauern machte! – diese Sekunde verriet ihr, was er für sie empfand.

Ein Aufschwellen höchster Seligkeit brandete da in ihrer Brust auf, dann aber folgte im nächsten Moment der zerschmetternde Sturz in die abgründige Tiefe schwarzer Hoffnungslosigkeit. Was zeigte ihr das erbarmungslose Schicksal erst ein Glück, dessen sie doch nie teilhaftig werden konnte? Und sie barg mit leisem Aufstöhnen das Gesicht in die Hände, daß er das Zucken ihres Antlitzes nicht gewahren sollte.

»Reden Sie doch nur – ich beschwöre Sie! – Nur ein Wort! Was wollten Sie hier?«

»Fort!«

»Das sollen Sie nicht – das dürfen Sie nicht! Hierbleiben sollen Sie, Gottliebe! Es wird Ihnen jede Genugtuung werden. Meine Frau wird Sie um Verzeihung bitten und noch heute mein Haus verlassen.«

»Und Rehe?«

Sie verharrte noch immer so, ohne aufzusehen, das Antlitz in den Händen.

»Rehe wird einsehen, daß sie kindisch war, von ihrer Mutter aufgestachelt –«

»Nein, nein!«

In leidenschaftlichem Ausbruch streckte sie plötzlich die beiden Hände geballt von sich, daß er nun ihr blasses, schmerzverstörtes Gesicht sah.

»Ich werde es nie vergessen, wie sie mich anstarrte, voll Entsetzen, voll Abscheu – wie eine Aussätzige, wie eine Verruchte!«

Erschüttert sah er sie an, so schmerzerstarrt. Was hatte sie gelitten! Aber dann durchzuckte sie ein Entschluß.

»Nein, nein! Lassen Sie mich fort!«

Sie stieß es verzweifelt aus und sprang auf, ihm zu enteilen.

Aber da umfing sie sein Arm.

»Sie müssen bleiben – um meinetwillen!«

Wie gelähmt lag bei diesem Wort ihr Leib einen Moment in seinem Arm. Da war es, wovor sie hatte flüchten wollen. Und wie in einem Schwindel schloß sie die Augen.

Eine berauschende Seligkeit strömte über ihn dahin, wie er sie so hielt, die Zarte, Widerstandslose.

»Ja, um meinetwillen, Gottliebe!«

Noch einmal bekräftigte er es, mit leiser, bebender Stimme, »wenn Sie es nicht tun wollen Rehes wegen, so denken Sie doch an mich, wollen Sie mir das einzige, bescheidene und mich doch so beseligende Glück rauben, Sie wenigstens um mich zu haben, Sie zu sehen, mit Ihnen zu wandern und meine Gedanken zu teilen? Wollen Sie mich denn wieder ganz arm, bettelarm werden lassen – viel ärmer noch als zuvor, wo ich ja wenigstens nicht wußte, daß da eine Frau auf der Welt ist, deren Besitz mir alle Seligkeiten des Lebens geschenkt haben würde?«

Regungslos, von süßen Schauern überrieselt, hörte sie seine Worte an; in diesen flüchtigen Sekunden die höchste Wonne ihres Daseins auskostend. Aber als er nun geendet, als mit seiner Stimme der Zauberbann erloschen war, der sie wie ohnmächtig an seiner Schulter hatte lehnen lassen, da riß sie sich plötzlich von ihm los.

»Das hätten Sie mir nie sagen sollen – nie!« Totenblaß, mit großen, starren Augen sah sie ihn an. »Nun haben Sie selbst es mir ja unmöglich gemacht, in Ihrem Hause zu verbleiben.«

»Gottliebe!«

In höchstem Erschrecken hob er die Hände zu ihr hin.

Aber sie fuhr fort, mit unerschütterlicher Festigkeit, den Blick voll auf ihn geheftet.

»Wie sollte ich Ihrer Tochter in die Augen sehen können, nach diesem Geständnis eben?«

»So vergessen Sie meine Warte! Betrachten Sie sie als nie gesprochen!«

Verzweifelt rief er es aus, flehend, beschwörend.

»Das kann ich nicht!« Mit einem festen Ton sagte sie es, und in ihren Augen leuchtete noch einmal all der Abglanz des beseligenden Glücksgefühls jenes flüchtigen Moments vorhin auf.

»Warum nicht?«

»Weil diese Ihre Worte das ganze Glück meines Lebens ausmachen – von dem ich nun fortan zehren soll bis an das Ende.«

Voll sah sie ihm ins Gesicht bei diesem Geständnis, mit einem Strahl unendlicher Liebe in den Augen.

Da schwand ihm jedes Besinnen. »Gottliebe!« Und im Sturm seiner Gefühle wollte er sie an sich reißen, mit einer wilden, über alles dahinbrausenden Leidenschaft.

Eines Blitzes Länge war es ihr, als müsse sie ihm nun widerstandslos verfallen, im süßen Taumel, als wolle die ganze Welt um sie herum versinken – nur sein, sein, ganz sein! Das einzige Gefühl, das sie beherrschte.

Aber da schoß plötzlich Rehes Bild vor ihr auf: Die dunklen Augen starrten sie voll Entsetzen und Abscheu an – und mit einer heftigen Bewegung entzog sie sich seiner Umarmung.

»Halt!« Abwehrend streckte sie die Hände vor. »Wenn Sie mich auch achten, Herr v. Malmort!«

Da stand er wie erstarrt vor ihr. Noch ein letzter furchtbarer Kampf mit seinem aufgestörten, wild emporlohenden Empfinden, dann trat er zurück, es war, als sänke er nach der ekstatischen Anspannung schlaff zusammen.

»Wie Sie befehlen.«

Seine Stimme klang tonlos.

Mechanisch schritten sie so ein Stück am Seeufer dahin, er ein völlig Niedergebrochener – sie eine Beute innigsten Mitleids und brennenden Wehs. Sie hätte aufschreien mögen vor Qual; aber von den fest zusammengepreßten Lippen rang sich kein Laut.

»Also Sie wollen dann fort – noch heute vermutlich?«

Wie klanglos sein sonst so wohltönendes tiefes Organ war! So rauh und brüchig wie der Ton einer Glocke, durch die ein Wetterschlag einen Riß gemacht hat.

Sie nickte nur matt statt jeder Antwort und hielt den Blick abgewandt. Sie hätte den Anblick der trostlosen, geliebten Züge ja nicht ertragen.

»So gehen Sie am besten heut abend nach Thalwys. Sie können dann morgen früh mit der Post weiter nach dem Engadin zu.«

Es war ihr recht so; sie war zu müde, um selber Pläne zu machen.

Er schlug den Weg zum Schloß zurück ein, und schweigend folgte sie ihm. Sie war vorhin, in ihrer furchtbaren Erregung, fortgestürzt ohne ihr Reisegepäck; also mußte sie ja noch einmal hinauf. Außerdem wollte sie seiner Leute wegen auch in formell richtiger Weise Abschied nehmen. Auch das Wiedersehen mit Frau v. Malmort und Rehe schreckte sie jetzt nicht mehr; was war das alles gegen das, was diese Minuten eben für sie bedeutet hatten? Mochte jetzt kommen, was da wollte, es traf sie nicht mehr, es war ihr so gleichgültig. Da drinnen bei ihr war alles so kalt und tot.

Wortlos stiegen sie so höher und höher, denselben Weg, den sie damals hinaufgeschritten waren nach dem Abenteuer am See, am ersten Tage, wo sie sich kennen lernten. Wie deutlich jeder Moment dieser Begebenheit vor ihr stand. Damals fing es an, daß ihre Seelen zueinander sich hinfanden. Und wieder sah sie seinen aufleuchtenden Blick, fühlte sie seinen ersten Händedruck: »Brav, Kamerad!«

Das sollte nun alles vorbei sein – für immer! Nie wieder sollte sie die geliebte Stimme hören, nie wieder in sein gutes, ernstes Auge sehen!

Ein dumpfer Laut brach sich endlich von ihren Lippen, und sie blieb stehen. Sie fühlte – sie war am Ende mit ihrer Kraft.

»Bitte – lassen Sie mich allein. Gehen Sie vorauf. Ich komme nach.«

Es zerschnitt ihm das Herz, sie so zu sehen, und noch einmal kam es auch über ihn; doch nicht mehr die Glut verzehrender Leidenschaft, nein – ein heiliges, stilles Leuchten entsagender Liebe, die sich bereits losgerungen hat von allem Begehren.

»Ich will es tun, Gottliebe. Aber eine Bitte müssen Sie mir noch erfüllen: Erlauben Sie mir, Sie heute abend ein Stück zu begleiten. Lassen Sie nicht eben das unsern Abschied gewesen sein, die letzten Eindrücke voneinander, vergönnen Sie mir noch einmal, mit Ihnen auf die ewigen Firnen zu schauen, im Scheidekuß der Sonne – da sollen dann auch unsere Seelen voneinander sich trennen.«

Einen Augenblick schwankte sie, von widerstreitenden Empfindungen hin und her gerissen. Würde sie einem nochmaligen Losreißen voneinander gewachsen sein? Sie hatte sich ja noch nicht zu jenem wunschlosen Lieben durchgerungen, in ihr glomm in der Tiefe noch der Brand, bereit, jeden Moment verzehrend wieder aufzulohen. Aber sie vermochte ihm diese letzte Bitte nicht auch noch abzuschlagen.

»Gut – begleiten Sie mich. Aber nur als Freund und Kamerad, wie Sie es bisher taten, Herr v. Malmort. Und nun bitte – gehen Sie!«

Da dankte er ihr mit einem traurig-stillen Lächeln und tat dann nach ihrem Wunsche.

* * *

Die Stunde des Abschieds war da; der Rucksack lag gepackt neben Mantel und Pickel; bald mußte Malmort kommen, Gottliebe abzuholen zu dem letzten Gang miteinander.

Nun trat sie noch einmal ans Fenster des Gemachs, das sie so lange traulich beherbergt hatte und blickte hinaus in den Schloßhof, wo die schrägfallenden Strahlen der Nachmittagssonne zitterndes, goldenes Flechtwerk auf die altersgrauen Steinquadern hefteten. In tiefes, wehzitterndes Träumen versunken stand sie so. Da machte ein Geräusch sie auffahren: die Tür ging. Malmort?

Sie kehrte sich langsam herum und gewahrte nun statt des Erwarteten Rehe. Sie hatte sich heute mittag mit ihr wie mit der Mutter formell wieder ausgesöhnt – Frau v. Malmort hatte der Wagen bereits vor zwei Stunden wieder davongeführt – aber es war zwischen ihr und dem Mädchen, das da jetzt zögernd, gesenkten Hauptes an der Tür stehen blieb, doch nicht mehr zu der alten Vertraulichkeit gekommen. Es war eine unübersteigbare Schranke zwischen ihnen.

Wortlos blickte Gottliebe eine Weile auf das Mädchen, mit einem stillen Schmerz: Auch das aus, was so schön begonnen hatte! Dann brach sie zuerst das lastende Schweigen, in mildem, ernstem Ton:

»Nun, Rehe, kommst du mir Lebewohl zu sagen?«

Der ruhige Ton der Frauenstimme mit dem leis schmerzlichen Unterton, machte das junge Geschöpf da in all seinem Weh und seinen marternden Zweifeln erbeben. Im nächsten Augenblick flog sie auf Gottliebe zu, und in einem Ausbruch namenloser Verzweiflung kniete sie vor ihr hin.

»Gib mir den Glauben an dich – an meinen Vater wieder!«

Aufschreiend umklammerte sie die Knie der Freundin und vergrub ihr Gesicht in ihren Schoß.

Sanft legten sich Gottliebes Hände auf ihren Scheitel.

»Wie soll ich das, Kind, wenn du meinen eigenen Worten und dem Widerruf deiner Mutter nicht traust?«

»Verzeih mir, verzeih!« schluchzte Rehe auf. »Ich möchte dir ja glauben – so namenlos gern. Aber ich kann jene Stunde heute Vormittag nicht vergessen, wo der Vater nach dir fortstürzte, in einer Angst, wie man sie nur um den geliebtesten Menschen auf der Welt empfindet! – Siehst du, das frißt mir am Herzen, das läßt den Stachel des Argwohns nicht aus meiner Seele kommen, daß die Mutter doch recht hatte, daß Ihr jetzt alle mir nur etwas vorspielt, auf Verabredung, um mich zu schonen!«

Gottliebes Gesicht war in jähes Rot getaucht, nun aber stand eine tiefe Blässe auf ihren Zügen, die sich jetzt mit fester Entschlossenheit der zu ihr Aufschauenden zuwandten.

»Rehe!« Ihre Stimme hatte einen feierlichen Ernst, als wäre jedes ihrer Worte jetzt ein heiliger Schwur.

»Rehe! Was dein Vater in tiefster Seele empfindet, das ziemt dir als Kind nicht zu ergründen – davon mußt du in ehrfurchtsvoller Scheu die Augen wenden. Aber eins will ich dir versichern, hier bei deinem Haupte, das in meiner Hand ruht: Es ist nichts zwischen deinem Vater und mir geschehen, was den Pflichten gegen seine Frau, der Würde vor seinem Kinde, den leisesten Abbruch täte – es ist nicht und wird nicht, so wahr ich lebe! – Und nun steh auf, Rehe. Du hast deinem Vater schwerstes Unrecht abzubitten – nicht du ihm, aber er kann dir frei ins Auge sehen, bei allem, was mir heilig ist!«

Abermals erschütterte ein leidenschaftlicher Gefühlsausbruch, diesmal tiefster Reue und Scham, den ganzen Körper des jungen Geschöpfes, so daß Gottliebe sie mütterlich zu sich heraufzog.

»Laß nun gut sein, Rehe – laß gut sein. Und nun leb wohl!«

Sie drückte einen langen Kuß auf Rehes Stirn mit zitternden Lippen.

»Vergiß mich nicht, Rehe, und entschädige du deinen armen Vater wenigstens für all das, was ihm das Leben versagt hat.«

Schmerzzerrissen, leidenschaftlich erwiderte das Mädchen ihre Liebkosungen, aber dann drängte Gottliebe sie mit sanfter Gewalt zur Tür.

»Und nun geh – bitte! Laß mich noch ein Weilchen hier allein.«

Rehe gehorchte.

Allein mit sich, schritt Gottliebe langsam aber mit festem Entschluß zum Tisch am Fenster. Dort ließ sie sich nieder und warf einige Worte auf einen Briefbogen – für Malmort bestimmt.

»Ich gehe nun doch ohne Abschied, verzeihen Sie mir es; aber ich kann nicht anders. Eben habe ich Ihrem Kinde geschworen, daß Sie ihm allezeit offen ins Auge werden blicken können, und daß sie stets an mich als an eine Makellose wird denken können. Ich will nicht falsch geschworen haben. Ich kann nicht für mich einstehen bei einem letzten Beisammensein zwischen uns, allein, in der Einsamkeit. Denn – einmal sei es gesagt, was den Inbegriff unfaßbarer Seligkeit für mich hätte bedeuten können – ich liebe dich, liebe dich zu unsäglich, Wulfrin Malmort! – Und nun leb wohl.«

Mit fester Hand schrieb sie zu Ende, verschloß den Brief in einen Umschlag und adressierte ihn. Dann hing sie Mantel und Rucksack um, griff zum Pickel und schritt zur Tür.

Ein kurzes Lauschen – draußen kein Laut auf dem langen Gang – da huschte sie aus dem Zimmer, und unhörbar schlich sie sich Flur und Treppe hinab, wie eine Flüchtende eilte sie über den Hof – niemand war Gott sei Dank gerade in dem einsamen, grauen Gemäuer zu sehen – und in der nächsten Minute schloß sich leise hinter ihr die kleine Austrittspforte im Schloßtor.

So entfloh Gottliebe unbemerkt von dem Kastell, ohne noch einmal den Blick zurückzuwenden.

* * *

Friede! – Friede ringsum auf den schon dunklen Matten drunten zu Füßen der Felsenkuppe, der Breza dei Malmorti, auf dem regungslosen schwarzen Seespiegel in der Tiefe des Tals und auf den rosig angehauchten Firnen droben, die im letzten Scheidekuß des Taggestirns sanft erglühten – nur kein Friede in der Brust der Einsamen, die da auf dem Boden ausgestreckt lag, die fieberglühende Schläfe an den harten Fels gepreßt, der doch fühllos und starr war wie das Schicksal, das sie zerschlagen hatte.

Erbarmungslos zerschlagen!

Denn was war nun noch daran an ihr und ihrem Leben? Ein müdes Sichhinschleppen, trostlos, freudlos bis an ihr Ende.

Ah, dieses Schicksal! Dieser dunkle Dämon, der mit hohnvollem Lächeln jetzt auf sie herniederstarrte, die zerbrochen am Boden lag.

In zitterndem Grimm ballte sie die Hände, daß die Nägel sich ihr schmerzend ins Fleisch bohrten.

Daß er sie so genarrt hatte!

Was mußte er ihr erst das Land der Seligkeiten zeigen, in das sie doch nie kommen sollte? So hätte sie ihr Leben weiterführen können wie bisher; zwar nicht besonders freudvoll, mit einem leisen Sehnen im Herzen, aber doch erträglich – denn sie hatte ja noch nie gekostet, wie der Sonnenschein des wirklichen Glücks das Blut jubelnd pulsend durch die Adern treibt.

Aber hier hatte sie es kennen gelernt, hier auf dieser Stelle, wo er damals neben ihr gestanden und mit stolzer Gebärde ihr den Ursprung seines Geschlechts gewiesen hatte. Da war es über sie dahingebraust in einer heißen Woge – einem Mann zu eigen zu sein, ganz sein – ihm zu eigen, dem einzigen auf der Welt, zu dem sie emporsehen mußte in hingebender Liebe und Verehrung – dem einzigen aber auch, der für sie unerreichbar bleiben mußte immerdar.

Und doch wäre es auch sein höchstes Glück gewesen, mit ihr vereint zu sein. Sie wußte es ja nun aus seinem eigenen Munde.

Oh, ein Glück, nicht auszudenken!

In ihm ganz aufzugehen, in sein verdüstertes Leben wieder frohes Licht zu werfen, mit sanfter, liebender Hand zu heilen, wieder allmählich aufzubauen, was eine Unwürdige niedergerissen hatte – was hätte es Größeres, Heiligeres für eine Frau geben können?

Und warum war ihr dies Los nicht beschieden – warum?

Nur weil blinder Wahn, Menschensatzung es verbot!

Unseliger Aberwitz, um dessentwillen sich zwei Menschen verbluten mußten! Wem war mit diesem Opfer gedient? Dem Gott der Liebe da droben? Den beiden, die da zähneknirschend aneinandergeschmiedet bleiben mußten, weil die kupplerische Natur sie in jugendlicher Ahnungslosigkeit einst eingefangen? Ihrem Kinde, das so das friedvolle Glück eines Vaterhauses nie kennen lernte?

Warum also – warum?

In qualvollem Aufstöhnen grub Gottliebe die Hände in den harten Fels.

Und wenn sie doch nur eine Stunde des Glücks hätte wenigstens durchleben können in seinem Arm! Einmal sich satt trinken, den lechzenden Durst mit vollen, wonnigen Zügen stillen! Einmal reich sein, königlich reich, in seinem Leben! Dann hätte sie doch gewußt, warum sie nachher darben und dürsten mußte. – Aber auch das nicht einmal!

»Wulfrin Malmort!«

In verzweifeltem, unerfüllbarem Sehnen drang der Name aus gemarterter Brust laut hinaus in die schlummermüde Einsamkeit.

»Gottliebe!«

Wie ein Echo klang es zu ihr zurück.

Wie denn?

Doch nur eine Täuschung ihrer aufgepeitschten Nerven!

Aber dennoch lauschte sie, den Atem angehalten, hinaus in die Dämmerung.

Da – noch einmal laut und deutlich ihr Name! Und die Stimme, die ihn rief!

Im nächsten Moment war sie auf den Füßen, sprang zum Rand der Kuppe – nein, keine Täuschung! Auf dem Wege eine hohe, dunkle Gestalt, die heraufstürmte. Er!

Ihr zitterte das Herz, bebten die Knie, wie sie ihn heraneilen sah. Etwas schrie in ihr: Hinweg, hinweg! Und doch stand sie wie erstarrt, wie willenlos. Sie fühlte, es sollte so sein – es gab doch kein Entrinnen mehr. Sie hatte dagegen angekämpft mit schier übermenschlicher Kraft, vergebens! – nun erwartete sie ihn wie ihr Schicksal.

Und plötzlich fiel in ihr Auge ein blutroter, brennender Schein, der sich, während sie abgewandt zu Tal geschaut hatte, droben auf den Firnen entzündet hatte. Der Sonnenball war schon versunken, Finsternis braute in den Tiefen, aber droben auf den Hochgipfeln glühte die jauchzende, lohende Glut.

War es nicht wie ein titanenhaftes, urgewaltiges Triumphieren über die Alltagsgesetze, die die Tiefen beherrschen? Der Hohe, der Starke, entwindet sich den Schranken; sein trotziger Mut setzt sich den Purpur lodernden Sonnenglanzes auf den Scheitel – er reißt das fliehende Licht an sich. Herrenhaft, unbekümmert um die dämmergraue, kleine Welt da unter ihm!

Nun war Malmort heran.

»Gottliebe – warum tatest du mir das?« Dicht stand er vor ihr, so dicht, daß sein heißer, vom Eilen fliegender Atem ihre Wange streifte.

»Woher wußten Sie?«

Wie mechanisch nur entrang sich ihr die Gegenfrage. Sie beherrschte dabei im Innern nur das eine dumpfe Gefühl der Erwartung einer Katastrophe, des unentrinnbaren Herannahens des Schicksals.

»Ich ahnte, ich wußte, daß du noch einmal hierherkommen würdest – zum Abschiednehmen. Und siehst du, mein Ahnen trog mich nicht!«

Triumphierend stieß er es hervor.

Sie starrte dabei in sein Gesicht, so verändert, mit flammenden Blicken, leidenschaftlich zuckend, so zum Fürchten und doch in Seligkeiten erschauern machend. So mußte Semele zumute gewesen sein, als sich Zeus über sie beugte, sie zu umfangen in seiner furchtbaren Herrlichkeit.

»Es trog nicht.« Noch näher neigte er sein Antlitz zu ihr, schon streifte sie sein Bart. »Es will, daß wir uns finden. Nun hab' ich dich!« – Wie unter einem Blitzschlag zuckte sie zusammen unter seiner Berührung. »Und nun laß ich dich nicht mehr. – Mein, mein! Ewig mein! Und wenn da draußen die ganze Welt zusammenbricht. – Du!«

Irre Küsse taumelten brennend auf ihr Gesicht nieder; sie litt sie, bewegungslos; aber dann zündete seine Glut in ihrer Seele. In leidenschaftlichem Ausbrechen umfing sie ihn, preßte sie sich an ihn – wie im Rausch. Nun hatte sie die ersehnte Stunde, die eine einzige des Glücks – nun wollte sie sie auskosten!

Und da gestand sie zwischen seinen atemraubenden Liebkosungen, leise stammelnd:

»Es mußte hier sein, Wulfrin! Es mußte. Die Stätte ist geweiht für uns.«

Er preßte sie von neuem an sich. Ja, ja – er wußte, weil er ihr damals erzählt, daß hier die Wiege der Malmorts gestanden.

Sie hatte die Hände um seinen Nacken geschlungen. So, das Haupt zurückgeneigt, sprach sie nun zu ihm weiter:

»Weißt du auch, was ich damals empfand, Wulfrin, als du hier mit mir standest, in Trauer über das Erlöschen deines Geschlechts?«

»Nun?«

Erwartungsvoll sah er ihr in die großen, feuchtschimmernden Augen, darin ein höchstes Leuchten entzündet war.

Mit einem leidenschaftlichen Ruck riß sie sein Haupt zu sich hernieder; so hauchte sie ihm mit glühendem Atem ins Ohr:

»Selig die Frau, die dir den ersehnten Erben schenken dürfte – dreimal selig!«

»Gottliebe!«

Sie fühlte sich hochgerissen, umklammert, wie zur Vernichtung, und dann brach es über sie herein wie eine brausende, prasselnde, alles niederwerfende Meereswoge, in der sie ertrank in seligem Ersterben. Nur an ihr Ohr scholl wie aus weiter dumpfer Ferne immer wieder ein einziges, leidenschaftszitterndes Wort: »Gottliebe, Gottliebe!«

Als sie wie aus tiefer Ohnmacht wieder erwachte, war die jauchzende Purpurglut auf den Firnen droben erloschen. Starr und bleich, gespensterhaft drohend, standen nun die Berggiganten über ihren Häuptern, die vorhin so bacchantisch gelockt hatten. Aber neben ihr kniete der geliebte Mann und bedeckte ihre Hand mit heißen Küssen.

Da war ihr alles wieder gegenwärtig, was geschehen war, und plötzlich sprang sie empor, einen erschütternden Schrei ausstoßend: »Rehe!«

Auch Malmort schreckte zusammen. Eine finstere Falte stand zwischen seinen Brauen; aber dann tröstete er:

»Es wird sich ein Ausweg finden lassen – ich werde sie nun doch in eine Pension schicken –«

Aber es war, als hörte sie ihn nicht. Wie irr starrten ihre Augen vor sich hin: Wortbrüchig, eine Ehrlose!

»Gottliebe – Einzige! So hör' doch!«

In liebevoller Angst wollte er sie an sich ziehen, aber sie stieß ihn fast zurück wie voller Entsetzen. Nur ein dumpf stöhnender Laut antwortete ihm; dann schlug sie die Hände vors Gesicht.

Erschüttert redete er auf sie ein, von Zukunftsplänen; er wolle sie nicht lassen – er könne es nicht! Sie wäre ihm mehr als sein eigen Kind. Und wenn er selbst zum Papst gehen sollte – er habe ja einen Verwandten in Rom, in hoher Stellung – er müsse nun die Scheidung seiner Ehe durchsetzen. Sie müsse sein werden, auch vor den Menschen – sein geliebtes Weib.

Aber all die beschwörenden, liebeatmenden Worte drangen nicht mehr zu ihrer Seele. Da stand, furchtbar aufgerichtet, nur das eine erbarmungslose Bewußtsein: Vernichtet!

Und wieder griff er nach ihren Händen.

Da gab sie ihr Antlitz frei, aber es war wie versteint: kein Blutstropfen mehr in dem starren, lieben Gesicht. Nur ein unerschütterlicher Entschluß stand darauf eingemeißelt.

»Nichts davon, Wulfrin! Das alles kann mir die Achtung deiner Tochter nicht wiedergeben. Es bleibt nur eines: wir trennen uns – auf der Stelle. Du gehst zurück in dein Haus, zu deinem Kinde, was du tatest, darüber bist du ihm keine Verantwortung schuldig – du wirst ihm ja dein ferneres Leben opfern – alles, was du noch zu geben hast, du Armer!«

»Und du?«

»Ich werde meinen Weg gehen.«

Das kurze Wort machte ihn erschauern; es wehte ihn plötzlich daraus an wie ein eisiger Todeshauch.

»Gottliebe!« Noch einmal schrie es verzweifelt in ihm auf. »Nein, nein, ich lasse dich nicht! Nicht so, nicht in dieser Stunde!«

»Sei ohne Sorge um mich, Wulfrin!« Ein eigenes Lächeln stand um ihren Mund. »Ich gehe sicher meinen Weg, und ich bin stark. Ich denke, du weißt es?«

In stummer Qual griff er nach ihrer Hand. Sie ließ sie ihm und preßte sie noch einmal mit heftigem Druck.

»Hab Dank, Wulfrin, für deine Liebe! Sie gab mir höchstes Glück; so ist das andere nun nur recht und billig. Und jetzt – leb wohl!«

»Muß es sein?«

Mit brennenden Augen starrte er sie an, tödliches Weh im Herzen.

»Es muß!«

»Dann leb wohl!«

Noch einmal brannten seine Lippen auf ihrem kalten Mund; wie ein niedergekämpftes Aufstöhnen rang es sich aus seiner Brust. Dann ließ er sie allein.

Sie schaute dem Davonschreitenden nach, starr und ohne Bewegen, bis seine Gestalt im Dunkel verschwunden war.

Da hob sie das Haupt und blickte um sich.

Der Mond war indessen über den Bergen drüben aufgegangen. Im Silberduft glänzten die Gletscher vom Jardiz delle Domnizelle herüber – märchenhaft, verträumt, wie mit leisem Winken.

Da nickte sie zu dem Garten der Saligen hin:

Ich komme zu euch – eine der euren, wie die eures Stammes, die einst dem ersten Malmort sich vermählt droben im Zauberschloß von Firn und Eis.

Und sie wandte den Fuß dorthin. – Ein einsames Wandern in der Mondnacht, allein im Fels, dessen Zacken unheimliche schwarze Schatten über die Hänge und Kare warfen. In hundert dunklen Höhlen und Schlüften lauerte das Grauen.

Starre, lautlose Einsamkeit ringsum. Doch horch! jetzt fern da droben, wo der ewige Schnee herrscht, ein seltsames Geräusch. Erst wie das dumpfe Grollen einer nach Beute lungernden Bestie, dann stärker wie heranziehender Donner, und nun heulte ein Gebrüll durch die nächtliche Finsternis, das das Blut in den Adern erstarren machte – der massige Leib des Gebirges erzitterte: prasselnd, krachend, fauchend und dröhnend fuhr eine Lawine in naher Bergrinne zu Tal.

Doch die einsame Wanderin schreckte es nicht. Gleichmäßig, ohne Halt, klomm sie den weiten, ihr ja bekannten Weg hinauf zur Höhe. Wie zerbrochen war alles in ihrem Innern – mit einem dumpfen Gefühl, als wäre alles seelische Leben in ihr erstarrt, schritt sie bergan, nur von der einen allgewaltigen Vorstellung beherrscht: Zu Ende, zu Ende!

Was waren ihr die Schrecknisse der Natur? Was konnte noch Furchtbareres kommen, nachdem das Herz längst erstorben war? Wenn alles vorbei war, das Hoffen und Fürchten? was andere in Schrecken erstarren ließ, das konnte für die arme, in Qual versteinerte Seele nur noch willkommene Erlösung sein!

So achtete sie nicht auf den Wandel, der sich am Himmel vollzog, wie allmählich jagende, düstere Wolkenheere den Mond überzogen und nicht mehr freigaben; wie aus den Bergschlüften und Tälern graue, kalte Nebel krochen, höher und höher die Berge hinaufschleichend und umzingelnd.

Was tat es ihr? War ja doch Licht genug, den Weg zu finden; denn schon kämpfte sich das erste, frostige Tagesgrauen durch die Nacht.

Aber nun kam ein anderer Feind den unheimlichen Bedrängern zu Hilfe.

Der Weg hatte sich gewandt, und um den Bergrücken herum sprang aus vergletscherter Schlucht wütend ein eisiger Sturm die einsame Wanderin an, die auf schneidend schmalem Grat balancierte. In heftigen Stößen suchte er sie zu packen, rang er mit ihr, sie am Mantel zerrend, um sie in die grausige Tiefe zur Linken zu schleudern.

Aber noch kämpfte der streitgewohnte, stählerne Fuß mechanisch weiter – trieb ihn doch das beherrschende Gebot: Weiter, höher hinauf – ans Ziel!

Aber neue Gefahr. Der Grat wurde vereist. Keinen Halt fand der Fuß mehr am glasharten Eisbelag, und die Hand mußte ihm zu Hilfe kommen mit wuchtigem Stufenschlagen.

Ein Kampf um Leben und Tod nun – wer wird der Stärkere sein?

Handbreit nur der Grat, rechts und links in trügerischem, blendendem Weiß nur lose angeklebte Wächten, bereit, wie heimtückische Falltüren, die vom Wege irrende Bergbezwingerin in tosendem Zusammenbruch zur Tiefe zu schleudern.

Auf dieser Schneide rang sich die furchtlose Kämpferin Schritt für Schritt empor, jetzt auch noch umwirbelt von treibenden Schneeflocken, von spitzen Eiskristallen, die sich wie winzige aber schneidende Pfeile ins Antlitz bohrten. So rang sie immer und immer wieder, sich anstemmend gegen die tobenden Anfälle des gierig aufheulenden, nach ihr stoßenden Sturms.

Ein furchtbares Ringen.

Noch immer war kein Ende des Grates zu sehen, und der Eishauch drang erstarrend durch das durchnäßte Gewand Gottliebes bis ins Mark; kaum vermochten ihre frostgelähmten Finger noch den Pickel zu umklammern, das letzte Mittel der Rettung auf diesem Todeswege. Wehe, wenn auch das noch versagte!

Aber wozu noch der Kampf? Grüßten da zur Seite nicht eben schon die blauschimmernden Türme und Zinnen, die Eispaläste der Saligen? War nicht das Ziel da, das sie sich gesetzt?

Und die Hand der Kämpferin sank, wie des fruchtlosen Weiterringens müde, plötzlich hernieder.

Ihr leerer, starrer Blick saugte sich fest an den phantastischen Eisgebilden, die da, wenn der Sturm einmal die Nebel zur Rechten zerriß, durch die tollen Flockenwirbel auftauchten.

Da hausten sie, die Saligen. Ob jene, die dem ersten Malmort das Leben geschenkt, wohl auch das Glück der Liebe so gebüßt haben mochte, mit zertretenem Herzen wie sie?

So stand sie wie ein Bild aus Stein, mit großen, irren Augen in die Tiefe starrend.

Da war es ihr, als ob drunten aus gähnendem Gletscherspalt plötzlich Gestalten auftauchten. Oder war's nur ein Spuk ihres Hirns, das zu erstarren begann von dem eisigen, tödlichen Frosthauch, der an ihrem Leib, von den Füßen her, heraufschlich.

Gestalten – lockend, winkend!

Und nun ein Antlitz, wohlbekannt, aber lang vergessen in wilden Stürmen des Herzens: Ein blasses Gesicht, an den Schläfen die klaffende Todeswunde vom Sturz in die Tiefe.

Noch größer, geisterhafter ward der Blick der Erstarrenden.

Was willst du hier auf einmal, du stiller Schläfer, der du doch längst die ewige Ruh gefunden, weit drüben im friedlichen Gottesacker, jenseits der Berge?

Was schaust du so vorwurfsvoll, so streng?

Du meinst, weil ich jenem andern gab mit vollen Händen, was ich dir versagte? Daß ich dich in den Tod trieb mit stolzem Ausbruch verletzter Frauenehre, ich, die sich nun so ganz hingab an einen Mann – in Sünden und Schmach!

So meinst du. Und dennoch trifft mich dein stummer Vorwurf nicht! – Hochauf richtete sich, sieghaft und stolz, noch einmal der Leib der Frosterstarrenden – denn wisse: Dem ich mich zu eigen gab, den liebte ich, liebte ich mehr als mein Leben und segne ihn noch in dieser Stunde. – Also hinweg! Du sollst mir sein Bild nicht stören, das letzte, das meine Augen sehen sollen.

Eine heftig abwehrende Bewegung Gottliebes nach der Tiefe hin, im selben Augenblick ein neuer, rasender Anfall des Sturmes, da glitt der Fuß aus schützender Stufe, ein heller Schrei, das Sturmgeheul übertönend: »Wulfrin, Wulfrin!« – dann war die einsame Menschengestalt vom Grat verschwunden, die gähnende Tiefe hatte sie verschlungen.

Zur Stammutter der Malmorts hatte sich heimgefunden, die den Letzten des alten Geschlechts liebend umfangen, und der heulende Sturm sang über ihrem Grabe in dunkler Eisspalte ein dämonisches Sterbelied.

 


 


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