Maxim Gorki
Das Werk der Artamonows
Maxim Gorki

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Zweiter Teil

Erst als sich der Sterbetag des Vaters zum neunten mal jährte, wurden die Artamonows mit dem Bau der Kirche fertig und weihten sie auf den Namen des Propheten Elias. Es wurde sieben Jahre daran gebaut, und an dieser Verzögerung war Alexej schuld.

»Gott wird warten, er hat keine Eile«, scherzte er häßlich und verwandte zweimal die für die Kirche bestimmten Ziegelsteine für andere Zwecke, einmal für das dritte Fabrikgebäude, ein anderes Mal für das Krankenhaus.

Nach der Weihe, als die Totenmesse an den Gräbern des Vaters und der Kinder vorüber war, warteten die Artamonows so lange, bis alle Leute den Kirchhof verlassen hatten, und gingen dann langsam nach Hause; sie taten in zartfühlender Weise so, als bemerkten sie nicht, daß Uljana Bajmakowa auf der Bank unter den Birken innerhalb der Einfriedigung der Familiengruft zurückblieb. Sie hatten keine Eile, – das feierliche Mahl für die Geistlichkeit, ihre Bekannten, Angestellten und Arbeiter war erst für drei Uhr angesetzt.

Es war ein grauer Tag, der Himmel war herbstlich düster: ein feuchter Wind schnaubte wie ein müdes Pferd, schüttelte die Wipfel des Fichtengehölzes und prophezeite Regen. Auf dem fuchsroten Streifen der sandigen Straße bewegten sich die kleinen, dunklen Gestalten der Menschen, die zur Fabrik hinabstiegen; die drei radial angelegten Gebäude bohrten sich wie krampfhaft ausgestreckte, rote Finger in die Erde.

Alexej sagte, seinen Stock schwingend:

»Unser seliger Vater würde sich freuen, wenn er sehen könnte, wie weit wir sind!«

»Er würde sich über die Ermordung des Zaren ärgern«, erwiderte Pjotr nach einiger Überlegung, da er dem Bruder nicht zustimmen wollte.

»Nun, er war nicht sehr dafür, sich zu ärgern. Er lebte nach seinem eigenen Verstand und nicht nach dem des Zaren.«

Alexej zog seine Mütze tiefer herab und blieb stehen, um nach den Frauen zu sehen. Seine kleine, schlanke Frau schritt in einem einfachen, dunklen Kleide leicht über den aufgewühlten Sand und putzte sich mit einem Taschentuch die Brille. Sie sah aus wie eine Dorfschullehrerin, neben der üppigen Natalia, die einen schwarzen Seidenumhang mit Perlenstickerei auf Schultern und Ärmeln trug; ein dunkellila Kopfputz umrahmte anmutig ihr reiches, rötliches Haar.

»Deine Frau wird immer schöner.«

Pjotr schwieg darauf.

»Und Nikita ist wieder nicht zur Totenfeier gekommen. Ist er uns vielleicht böse?«

An feuchten Tagen hatte Alexej in der Brust und in einem Bein Schmerzen; er hinkte leicht und stützte sich auf den Stock. Alexej wollte sich über den wehmütigen Eindruck der Totenmesse und des trüben Tages hinwegsetzen und bemühte sich in seinem Eigensinn, den Bruder zum Sprechen zu bringen.

»Die Schwiegermutter ist zurückgeblieben, um am Grabe zu weinen. Sie hat noch immer nicht vergessen. Eine gute Alte! Ich habe Tichon zugeflüstert, er soll auf sie warten und sie begleiten; sie klagt über Atemnot und sagt, das Gehen fiele ihr schwer.«

Pjotr wiederholte halblaut und gezwungen:

»Ja, es fällt schwer.«

»Schläfst du? Was fällt schwer?«

»Wir müssen Tichon entlassen«, antwortete Pjotr und blickte seitlich auf die Hügel, auf denen sich die Tannen böse wie Borsten sträubten.

»Weswegen?« fragte der Bruder erstaunt. »Er ist ein ehrlicher, pünktlicher Mensch, auch ist er nicht faul . . .«

»Er ist ein Dummkopf«, fuhr Pjotr fort.

Die Frauen holten sie ein; Olga sagte mit angenehmer, für ihre kleine Gestalt unerwartet kräftiger Stimme zu ihrem Manne:

»Ich rede Natalia zu, sie soll Ilja ins Gymnasium schicken. Sie fürchtet sich aber.«

Die schwangere Natalia watschelte wie eine satte Ente. Sie sagte langsam und näselnd, im Tone einer älteren Frau:

»Ich finde, das Gymnasium ist eine schädliche Mode. Jelena gebraucht zum Beispiel in ihren Briefen solche Worte, daß man sie gar nicht verstehen kann.«

»Alle müssen lernen, alle!« erklärte Alexej streng, nahm die Mütze ab und wischte sich die schweißige Stirn und die vorzeitige Glatze, die von den Schläfen im scharfen Winkel zum Scheitel hinaufstieg und sein Gesicht beträchtlich verlängerte.

Natalia stritt mit ihm und blickte dabei ihren Mann fragend an:

»Pomialow meint mit Recht: das Lernen macht menschenscheu.«

»Ja«, sagte Pjotr.

»Da seht ihr ja!« rief Natalia befriedigt aus. Ihr Mann fügte aber nachdenklich hinzu:

»Man muß lernen.«

Alexej und Olga lachten; Natalia sagte vorwurfsvoll:

»Was fällt euch ein? Habt ihr vergessen? Ihr kommt von einer Totenmesse.«

Sie faßten sie unter die Arme und beschleunigten ihre Schritte, während Pjotr zurückblieb:

»Ich will auf die Mutter warten.«

Der ihm so unangenehme Tichon Wialow hatte ihn geärgert. Vor der Totenmesse hatte Pjotr vom Kirchhof aus von weitem die Fabrik betrachtet und, ohne zu prahlen, einfach nur, um das, was er sah, festzustellen, laut zu sich selbst gesagt:

»Unser Werk hat sich gut entwickelt.«

Und sogleich hörte er hinter der Schulter die ruhige Stimme des ehemaligen Erdarbeiters:

»Das Werk ist wie der Schimmel im Keller, – es wächst aus eigener Kraft.«

Pjotr erwiderte ihm nichts und wandte sich nicht einmal um. Er war aber durch die offensichtliche, kränkende Dummheit von Tichons Worten empört. Er selbst arbeitet, läßt Hunderte von Menschen ihr Brot verdienen, denkt bei Tag und bei Nacht an das Werk, sieht und fühlt sich selbst nicht vor all den Sorgen, die es ihm bereitet, – und plötzlich sagt so ein unwissender Dummkopf, das Werk verdanke seine Entwicklung der eigenen Kraft und nicht dem Verstand des Besitzers. Und dabei murmelt dieser nichtige Mensch immer etwas von der Seele und von der Sünde . . . Artamonow setzte sich für eine Weile auf einen alten Fichtenstumpf an der Straße hin, zupfte sich am Ohr und erinnerte sich daran, wie er einmal vor Olga geklagt hatte:

»Man hat keine Zeit, um an die Seele zu denken.«

Er hatte die seltsame Frage als Antwort erhalten:

»Lebt denn deine Seele von dir getrennt?«

Er glaubte in diesen Worten einen weiblichen Scherz zu hören, doch blieb Olgas Vogelgesicht ernsthaft und ihre dunklen Augen leuchteten freundlich hinter den Brillengläsern.

»Ich verstehe nicht«, sprach er.

»Und ich verstehe nicht, wie man von der Seele als von etwas vom Menschen Getrenntem sprechen kann, als wäre sie eine an Kindes Statt angenommene Waise.«

»Das ist mir unklar«, hatte Pjotr erwidert – und mochte nicht weiter mit dieser Frau sprechen: sie war ihm sehr fremd und wenig verständlich und gefiel ihm trotzdem durch ihre Schlichtheit, aber sie rief die Befürchtung hervor, daß unter der äußerlichen Schlichtheit Schlauheit verborgen sein könnte.

Tichon Wialow hatte ihm seit jeher mißfallen.

Es war Pjotr widerwärtig, immer dieses breitknochige, fleckige Gesicht, die seltsamen Augen und die am Schädel festklebenden, in dem rötlichen Haar versteckten Ohren sehen zu müssen, wie auch den spärlich wachsenden Bart, Tichons langsamen, aber beweglichen Gang und seinen ganzen plumpen, stämmigen Körper. Seine Ruhe war unangenehm und doch beneidenswert; selbst seine Genauigkeit bei der Arbeit reizte ihn. Tichon arbeitete wie eine Maschine und gab fast nie zu einem Vorwurf Anlaß, doch auch das ärgerte Pjotr. Und es wurde ihm immer unangenehmer zu sehen, wie dieser Mensch mit jedem Jahre tiefer Wurzel im Hause faßte und sich offenbar als unentbehrliche Speiche im Lebensrad der Artamonows fühlte. Es war seltsam, daß die Kinder ihn ebenso liebten wie die Hunde und Pferde. Der alte Wolfshund Tulun, der an der Kette lag und dadurch erbittert war, ließ außer Tichon niemanden an sich heran, und der eigenartige Ilja, der älteste Sohn, gehorchte Tichon mehr als dem Vater und der Mutter.

Um Wialow aus seinem Gesichtskreis zu entfernen, bot Artamonow ihm die Stelle eines Küsters oder eines Försters an. Aber Tichon schüttelte abweisend den schweren Kopf.

»Ich tauge nicht dazu. Wenn du mich aber satt hast, dann erhol' dich für eine Weile von mir und laß mich für einen Monat fort. Ich möchte Nikita Iljitsch besuchen . . .«

Er sagte wörtlich: »erhole dich von mir«. Dieser dumme, freche Ausdruck in Verbindung mit der Erwähnung des irgendwo hinter den Sümpfen in einem armen Waldkloster verborgenen Bruders erweckte in Pjotr einen bangen Verdacht: außer den Dingen, die Tichon von Nikita erzählte, als er diesen aus der Schlinge gezogen hatte, mußte er wohl noch irgend etwas Schmachvolles wissen; es war, als erwarte er neues Unglück, – seine flimmernden Augen mahnten:

»Rühr' mich nicht an, du brauchst mich doch.«

Schon dreimal hatte Tichon das Kloster besucht. Er hängte sich einen Ranzen auf den Rücken, nahm den Stock zur Hand und ging bedächtig fort; er schritt so über die Erde, als erweise er ihr eine Gnade, und alles, was er tat, geschah gewissermaßen aus Gnade. Bei seiner Rückkehr beantwortete er die Fragen nach Nikita knapp und dunkel; man hatte stets das Gefühl, daß er nicht alles sagte, was er wußte.

»Er ist gesund. Man achtet ihn. Er läßt für die Grüße und die Geschenke danken.«

»Was sagt er?« forschte Pjotr.

»Was soll denn ein Mönch sagen?«

»Was sagt er denn?« fragte Alexej ungeduldig.

»Er spricht von Gott. Er interessiert sich fürs Wetter und meint, daß es nicht zur rechten Zeit regnet. Er klagt über die Mücken. Dort gibt es soviel Mücken. Er fragte nach euch.«

»Was denn?«

»Er sorgt sich und bemitleidet euch.«

»Uns? Weswegen?«

»Im allgemeinen. Ihr lebt ja in so raschem Lauf, er ist aber stehengeblieben, da bemitleidet er euch wegen eurer Unruhe.«

Alexej rief lachend aus:

»So ein Unsinn!«

Tichons Pupillen erloschen, die Augen wurden leer.

»Ich weiß ja nicht, was er denkt, ich erzähle nur, was er sagte. Ich bin nur ein einfacher Mann.«

»Ja, das stimmt allerdings!« gab Alexej spöttisch zu. »So wie der Narr Anton!«

Der Wind wehte Pjotr Artamonow warme Düfte zu, und es hellte sich auf; aus der blauen Tiefe inmitten der Wolken kam die Sonne hervor.

Pjotr sah hin, aber es blendete ihn, und er versenkte sich noch mehr in seine Gedanken.

In dem Umstand, daß Nikita dem Kloster tausend Rubel geschenkt hatte, und, nachdem er sich eine lebenslängliche Jahresrente von hundertachtzig Rubeln ausbedungen, auf sein väterliches Erbteil zugunsten der Brüder verzichtete, lag etwas Kränkendes.

»Was sollen diese Geschenke?« brummte Pjotr. Alexej war aber erfreut.

»Wozu braucht er denn das Geld? Sollen etwa die Mönche, diese Müßiggänger, davon fett werden? Nein, er hat den rechten Entschluß gefaßt. Wir haben das Werk, wir haben Kinder.«

Natalia war ganz gerührt.

»Er hat also seine Schuld uns gegenüber nicht vergessen!« sprach sie befriedigt und wischte sich mit dem Finger eine einsame Träne von der rosigen Wange. »Das ist die Mitgift für Jelena.«

Diese Tat des Bruders legte sich wie ein Schatten auf Pjotrs Seele, denn in der Stadt wurde Nikitas Eintritt ins Kloster in höhnischer, für die Artamonows wenig schmeichelhafter Weise ausgelegt.

Pjotr vertrug sich gut mit Alexej, obwohl er sah, daß der gewandte Bruder für sich den leichteren Teil des Geschäftes erwählt hatte: er fuhr nach Nishni-Nowgorod zur Messe, war etwa zweimal im Jahr in Moskau und erzählte bei seiner Rückkehr märchenhafte Dinge von den Erfolgen der Industriellen in der Hauptstadt.

»Sie leben prunkvoll, nicht schlechter als der Adel.«

»Es ist einfach, als Edelmann zu leben«, deutete Pjotr an. Der Bruder verstand aber nicht und erzählte entzückt:

»Wenn der Kaufmann ein Haus baut, ist es wie ein Dom! Seine Kinder sind gebildete Leute.«

Obwohl er sehr gealtert war, hatte er doch seine jugendliche Lebendigkeit behalten, und seine Habichtsaugen glänzten fröhlich.

»Warum machst du immer so ein finsteres Gesicht?« fragte er seinen Bruder und belehrte ihn: »Man muß bei der Arbeit auch mal einen Scherz machen, sie liebt die Langeweile nicht.«

Pjotr stellte bei ihm eine Ähnlichkeit mit dem Vater fest, doch erschien ihm Alexej immer unverständlicher.

Der sagte immer noch: »Ich bin ein kranker Mensch«, schonte aber seine Gesundheit nicht, trank viel, beteiligte sich des Nachts an Hazardspielen und schien in bezug auf die Frauen auch nicht ganz einwandfrei zu leben. Was war für ihn im Leben die Hauptsache? Scheinbar nicht er selbst und nicht sein Nest. Das Haus der Bajmakowa benötigte schon längst eine gründliche Reparatur, doch schenkte Alexej dem Umstand keine Beachtung. Seine Kinder kamen schwächlich zur Welt und starben bald, nur Miron, ein unangenehmer, knochiger Junge, der drei Jahre älter war als Ilja, blieb am Leben. Sowohl Alexej als seine Frau waren von einer lächerlichen Gier nach unnötigen Dingen erfüllt; ihre Zimmer waren mit allerhand herrschaftlichen Möbeln vollgepfropft, die sie beide gern verschenkten; sie schenkten Natalia einen seltsamen Schrank mit Porzellan, die Schwiegermutter erhielt einen großen Ledersessel und ein prunkvolles Bett aus karelischer Birke mit Bronzebeschlag, Olga stickte kunstvolle Perlenbilder, doch brachte ihr Mann von seinen Reisen aus anderen Gouvernements ebensolche Stickereien mit.

»Du wirst wunderlich«, sagte Pjotr, als er von Alexej einen massiven Tisch mit vielen Schubladen und mit phantastischer Schnitzerei als Geschenk erhielt. Alexej schrie aber, mit der Handfläche auf den Tisch schlagend:

»Was sagst du! Solche Dinge wird es bald nicht mehr geben! Man ist in Moskau schon drauf gekommen!«

»Du solltest lieber Silber kaufen, der Adel hat viel Silber . . .«

»Laß mir Zeit, wir werden schon alles kaufen! In Moskau . . .«

Nach Alexejs Darstellung lebten in Moskau lauter halbverrückte Menschen, die sämtlich, ohne Ausnahme, statt sich ihren Geschäften zu widmen, nur vornehm lebten und zu diesem Zwecke dem Adel alles Erdenkliche, von den Gütern bis zu den Teetassen, abkauften.

Wenn Pjotr seinen Bruder aufsuchte, mußte er stets voll Ärger und Neid feststellen, daß es dort gemütlicher als bei ihm zu Hause war. Das erschien ihm unverständlich, ebensowenig konnte er definieren, was ihm an Olga gefiel. Sie sah neben Natalia aus wie ein Stubenmädel; sie hatte aber keine blöde Angst vor Petroleumlampen und glaubte nicht, daß Petroleum von Studenten aus dem Fett von Selbstmördern ausgeschmolzen wird. Ihre sanfte Stimme war angenehm zu hören; sie hatte schöne Augen, deren freundlicher Glanz von der Brille nicht verdeckt wurde. Von den Menschen und von den Geschäften sprach sie aber ärgerlich und kindlich, wie ein ganz Fernstehender, und das verblüffte und reizte.

»Gibt es denn nach deiner Ansicht keine Schuldigen?« fragte Pjotr spöttisch, sie antwortete:

»Es gibt wohl Schuldige, ich verurteile aber nicht gern.«

Pjotr glaubte ihr nicht.

Ihren Mann behandelte sie so, als wäre sie älter und hielte sich für klüger. Alexej nahm ihr das nicht übel, nannte sie Tante und sagte nur ab und zu etwas geärgert:

»Hör' auf, Tante, ich habe es satt! Ich bin ein kranker Mensch, es wäre angebracht, mich ein wenig zu pflegen.«

»Du bist schon genug gepflegt worden, jetzt hast du nichts mehr zu erwarten!«

Sie wandte sich an ihren Mann mit einem Lächeln, das Pjotr gern auf dem Gesicht seiner Frau gesehen hätte. Natalia war eine musterhafte Gattin und sehr geschickte Hausfrau, sie legte ausgezeichnet Gurken ein, marinierte Pilze, bereitete Eingemachtes; die Dienstboten im Hause arbeiteten mit der Genauigkeit von Uhrwerkrädern. Natalia liebte ihren Mann unermüdlich, mit einer ruhigen Liebe, die an abgestandene Sahne gemahnte. Sie war sehr sparsam.

»Wieviel haben wir jetzt auf der Bank?« fragte sie und wurde ängstlich: »Paß ja auf, ob die Bank verläßlich ist, und ob es zu keinem Krach kommt!«

Wenn sie Geld in die Hand nahm, wurde ihr hübsches Gesicht ernst; ihre himbeerfarbenen Lippen preßten sich fest aufeinander, und in den Augen erschien etwas Öliges, Scharfes. Beim Zählen berührte sie die bunten, schmutzigen Scheine so vorsichtig mit den rundlichen Fingern, als fürchtete sie, sie könnten ihren Händen wie Fliegen entschweben.

»Wie teilst du mit Alexej den Gewinn?« fragte sie im Bett Pjotr, als sie ihn mit ihren Liebkosungen befriedigt hatte. »Übervorteilt er dich nicht? Er ist geschickt! Er und seine Frau sind habgierig. Sie raffen alles zusammen!«

Sie fühlte sich von Spitzbuben umringt und sagte:

»Ich traue niemandem außer Tichon.«

»Du traust also einem Dummkopf«, murmelte Pjotr müde.

»Er ist dumm, hat aber ein Gewissen.«

Als Pjotr mit ihr zum erstenmal die Messe von Nishni-Nowgorod besuchte und über den gigantischen Schwung dieses allrussischen Jahrmarkts erstaunt war, fragte er seine Frau:

»Nun, wie findest du das?«

»Sehr schön«, antwortete sie. »Es ist von allem viel da, und alles ist billiger als bei uns.«

Darauf begann sie aufzuzählen, was sie kaufen müßten:

»Zwei Pud Seife, eine Kiste Kerzen, einen Sack Zucker und Raffinade . . .«

Im Zirkus schloß sie die Augen, wenn die Artisten die Arena betraten.

»Ach, dieses schamlose nackte Gesindel! Ach, ist es eigentlich richtig, daß ich so was sehe? Schadet das auch dem Kinde nicht? Du solltest mich nicht zu so schrecklichen Dingen mitnehmen! Vielleicht bin ich mit einem Knaben schwanger?«

In solchen Augenblicken fühlte Pjotr Artamonow, daß an ihm eine Langeweile würgte, die an den dicken und grünlichen Schlamm des Flusses Watarakscha erinnerte, in dem nur ein einziger Fisch, die fette, dumme Schleie lebte.

Natalia betete noch immer viel und gründlich. Nach dem Gebet sank sie aufs Bett und regte ihren Mann eifrig zum Genuß ihres üppigen Körpers an. Ihre Haut roch nach der Speisekammer, in der Töpfe mit gesalzenen und marinierten Vorräten, Räucherfische und Schinken aufbewahrt wurden. Pjotr fühlte immer häufiger, daß seine Frau zu heiß war, daß ihre Liebkosungen ihn erschöpften.

»Laß mich, ich bin müde«, sagte er.

»Nun, so schlafe mit Gott«, antwortete sie gehorsam und schlief rasch ein. Sie hob die Brauen und lächelte, als betrachtete sie mit geschlossenen Augen etwas sehr Schönes und von ihr noch nie Gesehenes.

In den Stunden, da Pjotr besonders deutlich und wehmütig empfand, daß Natalia nicht die von ihm Ersehnte war, zwang er sich, sie in seiner Erinnerung so wieder erstehen zu lassen, wie sie an dem qualvollen Tage der Geburt ihres ersten Sohnes gewesen war. Die neunzehnte Stunde ihrer Leiden zog sich voll Marter in die Länge, als die angsterfüllte, in Tränen gebadete Schwiegermutter ihn in die von einer besonderen Schwüle erfüllte Stube führte. Natalia wand sich auf dem zerwühlten Bett, ihre von rasendem Schmerz entstellten Augen waren aus den Höhlen getreten, sie war zerzaust, in Schweiß gebadet, war nicht wiederzuerkennen und empfing ihn mit fast tierischem Geheul:

»Petja, leb' wohl, ich sterbe. Es ist sicher ein Junge . . . Pjotr, verzeih!«

Ihre zerbissenen, verschwollenen Lippen bewegten sich kaum, ihre Worte schienen nicht aus der Kehle, sondern aus dem auf die Beine fallenden, unförmlich, bis zum Platzen aufgedunsenen Leib zu kommen. Auch das bläuliche Gesicht war aufgedunsen; sie atmete wie ein müder Hund und zeigte ihre verschwollene, zerkaute Zunge; sie griff an ihre Haare, zog und riß daran, heulte und brüllte immerzu, als wollte sie jemanden, der ihr nicht nachgeben mochte und konnte, überzeugen und überwinden.

»Einen J–jungen . . .«

Es war ein stürmischer Tag; vor dem Fenster schüttelte sich und rauschte ein Faulbaum, über die Scheiben huschten Schatten. Pjotr sah ihr Zittern, hörte das Rascheln und schrie wie wahnsinnig auf:

»Verhängt das Fenster! Seht ihr denn nicht?«

Und er lief entsetzt fort, von dem Jammern seiner Frau geleitet:

»I-i-i . . . U-u-u . . .«

Nach anderthalb Stunden führte ihn die vor Glück und Ermüdung stumme Schwiegermutter wieder an das Bett seiner Frau. Natalia empfing ihn mit dem in einem unerträglichen Glänze strahlenden Blick einer Märtyrerin und sprach mit kraftloser Zunge, als wäre sie trunken:

»Ein Junge! Ein Sohn!«

Er beugte sich herab, schmiegte die Wange an ihre Schulter und murmelte:

»Ach, Mutter, das werde ich dir bis zum Grabe nicht vergessen, merke dir das! Ich danke dir . . .«

Er hatte sie zum erstenmal Mutter genannt und hatte in dieses Wort all seine Furcht und seine ganze Freude hineingelegt. Sie streichelte ihm, die Augen schließend, mit der schweren, kraftlosen Hand den Kopf.

»Ein Riese«, sagte die pockennarbige, großnasige Hebamme, das Kind mit einem solchen Stolz zeigend, als hätte sie es selbst zur Welt gebracht. Doch Pjotr sah seinen Sohn nicht, alles wurde durch das tote Gesicht der Frau mit den dunklen Höhlen an Stelle der Augen in den Hintergrund gerückt.

»Wird sie am Leben bleiben?«

»Aber gewiß«, sagte die pockennarbige Hebamme laut und fröhlich. »Wenn man daran sterben müßte, würde es gar keine Hebammen mehr geben.«

Jetzt stand der »Riese« im neunten Lebensjahr. Es war ein großer, gesunder Junge; aus seinem stumpfnasigen Gesicht mit der hohen Stirne leuchteten ernst die großen, tiefblauen Augen, – ebensolche Augen hatten Alexejs Mutter und Nikita. Nach einem Jahr kam ein zweiter Sohn, Jakow, zur Welt, doch war der breitstirnige Ilja schon mit fünf Jahren die Hauptperson im Hause. Er wurde von allen verwöhnt, gehorchte niemandem und führte ein unabhängiges Leben, wobei er mit verblüffender Beharrlichkeit in die ungeeignetsten und gefährlichsten Situationen geriet. Seine Streiche waren fast immer von etwas ungewöhnlicher Art, was bei dem Vater ein an Stolz erinnerndes Gefühl auslöste.

Einmal traf Pjotr den Sohn im Stall an, der Knabe bemühte sich, an einem alten Trog ein Karrenrad zu befestigen.

»Was wird das?«

»Ein Dampfer.«

»Der kann ja nicht fahren.«

»Bei mir wird er schon fahren«, sagte der Sohn, in dem hitzigen Tonfall des Großvaters. Pjotr konnte ihn nicht von der Vergeblichkeit seines Vorhabens überzeugen, er dachte aber während des Gesprächs:

»Er hat den Charakter des Großvaters.«

Ilja war in der Verfolgung seiner Ziele unerschütterlich, und doch gelang es ihm nicht, aus dem Trog und den beiden Karrenrädern einen Dampfer zu bauen. Da zeichnete er mit Kohle Räder auf die Seiten des Troges, schleppte ihn zum Fluß, ließ ihn ins Wasser gleiten und blieb dabei selbst im Schlamm stecken. Er erschrak indessen nicht, sondern rief sogleich den die Wäsche spülenden Frauen zu:

»He, Weiber! Zieht mich heraus, sonst ertrinke ich . . .«

Die Mutter ließ den Trog zerhacken, und Ilja bekam Schläge von ihr. Von diesem Tage ab betrachtete er sie ebenso wie sein zweijähriges Schwesterchen Tanja mit Augen, die nicht sahen. Er war überhaupt ein tätiger Mensch, immer hobelte, bastelte, zerbrach, probierte er irgendetwas. Der Vater beobachtete ihn und dachte:

»Er wird es schon zu was bringen und manches schaffen.«

Manchmal beachtete Ilja tagelang den Vater nicht, erschien dann plötzlich im Kontor, stieg auf seinen Schoß und befahl:

»Erzähl' was!«

»Ich habe keine Zeit.«

»Ich habe auch keine Zeit.«

Der Vater schob lächelnd seine Papiere beiseite.

»Na also. – Es war einmal ein Bauer . . .«

»Ich weiß alles von den Bauern. Erzähl' was Lustiges.«

Der Vater wußte nichts Lustiges.

»Geh' zur Großmutter.«

»Die niest heute immerzu.«

»Dann zur Mutter.«

»Die will mich bloß immer waschen.«

Artamonow lachte. Sein Sohn war das einzige Wesen, das in ihm ein angenehmes, unbeschwertes Lachen auslöste.

»Dann gehe ich zu Tichon«, erklärte Ilja und versuchte, von den Knien des Vaters herabzuspringen. Der hielt ihn jedoch zurück.

»Und was erzählt Tichon?«

»Alles.«

»So. Was denn eigentlich?«

»Er weiß alles, er hat in Balachna gelebt. Da baut man Barken und Kähne.«

Als Ilja mal stürzte und sich das Gesicht zerschlug, schrie die Mutter, ihn züchtigend:

»Kriech' nicht auf Dächern herum! Sonst wirst du ein Krüppel und bucklig!«

Der Sohn wurde vor Zorn puterrot, weinte nicht, sondern drohte der Mutter:

»Warte! Ich sterbe, wenn du mich so schlägst!«

Sie teilte diese Drohung dem Vater mit. Er lächelte:

»Schlage ihn nicht, schicke ihn zu mir.«

Der Sohn kam und blieb mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Türpfosten stehen; er rief in seinem Vater nur Neugierde und heiße Zärtlichkeit hervor. Pjotr fragte:

»Warum sagst du der Mutter Grobheiten?«

»Ich bin doch kein Dummkopf«, erwiderte der Sohn böse.

»Wieso denn nicht, wenn du Grobheiten sagst?«

»Sie prügelt mich aber. Tichon hat gesagt: man prügelt nur Dummköpfe.«

»Tichon? Tichon ist selbst . . .«

Pjotr vermied es immer, Tichon dumm zu nennen; er schritt durch das Zimmer, betrachtete das Menschen an der Tür und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Du schlägst ja auch deinen Bruder Jakow.«

»Er ist ein Dummkopf. Ihm tut das nicht weh, er ist dick.«

»Was denn: soll man schlagen, wenn einer dick ist?«

»Er ist so gierig.«

Pjotr fühlte, daß er den Sohn nicht zu belehren verstand und daß er das merkte. Es wäre vielleicht einfacher und nützlicher gewesen, ihn tüchtig an den Ohren zu reißen; doch wollte seine Hand sich nicht gegen diesen so aufregend lieben, zerzausten Kopf erheben. Es war sogar unangenehm, bei dem forschenden, erwartungsvollen Blick der vertrauten blauen Augen an eine Strafe auch nur zu denken. Die Sonne hinderte ebenfalls daran; immer kam es irgendwie so, daß Ilja an sonnigen Tagen am ausgelassensten herumtollte. Während Pjotr ihm die üblichen ermahnenden Worte sagte, erinnerte er sich der Zeit, da er selbst die gleichen Worte angehört hatte, die ihm nicht ins Herz gedrungen und nicht im Gedächtnis haften geblieben waren, sondern nur Langeweile und für kurze Zeit Furcht hervorgerufen hatten. Dagegen wurden selbst wohlverdiente Schläge schwer vergessen, wie Pjotr Artamonow nur zu gut wußte.

Der zweite Sohn, Jakow, war rund und rotbackig und erinnerte in seinen Zügen an die Mutter. Er weinte viel und scheinbar mit Vergnügen, bevor er aber Tränen vergoß, schnaufte er mit aufgeblasenen Backen und schob sich die Fäuste in die Augen. Er war feige, aß viel und gierig und, vom Essen beschwert, schlief er oder klagte:

»Mama, ich langweile mich!«

Die Tochter Jelena kam nur im Sommer nach Hause. Sie schien sich in ein ganz fremdes Fräulein verwandelt zu haben.

Mit sieben Jahren begann Ilja beim Popen Gleb schreiben und lesen zu lernen. Als er aber erfuhr, daß der Sohn des Kontoristen Nikonow nicht nach dem Psalter, sondern nach dem Bilderbuch »Das heimatliche Wort« lernte, sagte er zum Vater:

»Ich will nicht lernen, mir tut die Zunge weh.«

Man mußte ihn lange und liebevoll ausfragen, bis er erklärte:

»Pascha Nikonow lernt nach dem heimatlichen Wort, ich aber muß nach dem fremden Wort lernen.«

Manchmal verbohrte sich dieser sehr lebhafte Knabe aber in irgend etwas und saß stundenlang einsam auf dem Hügel unter einer Fichte und warf trockene Zapfen in das trübe, grüne Wasser des Flusses Watarakscha.

»Er langweilt sich,« dachte der Vater. Auch er lebte wochen- und monatelang vom Trubel des Werkes betäubt, drehte sich immerzu im Kreise, geriet plötzlich in den dichten Nebel unklarer Gedanken, wurde unbewußt von der Langeweile eingesponnen und konnte nicht daraus klug werden, was ihn am meisten blind machte, die Sorge um das Werk oder aber die durch diese im Grunde einförmige Sorge hervorgerufene Langeweile? Oft stieß er an solchen Tagen auf irgendeinen Menschen und haßte ihn wegen eines schiefen Blicks oder eines unpassenden Wortes. So haßte er Tichon Wialow beinahe an diesem trüben Tage.

Wialow kam jetzt näher; er führte die Schwiegermutter am Arm und erzählte:

»Wir, die Wialows, sind eine große Familie . . .«

»Warum lebst du nicht bei den Deinigen?« fragte Pjotr, indem er auf die Bajmakowa zutrat und sie am Ellenbogen faßte. Tichon verstummte und trat beiseite, Artamonow wiederholte hartnäckig und streng seine Frage. Da antwortete Tichon gleichgültig, seine farblosen Augen halb schließend:

»Es ist ja niemand mehr da, man hat allen meinen Leuten den Garaus gemacht.«

»Wieso hat man ihnen den Garaus gemacht? Wer hat es getan?«

»Zwei Brüder wurden nach Sewastopol getrieben, dort sind sie zugrunde gegangen. Der älteste ist in einen Aufstand hineingeraten, als es bei den Bauern wegen der Befreiung zu Unruhen kam; der Vater war auch beim Aufstand dabei – er lehnte sich auf, als man die Leute mit Gewalt zwingen wollte, Kartoffeln zu essen; er sollte durchgeprügelt werden, da lief er weg, um sich zu verstecken, brach auf dem Eis ein und ertrank. Dann hatte meine Mutter von ihrem zweiten Mann, dem Fischer Wialow, noch zwei Kinder, mich und meinen Bruder Sergej . . .«

»Und wo ist dein Bruder?« fragte Uljana mit den von Tränen verschwollenen Augen blinzelnd.

»Man hat ihn umgebracht.«

»Du erzählst, als ob du eine Seelenmesse liest«, sagte Artamonow erbost.

»Das ist für Uljana Iwanowna interessant . . . Sie ließ ein wenig den Kopf hängen, und da habe ich . . .«

Er sprach nicht zu Ende, bückte sich, hob einen dürren Ast vom Wege auf und warf ihn beiseite. Man ging ein paar Minuten schweigend weiter.

»Und wer hat deinen Bruder umgebracht?« fragte plötzlich Artamonow.

»Wer bringt um? Der Mensch bringt um«, sagte Tichon ruhig, und die Bajmakowa fügte seufzend hinzu.

»Auch der Blitz tut es . . .«

Um die Mitte des Sommers brachen schwere Tage an, über der Erde brütete am gelblichen, dunstigen Himmel eine bedrückende, unbarmherzig heiße Stille; überall brannten Torflager und Wälder. Plötzlich erhob sich wild ein trockener, sengender Wind, er zischte und pfiff grimmig, riß von den Bäumen die trockenen Blätter und die fuchsroten, vorjährigen Nadeln herab, hob Sandwolken hoch, die er zugleich mit Spänen, Acheln und Hühnerfedern über die Erde jagte; er warf die Menschen um, versuchte ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen, versteckte sich in den Wäldern und fachte die Feuersbrünste zu heißer Glut an.

In der Fabrik gab es viele Kranke. Artamonow hörte mitten im Summen der Spindeln und im Rascheln der Schiffchen trockenes, angestrengtes Husten, sah an den Webstühlen traurige, böse Gesichter und beobachtete kraftlose Bewegungen; die Quantität der Produktion verringerte sich, die Qualität der Ware verschlechterte sich merklich; die Anzahl der verbummelten Tage stieg beträchtlich, die Leute begannen mehr zu trinken, die Frauen bekamen kranke Kinder. Der lustige Schreiner Serafim, ein Greis mit dem rosigen Gesicht eines Kindes, verfertigte in einemfort kleine Särge und nagelte auch oft aus hellen Tannenbrettern letzte Ruhestätten für Erwachsene zusammen, die mit ihrem Arbeitspensum fertig waren.

»Wir müssen mal ein Fest veranstalten«, sagte Alexej beharrlich. »Wir müssen die Leute aufheitern, ihnen wieder Mut machen!«

Als er mit seiner Frau nach Nishni abreiste, riet er nochmals:

»Gib ein Fest! Die Leute werden wieder aufleben. Glaube mir, Fröhlichkeit rettet bei jedem Unglück!«

»Befaß du dich damit«, befahl Pjotr seiner Frau. »Mach' es schön und reichlich.«

Natalia brummte unzufrieden und er fragte böse:

»Nun?«

Natalia schneuzte sich aus Protest laut in den Schürzenrand und antwortete:

»Ich höre schon.«

Das Fest begann mit einem Gottesdienst. Der Pope Gleb hielt ihn sehr feierlich ab; er war noch magerer und dürrer geworden; seine heisere Stimme tönte klagend beim Aussprechen der nicht alltäglichen Worte, als flehte er mit seinen letzten Kräften. Die grauen Gesichter der schwindsüchtigen Weber waren düster gerunzelt und fromm erstarrt; viele Frauen weinten mit lautem Schluchzen. Und als der Pope seine traurigen Augen zum dunstigen Himmel erhob, blickten die Leute mit ihm zugleich flehend durch den Dunst in die trübe, kahle Sonne und schienen zu glauben, daß der sanfte Pope im Himmel jemanden sah, der ihn kannte und ihm lauschte.

Nach dem Gottesdienst trugen die Frauen Tische auf die Straße der Siedlung hinaus, und die ganze Arbeiterschaft setzte sich bedächtig zu den Holzschüsseln hin, die bis an den Rand mit fetten Nudeln und Hammelfleisch gefüllt waren. Jede Schüssel war von zehn Menschen umringt, auf jedem Tisch stand ein Eimer starken, daheim gebrauten Bieres und ein Vierteleimer Schnaps. Die Stille, die die Erde wie eine warme Mütze einhüllte, kam in Bewegung und zog sich in die Sümpfe zu den Waldbränden zurück. Die Siedlung erdröhnte von fröhlichen Stimmen, vom Klappern der Holzlöffel, dem Lachen der Kinder, den Rufen der Frauen, dem Geschwätz der Jugend. Man verbrachte drei Stunden beim sättigenden, reichlichen Mahl; darauf versammelten sich die jungen Leute, nachdem man die Betrunkenen nach Hause gebracht hatte, um den reinlichen, nett aussehenden Schreiner Serafim. Sein blaues Hemd und die gleichfarbige Hose aus Hanfleinen waren vom häufigen Waschen ganz hell geworden, sein trunkenes, rosiges, kleines Gesicht mit der spitzen Nase strahlte begeistert, die nicht gealterten kecken Äuglein glänzten und zwinkerten. Dieser lustige Sargmacher hatte, seinem seraphischen Namen entsprechend, etwas himmlisch Freudiges, leicht Beschwingtes. Er saß auf der Bank, hielt die Gusli auf seinen spitzen Knien, griff mit den dunklen, wie Meerrettichwurzeln verbogenen Fingern in die Saiten und sang in der Weise der blinden Bettler näselnd und mit betonter Wehmut:

»Hört ihr Leute eine Mär zur Erheiterung,
Und für eure Weisheit zur Enträtselung!«

Er zwinkerte den Mädchen zu, in deren Mitte seine Tochter, die hochbrüstige, schöne Spulerin Sinaïda, mit kecken Augen majestätisch dastand, und hub in noch höherer Tonlage und noch wehmütiger an:

»Herr Jesus sitzt im lichten Paradiese
In himmlischer und dufterfüllter Kühle,
Unter der hohen, goldig blühenden Linde.
Er sitzt dort auf seinem Lindenbastthrone
Teilt Silber und Gold aus
Und kostbare Steine,
Den Reichen zum Lohne,
Weil sie, diese Reichen,
Den Armen was gönnen,
Das arme Volk lieben,
Die Bettler gut speisen.«

Er zwinkerte wieder den Mädchen zu und stellte plötzlich seine dünne Stimme für eine Tanzweise um, während seine Tochter auf Zigeunerart die Arme hinter den Kopf warf, die Brüste schüttelte, aufkreischte und zu dem lauten Lied des Vaters und zum Saitenklang zu tanzen begann:

»Jenem, der das Silber nahm,
Werden beide Beine lahm!
Über den, der Gold sich nahm,
Brennend heiß das Feuer kam!
Und die Perlen, die Rubine
Blenden alle sie zur Sühne! . . .«

Das Pfeifen der Burschen übertönte den Klang der Gusli und Serafims lustige Weise; darauf stimmten die Frauen und Mädchen ein Tanzlied an:

»Die Schiffe fahren über das Meer,
Bringen schönen Mädchen Geschenke her!«

Sinaïda stampfte mit dem Fuß auf und sang durchdringend:

»Paschka will Palaschka spenden
Sackleinene Hemden,
Und Matrioschka zum Geschenke
Birkenkätzchen-Ohrgehänge.«

Ilja Artamonow saß auf aufgestapelten Brettern mit Pawel Nikonow, einem mageren Knaben, auf dessen langem Halse unruhig ein alter, etwas kahler Kopf herumbaumelte, während in dem grauen, kränklichen Gesicht graue, ängstliche Äuglein gierig herumhuschten. Ilja gefiel der blaue Alte sehr, es war behaglich, dem Guslispiel und Serafims komischer, kecker Stimme zu lauschen. Plötzlich begann sich aber eine Frau in einer hochroten Jacke wie eine Flamme zu drehen und zerstörte alles, indem sie zu wildem Pfeifen und einem unharmonisch lauten Lied Anlaß gab. Diese Frau erschien ihm restlos widerwärtig, als Nikonow halblaut sagte:

»Das ist die liederliche Sinaïdka, die hält es mit allen. Auch mit deinem Vater, – ich habe selbst gesehen, wie er sie abgeknutscht hat.«

»Wozu?« fragte Ilja ahnungslos.

»Nun, du weißt schon!«

Ilja senkte die Augen. Er wußte, weshalb man Mädchen abknutscht, und er ärgerte sich, weil er den Kameraden danach gefragt hatte.

»Du lügst«, sagte er angeekelt, ohne auf Nikonows Geflüster zu hören. Dieser verschüchterte und feige Knabe mißfiel ihm durch seine Schlappheit und durch die Einförmigkeit seiner langweiligen Erzählungen von den Fabrikmädchen. Nikonow war jedoch Fachmann in bezug auf Jagdtauben. Ilja liebte aber Tauben und freute sich immer, wenn er den schwachen Knaben vor den Fabrikkindern schützen konnte. Überdies verstand es Nikonow, das von ihm Gesehene gut zu schildern, obwohl er nur Unangenehmes sah und über alles so sprach, wie Bruder Jakow, – als beklagte er sich über alle Menschen.

Nachdem Ilja eine Weile schweigend dagesessen hatte, ging er nach Hause. Man trank dort im Garten, im heißen Schatten der vor Staub grauen Bäume Tee. An dem großen Tisch saßen die Gäste: der stille Pope Gleb, der wie ein Zigeuner schwarze, lockige Mechaniker Koptew, der sauber gewaschene Kontorist Nikonow, mit einem derartig verschwommenen Gesicht, daß man daraus schwer klug wurde. Er hatte eine kleine Nase mit einem Schnurrbart darunter, eine Beule auf der Stirn, zwischen der Nase und der Beule spielte ein Lächeln und verdeckte die schmalen Augenspalten mit zitternden Hautfalten.

Ilja setzte sich neben seinen Vater und konnte nicht glauben, daß dieser unfrohe Mensch sich mit der schamlosen Spulerin abgab. Sein Vater streichelte ihm mit der schweren Hand schweigend die Schulter. Alle waren von der Hitze erschlafft und in Schweiß gebadet, man sprach nur unwillig; allein Koptews laute Stimme klang noch wie in einer kristallklaren, frostigen Winternacht.

»Wollen wir nicht in die Siedlung gehen?« fragte die Mutter.

»Ja, ich will mich umziehen«, sagte der Vater, erhob sich vom Tisch und ging ins Haus. Nach einer Weile lief Ilja ihm nach, und holte ihn am Hauseingang ein.

»Was willst du?« fragte der Vater freundlich, – und der Sohn fragte, ihm in die Augen blickend:

»Hast du Sinaïda abgeknutscht oder nicht?«

Es kam Ilja vor, als erschrecke der Vater. Das wunderte ihn nicht, er hielt den Vater für einen schüchternen Menschen, der sich vor allen fürchtete und deshalb schweigsam war. Er fühlte oft, daß der Vater sich auch vor ihm fürchtete, wie zum Beispiel jetzt. Und um dem erschrockenen Menschen Mut zu machen, sagte er:

»Ich glaube es nicht. Ich frage ja nur.«

Der Vater stieß ihn durch den Flur und dann durch den Korridor in sein Zimmer hinein, schloß fest die Tür hinter sich und begann schnaufend aus einer Ecke in die andere zu schreiten, was er zu tun pflegte, wenn er erzürnt war.

»Komm mal her«, sagte Pjotr Artamonow, beim Tisch stehenbleibend. Ilja trat näher.

»Was hast du gesagt?«

»Das hat Pawel gesagt. Ich glaube es aber nicht.«

»Du glaubst es nicht? So.«

Pjotr schüttelte den Zorn von sich ab und betrachtete scharf den breitstirnigen Kopf des Sohnes und sein ernstes, unfreundliches Gesicht. Er zupfte sich am Ohr und überlegte, ob es gut oder schlecht sei, daß der Sohn dem dummen Geschwätz eines gleichaltrigen Knaben nicht glaubte und ihn durch diesen Unglauben sichtlich trösten wollte? Ihm fiel nichts ein, was er dem Sohn sagen sollte, und er hatte durchaus nicht den Wunsch, Ilja zu schlagen. Es mußte aber etwas geschehen, und er entschied, es sei am einfachsten und verständlichsten, zu schlagen. Da hob er schwer die nicht allzu willige Hand und versenkte die Finger in die etwas harten Haarbüschel des Sohnes, er riß daran und murmelte:

»Hör' nicht auf Dummköpfe!«

Dann stieß er ihn weg und befahl:

»Geh' in deine Stube und bleibe dort. Jawohl.«

Der Sohn ging zur Tür und neigte den Kopf, den er wie etwas ihm Fremdes trug, zur Seite. Der Vater tröstete sich aber bei seinem Anblick:

»Er weint nicht. Ich habe ihm nicht weh getan.«

Er versuchte zu zürnen:

»Da sieh mal einer an! Du glaubst es nicht! Jetzt habe ich es dir gezeigt.«

Das erstickte jedoch nicht das Gefühl des Mitleids mit dem Sohn, des Gekränktseins für ihn, und den Ärger über sich selbst.

»Ich habe ihn heute zum erstenmal geschlagen«, dachte er, seine rote, haarige Hand feindselig betrachtend. »Mich hat man bis zu meinem zehnten Jahre sicherlich hundertmal geschlagen.«

Doch auch dies tröstete ihn nicht. Er blickte durchs Fenster auf die an einen Fetttropfen in trübem Wasser erinnernde Sonne, lauschte dem lockenden Lärm in der Siedlung und ging widerwillig, sich das Fest anzusehen. Unterwegs sagte er leise zu Nikonow:

»Dein Stiefsohn bringt meinem Ilja Dummheiten bei . . .«

»So. Ich werd' ihn mal durchprügeln«, schlug der Kontorist mit voller Bereitwilligkeit und scheinbar sogar mit Vergnügen vor.

»Halte ihm die Zunge fest«, fügte Pjotr hinzu, blickte von der Seite in Nikonows leeres Gesicht und dachte erleichtert:

»Wie einfach das ist.«

Die Siedlung empfing den Prinzipal geräuschvoll und wohlwollend mit strahlendem, halb betrunkenem Lächeln und mit dick aufgetragener Schmeichelei. Serafim stampfte mit den Füßen in neuen Bastschuhen und in weißen Fußlappen, die auf mordwinische Art mit roten Riemen umwickelt waren, drehte sich vor Artamonow herum und sang »Hosiannah«:

»Oh, wer ist's, der da kommt?
Der Herr selbst ist's, der da kommt!
Und wen denn bringt er?
Sich selber bringt er!«

Der graubärtige, langhaarige Iwan Morosow, der aussah wie ein Geistlicher, sagte mit einer Baßstimme:

»Wir sind mit dir zufrieden. Wir sind zufrieden.«

Ein anderer Greis, Mamajew, schrie begeistert:

»Die Artamonows sorgen herrschaftlich für die Leute!«

Und Nikonow sagte zu Koptew so, daß alle es hörten:

»Ein dankbares Volk, es versteht seine Wohltäter zu schätzen!«

»Mama, die stoßen mich!« jammerte Jakow, der ein rosa Seidenhemd trug und wie eine Kugel aussah. Die Mutter hielt ihn an der Hand, lächelte herablassend den Frauen zu und beschwichtigte ihn:

»Sieh mal, wie der Alte tanzt . . .«

Der blaue Schreiner drehte sich unermüdlich, sprang herum und überschüttete alle mit Scherzworten:

»Heda, drehe dich im Nu,
Dreh dich wie ein Rädchen!
Stiefel schwerer sind als Schuh',
Süßer Frau als Mädchen!«

Artamonow hörte nicht zum erstenmal sein Lob singen, er hatte allen Grund, die Aufrichtigkeit dieses Lobes zu bezweifeln, und doch stimmte es ihn milder; er sagte schmunzelnd:

»Nun gut, ich danke! Es ist schön, wir sind in gutem Einvernehmen.«

Und dabei dachte er:

»Schade, daß Ilja nicht sieht, wie man seinen Vater ehrt.«

Er empfand das Bedürfnis, etwas Gutes zu tun und den Leuten eine Freude zu machen; nach einigem Überlegen zupfte er sich am Ohr und sagte:

»Das Kinderkrankenhaus muß noch einmal so groß werden.«

Serafim sprang mit weit ausgebreiteten Armen von ihm weg.

»Habt ihr gehört? Los – ein Hurra für den Prinzipal!«

Die Leute brüllten nicht gleichzeitig, aber sehr laut hurra. Die gerührte, von den Frauen umringte Natalia sagte näselnd und singend:

»Frauen, geht und holt noch drei Fäßchen Bier, Tichon wird sie euch ausfolgen, geht nur!«

Das erhöhte noch mehr das Entzücken der Weiber. Nikonow sagte aber, ergriffen den Kopf wiegend:

»Ein erzbischöflicher Empfang . . .«

»Ma–ama, mir ist so heiß«, blökte Jakow.

Die Freude wurde ein wenig dadurch herabgemindert und unterbrochen, daß der Heizer Wolkow, ein Mann mit einem schwarzen Bart und mit riesigen, pflaumengroßen Augen auf Natalia zusprang; er ließ über den linken Arm ungeschickt ein mageres, vor Hitze ermattetes Kind, mit Geschwüren auf der bläulichen Haut, herabhängen und schrie hysterisch:

»Was soll ich anfangen? Meine Frau ist gestorben. Sie ist von der Hitze gestorben! Hier ist dieser Zuwachs geblieben, was soll ich anfangen?«

Aus seinen wahnsinnigen Augen rannen seltsame, gelbe Tränen; die Frauen stießen den Heizer von Natalia fort und sagten, wie um sich zu entschuldigen:

»Höre nicht auf ihn! Er ist, wie du siehst, nicht bei Verstand. Seine Frau war liederlich. Eine Schwindsüchtige. Er selber ist auch krank.«

»Nehmt ihm doch das Kind weg«, riet Artamonow ärgerlich, und sogleich streckten sich zu dem erschlafften kleinen Kinderkörper einige Frauenhände hin. Wolkow schimpfte aber heftig und lief fort.

Im allgemeinen war aber alles schön, bunt und lustig, wie es sich für ein Fest gehörte. Artamonow fielen die Gesichter neuer Arbeiter auf, und er dachte beinahe mit Stolz:

»Die Zahl der Leute wächst. Wenn der Vater das sehen könnte . . .«

»Du hast Ilja zu ungelegener Zeit bestraft, er sieht jetzt nicht die allgemeine Liebe zu dir«, bedauerte plötzlich seine Frau.

Artamonow schwieg darauf und blickte mit krauser Stirn Sinaïda an. Sie ging an der Spitze von etwa zehn Mädchen und sang mit unangenehmer, tiefer Stimme:

»Er geht vorbei,
Er sieht mich an,
Mir scheint, er will
Mich lieben, ach!«

»Ein liederliches Weib«, dachte er. »Und auch das Lied ist häßlich.«

Er zog die Uhr, sah hin und log aus irgendeinem Grunde:

»Ich will nach Hause gehen, es ist vielleicht ein Telegramm von Alexej gekommen.«

Er ging rasch und überlegte unterwegs, was er dem Sohne sagen wollte. Er dachte sich etwas sehr Strenges und doch gleichzeitig Freundliches aus; doch als er die Tür zu Iljas Zimmer öffnete, hatte er alles vergessen. Der Sohn kniete auf einem Stuhl, stützte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte in den dunstigen, roten Himmel; das Halbdunkel füllte das kleine Zimmer mit braunem Staub; an der Wand rumorte in einem großen Käfig eine Drossel: sie machte Anstalten zum Schlafengehen und putzte ihren gelben Schnabel.

»Nun, was sitzst du so da?«

Ilja zuckte zusammen, wandte sich um und stieg ohne Eile vom Stuhl herab.

»Du hörst dir also jeden Unsinn an?«

Der Sohn stand mit gebeugtem Kopf da. Der Vater begriff, daß er es mit Absicht tat, um an die erlittene Züchtigung zu erinnern.

»Warum bückst du dich? Halt' den Kopf gerade!«

Ilja hob die Brauen, blickte aber den Vater nicht an. Die Drossel begann auf den Stangen herumzuspringen und leise zu pfeifen.

»Er zürnt noch«, dachte Artamonow, sich auf Iljas Bett setzend und den Finger in das Kissen bohrend. – »Man muß solchen Unsinn gar nicht erst anhören.«

Ilja fragte:

»Ja, wie denn, wenn man aber zu mir spricht?«

Seine ernste, liebe Stimme erfreute den Vater. Pjotr begann nun freundlicher und mutiger:

»Und wenn auch, hör' einfach nicht hin! Vergiß es! Wenn man vor dir eine Scheußlichkeit sagt, dann mußt du sie vergessen.«

»Vergißt du auch?«

»Aber gewiß. Was wäre ich denn, wenn ich all das, was ich höre, behalten würde?«

Er sprach ohne Eile, wählte sorgfältig möglichst einfache Worte und war sich doch darüber im klaren, daß sie alle überflüssig waren, er blieb bald in der dunklen Weisheit dieser einfachen Worte stecken und sagte mit einem Seufzer:

»Komm zu mir!«

Ilja kam vorsichtig näher. Der Vater preßte ihm die Seiten mit den Knien zusammen, drückte ihm die Handfläche leicht gegen die breite Stirn und war gekränkt, als er fühlte, daß der Sohn den Kopf nicht heben wollte.

»Was sind das für Grillen? Sieh mich an!«

Ilja sah ihm gerade in die Augen, doch das verschlimmerte nur noch die Sache, denn er fragte:

»Weshalb hast du mich geschlagen? Ich habe doch gesagt, daß ich Pawel nicht glaube.«

Pjotr antwortete nicht gleich. Er sah mit Staunen, daß sein Sohn sich plötzlich, wie durch irgendein Wunder, als seinesgleichen fühlte, daß er sich selbst den Rang eines Erwachsenen verliehen und den Erwachsenen zu sich herabgezogen hatte.

»Er ist über sein Alter hinaus empfindlich«, dachte Pjotr flüchtig und erhob sich, hastig sprechend, in dem Bestreben, seinen Sohn möglichst rasch zu versöhnen.

»Ich habe dir nicht weh getan. Man muß manchmal züchtigen. Oh, wie hat mich mein Vater geschlagen! Und die Mutter! Der Pferdeknecht und der Verwalter! Der deutsche Lakai! Wenn ein Verwandter schlägt, ist es nicht so kränkend, wenn aber ein Fremder es tut, macht es Kummer. Die Hand eines Verwandten ist leicht!«

Er ging im Zimmer auf und ab, machte von der Tür zum Fenster sechs Schritte und beeilte sich sehr, dieses Gespräch zu beenden, als fürchtete er, daß der Sohn noch irgend etwas fragen könnte.

»Du wirst hier alles mögliche sehen und hören, was nicht für dich bestimmt ist«, murmelte er, ohne den Sohn anzusehen, der sich an das Kopfende des Bettes schmiegte. »Du mußt lernen. Du mußt in die Gouvernementsstadt. Willst du lernen?«

»Ja, ich will lernen.«

»Na also . . .«

Er wollte den Sohn liebkosen, doch hemmte ihn etwas. Und er konnte sich nicht erinnern, ob Vater und Mutter ihn nach einer ihm zugefügten Kränkung liebkost hatten.

»Nun, geh spazieren. Du solltest Pawel nicht zum Freunde haben.«

»Niemand liebt ihn.«

»Er verdient es auch nicht, er ist durch und durch verdorben.«

Artamonow ging in sein Zimmer hinunter und versank, am Fenster stehend, in Gedanken: der Vorfall mit dem Sohn war nicht schön gewesen.

»Ich habe ihn verzogen. Er fürchtet mich nicht.«

Aus der Siedlung tönten mannigfaltige Geräusche herüber: das Singen und Kreischen der Mädchen, gedämpftes Sprechen, die schrillen Töne der Harmonika. Am Tor klangen deutlich Tichons Worte:

»Warum sitzest du zu Hause, Junge? Es ist ein Fest, und du bist im Zimmer? Du willst lernen? Das ist gut. Man sagt: Wer nicht gelernt hat, ist noch nicht geboren. Ich werde mich nach dir sehnen, Junge.«

Artamonow wollte rufen:

»Du lügst, ich werde mich sehnen! Wie er den Sohn des Herrn umschmeichelt, die gemeine Seele«, dachte er erbost.

Nachdem Pjotr seinen Sohn zum Bruder des Popen Gleb, einem Lehrer, der Ilja fürs Gymnasium vorbereiten sollte, in die Stadt geschickt hatte, fühlte er tatsächlich Leere in der Seele und Langeweile im Hause. Es war so unbehaglich und ungewohnt, als wäre das ewige Lämpchen im Schlafzimmer erloschen. Pjotr hatte sich derart an dessen bläuliches Licht gewöhnt, daß er in den endlosen Nächten erwachte, wenn es aus irgendeinem Grunde ausging.

Vor der Abreise trieb Ilja so viel Unfug, als wollte er absichtlich ein schlechtes Andenken hinterlassen; er sagte der Mutter derartige Grobheiten, daß sie zu weinen begann, ließ alle Vögel von Jakow aus den Käfigen heraus und schenkte Nikonow die seinem Bruder versprochene Drossel.

»Warum machst du solchen Unsinn?« fragte der Vater. Ilja neigte aber, ohne zu antworten, den Kopf zur Seite, und es kam Artamonow vor, als forderte der Sohn ihn heraus, indem er ihn wieder daran erinnerte, was er vergessen wollte. Es war seltsam zu fühlen, wieviel Raum dieser kleine Mensch in seiner Seele einnahm.

»Ist es denn möglich, daß mein Vater meinetwegen auch so besorgt war?«

Sein Gedächtnis erwiderte mit Bestimmtheit, er hätte nie die Empfindung gehabt, der Vater wäre ein ihm nahestehender, geliebter Mensch, er war nur ein strenger Prinzipal, der Alexej viel aufmerksamer behandelte als ihn.

»Wie ist es, bin ich denn gütiger als mein Vater?« fragte sich Artamonow und war im unklaren, da er nicht wußte, ob er gut oder böse war. Diese Gedanken behinderten ihn, da sie ihn zu ungelegenen Stunden weckten und ihn während der Arbeitszeit überfielen. Das Werk wuchs geräuschvoll, sah den Herrn mit Hunderten von Augen an und erforderte stets gespannte Aufmerksamkeit; es brauchte ihn aber nur irgendetwas an Ilja zu erinnern, und die geschäftlichen Gedanken zerrissen wie eine durchfaulte, vermoderte Gewebekette, und es kostete große Anstrengung, sie durch feste Knoten wieder zusammenzubinden. Er versuchte die durch Iljas Abwesenheit entstandene Leere durch erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem jüngeren Sohn zu füllen, aber nur um sich mit finsterem Ärger zu überzeugen, daß Jakow ihn nicht trösten konnte.

»Papa, kauf mir einen Bock«, bat Jakow. Er bat immer um irgend etwas.

»Warum gerade einen Bock?«

»Ich will reiten.«

»Das hast du dir schlecht ausgedacht. Nur Hexen reiten auf Böcken.«

»Jelena hat mir aber ein Bilderbuch geschenkt, und dort sitzt ein guter Junge auf einem Bock.«

Der Vater dachte:

»Ilja hätte an das Bild nicht geglaubt. Er würde ihn sofort bestürmt haben: erzähle mir von den Hexen.«

Es mißfiel ihm, daß Jakow selbst die Fabrikkinder neckte und dann klagte:

»Die hauen mich.«

Auch der älteste Sohn war ein Raufbold und Händelsucher, doch beklagte er sich nie über jemanden, obwohl er häufig von den Kameraden in der Siedlung verprügelt wurde. Jakow war aber feige und faul, und lutschte oder kaute immer etwas. Manchmal fiel in Jakows Benehmen etwas Unverständliches, scheinbar Unschönes auf. Einmal, als die Mutter ihm beim Tee Milch einschenkte, blieb sie mit dem Ärmel ihrer Jacke am Glase hängen, warf es um und verbrühte sich.

»Ich habe vorher gesehen, daß du die Milch ausgießen wirst!« prahlte Jakow grinsend.

»Du hast es gesehen und hast geschwiegen? Das ist schlecht von dir«, bemerkte der Vater. »Jetzt hat sich die Mutter die Beine verbrüht.«

Jakow kaute blinzelnd und schnaufend stumm weiter. Nach einigen Tagen hörte der Vater ihn aber zu irgendwem auf dem Hofe sagen, – und seine Worte überschlugen sich dabei:

»Ich habe es vorher gesehen, daß er ihn hauen wollte; er schlich sich heran, kam näher und holte dann von hinten aus!«

Als Artamonow aus dem Fenster blickte, sah er, daß sein Sohn, mit der Faust fuchtelnd, erregt mit dem nichtsnutzigen Pawel Nikonow sprach. Er rief Jakow zu sich, verbot ihm die Freundschaft mit Nikonow und wollte ihm etwas Belehrendes sagen. Als er aber in die fliederfarbenen Augäpfel mit den sehr hellen Pupillen sah, stieß er mit einem Seufzer den Sohn weg:

»Geh, du mit deinen leeren Augen . . .«

Jakow ging vorsichtig wie über Glatteis und hielt die Ellbogen an die Seite gepreßt und die Handflächen vorgestreckt, als trage er etwas Unbequemes und Schweres.

»Er ist unbeholfen. Auch etwas dumm«, entschied der Vater.

Auch an der großen, wenig gesprächigen Tochter war etwas Langweiliges, das sie mit Jakow gemeinsam hatte. Sie las gern liegend, aß zum Tee viel Eingemachtes, beim Mittagessen bröckelte sie wählerisch mit zwei Fingern Brotstückchen ab, fuhr mit dem Löffel im Teller herum, als fange sie in der Suppe Fliegen; sie preßte die blutstrotzenden, sehr roten Lippen zusammen und sagte häufig in einem für ein halbwüchsiges Mädchen unpassenden Ton zur Mutter:

»Das wird jetzt nicht mehr so gemacht. Das ist aus der Mode gekommen.«

Als der Vater zu ihr sagte:

»Du bist ja so gelehrt, warum siehst du dir nicht mal an, wie man das Leinen für deine Hemden webt?« antwortete sie:

»Bitte.«

Sie zog ihr Feiertagskleid an, nahm den Schirm, ein Geschenk des Onkels Alexej, und folgte gehorsam dem Vater, wobei sie aufmerksam darauf bedacht war, mit dem Kleid nicht irgendwo hängen zu bleiben. Sie nieste ein paarmal, und als die Arbeiter ihr Gesundheit wünschten, errötete sie und nickte ihnen schweigend mit dem Kopf zu, ohne das hochmütig aufgeblasene Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen. Der Vater erzählte ihr von der Arbeit; da er aber bald merkte, daß sie statt auf die Webstühle auf ihre Füße sah, verstummte er, durch die Gleichgültigkeit der Tochter seinem mühevollen Tun gegenüber gekränkt. Als er aus der Weberei auf den Hof trat, fragte er aber doch:

»Nun, wie findest du es?«

»Es ist sehr staubig«, sagte sie, ihr Kleid betrachtend.

»Du hast nicht viel gesehen«, sagte Pjotr lächelnd und schrie ärgerlich:

»Was hebst du denn in einemfort den Kleidersaum auf? Der Hof ist rein und der Rock ist ohnedies kurz.«

Sie zog erschrocken die beiden Finger fort, mit denen sie den Rock festhielt, und sagte mit schuldbewußter Miene:

»Es riecht sehr nach Maschinenöl.«

Diese beiden Finger reizten Artamonow am meisten und er brummte:

»Paß' auf, mit den zwei Fingern wirst du nicht allzuviel fassen!«

Als sie an einem regnerischen Tage lesend auf dem Sofa lag, setzte sich der Vater zu ihr und fragte, was sie lese.

»Über einen Doktor.«

»So. Das ist also wissenschaftlich?«

Als er aber ins Buch hineinsah, war er empört.

»Warum lügst du denn? Das sind Verse. Wird denn Wissenschaftliches in Versen geschrieben?«

Sie erzählte ihm eilig und verworren irgendein Märchen: Gott hatte dem Satan erlaubt, einen deutschen Doktor zu verführen, und Satan schickte einen Teufel zu dem Doktor. Artamonow zupfte sich am Ohr und bemühte sich gewissenhaft, den Sinn dieses Märchens zu erfassen; doch war es lächerlich und ärgerlich zu hören, daß die Tochter in belehrendem Ton sprach, es hinderte ihn daran, in die Sache einzudringen.

»War der Doktor ein Trunkenbold?«

Er sah, daß seine Frage Jelena in Verlegenheit brachte und sagte zornig, ohne auf ihre Erklärung zu hören:

»Das ist ja verworrenes Zeug. Ein Märchen. Doktoren glauben nicht an Teufel. Woher hast du das Buch?«

»Der Mechaniker hat es mir gegeben.«

Pjotr erinnerte sich, daß Jelena zuweilen mit ihren grauen Katzenaugen sinnend vor sich hinsah und hielt es für nötig, die Tochter zu warnen:

»Koptew paßt nicht zu dir, kichere nicht zu viel mit ihm.«

Ja, sowohl Jelena wie Jakow waren langweiliger und farbloser als Ilja, das sah er immer klarer. Und er merkte nicht, wie an Stelle der Liebe zu seinem Sohn in ihm allmählich Haß gegen Pawel Nikonow aufkeimte. Wenn er dem schwächlichen Knaben begegnete, dachte er:

»Wegen eines so räudigen Kerls . . .«

Der Knabe war ihm physisch widerwärtig. Nikonow ging mit gebücktem Rücken, sein Kopf drehte sich unruhig auf dem dünnen Hals herum, und wenn der Knabe lief, schien es Artamonow, daß er sich wie ein feiger Spitzbube heranschlich. Er arbeitete viel, er putzte Stiefel und Kleider des Stiefvaters, hackte und schleppte Holz, brachte Wasser, trug aus der Küche Eimer mit Spülicht hinaus und wusch im Fluß die Windeln seines Bruders. Er war geschäftig wie ein Spatz, schmutzig und zerlumpt und grinste alle mit einem unterwürfigen, hündischen Lächeln an; wenn er aber Artamonow sah, grüßte er ihn schon aus der Ferne, wobei er seinen Gänsehals niederbog und den Kopf auf die Brust sinken ließ. Es freute Artamonow beinahe, den Knaben im Herbstregen oder im Winter zu sehen, wie er sich beim Holzhacken die erfrorenen Finger mit dem Atem wärmte, dabei wie eine Gans auf einem Fuß stand und den zweiten, von dem der zertretene, durchlöcherte Stiefel herabrutschte, hochzog. Er hustete, faßte sich mit den blauen Pfötchen an die Brust und wand sich wie ein Korkzieher. Als Artamonow in Erfahrung brachte, daß der Junge auf dem Dachboden des Badehauses zwei Taubenpaare untergebracht hatte, befahl er Tichon, die Vögel frei zu lassen und aufzupassen, daß der Knabe nicht auf den Boden stieg.

»Er kann vom Dach fallen und sich verletzen. Es ist ja durch und durch morsch.«

Als er eines Abends ins Kontor kam, sah er, wie der Knabe auf dem Fußboden vergossene Tinte mit dem Messer abschabte und mit einem Scheuertuch wegwusch.

»Wer hat das verschüttet?«

»Der Vater.«

»Und nicht du?«

»Bei Gott, nicht ich!«

»Und warum ist deine Visage so verheult?«

Pawel hielt knieend den Kopf hin, wie um einen Streich zu empfangen, er antwortete nicht; da zermalmte ihn Artamonow mit einem Blick und sagte befriedigt:

»Es geschieht dir schon recht.«

Plötzlich sah er aber für einen Augenblick wieder klar, lächelte sich in den Bart und fühlte, wie kindisch und komisch seine Feindseligkeit einem nichtigen Jungen gegenüber war.

»Was tue ich da eigentlich?« dachte er nachsichtig und warf eine schwere Kupfermünze von fünf Kopeken auf die Erde.

»Da, kauf dir Honigkuchen!«

Der Knabe streckte seine schmutzigen, knochigen Finger so vorsichtig nach der Münze aus, als fürchtete er, das Kupfer würde ihn verbrennen.

»Schlägt dich der Stiefvater?«

»Ja.«

»Nun, was ist dabei? Man schlägt alle«, tröstete Artamonow. Nach einigen Tagen klagte aber Jakow, Pawel hätte ihm etwas getan, und Pjotr, der dem Sohne doch gar nicht glaubte, ersuchte schon gewohnheitsmäßig den Kontoristen:

»Hau mal deinen Stiefsohn durch!«

»Das tue ich ja so schon«, versicherte Nikonow ehrerbietig.

Im Sommer kam Ilja zu den Ferien. Er war fremdartig gekleidet, glatt geschoren und noch breitstirniger. Artamonows Feindseligkeit Pawel gegenüber steigerte sich noch mehr, als er sah, daß der Sohn die Freundschaft mit diesem zerlumpten Schwächling fortsetzte. Ilja selbst war unangenehm höflich geworden, nannte Vater und Mutter »Sie«, hielt beim Gehen die Hände in den Taschen, benahm sich im Hause wie ein Gast, neckte den Bruder, den er zu Anfällen von Verzweiflung trieb und weinen machte, reizte die Schwester so, daß sie mit Büchern nach ihm warf und führte sich überhaupt wie ein Galgenstrick auf.

»Ich hab' es gesagt!« klagte Natalia ihrem Mann. »Alle sagen es: das Lernen macht frech!«

Artamonow beobachtete schweigend und unruhig den Sohn. Ihm schien, daß Ilja zwar viel Unfug trieb, es aber unfroh und wie mit Absicht tat. Auf dem Dach des Badehauses erschienen wieder Tauben, die girrend auf dem Dachfirst herumspazierten, während Ilja und Pawel beim Schornstein saßen und stundenlang lebhaft über etwas plauderten, wenn sie nicht ihre Tauben fliegen ließen. Schon in den ersten Tagen nach der Ankunft des Sohnes forderte der Vater ihn auf:

»Nun, berichte mal, wie du so lebst? Ich habe dir vieles erzählt, jetzt bist du an der Reihe.«

Ilja erzählte kurz und hastig etwas Uninteressantes darüber, wie die Knaben die Lehrer neckten.

»Weshalb tun sie das?«

»Sie lassen uns nicht in Ruhe«, sagte Ilja.

»So. Das scheint nicht in Ordnung zu sein. Ist es schwer zu lernen?«

»Nein, sehr leicht sogar.«

»Lügst du auch nicht?«

»Sieh dir doch meine Zensuren an«, sagte Ilja achselzuckend, während seine Augen scharf in den Garten und nach dem Himmel spähten. Der Vater fragte:

»Was siehst du da?«

»Einen Habicht.«

Pjotr seufzte:

»Nun, laufe und spiele! Du scheinst dich bei mir zu langweilen.«

Als er allein war, erinnerte er sich, daß auch er sich in seiner Kindheit fast immer gelangweilt oder gefürchtet hatte, wenn sein Vater mit ihm sprach.

»Er neckt die Lehrer. Mir wäre so etwas nie eingefallen, – damals, als der Küster mich immer mit der Riemenpeitsche bearbeitete. Für die Kinder scheint das Leben weniger hart geworden zu sein.«

Vor der Abreise in die Stadt bat Ilja – und das war seine einzige Bitte:

»Papa, bitte erlauben Sie Pawel, auf dem Badehausboden Tauben zu halten . . .«

Ohne etwas zu versprechen, sagte der Vater:

»Man kann nicht allen helfen, denen es schlecht geht.«

»Er darf also!« stellte der Sohn fest. »Ich will es ihm sagen, er wird sich freuen.«

Pjotr Artamonow fühlte sich verletzt, weil sein Sohn für die Freuden irgendeines nichtsnutzigen Jungen sorgte, aber nicht darauf bedacht war und es auch nicht verstand, das Leben des Vaters durch etwas Freude zu erhellen. Und nach der Abreise des Sohnes fühlte er noch stärker seinen Haß gegen den Stiefsohn des Kontoristen. Jetzt kam es soweit, daß, wenn Artamonow zu Hause, in der Fabrik oder in der Stadt sich über irgendetwas ärgerte, der zerlumpte, schmutzige Junge in den Mittelpunkt all seines Ärgers trat und ihn geradezu aufzufordern schien, auf sein schwaches Wesen alle bösen Gedanken, alle schlechten Gefühle zu übertragen. Dieser Knabe wuchs tatsächlich wie Schimmel, wie ein Abendschatten, huschte wie ein diebischer Kobold vorüber und kam ihm immer öfter unter die Augen.

An einem heiteren Altweibersommertag ging Artamonow müde und verärgert in den Garten. Der Abend kam näher, auf dem grünlichen, vom Wind reingefegten Himmel schmolz, ohne zu wärmen, die ermüdete Herbstsonne dahin. In einer Gartenecke war Tichon Wialow damit beschäftigt, die abgefallenen Blätter mit einem Rechen zusammenzuscharren; das sanfte, traurige Geräusch schwebte durch den Garten; hinter den Bäumen brummte die Fabrik, der graue Rauch beschmutzte träge die durchsichtige Luft. Um Tichon nicht sehen und nicht mit ihm sprechen zu müssen, ging Pjotr in die entgegengesetzte Gartenecke zum Badehaus hin, dessen Tür nicht geschlossen war.

»Da ist ja der!«

Er sah vorsichtig in den Vorraum hinein und erblickte im Dunkel einer Ecke, auf der Bank ausgestreckt, die kleine Gestalt seines Feindes – mit gesenktem Kopf, die Beine weit auseinandergespreizt lag Pawel da und gab sich einem jugendlichen Laster hin. Artamonow freute sich im ersten Augenblick geradezu über den Anblick – sofort aber mußte er an Jakow und Ilja denken und zischte angeekelt los:

»Was machst du da, du Lausejunge?«

Pawels Hand zuckte nicht mehr und griff nach oben; er löste sich seltsam von der Bank, öffnete leise aufkreischend den Mund, rollte sich zu einem Klumpen zusammen und warf sich vor die Füße des großen Mannes. Artamonow trat ihm mit Genuß mit dem rechten Fuß gegen die Brust und hielt dann inne; im Körper des Knaben knackte etwas, er ächzte schwach und sank auf die Seite . . .

Einen Augenblick lang schien es Artamonow, als hätte er mit diesem Fußtritt seine Seele von irgendwelchen schmutzigen Lumpen und einer ihm verdrießlichen Last befreit. In der nächsten Minute sah er aber in den Garten, lauschte, schloß die Tür, beugte sich herab und sagte halblaut:

»Nun – steh' auf, komm!«

Der Knabe lag da, die eine Hand vorgestreckt, während die zweite unter das Knie gepreßt war; das eine Bein wirkte viel kürzer als das andere, er schien unmerklich an Pjotr heranzukriechen, und der ausgestreckte Arm sah unnatürlich und erschreckend lang aus. Artamonow faßte wankend mit der Hand nach dem Türpfosten, nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Futter die plötzlich in Schweiß gebadete Stirne.

»Steh' auf, ich will es niemandem sagen«, flüsterte er und war sich schon bewußt, daß er den Knaben getötet hatte, als er sah, daß sich unter der an den Fußboden geschmiegten Wange ein dunkles Blutband hervorschlängelte.

»Ich habe getötet«, sprach Pjotr im Geiste. Das einfache, kurze Wort betäubte ihn. Er steckte seine Mütze in die Rocktasche und bekreuzte sich mit einem stumpfen Blick auf den kleinen, kläglich zusammengekrampften Körper. In ihm zuckte ängstlich der einfache Gedanke auf:

»Ich werde sagen – es ist zufällig geschehen. Ich hätte ihn mit der Tür gestoßen. Die Tür ist so schwer.«

Er drehte sich um und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Bank sinken, – da stand Tichon mit einem Besen in der Hand hinter ihm, blickte Pawel mit den farblosen Augen an und kratzte sich nachdenklich seine steinartigen Backenknochen.

»Da . . .« begann Artamonow laut, sich mit den Händen am Bankrand festhaltend, aber Tichon unterbrach ihn kopfschüttelnd:

»Ein schwacher, ungeschickter Junge. Wie oft habe ich ihm gesagt: steige nicht da hinauf!«

»Warum?« fragte Pjotr erschrocken, aber mit einer Hoffnung.

»Du wirst mal abstürzen, sagte ich. Und auch du hast es vorausgesagt, Pjotr Iljitsch, weißt du noch? Jede Jagd erfordert Geschicklichkeit. Ist er ohnmächtig?«

Tichon kauerte sich nieder, betastete Pawels Arm und Hals, berührte die Wange, wischte den Finger an der Schürze ab, rieb ihn, als zünde er ein Streichholz an und sagte:

»Vielleicht ist er schon tot . . . Er war schwächlich, – da gehört nicht viel dazu!«

Tichon sprach ruhig, bewegte sich langsam und war in allem so wie immer, Pjotr traute ihm aber nicht und wartete auf strenge, verurteilende Worte. Tichon sah aber auf das in die Decke des Raumes eingeschnittene Viereck, lauschte dem Girren der Tauben und begann wieder ruhig und einfach zu sprechen:

»Er ist auf die Tür gekrochen, hat einen Fuß auf die Bank gestellt, und den andern erst auf den Türriegel und dann oben auf die Tür, von dort packte er mit den Händen den Rand und zog sich so hinauf. Seine Hände sind aber kraftlos, – da ist er abgestürzt und ist wohl mit dem Herzen gegen die Türkante gefallen.«

»Ich hab' es nicht gesehen«, sagte Pjotr. Der Selbsterhaltungstrieb flüsterte ihm eilig Vermutungen zu:

»Lügt er? Heuchelt er? Stellt er mir eine Falle und will mich in seine Gewalt kriegen? Oder kommt der Dummkopf wirklich nicht darauf?«

Das letztere war wahrscheinlicher. Tichon benahm sich dumm; er neigte den Kopf so, als stoße er jemanden mit der Stirne und seufzte:

»Ach, so ein Staubkörnchen! Wozu gibt es nur so etwas? Ich will es der Mutter sagen. Der Stiefvater wird wohl nicht allzu sehr trauern; der Junge war ihm nur im Wege.«

Artamonow lauschte sehr mißtrauisch den Worten Tichons und war bemüht, etwas Falsches herauszuhören; aber Tichon sprach wie immer, in dem Tone eines Menschen, dem jede Neugierde fremd ist.

»Halt!« sagte er, die Brauen bewegend und lauschend. Irgendwo auf dem Hofe schrie zornig eine Frau:

»Paschka! Pasch–ka!«

Tichon strich sich über die Backenknochen.

»Was ist aus deinem Paschka geworden! Halte die Tränen bereit . . .«

»Nein, er ist ein Dummkopf«, entschied Artamonow, zog die Mütze aus der Tasche und ging in den Garten, den zerbrochenen Mützenschirm betrachtend.

Er verlebte zwei, drei Wochen in dem Gefühl, daß in ihm eine dunkle Angst lebe und woge und ihn täglich mit einem neuen, unbekannten Unheil bedrohe. Gleich würde die Tür aufgehen, Tichon erscheinen und sagen:

»Nun also, ich weiß natürlich alles . . .«

Äußerlich ging aber alles gut. Alle nahmen den Tod des Knaben ruhig und einfach auf, da sie gewohnt waren, in Demut zu gebären und zu begraben. Nikonow band sich einen neuen schwarzen Schlips um den gelben Hals, und sein verwaschenes Gesicht erhielt den Ausdruck bescheidener Wichtigkeit, als hätte er eine längst verdiente Belohnung erhalten. Die Mutter des Getöteten, eine große, magere Frau mit einem Pferdegesicht, beeilte sich, stumm und ohne Tränen den Sohn zu beerdigen, – so schien es Artamonow. Sie zupfte in einemfort an der Mullrüsche am Kopfende des Sarges herum, schob den Totenkranz auf der blauen Stirn der Leiche zurecht, drückte mit den Fingern vorsichtig die neuen, fuchsroten Kopekenstücke fest, die die Augen bedeckten, und bekreuzte sich sinnlos hastig. Pjotr bemerkte, daß sie derart müde war, daß sie während der Totenmesse zweimal die Hand nicht heben konnte, die sich immer wieder senkte, als wäre sie gebrochen.

Ja, in dieser Hinsicht lief alles glatt ab; die Nikonows bedankten sich sogar langatmig und zudringlich für die Unterstützung bei dem Leichenbegängnis, obwohl Artamonow aus Angst, durch übertriebene Freigebigkeit Tichons Verdacht zu erregen, nur wenig gespendet hatte. Er konnte doch nicht glauben, daß Tichon so dumm sei, wie er ihm damals im Badehaus erschienen war! Jetzt trat dieser Mensch schon zum zweiten Mal in Verbindung mit dem Badehaus in den Vordergrund und griff immer tiefer in Pjotrs Leben ein. Das war seltsam und unheimlich. Artamonow dachte sogar daran, das Badehaus niederzubrennen oder abzutragen und zu Brennholz zu zersägen, da es überdies schon alt und morsch war. Man müßte an einer anderen Stelle ein neues bauen.

Er beobachtete Tichon scharf und sah, daß der noch immer widerwillig und als erweise er eine Gnade, hier lebte; er war ebenso schweigsam und behandelte die Arbeiter roh wie ein Polizist; sie liebten ihn auch nicht. Mit den Frauen war er besonders grob, als ekelte er sich vor ihnen, und sprach nur mit Natalia in einer besonderen Weise, als wäre sie nicht die Hausfrau, sondern seine Verwandte, eine Tante oder ältere Schwester.

»Warum bist du zu Tichon immer so sehr freundlich?« forschte Pjotr wiederholt. Seine Frau antwortete:

»Er hat sich bei uns schon so eingelebt.«

Wenn Tichon Freunde gehabt hätte und ausgegangen wäre, hätte man ihn für einen Sektierer halten können; in den letzten Jahren waren viele verschiedene Sekten aufgetaucht. Tichon besaß aber außer dem Schreiner Serafim keinerlei Freunde, er besuchte gern die Kirche, betete inbrünstig, riß dabei aber immer häßlich den Mund auf, als wolle er laut schreien. Zuweilen, wenn Artamonow in Tichons flimmernde Augen sah, runzelte er die Stirn, er glaubte, daß in diesen farblosen Augen eine Drohung verborgen war, und hatte den Wunsch, den Mann am Kragen zu packen und zu schütteln:

»Nun, sprich!«

Doch Tichons Pupillen erloschen und entglitten, und die steinerne Ruhe seines breitknochigen Gesichts verscheuchte Pjotrs Unruhe. Als der Narr Anton noch am Leben war, steckte er oft in Tichons Wächterhäuschen oder saß des Abends mit ihm auf der Bank am Tor, und Tichon fragte den Irrsinnigen aus:

»Schwatz' nicht so sinnlos, denke nach und erkläre: Kujatyr – was ist das?«

»Kajamas«, kreischte Anton freudig und sang:

»Chiristus ist erstanden, ist erstanden . . .«

»Warte!«

»Der Reisewagen hat ein Rad verloren.«

»Was willst du von ihm?« fragte Artamonow mit ihm selbst unverständlichem Ärger.

»Daß er diese unmenschlichen Worte erklärt.«

»Das sind doch Narrenworte!«

»Auch der Narr muß seinen Verstand haben«, sagte Tichon dumm.

Es lohnte überhaupt nicht, mit ihm zu sprechen. In einer schlaflosen, vom Windgeheul durchtosten Nacht fühlte Artamonow, daß er nicht mehr die Kraft hatte, die tote Schwere auf der Seele zu tragen; er weckte seine Frau und erzählte ihr den Vorfall mit dem kleinen Nikonow. Natalia zwinkerte schweigend mit den verschlafenen Augen, hörte ihn an und sagte gähnend:

»Und ich vergesse meine Träume.«

Plötzlich raffte sie sich aber auf:

»Ach, ich fürchte, daß auch Jakow so wird.«

»Wie wird?« fragte er erstaunt, und als sie ihm klar machte, was sie befürchtete, dachte er, sich ärgerlich am Ohr zupfend:

»Ich hätte es ihr lieber nicht sagen sollen.«

In dieser Nacht, beim Brausen und Pfeifen des Schneesturms, vertiefte sich in ihm das Bewußtsein seiner Einsamkeit, und er legte sich zugleich etwas zurecht, das seine Tat beleuchtete und sie erklärte: er hatte einen verdorbenen Knaben, einen gefährlichen Kameraden getötet und war durch die Kraft seiner Liebe und durch die Angst um seinen Sohn dazu getrieben worden. Das brachte in den dunklen Haß gegen den kleinen Nikonow eine verständliche Ursache und erleichterte ein wenig. Doch er wollte sich von dieser Last ganz befreien und sie auf andere Schultern abwälzen. Er bat den Popen Gleb zu sich ins Haus, weil er von dieser ungewöhnlichen Schuld nicht während der Beichte sprechen wollte, wo man nur die gewöhnlichen Sünden bekannte.

Der magere, untersetzte Pope kam abends und ließ sich still in einer Ecke nieder; er brachte seinen langen Körper immer tief in den Ecken unter, wo es möglichst dunkel und eng war; er schien sich aus Scham zu verstecken. Seine Gestalt in dem dunklen, alten Priesterrock verschwamm beinahe mit dem dunklen Leder des Sessels; auf dem düsteren Hintergrund trat nur sein Gesicht als trüber Fleck hervor; an den Schläfenhaaren glänzten Tröpfchen aufgetauten Schnees wie Glasstaub, und er hielt, wie immer, den dünnen, aber langen Bart in seine knochige Faust gepreßt.

Da Artamonow nicht wagte, die Unterhaltung gleich mit der Hauptsache zu beginnen, sprach er zuerst davon, wie schnell das Volk verdorben werde und wie aufreizend es durch seine Faulheit, Trunksucht und Unzucht wirkte; dann langweilte es ihn, davon zu sprechen, – er verstummte und ging im Zimmer auf und ab. Da ertönten aus der dunklen Ecke die Worte des Popen, die sehr an eine Klage erinnerten.

»Niemand sorgt für das Volk, es ist aber nicht gewohnt und versteht es nicht, geistig für sich zu sorgen. Die Gebildeten aber, nun, ich will sie nicht verurteilen, wir besitzen auch viel zu wenig Gebildete. Sie müssen wissen, daß sie sich nicht in das alltägliche Leben und in die Angelegenheiten des Volkes hineinleben. Sie streben zwar vieles an, aber nicht die Hauptsache. Sie neigen zur Auflehnung und werden deshalb von der Regierung verfolgt. Und überhaupt kommt bei uns alles nicht ins rechte Geleise. Nur eine einzige Stimme ist immer lauter in all dem sinnlosen Lärm zu hören, sie wendet sich an das Gewissen der Welt und ist mit Macht bemüht, es zu wecken, das ist die Stimme eines gewissen Grafen Tolstoi, eines Philosophen und Schriftstellers. Er ist ein äußerst bemerkenswerter Mensch, seine Rede ist bis zur Dreistigkeit mutig, aber da hier die orthodoxe Kirche angegriffen wird . . .«

Er erzählte lange von Leo Tolstoi, und obwohl das Artamonow nicht ganz verständlich schien, lenkte ihn die seufzende, wie ein leise rauschender Bach aus dem Dunkel hervorsprudelnde Stimme des Popen, die die beinahe märchenhafte Gestalt des ungewöhnlichen Menschen erstehen ließ, von sich selbst ab.

Ohne zu vergessen, weshalb er den Popen eingeladen hatte, gab Pjotr sich allmählich einem Gefühl des Mitleids für ihn hin. Er wußte, daß die Stadtarmen Gleb für einen gottgefälligen Narren hielten, weil der Pope nicht habgierig und zu allen immer freundlich war, den Gottesdienst gut abhielt und in besonders rührender Weise die Totenmesse las. Artamonow erschien das alles selbstverständlich: so mußte eben ein Pope sein. Seine Sympathie für ihn war durch die allgemeine Lieblosigkeit der städtischen Geistlichkeit und der angesehensten Bürger gegen Gleb hervorgerufen worden. Der geistliche Hirte mußte aber streng sein, er hatte die Verpflichtung, besondere, durchdringende Worte zu kennen und zu sprechen und Furcht und Ekel vor der Sünde zu erwecken. Artamonow wußte, daß Gleb über diese Macht nicht verfügte, und als er seine unsichere Rede hörte, deren Worte in der Angst, jemanden zu verletzen, schwankten, sagte er plötzlich:

»Ich habe dich herbemüht, Vater Gleb, um dir mitzuteilen, daß ich in diesem Jahr das Abendmahl nicht nehmen werde.«

»Weshalb denn nicht?« fragte der Pope sinnend, und da er keine Antwort erhielt, sagte er: »Sie sind vor Ihrem eigenen Gewissen verantwortlich.«

Es kam Artamonow vor, als hätte Gleb diese Worte ebenso herzlos gesagt, wie Tichon zu sprechen pflegte. Aus Armut trug der Pope keine Galoschen, und von seinen schweren Bauernstiefeln waren Lachen geschmolzenen Schnees herabgetropft; er patschte mit den Sohlen im Wasser herum und klagte immerzu, ohne zu verurteilen:

»Wenn man all das, was sich vor uns abspielt, betrachtet, findet man nur in dem einen Trost: Das Übel des Lebens strömt, immer mehr anwachsend, zu einem einzigen Punkt zusammen, als geschehe es zu dem Zwecke, damit seine Macht dann leichter zu überwinden sei. Ich habe das stets beobachtet: es erscheint zuerst ein kleines Endchen eines Übels und darauf wächst, wie das Garn auf der Spindel, immer mehr und mehr Böses an. Das Zerstreute ist schwer zu bekämpfen, das Vereinigte kann aber auf einmal mit dem Schwert der Gerechtigkeit abgehauen werden . . .«

Diese Worte blieben in Artamonows Erinnerung haften, er hörte darin etwas Tröstendes: das Endchen war Pawel, alle bösen Gedanken waren zu ihm hingeströmt, er hatte sie angezogen. Und er dachte in dieser Stunde von neuem, daß es nur gerecht wäre, einen gewissen Teil seiner Sünde auf Rechnung des Sohnes zu setzen. Er seufzte erleichtert auf und lud den Popen zum Tee ein.

Im Eßzimmer war es hell und gemütlich, die warme Luft war mit appetitlichen Gerüchen gesättigt; auf dem Tisch fauchte, dampfte und kochte der Samowar; die Schwiegermutter saß im Lehnstuhl und sang mit angenehmer Stimme der vierjährigen Enkelin vor:

»Der heilige Blitz
Verschenkt seinen Besitz:
Dem Apostel Peter
Heißes Sommerwetter;
Der heilige Nikolaus
Frei auf Meer und Seen haust;
Dem Propheten Elias eine ganze
Goldene Lanze . . .«

»Das ist heidnisch«, sagte der Pope, sich an den Tisch setzend und wie schuldbewußt lächelnd.

Im Schlafzimmer sagte Natalia zu Pjotr:

»Alexej ist wieder da, ich habe ihn gesehen. Moskau macht ihn immer verrückter. Ach, ich habe Angst . . .«

Im Sommer waren auf Natalias weißem Halse und auf dem rotwangigen, glatten Gesicht rote Punkte erschienen; sie waren klein wie Nadelstiche, störten sie aber doch und sie schmierte sich zweimal wöchentlich vor dem Schlafengehen die Haut der Wangen eifrig mit einer honigfarbenen Salbe ein. Sie tat das jetzt, vor dem Spiegel sitzend und die nackten Ellbogen bewegend; unter dem Hemd wogten schwer die Kugeln ihrer Brüste. Pjotr lag im Bett, hielt die Hände unter dem Kopf, hob den Bart zur Decke, betrachtete seine Frau von der Seite und fand, daß sie an eine Maschine erinnerte, und daß ihre Salbe nach gekochtem Stör roch. Als Natalia mit eindringlichem Flüstern gebetet hatte, legte sie sich ins Bett und bot sich, nach der ehrlichen Gewohnheit des gesunden Körpers, ihrem Mann an; er stellte sich aber schlafend.

»Ein Endchen«, dachte er. »Ich bin ja auch eine Spindel. Ich drehe mich. Und wer spinnt? Tichon sagt: ›Der Mensch spinnt und der Teufel webt Sackleinen.‹ Eine scheußliche Fratze.«

Das von Alexej erweiterte Werk breitete sich immer mehr auf den Sandhügeln über dem Flusse aus; sie hatten ihre goldige Färbung verloren, der silbrige Glanz des Glimmers verschwand, die scharfen Quarzfunken erloschen, der Sand wurde festgestampft, im Frühling breitete sich darauf mit jedem Jahr üppiger das Unkraut mit seinem immer grelleren Grün aus, auf den Pfaden schmiegte schon der Wegerich seine Blätter an die Erde; die Klette ließ ihre großen Ohren hängen; um die Fabrik herum säten die Gartenbäume ihre Samen aus; die Herbstblätter düngten im Vermodern den fett werdenden Sand. Das Werk brummte immer lauter und atmete Unruhe und Sorgen aus; es summten Hunderte von Spindeln, es raunten die Webstühle; den ganzen Tag schnaubten atemlos die Maschinen, über der Fabrik kreisten ununterbrochen die sorgenvollen Klänge der Arbeit; es war angenehm, sich als Herrn des Ganzen zu fühlen; es war erstaunlich, wie angenehm das war, und wie stolz es machte.

Ab und zu, und zwar immer häufiger, wurde Artamonow von Müdigkeit erfaßt; er erinnerte sich dann an seine Kinderjahre, an das Dorf, an den ruhigen, reinen Fluß Rat, an die weiten Fernen und das einfache Leben der Bauern. Dann hatte er das Gefühl, als hätten ihn unsichtbare, fest haftende Hände erfaßt und drehten ihn herum; der Lärm des ganzen Tages erfüllte seinen Kopf und ließ keinen Raum darin für andere Gedanken, als für diejenigen, die das Werk ihm eingab; der krause Rauch des Fabrikschornsteins verdunkelte alles ringsum durch Wehmut und Öde.

In den Stunden und Tagen einer solchen Stimmung mißfielen ihm die Arbeiter noch mehr als sonst; sie schienen immer schwächlicher zu werden, die bäurische Ausdauer zu verlieren und von der Reizbarkeit der Weiber angesteckt zu werden; sie waren übermäßig empfindlich und gaben freche Antworten. In ihnen machte sich etwas Unwirtschaftliches und Unverläßliches bemerkbar; vorher, unter dem Vater, hatten sie häuslicher und einiger gelebt, hatten weniger getrunken und waren nicht so schamlos liederlich gewesen. Jetzt geriet aber alles durcheinander, die Menschen wurden schlagfertiger und scheinbar klüger, verhielten sich aber nachlässiger zur Arbeit und boshafter zueinander und betrachteten und kritisierten alles häßlich und spitzbübisch. Besonders übermütig und unehrerbietig wurde die Jugend, der die Fabrik sehr bald alles Bäurische geraubt hatte.

Der Heizer Wolkow mußte in das Irrenhaus der Gouvernementsstadt gebracht werden; er war erst vor fünf Jahren, als er Feuerschaden erlitten hatte, in die Fabrik gekommen, damals war er ein schöner, gesunder Mann gewesen und hatte seine lustige Frau mitgebracht. Nach einem Jahre wurde seine Frau liederlich, er fing an, sie zu prügeln, sie wurde dadurch schwindsüchtig, – und nun waren sie beide nicht mehr da. Artamonow hatte viele solche Fälle von raschem Menschenverbrauch beobachtet. In fünf Jahren ereigneten sich vier Totschläge, zwei beim Raufen, einer aus Rache, den vierten beging ein älterer Weber, der aus Eifersucht ein Mädel, eine Spulerin, erstach. Man schlug einander oft blutig und brachte sich ernstliche Verletzungen bei.

Das alles schien Alexej nicht zu berühren. Er wurde immer seltsamer. Er erinnerte an den sauberen, zu Scherzen aufgelegten Schreiner Serafim, der ebenso geschickt und fröhlich für die Kinder Flöten und Armbrüste verfertigte, wie er für sie Särge zusammennagelte. Alexejs Habichtsaugen funkelten vor Sicherheit, es ginge alles gut und würde auch in Zukunft gut gehen. Er hatte schon drei Gräber auf dem Friedhof, nur Miron hing fest und zäh am Leben, er schien eilig und unschön aus langen Knochen und Knorpeln zusammengefügt zu sein, und alles knarrte und knackte an ihm. Er hatte die Gewohnheit, sich so die Finger zu verrenken, daß sie laut krachten. Mit dreizehn Jahren trug er schon eine Brille, das verkürzte etwas seine lange Vögelnase und verdunkelte unangenehm die hellen Augen. Der Knabe ging immer mit irgendeinem Buch in der Hand herum und hielt einen Finger darin so eingeklemmt, daß das Buch an ihm festgewachsen zu sein schien. Mit Vater und Mutter sprach er, oder räsonierte er vielmehr, als wäre er ihr Altersgenosse. Das gefiel ihnen. Pjotr hatte aber das bestimmte Gefühl, daß sein Neffe ihn nicht mochte und vergalt ihm mit dem Gleichen.

In Alexejs Haus war alles nicht ernst und nicht solide; Pjotr sah, daß der Unterschied zwischen seinem Leben und dem seines Vetters beinahe ebenso groß war, wie der zwischen einem Kloster und einer Jahrmarktsbude. Alexej und dessen Frau hatten in der Stadt keine Freunde, aber in den engen Stuben, die an Rumpelkammern erinnerten und mit abgenützten alten Gegenständen gefüllt waren, versammelten sich an Feiertagen allerhand Menschen von zweifelhaften Qualitäten: der Fabriksarzt Jakowlew, ein spöttischer und böser Mensch mit goldenen Zähnen, der überlaute Techniker Koptew, ein Trunkenbold und Kartenspieler, Mirons Lehrer, ein Student, dem die Polizei das Studium verboten hatte, und seine stumpfnasige Frau, die Zigaretten rauchte und Gitarre spielte. Es kamen noch andere Menschen, die an Ruinen erinnerten, sie schimpften alle mit gleicher Frechheit über die Popen und die Obrigkeit, und es bestand kein Zweifel, daß jeder von ihnen sich für hervorragend gescheit hielt. Artamonow empfand mit seinem ganzen Wesen, daß das nicht die richtige Gesellschaft war, und begriff nicht, wozu Alexej, der Besitzer der Hälfte des großen, bedeutenden Werkes, diese Leute brauchte. Wenn er sie lärmen hörte, fiel ihm die Klage des Popen ein:

»Sie erstreben vieles, aber – nicht die Hauptsache.«

Er fragte sich nicht, was und wo diese Hauptsache wäre, er wußte nur – sie war im Werk.

Der überlaute Zigeuner Koptew schien Alexejs Liebling zu sein; er machte den Eindruck eines Betrunkenen, in ihm war etwas Ungestümes und scheinbar Gescheites. Er sagte häufiger als die andern: »Das ist alles Unsinn und Philosophie! Die Industrie, das ist das Richtige! Und die Technik.«

Pjotr vermutete aber in ihm etwas Ketzerisches und Zersetzendes.

»Ein gefährlicher Bursche«, sagte er zu Alexej. Der war ganz erstaunt:

»Koptew? Was fällt dir ein? Das ist ein Hauptkerl, ein Geschäftsmann, ein Stier, ein kluger Kopf! Es sollte Tausende solcher Menschen geben!« Und er fügte lächelnd hinzu:

»Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich sie ihm zur Frau geben und ihn an das Werk festketten!«

Pjotr wandte sich düster von ihm ab. Wenn man nicht Karten spielte, saß er einsam in seinem wie ein Bett breiten und weichen Lieblingslehnstuhl; er betrachtete, sich am Ohr zupfend, die Menschen, und da er mit keinem von ihnen einverstanden war, hatte er Lust, mit allen zu streiten. Er wollte das nicht nur, weil alle diese Menschen ihn, den Chef des Werkes, gar nicht beachteten, sondern auch noch aus anderen Gründen. Diese Gründe waren ihm unklar, – er verstand es nicht zu reden und flocht nur selten und mit Anstrengung eine Bemerkung ein:

»Der Pope Gleb hat mir von einem Grafen erzählt . . .«

Koptew bellte ihn sogleich an:

»Was geht der Graf denn eigentlich Sie an? Gerade Sie? Dieser Graf ist der letzte Seufzer des bäuerlichen Rußlands . . .«

Er schrie und zeigte unehrerbietig mit dem Finger in Pjotrs Richtung, und alle übrigen, die ihm lauschten, erinnerten nun auch an Zigeuner, an heimatloses, herumstreichendes Volk.

»Motten«, dachte Pjotr. »Müßiggänger.«

Eines Tages sagte er:

»Es heißt fälschlich: Die Arbeit ist kein Bär, sie läuft nicht in den Wald fort! Die Arbeit ist wohl ein Bär, sie braucht nicht davonzulaufen, sie packt und hält einen fest. Die Arbeit ist der Herr des Menschen.«

»Da haben wir's«, kläffte Koptew. »Wo spricht man so? Wer spricht so? Hier ist die Gefahr!«

Und Alexej fragte spöttisch:

»Wo hast du das her? Borgst du dir die Gedanken bei Tichon?«

Das erzürnte Pjotr sehr, und er sagte zu Hause zu seiner Frau:

»Pass' auf Jelena auf! Dieser Zigeuner, der Koptew, macht sich mit ihr zu schaffen. Alexej protegiert ihn. Jelena ist ein fetter Bissen und nicht für einen solchen Kerl bestimmt. Sieh dich nach einem Freier für sie um!«

»Was für Freier gibt es denn hier für sie?« sagte Natalia besorgt. »Da müßte man in der Gouvernementsstadt suchen. Es ist wohl auch noch zu früh . . .«

»Pass' auf, sonst tut man ihr noch was an«, sagte Artamonow schmunzelnd, was bei seiner Frau ein zweideutiges Lachen hervorrief.

Wenn es ihm gelang, für kurze Zeit dem beschränkten Gebiet der Fabrikssorgen zu entgleiten und sich davon loszureißen, umfing ihn wieder ein dichter Nebel von Menschenhaß und von Unzufriedenheit mit sich selbst. Es gab nur einen lichten Punkt – die Liebe zu seinem Sohn, doch auf diese Liebe fiel der Schatten des kleinen Nikonow, oder sie hielt sich unter der Schwere der Tat in der Tiefe verborgen. Wenn er Ilja ansah, empfand er manchmal das Bedürfnis, ihm zu sagen:

»Das habe ich aus Angst um dich getan.«

Sein Verstand war nicht verschlagen genug und konnte die Tatsache nicht verhehlen, daß diese Angst erst einen Augenblick vor dem Totschlag aufgetaucht war, aber Pjotr begriff, daß nur diese Angst ihn ein wenig rechtfertigen konnte. Im Gespräch mit Ilja vermied er es jedoch, dessen Kameraden auch nur zu erwähnen; er fürchtete, ihm könnte zufällig etwas von dem Verbrechen entschlüpfen, das er zu einer Heldentat verklären wollte.

Er sah, wie sein Sohn schnell heranwuchs, aber sich allmählich ihm entfremdete. Ilja wurde ruhiger, er sprach sanfter mit der Mutter, neckte Jakow, der auch schon Gymnasiast war, nicht mehr, beschäftigte sich gern mit der jüngeren Schwester Tatjana, machte sich in nicht zu scharfer Weise über Jelena lustig; aber in allem, was er sprach, machte sich eine besorgte, versonnene Kühle bemerkbar. Pawel Nikonow wurde durch Miron ersetzt. Die Vettern waren fast unzertrennlich, führten nie versiegende Gespräche und fuchtelten dabei mit den Händen; sie lernten und lasen zusammen, im Garten und in der Laube sitzend. Ilja lebte beinahe gar nicht zu Hause, er tauchte des Morgens beim Tee auf, ging in die Stadt zum Onkel oder mit Miron und dem zottigen, schwarzen Gorizwetow in den Wald; dieser kleine, geschäftige Junge war stachlig wie eine Distel und hatte einen schwänzelnden Gang und spöttische, gleichsam ausgerenkte Augen, die zu schielen schienen.

»Wie kann es dir nur Spaß machen, mit einem solchen Judenjungen umzugehen?« bemerkte Natalia mit Widerwillen gegen ihren Sohn. Pjotr Artamonow sah, daß dessen fein gezeichnete Brauen zusammenzuckten.

»Judenjunge ist ein beleidigender Ausdruck, Mama. Sie wissen, daß Alexander der Neffe unseres Priesters Gleb und folglich ein Russe ist. Er ist der Erste im Gymnasium.«

Die Mutter lachte geringschätzig:

»Die Juden drängen sich überall in die ersten Stellen ein.«

»Woher wissen Sie das?« sagte der Sohn unnachgiebig. »In der Stadt leben vier Juden und sie sind, bis auf den Apotheker, alle arm.«

»Sie haben aber vierzig Judenkinder. Auch in Worgorod und in Nishni gibt es überall Juden . . .«

Ilja wiederholte mit beleidigender Hartnäckigkeit:

»Judenjunge ist ein häßliches Wort.«

Da klopfte die Mutter mit dem Teelöffel an die Untertasse und schrie errötend:

»Willst du mich belehren? Weiß ich etwa nicht, wie man zu sprechen hat? Ich bin nicht blind, ich sehe, wie dieser Speichellecker allen, sogar Tichon, schmeichelt, darum sage ich auch: umgänglich wie ein Judenjunge. Die Umgänglichen sind aber die Gefährlichen. Ich kannte mal einen solchen Umgänglichen . . .«

»Genug!« griff Pjotr streng ein. Ihr waren aber die Tränen nahe, und sie beklagte sich:

»Was ist denn das, Pjotr Iljitsch? Darf man kein Wort mehr sagen?«

Ilja schwieg mit gerunzelter Stirne, und die Mutter erinnerte ihn:

»Ich habe dich doch geboren!«

»Ich danke«, sagte Ilja, die leere Tasse fortschiebend. Der Vater sah ihn von der Seite an und schmunzelte, sich am Ohr zupfend.

Er hörte aus den Worten seiner Frau heraus, daß sie ihren Sohn ebenso fürchtete, wie vorher die Petroleumlampen und erst kürzlich die komplizierte Kaffeemaschine, ein Geschenk von Olga; sie dachte immer, die Kaffeemaschine müsse explodieren. Etwas, das an die komische Angst der Mutter vor dem Sohn erinnerte, empfand auch der Vater selbst ihm gegenüber. Nicht zu verstehen war der Jüngling, alle drei waren sie nicht zu verstehen! Was interessierte sie an Tichon? Sie saßen des Abends mit ihm vor dem Tor, und Pjotr hörte Tichons mahnende Stimme:

»Das ist so. Je weniger man trägt, desto leichter geht man. Was aber die Winkel betrifft, glaubt das nicht! Was für Winkel gibt es im Himmel? Dort sind ja keine Wände.«

Die Gymnasiasten brachen in ein Gelächter aus. Ilja lachte wenig und mit samtartiger Stimme, Miron trocken und scharf, Gorizwetow war nicht so lachlustig, er unterbrach sich immer energisch und suchte die Freunde zu überzeugen:

»Wartet, das ist ja gar nicht komisch!«

Und wieder ertönte träge Tichons dunkle Rede:

»Kinder, ihr solltet mehr über den Menschen lernen, darüber, wie der Mensch überhaupt ist! Was für eine Bestimmung und welches Schicksal hat ein jeder? Das muß man prophezeien können. Und dann die Worte! Man muß die Worte durch und durch verstehen. Der eine und der andere von euch sagt oft: schließlich, das ist ein abgerundetes Wort; und doch ist es ja nicht der Schluß von irgendetwas!«

Und Tichon Wialow wiederholte seinen Spruch, der Pjotr schon geläufig war:

»Der Mensch spinnt das Garn, der Teufel webt Sackleinen draus, so geht es und ist nie aus.«

Die Jugend lachte laut, auch Tichon lachte mit tiefer Stimme und seufzte:

»Ach, ihr nicht gargebackenen Gelehrten!«

Im Abenddunkel erschienen die Kinder kleiner und unansehnlicher als bei Sonnenlicht, während Tichon anschwoll, unförmig wurde und noch dümmer als bei Tage redete.

Iljas Gespräche mit Tichon steigerten Artamonows Feindseligkeit diesem gegenüber und flößten ihm unklare Befürchtungen ein. Er fragte seinen Sohn:

»Was findest du an Tichon?«

»Er ist ein interessanter Mensch.«

»Was ist an ihm interessant? Seine Dummheit?«

Ilja antwortete leise:

»Man muß auch die Dummheit verstehen.«

Die Antwort gefiel Artamonow.

»Das ist richtig: wir leben mit der Dummheit.«

Er überlegte es sich aber sogleich:

»Das sind Tichons Worte!«

Sein Sohn erregte in ihm besondere Hoffnungen; wenn er sah, daß Ilja, die Hände in den Taschen und leise pfeifend aus dem Fenster in den Hof und auf die Arbeiter blickte oder langsam durch die Weberei ging und leichtfüßig der Siedlung zuschritt, dachte der Vater befriedigt:

»Er wird mal ein scharfsichtiger Leiter des Werkes sein. Er wird auch in einer anderen Weise als ich ins Werk eintreten: ich wurde vorgespannt und mußte ziehen!«

Es kränkte ihn ein wenig, daß sein Sohn nicht gesprächig war und wenn er sprach, es kurz, mit gleichsam vorher überlegten Worten tat, die den Wunsch, das Gespräch fortzusetzen, ertöteten.

»Er ist etwas trocken«, dachte Artamonow und tröstete sich damit, daß Ilja in vorteilhafter Weise weder an den lauten Schwätzer Gorizwetow, noch an den schläfrigen, trägen Jakow, noch an Miron erinnerte, der schnell das Jugendliche verlor, wie ein Buch sprach, hochmütig wurde und einem Beamten ähnelte, der weiß, daß es für jede Lebenslage in den Büchern ein eigenes, strenges Gesetz gibt.

Die Ferienwochen entschwanden unwahrscheinlich rasch, und schon machten die Kinder sich zur Abreise bereit. Natalia versah Jakow mit guten Ratschlägen für den Weg, während der Vater zu Ilja nicht das sagte, was er eigentlich wollte. Wie konnte man es aber in Worte fassen, daß es langweilig war, in dem Mückenschwarm einförmiger Sorgen um das Werk zu leben? Man sprach nicht davon mit grünen Jungen!

Pjotr Artamonow wünschte es sich so sehr, etwas zu erleben, das dem Gewohnten und dem wie Schnee, Regen, Schmutz, Hitze und Staub Unvermeidlichen nicht ähnelte, daß er sich endlich etwas erfand. Er wurde einmal in einem öden Waldnest des Umkreises von einem Junigewitter mit Hagel, betäubendem Donnergetöse und blauem Aufflammen der Wolken überrascht. Über den schmalen Waldweg ergoß sich ein im Dunkel unsichtbarer Wasserstrom, die Erde schien zu schmelzen und unter den Füßen der Pferde fortzuströmen und überschwemmte die Wagenräder bis zu den Achsen. Es war schaurig, wenn das kalte, blaue Feuer für eine Sekunde das Sieden der zerschmolzenen Erde drohend beleuchtete, und an den Straßenseiten aus dem nassen Dunkel und durch das glasige Netz des Regens hindurch schwarze Bäume, vor Angst hüpfend, vorüberflogen. Die unsichtbaren Pferde blieben schnaubend und mit den Hufen im Wasser patschend, stehen und wurden von dem dicken, sanften Kutscher Jakim freundlich und schüchtern beruhigt. Der Hagel, der den Wald mit dem Geräusch von fallendem Eis erfüllt hatte, war schnell vorübergezogen, wurde aber von einem dichten Platzregen abgelöst, der das Laub mit Millionen feiner, schwerer Tropfen peitschte und das Dunkel mit zornigem Heulen erfüllte.

»Wir müssen zu Popows fahren«, sagte Jakim.

Und nun sitzt Artamonow in fremden, ihn fest umspannenden Kleidern, verlegen und wie im Traum mitten im angenehmen Halbdunkel des warmen, trockenen Zimmers und fürchtet sich zu bewegen; der vernickelte Samowar summt, den Tee schenkt eine große, schlanke Frau, mit einem Turban rötlicher Haare und in einem weiten dunklen Kleide ein. In ihrem blassen Gesicht leuchten anziehend die grauen Augen; sie erzählt mit sanfter Stimme sehr schlicht, voll Demut und ohne zu klagen, von dem kürzlich erfolgten Tod ihres Mannes und von ihrem Wunsch, den Gutshof zu verkaufen, in die Stadt zu übersiedeln und dort ein Progymnasium zu eröffnen.

»Dazu hat mir Ihr Bruder geraten. Er ist ein interessanter Mensch, so lebendig und eigenartig.«

Pjotr räusperte sich voll Neid und betrachtete genau alles, was ihn umgab. Als er in der Jugend mit dem Vater durchs Gouvernement gereist war, hatte er oft herrschaftliche Häuser besucht, ohne aber darin etwas Besonderes zu bemerken; er hatte nur das Gefühl gehabt, daß die Menschen und die Gegenstände ihn beengten, das war aber in diesem Hause nicht der Fall; hier fühlte man etwas Freundliches und Rechtschaffenes. Die große Lampe mit der matten Glocke bestrahlte mit milchigem Licht sowohl das Geschirr und das Silber auf dem Tisch als auch das glattgekämmte, dunkle Köpfchen eines kleinen Mädchens mit grünem Augenschirm; vor dem Mädchen lag ein Heft, es zeichnete mit einem dünnen Bleistift und summte leise vor sich hin, ohne Pjotr aber dadurch zu hindern, dem gleichmäßigen Sprechen der Mutter zu lauschen. Das Zimmer war nicht groß und dicht mit Möbeln gefüllt, alle Gegenstände schienen mit dem Raum verwachsen zu sein, doch hatte jeder einzelne sein eigenes Leben und erzählte etwas von sich, ebenso wie die drei sehr grellen Bilder an den Wänden; auf dem Bilde Pjotr gegenüber bog ein Märchenschimmel stolz den Hals; seine Mähne war unwahrscheinlich lang und reichte fast bis an die Erde. Alles war merkwürdig anheimelnd und ruhig, und die schöne Stimme der Hausfrau klang wie ein aus der Ferne herübertönendes, nachdenkliches Lied. Ja, in einer solchen Umgebung konnte man das ganze Leben verbringen, ohne Unruhe zu empfinden und ohne etwas Böses zu tun; wenn man ein solches Weib zur Frau besitzt, kann man sie achten und mit ihr über alles sprechen.

Hinter der auf die Terrasse führenden Tür mit dem Halbkreis bunter Scheiben wurde der schwarze Himmel durch bläulichen Schein gesprengt und flammte auf, ohne aber die Seele zu erschrecken.

Bei Tagesanbruch fuhr Artamonow weg und bewahrte sorgsam den Eindruck der freundlichen Ruhe, der Behaglichkeit und das fast körperlose Bild der grauäugigen, stillen Frau, der man diese Behaglichkeit verdankte. Im Jagdwagen durch die Pfützen schwimmend, die ohne Unterschied sowohl das Gold der Sonne, als auch die schmutzigen Flecken der vom Wind zerfetzten Wolken widerspiegelten, dachte er voll Trauer und Neid:

»So lebt man also.«

Er sagte aus irgendeinem Grunde seiner Frau nichts von dieser Bekanntschaft und verheimlichte sie auch vor Alexej; um so peinlicher war es ihm nach einigen Wochen, als er zu ihm kam und dort die Popowa auf dem Sofa neben Olga antraf. Alexej führte ihn zum Sofa hin:

»Hier – das ist mein Bruder, Wera Nikolajewna.«

Die Frau streckte ihm lächelnd die Hand hin:

»Wir sind schon miteinander bekannt.«

»Wieso denn?« rief Alexej erstaunt aus. »Seit wann denn? Warum hast du es nicht gesagt?«

Pjotr fühlte in Alexejs Erstaunen etwas Häßliches, und seine Barthaare bewegten sich seltsam; er zupfte sich am Ohr und erwiderte:

»Ich habe es vergessen.«

Alexej wies mit dem Finger schamlos auf ihn hin und schrie:

»Seht doch, er ist ganz rot geworden, nicht? Du hast geschickt geantwortet, Kindchen! Ja, kann man denn eine so liebe Dame vergessen, wenn man sie einmal gesehen hat? Seht, seine Ohren jucken, sie wachsen!«

Die Popowa lächelte freundlich und ohne ihn zu kränken.

Man trank Met mit Eis aus hohen, geschliffenen Pokalen; die Besucherin hatte Olga diesen Met als Geschenk mitgebracht, er war goldig wie Bernstein, prickelte lustig auf der Zunge und gab Pjotr sehr unternehmende Worte ein, die er jedoch nirgends einschalten konnte, da Alexej ununterbrochen und unruhig schnatterte:

»Nein, Wera Nikolajewna, beeilen Sie sich nicht zu verkaufen! Das muß man einem Liebhaber der Stille anbieten, es ist ein Ort, wo die Seele ausruhen kann. Was wird Ihnen aber unsereiner bieten? Sie haben keinen Grund und Boden und nur wenig Wald, der außerdem nicht viel wert ist; wer, außer den Hasen, braucht hier überhaupt Wald?«

Pjotr sagte:

»Es ist nicht ratsam, zu verkaufen.«

»Warum denn?« fragte die Popowa, an dem Met nippend und seufzte:

»Es ist wohl nötig.«

Pjotr mißfiel Olgas aufmerksamer Blick und das Zucken ihrer ein Lächeln verbergenden Lippen: er trank düster den Met aus und schwieg zur Bemerkung der Popowa.

Nach zwei Tagen erklärte ihm Alexej im Kontor, er beabsichtige, der Popowa Geld gegen Pfand zu geben.

»Ihr Gutshof ist sieben Rubel wert, aber ihre Sachen . . .«

»Gib ihr nichts«, sagte Pjotr sehr energisch.

»Warum? Ich kenne den Wert der Sachen . . .«

»Tue es nicht.«

»Ja, aber warum?« rief Alexej. »Ich werde mit einem Sachverständigen zu ihr hinfahren und alles abschätzen lassen.«

Pjotr schüttelte verneinend den Kopf; er wollte den Bruder gern von dieser Transaktion abbringen, da ihm aber kein Einwand einfiel, schlug er plötzlich vor:

»Wir wollen es ihr gemeinsam geben; du und ich je zur Hälfte.«

Alexej sah ihn unverwandt an und lächelte:

»Du wirst wunderlich.«

»Es scheint jetzt wohl die Zeit dafür gekommen zu sein,« sagte Pjotr Artamonow laut.

»Pass' auf, du irrst dich in der Adresse«, warnte der Bruder. »Ich hab's versucht, sie ist ein Fisch.«

Nach zwei, drei Begegnungen mit der Popowa hatte Artamonow durch sie das Träumen gelernt. Er dachte sich diese Frau an seiner Seite, und sofort erstand vor ihm ein wunderbar leichtes und behagliches Leben, das äußerlich schön und innerlich angenehm still war. Es bestand nicht mehr die Notwendigkeit, täglich Dutzende von Menschen zu sehen, die ihre Arbeit fahrlässig behandelten, die stets mit irgendetwas unzufrieden waren und bald schrien und sich beklagten und bald in dem Bestreben, zu betrügen, logen. Ihre aufdringliche Schmeichelei war ebenso aufreizend wie die schlecht verborgene, aber immer mehr anwachsende Feindseligkeit. Es war so leicht, sich ein Bild des Lebens fern von alledem zu schaffen, außerhalb des Bereichs der roten, fetten Spinne des Werks, die ihr Netz immer weiter ausdehnte. Er selbst kam sich dann wie ein großer Kater vor; ihm war warm und behaglich, die Hausfrau liebte ihn, liebkoste ihn gerne und er brauchte sonst nichts. Gar nichts.

Ebenso wie früher der kleine Nikonow für ihn jener dunkle Punkt gewesen war, um den sich alles Schwere und Unangenehme verdichtet hatte, so wurde jetzt die Popowa der Magnet, der nur die schönen, unbeschwerten Gedanken und Absichten anzog. Er weigerte sich, mit seinem Bruder und einem schlauen, bebrillten Alten auf den Gutshof der Popowa zu fahren, um ihren Besitz abzuschätzen. Als aber Alexej die Pfandverschreibung geregelt hatte und zurückkehrte, schlug er vor:

»Verkauf mir den Pfandbrief!«

Alexej war unangenehm überrascht, fragte ihn lange aus, wozu er das brauchte und sagte endlich:

»Hör' mal, das ist für mich ungünstig! Sie hat nicht soviel, um zu bezahlen, die Sachen sind aber von großem Wert, verstehst du? Gib noch was drauf!«

Sie wurden handelseinig; Alexej sagte, das Gesicht verziehend:

»Ich wünsche Erfolg. Es ist eine gute Tat.«

Auch Pjotr fühlte, daß er etwas Gutes getan hatte: er hatte sich ein Plätzchen zum Ausruhen geschenkt.

»Soll ich deiner Frau nichts sagen?« fragte der Bruder zwinkernd.

»Das ist deine Sache.«

Alexej betrachtete ihn prüfend und sagte:

»Olga glaubt, du wärest in die Popowa verliebt.«

»Auch das ist meine Sache.«

»Brumme nicht. In unserem Alter machen alle Männer Seitensprünge.«

Pjotr erwiderte grob und zornig:

»Laß mich in Ruh' . . .«

Bald darauf fühlte er, daß Olga mit ihm noch wohlwollender, aber mitleidig zu sprechen begann; das mißfiel ihm, und er fragte, als er an einem Herbstabend bei ihr saß:

»Hat dein Mann dir irgendetwas über die Popowa vorgeflunkert?«

Sie streichelte mit ihrer leichten Hand die seine, haarige, und sagte:

»Ich werde es nicht weiter verbreiten.«

»Das darf auch nicht geschehen«, sagte Artamonow, mit der Faust auf das Knie schlagend. »Es wird bei mir bleiben. Das kannst du nicht verstehen. Sage ihr nichts davon.«

Die Popowa erweckte in ihm keine Begierden, sie erschien ihm in den Träumen nicht als das von ihm begehrte Weib, sondern als eine notwendige Ergänzung zum freundlichen Behagen des Hauses und zu einem guten, rechtschaffenen Leben. Als diese Frau aber in die Stadt übersiedelt war, sah er sie häufig bei Alexej und fühlte sich auf einmal betroffen. Er sah sie am Bett der erkrankten Olga; sie neigte sich mit aufgekrempelten Blusenärmeln über das Waschbecken, benetzte ein Handtuch mit Wasser, bückte sich und richtete sich wieder auf; in ihrer erstaunlichen Schlankheit, mit den kleinen Mädchenbrüsten war sie unwiderstehlich verführerisch. Artamonow stand an der Tür und betrachtete schweigend, mit krauser Stirn ihre weißen Arme, die straffen Waden und die Schenkel; ihn umfing plötzlich der heiße Nebel des Begehrens so heftig, daß er ihre Arme um seinen Körper fühlte. Statt ihren Gruß zu beantworten, schritt er, mit Mühe den Hals wegwendend, zum Fenster, setzte sich dort schnaufend hin und fragte düster:

»Was hast du denn, Olga? Das ist nicht schön . . .«

Zum erstenmal wirkte ein Weib so mächtig und vernichtend auf ihn ein; er erschrak sogar, da er darin dunkel etwas Gefährliches und Drohendes fühlte. Er schickte seinen Kutscher nach dem Arzt und ging sogleich zu Fuß den Weg zum Werk entlang.

Es war Ende Februar; das Tauwetter drohte mit einem Schneesturm; ein grauer Nebel hing über der Erde und verbarg den Himmel, indem er den Luftraum bis zu dem Ausmaß einer über Artamonow umgestülpten Schale verengte; daraus sprühte langsam feuchter, kalter Staub herab, der sich schwer auf die Schnurrbart- und Barthaare setzte und am Atmen hinderte. Während Artamonow über den weichen Schnee schritt, fühlte er sich ebenso zertreten und vernichtet, wie in der Nacht von Nikitas Selbstmordversuch und wie damals, als er Pawel Nikonow tötete. Die Ähnlichkeit der Schwere dieser beiden Momente wurde ihm klar, und um so gefährlicher erschien ihm der dritte. Er wußte genau, daß er diese Frau niemals zu seiner Geliebten machen würde. Er sah schon zu dieser Stunde, daß die plötzlich entflammte Neigung zur Popowa in ihm etwas Liebes vernichtete und verdunkelte und diese Frau in das Gebiet des Alltäglichen hinüberschob. Er wußte nur zu gut, was eine Ehefrau bedeutete, und er hatte keine Gründe zur Annahme, daß eine Geliebte etwas besseres als jenes Weib sein könnte, dessen fade, pflichtmäßige Liebkosungen ihn fast gar nicht mehr erregten.

»Was willst du?« fragte er sich. »Willst du Unzucht treiben? Du hast eine Frau.«

In den Stunden, da ihn etwas bedrohte, fühlte er stets den gespannten Drang, möglichst rasch an der Gefahr vorbeizukommen, sie hinter sich zu lassen und sich nicht mehr umzusehen. Etwas Drohendes vor sich zu haben, ist dasselbe, wie im nächtlichen Dunkel über einem tiefen Fluß auf aufgeweichtem Frühlingseis zu stehen; er hatte dieses Entsetzen als heranwachsender Knabe erlebt und erinnerte sich noch mit dem ganzen Körper daran. Nach einigen, in einer schweren, unklaren Abgestumpftheit verbrachten Tagen ging er nach einer schlaflosen Nacht früh am Morgen auf den Hof hinaus und sah dort den Kettenhund Tulun im Blut auf dem Schnee liegen. Es war noch so dunkel, daß das Blut schwarz wie Pech erschien. Er berührte die zottige Leiche mit dem Fuß, Tulun bewegte die zähnefletschende Schnauze und sah mit dem herausgequollenen Auge auf den Fuß des Menschen. Artamonow zuckte zusammen, öffnete die niedrige Tür von Tichons Wächterhäuschen und fragte, auf der Schwelle stehen bleibend:

»Wer hat den Hund getötet?«

»Ich«, sagte Tichon, während er die Untertasse mit Tee auf den auseinandergespreizten Fingern hielt.

»Warum denn?«

»Er hat wieder einen Menschen gebissen.«

»Wen?«

»Sinaïda, Serafims Tochter.«

Pjotr sann über etwas nach und sagte nach einem Schweigen:

»Es ist schade um den Hund.«

»Ja, gewiß. Ich habe ihn aufgezogen. Er hat aber auch mich angeknurrt. Übrigens würde auch jeder Mensch toll werden, wenn man ihn an die Kette legte.«

»Das stimmt«, sagte Artamonow, schloß die Tür sehr fest hinter sich, ging und dachte:

»Manchmal spricht der auch vernünftig.«

Er blieb auf dem Hof stehen und lauschte den Geräuschen der Fabrik. In einer entfernten Ecke leuchtete ein gelber Fleck: das Licht im Fenster von Serafims Wohnung, die an die Stallwand angebaut war. Artamonow ging auf das Licht zu und blickte durch das Fenster, Sinaïda saß im bloßen Hemd am Tisch vor der Lampe und stocherte in irgendetwas mit der Nadel herum. Als er in das Zimmer trat, fragte sie, ohne den Kopf wegzuwenden:

»Warum bist du zurückgekehrt?«

Als sie aber die Augen erhob, warf sie die Näharbeit auf den Tisch, stand lächelnd auf und rief aus:

»O Gott! Ich dachte, es wäre der Vater . . .«

»Ich habe gehört, daß Tulun dich gebissen hat?«

»Ja, und wie!« sagte sie gleichsam prahlend, stellte den Fuß auf den Stuhl und hob den Hemdsaum: »Sehen Sie doch!«

Artamonow blickte flüchtig auf das weiße, unter dem Knie verbundene Bein, ging dicht an das Mädchen heran und fragte mit gedämpfter Stimme:

»Warum läufst du im Morgengrauen auf dem Hof herum? Warum, he?«

Sie blickte ihm fragend ins Gesicht, lächelte sogleich verständnisvoll, blies heftig in den Zylinder, löschte die Lampe aus und sagte:

»Wir müssen die Tür schließen.«

Nach einer halben Stunde ging Pjotr Artamonow bedächtig in die Fabrik, er war angenehm erschöpft; er zupfte sich am Ohr, spuckte aus, erinnerte sich erstaunt der schamlosen Liebkosungen der Spulerin und lächelte: ihm schien, er hätte jemanden sehr geschickt betrogen und umgangen . . .

Er war in das liederliche Leben der Fabrikmädchen wie der Bär in eine Imkerei eingebrochen. Zuerst hatte dieses Leben, das alles, was er davon gehört hatte, bei weitem übertraf, ihn durch die freche Nacktheit der Worte und Gefühle verblüfft; alles darin war entblößt und wurde mit einer herausfordernden Schamlosigkeit gezeigt. Von dieser Schamlosigkeit sangen und weinten die Lieder; Sinaïda und ihre Freundinnen nannten sie – Liebe, und darin war etwas Scharfes, Bitteres, das stärker als Wein berauschte.

Artamonow wußte, daß die Fabrikangestellten die an die Stallwand angelehnte Hütte Serafims »die Falle« nannten und Sinaïda den Spitznamen »die Pumpe« gaben. Der Schreiner selbst nannte seine Wohnung »das Kloster«. Er saß auf der Ofenbank, hielt stets die Gusli auf dem gestickten, über die Schulter und um den Hals gelegten Handtuch, warf keck den kleinen kraushaarigen Kopf in die Höhe, schauspielerte mit dem rosigen Gesichtchen, zwinkerte und schrie:

»Seid lustig, ihr Nonnen! Das ist doch Pjotr Iljitsch, ihr Nonnen. Was glaubst du denn? Sie sind Novizen des fröhlichen Teufels, und ich bin ihr Abt, so wie ein Pope, und lasse meine Knöchelchen tönen! Wirf ein Rubelchen für das fröhliche Leben hin!«

Wenn er das Geld erhielt, schob er es hinter den Fußlappen und sang verwegen, sich auf der Gusli begleitend:

»Sitzt die Dame in der Hölle,
Will gebratnes Eis recht schnelle,
Doch die Teufel mit dem Hacken
Werden fest die Dumme packen.«

»Du kennst viele Scherzlieder«, staunte Pjotr. Der Alte schwatzte aber prahlend:

»Ich bin ein Sieb! Ich bin wie ein Sieb, du kannst in mich jeden beliebigen Unrat schütten, ich werde dir ein Lied heraussieben. Ich bin schon einmal so ein Mensch – das reine Sieb!«

Und er erzählte:

»Das haben mich die Herrschaften gelehrt; es gab eine merkwürdige Herrschaft, die Kutusows, und dann einen Herrn Japuschkin, der war auch ein Saufbold. Der Schlaue stellte sich arm und ging mit einem Korb auf dem Rücken, als ob er mit Kleinigkeiten handle, – dabei schrieb er aber alles, was er sah und hörte, auf. Er schrieb und schrieb und ging zum Zaren: ›Schau, Majestät,‹ sagte er, ›woran unsere Bauern denken!‹ Der Zar sah hin, las das Aufgeschriebene, seine Seele wurde unruhig, und er ließ den Bauern die Freiheit geben, für Japuschkin aber in Moskau ein Denkmal aus Bronze aufstellen. Ihm selbst durfte man nichts tun, man sollte ihn lebend nach Susdal schicken und ihm dort soviel Wein auf Staatskosten zu trinken geben, wie er wollte. Denn, siehst du, Japuschkin hatte noch viel Geheimes über das Volk aufgeschrieben, nur war das für den Zaren nicht vorteilhaft und mußte verheimlicht werden. Dort in Susdal trank sich Japuschkin zu Tode, und man hat ihm, natürlich, seine Schriften gestohlen.«

»Du lügst da was Rechtes zusammen«, bemerkte Artamonow.

»Außer den Mädchen habe ich nie jemanden etwas vorgelogen, das ist nicht mein Handwerk«, sagte der Alte, und es war schwer, festzustellen, ob er nicht scherze.

»Nur derjenige lügt, der die Wahrheit kennt«, schwatzte er. »Ich kann aber nicht lügen, ich kenne die Wahrheit nicht. Das heißt, wenn du willst, werde ich es dir sagen: ich habe viel Wahrheit gesehen und mein Vers klingt so: die Wahrheit ist wie ein Weib, – sie ist schön, solange sie jung ist.«

Aber obwohl er angeblich die Wahrheit nicht kannte, wußte er doch unendlich viele Geschichten von den Herrschaften, von ihren Amüsements und von ihrem Unglück, von ihrer Grausamkeit und ihrem Reichtum, und während er davon sprach, fügte er stets mit sichtlichem Bedauern hinzu:

»Und doch ist es mit ihnen aus! Sie haben jeden Halt im Leben verloren und verstehen sich selbst nicht mehr! Sie sind ins Gleiten gekommen . . .«

Er beschrieb mit dem Finger einen Kreis über seinem Kopf und zeichnete, die Hand rasch senkend, einen ebensolchen Kreis über den Fußboden.

»Sie haben zu lange gespielt!« sagte er zwinkernd und sang:

»Einstmals lebten Herren fein,
Aßen Kalbfleisch Jahr für Jahr
Und sie hielten dann erst ein,
Als das Erbe alle war!«

Serafim erzählte von Räubern und Hexen, von Bauernaufständen, von verhängnisvollen Liebschaften, davon, wie des Nachts zu untröstlichen Witwen Feuerdrachen herabfliegen, und er sprach von allem so spannend, daß selbst seine nicht zu bändigende Tochter diesen Märchen schweigend und mit der nachdenklichen Gier eines Kindes lauschte.

Artamonow beobachtete bei Sinaïda voll Ekel die Vereinigung zügelloser Liederlichkeit und geschäftsmäßiger Berechnung. Er erinnerte sich mehr als einmal an die Verleumdung Pawel Nikonows, die sich als Prophezeiung erwiesen hatte.

»Warum habe ich grad' diese gewählt?« fragte er sich. »Es gibt Schönere. In welchem Licht werde ich erscheinen, wenn mein Sohn es erfährt?«

Er hatte auch bemerkt, daß sowohl Sinaïda, als deren Freundinnen ihren Zeitvertreib als eine unentrinnbare Pflicht betrachteten, wie die Soldaten ihren Dienst, und er dachte manchmal, daß sie durch ihre Schamlosigkeit sowohl sich selbst, als auch andere betrogen. Bald stieß ihn Sinaïdas zudringliche Geldgier und Bettelei ab; das war bei ihr schärfer ausgeprägt, als bei Serafim, der nur für den süßen Teneriffawein, den er aus irgendeinem Grunde »Rübenwein« nannte, für seine Lieblingswurst mit Knoblauch, für Fruchtpasten und Butterteigsemmeln Geld ausgab.

Artamonow gefiel der leichtfertige, amüsante Alte sehr, er wußte, daß Serafim ein kunstvoller Arbeiter und bei allen beliebt war, man nannte ihn im Werk »der Tröster«, und Pjotr sah, daß dieser Spitzname mehr Wahrheit als Spott enthielt, und daß auch der Spott freundlich klang.

Um so unerklärlicher und unangenehmer kam ihm Serafims und Tichons Freundschaft vor, und Tichon schien seine Feindseligkeit wie mit Absicht noch mehr zu vertiefen. Natalia beschloß, Wialows Namenstag im zwanzigsten Jahr seiner Dienstzeit bei den Artamonows für ihn besonders feierlich zu gestalten.

»Denke doch daran, was für ein seltener Mensch er ist«, sagte sie zu ihrem Mann. »Wir haben während der zwanzig Jahre nichts Schlechtes an ihm gesehen. Er leuchtet gleichmäßig wie eine Wachskerze.«

Da Pjotr also Tichon besonders ehren wollte, trug er ihm selbst die Geschenke hin. Er wurde im Wächterhaus von dem herausgeputzten Serafim empfangen, hinter ihm stand Tichon mit gesenktem Kopf und sah auf die Stiefel seines Herrn.

»Da hast du von mir eine Uhr! Und von meiner Frau Tuch für ein Wams. Und da ist noch Geld.«

»Das Geld ist überflüssig«, murmelte Tichon und sagte dann:

»Danke.«

Er forderte den Herrn auf, den von Serafim geschenkten Teneriffawein zu trinken, und der Alte begann sogleich mit den Worten zu spielen:

»Du kennst unseren Wert, Pjotr Iljitsch, und wir den deinigen. Wir verstehen es wohl: der Bär liebt Honig und der Schmied hämmert das Eisen; die Herrschaft war für uns der Bär und du bist der Schmied. Wir sehen: du hast ein großes, schweres Werk vor dir.«

Jetzt erklärte Wialow, die silberne Uhr zwischen den Fingern drehend und sie anblickend:

»Die Arbeit ist ein Geländer für den Menschen; wir gehen am Rand einer Grube und halten uns daran fest.«

»So ist es!« rief Serafim erfreut aus. »Richtig! Das bedeutet, daß man sonst fallen würde!«

»Nun, das stimmt nicht«, sagte Artamonow. »Denn ihr seid keine Herren. Ihr könnt das nicht verstehen . . .«

Er fand keine entsprechend kräftigen Ausdrücke, obwohl Tichons Worte ihn gleich erzürnt hatten. Nicht zum ersten Male umkleidete Tichon mit solchen Worten seinen eigensinnigen, dunklen Gedanken, und dieser reizte den Herrn immer mehr. Er sah auf Tichons reichlich mit Butter eingefetteten, steinernen Kopf, suchte nach vernichtenden Worten und zupfte sich schnaufend am Ohr.

»Es gibt natürlich verschiedene Arbeit,« begann Serafim versöhnlich, »es gibt gute und schlechte . . .«

»Auch ein gutes Messer ist für die Kehle nicht besser«, brummte Tichon.

Pjotr hatte Lust, den Jubilar tüchtig zu beschimpfen, er konnte diesen Wunsch nur mit Mühe bezwingen und fragte streng:

»Warum brummst du, wie immer, so unvernünftig über die Arbeit? Man kann nichts verstehen . . .«

Tichon gab es zu und blickte dabei unter den Tisch:

»Es ist schwer, das zu verstehen.«

Der Schreiner begann von neuem:

»Er will nur harmlose Geschäfte gelten lassen, Pjotr Iljitsch . . .«

»Laß ihn, Serafim, er soll es selbst sagen.«

Da seufzte Tichon, ohne sich zu bewegen und wandte Pjotr die graue, handgroße Glatze auf dem Scheitel zu.

»Der Teufel hat Kain die Geschäfte gelehrt . . .«

»Da will er also hinaus!« rief Serafim aus und schlug sich mit der Hand auf das Knie.

Artamonow erhob sich vom Stuhl und riet Tichon zornig:

»Du solltest lieber nicht von Dingen sprechen, die du nicht verstehen kannst. Jawohl.«

Er verließ entrüstet das Wächterhaus und dachte wieder, er müsse Tichon entlassen. Er würde ihn gleich morgen entlassen. Und wenn nicht morgen, dann in einer Woche. Im Kontor erwartete ihn die Popowa. Sie grüßte kühl wie eine Fremde, setzte sich auf einen Stuhl, schlug mit dem Schirm auf den Fußboden und begann davon zu sprechen, daß sie die Zinsen für ihre Hypothek nicht auf einmal bezahlen könnte.

»Das ist ja eine Lappalie«, sagte Pjotr leise, ohne sie anzublicken und vernahm ihre Worte:

»Wenn Sie sie mir nicht stunden wollen, haben Sie das Recht, mir zu kündigen.«

Sie sagte das in beleidigendem Ton, klopfte wieder mit dem Schirm auf und ging so unerwartet schnell, daß er erst dazu kam, sie anzublicken, als sie gerade die Tür hinter sich schloß.

»Sie ist zornig«, sagte sich Artamonow. »Weswegen denn?«

Eine Stunde später saß er bei Olga, schlug mit der Mütze auf das Sofa und sprach:

»Sage ihr: ich brauche keine Zinsen und kein Geld von ihr. Was ist denn das für Geld? Sie soll sich keine Sorgen machen, verstehst du?«

Olga suchte zwischen den bunten Seidenknäueln herum, schob die Schachteln mit den Perlen auf dem Tisch hin und her und sagte nachdenklich:

»Ich verstehe es ja, aber sie wird es wohl kaum verstehen.«

»Sorge dafür, daß sie es auch tut. Was liegt mir daran, daß du es verstehst?«

»Danke«, sagte Olga, mit der Brille funkelnd. Dieses gläserne Lächeln wirkte auf Pjotr aufreizend.

»Scherze nicht!« sagte er etwas grob. »Ich beabsichtige nicht, mein Schwein in ihrem Gemüsegarten weiden zu lassen, ich habe das nicht im Sinn, glaube so etwas nicht!«

»Ach, du bist ein Bauer«, sagte Olga seufzend und schüttelte zweifelnd den glatt gekämmten Kopf.

Pjotr rief aus:

»Du mußt mir glauben! Ich weiß, was ich sage . . .«

»Weißt du es wirklich?«

Sie seufzte voll Mitgefühl, Artamonow hörte es. Er sah, daß ihre Augen ihn mitleidig und fast zärtlich durch die Brille betrachteten, das erboste ihn aber nur. Er wollte ihr irgendetwas Überzeugendes und Deutliches sagen, fand aber die erforderlichen Worte nicht und blickte auf das Fensterbrett, wo zwischen den fleischigen, an Tierohren erinnernden Begonienblättern graziöse Blütendolden herabhingen.

»Mir ist um ihren Gutshof leid. Das ist ein wundervoller Besitz, jawohl! Sie ist dort – geboren . . .«

»Nein, sie ist in Riasan geboren . . .«

»Das bleibt sich gleich, sie hat sich dort eingelebt! Meine Seele ist dort zum erstenmal ganz zur Ruhe gekommen . . .«

»Sie ist erwacht«, verbesserte Olga.

»Das ist für die Seele dasselbe, ob sie zur Ruhe gekommen oder erwacht ist.«

Er sprach lange über etwas, das ihm selbst nicht klar war. Olga lauschte, die Ellbogen auf den Tisch stützend, und sagte, als bei ihm die Worte versiegten:

»Höre mir jetzt zu . . .«

Und sie teilte ihm mit, Natalia hätte erfahren, daß er es mit der Spulerin hielte –, sie wäre gekränkt, weinte und klagte über ihn. Doch das rührte Artamonow nicht.

»Sie ist schlau,« sagte er lächelnd, »sie hat mir auch nicht durch ein Wort verraten, daß sie es weiß. Sie hat sich bei dir beklagt? So? Und dabei mag sie dich nicht . . .«

Er dachte nach und fügte hinzu:

»Sinaïda trägt den Spitznamen ›die Pumpe‹, das ist richtig! Sie hat aus mir den ganzen Unrat herausgepumpt.«

»Du sprichst häßliche Dinge«, sagte Olga seufzend und das Gesicht verziehend. »Ich erinnere mich, dir einmal gesagt zu haben, daß deine Seele ein angenommenes Kind ist. Es ist auch so, Pjotr, du fürchtest dich vor dir selbst wie vor einem Feind . . .«

Diese Worte verletzten ihn.

»Du sprichst keck mit mir; bin ich denn ein grüner Junge? Du solltest folgendes bedenken: wenn ich mit dir spreche, öffne ich dir meine Seele, sonst kann ich aber mit niemandem so sprechen. Mit Natalia kommt man nicht zum Sprechen. Ich habe manchmal den Wunsch, sie zu schlagen. Und du . . . Ach, ihr Weiber!«

Er setzte die Mütze auf und ging, von einer plötzlichen, stumpfen Traurigkeit erfaßt und an seine Frau denkend, – er hatte schon lange nicht an sie gedacht und bemerkte sie fast gar nicht, obwohl sie sich jede Nacht, nachdem sie mit Gott geflüstert hatte, in einer eingelernten, entgegenkommenden Weise an die Seite ihres Mannes legte.

»Sie weiß es und drängt sich doch auf«, dachte er zornig. »Das Schwein!«

Seine Frau war wie ein ausgetretener Pfad, über den Pjotr auch als Blinder, ohne zu stolpern, hätte gehen können; er hatte keine Lust, an sie zu denken. Ihm fiel aber ein, daß die Schwiegermutter, die ganz verschwollen, mit einem scheußlich aufgedunsenen, puterroten Gesicht langsam im Lehnstuhl dahinstarb, ihn immer feindseliger betrachtete. Aus ihren einst so schönen, jetzt aber trüben und nassen Augen fließen jämmerliche Tränen, die schief gezogenen Lippen bewegen sich, aber die gelähmte Zunge hängt stumm aus dem Munde und hat nicht die Kraft, etwas zu sagen; Uljana Bajmakowa klemmt sie mit den Fingern der halb lebendigen linken Hand wieder ein.

»Diese da fühlt aber. Sie tut mir leid.«

Es kostete ihn große Willensanstrengung, das schamlose Getue mit Sinaïda zu beenden. Und wie er das erledigt hatte, erstanden in ihm, zugleich mit den Katzenjammer hervorrufenden Erinnerungen an die Spulerin, allerlei schmerzliche Gedanken. Als wäre noch ein zweiter Pjotr Artamonow zur Welt gekommen, der Seite an Seite mit dem ersten lebte und hinter seinem Rücken ging. Er fühlte, daß dieser Doppelgänger wuchs, greifbarer wurde und ihn bei allem störte, wozu er, der wirkliche Pjotr Artamonow, berufen war, und was er tun mußte. Dieser zweite nützte geschickt die Minuten der ihn mit der Plötzlichkeit eines um die Ecke wehenden Windes überkommenden Nachdenklichkeit aus und flüsterte ihm ärgerliche, ätzende Gedanken zu.

»Du arbeitest wie ein Pferd und wozu? Du hast genug, um das ganze Leben satt zu sein! Es ist Zeit, daß dein Sohn arbeitet. Du hast aus Liebe zu deinem Sohn einen Jungen getötet! Dir hat eine Frau gefallen und du hast Unzucht getrieben.«

Jedesmal, wenn ein solcher Gedanke vorübergeglitten war, wurde das Leben dunkler und öder.

Er hatte es übersehen, wann eigentlich Ilja sich in einen erwachsenen Menschen verwandelt hatte. Das war nicht das einzige Ereignis, das unbemerkt vorüberging; ebenso unmerklich hatte Natalia ihre Tochter Jelena mit einem gewandten Burschen mit einem schwarzen Schnurrbart, dem Sohn eines reichen Juweliers in der Gouvernementsstadt, verlobt und verheiratet; ebenso nebenbei erstickte und starb endlich die Schwiegermutter an einem schwülen Junimittag, kurz vor einem Gewitter; man hatte sie noch nicht aufs Bett legen können, als es in der Nähe donnerte, was alle sehr erschreckte.

»Schließt Türen und Fenster!« schrie Natalia, die Hände zu den Ohren hebend. Das ungeheure Bein der Mutter entglitt ihren Händen und schlug mit der Ferse dumpf gegen den Fußboden . . .

Es kam Pjotr Artamonow so vor, als erkenne er seinen Sohn nicht gleich in dem großen, schlanken Menschen mit schon sichtbarem Schnurrbart auf dem mageren, dunklen Gesicht, in leichtem, grauen Anzug, der eines Tages ins Zimmer trat. Der breite und dicke Jakow in einer Gymnasiastenbluse war noch eher wiederzuerkennen. Die Söhne grüßten höflich und setzten sich.

»Und nun,« sagte der Vater, durch das Kontor schreitend, »nun ist auch die Großmutter tot.« Ilja schwieg darauf und zündete sich eine Zigarette an, während Jakow nicht mehr mit seiner eigenen, sondern mit einer fremden Stimme sagte:

»Gut, daß es zu den Ferien geschehen ist, sonst wäre ich nicht gekommen.«

Artamonow ließ die törichten Worte des Jüngeren unbeachtet und betrachtete Iljas Gesicht; es hatte sich bedeutend verändert und gefestigt; die mit nachgedunkelten Haarsträhnen bedeckte Stirn war jetzt weniger hoch, und die blauen Augen hatten sich vertieft. Es war komisch, und peinlich, sich zu erinnern, daß er diesen nachdenklichen, solide gekleideten Menschen an den Haaren gerissen hatte; man konnte einfach nicht glauben, daß es tatsächlich geschehen war. Jakow war bloß gewachsen, er war nur größer geworden und war ebenso rundlich wie früher geblieben, er hatte auch noch dieselben regenbogenfarbigen Augen. Auch sein Mund war noch kindlich.

»Du bist stark gewachsen, Ilja«, sagte der Vater. »Nun, sieh' dich nur im Werk um. Nach etwa drei Jahren wirst du dich ans Steuer stellen.«

Ilja spielte mit der Zigarettendose aus Wurzelholz, an der eine Ecke abgeschlagen war, und sah dem Vater ins Gesicht:

»Nein, ich möchte noch weiter lernen.«

»Noch lange?«

»Vier, fünf Jahre.«

»Sieh' mal an! Was denn?«

»Geschichte.«

Es mißfiel Artamonow, daß der Sohn rauchte, auch hatte er eine häßliche Zigarettendose, er hätte sich eine schönere kaufen können. Noch mehr mißfiel ihm Iljas Absicht, zu studieren, und der Umstand, daß er gleich in den ersten Minuten davon zu sprechen begann.

Er wies durch das Fenster auf das Fabrikdach hin, wo ein dünnes Rohr fauchend Dampf ausströmen ließ, und von wo das brummige Dröhnen der Arbeit herübertönte, und sagte eindringlich, in dem Bestreben, freundlich zu sprechen:

»Da schnaubt die Geschichte! Diese da muß man lernen. Es ist unsere Bestimmung, Leinen zu weben, Geschichte ist aber nicht unsere Sache. Ich bin ein Fünfziger, es ist Zeit, mich abzulösen.«

»Miron wird Sie ablösen, auch Jakow. Miron wird Ingenieur werden«, sagte Ilja, streckte die Hand zum Fenster hinaus und streifte die Zigarettenasche ab. Der Vater warf ein:

»Miron ist mein Neffe und nicht mein Sohn. Nun, wir werden später noch darüber sprechen.«

Die Kinder standen auf und gingen; der Vater folgte ihnen mit einem gekränkten und erstaunten Blick. Wie war das, hatten sie ihm nichts zu sagen? Sie saßen fünf Minuten da, der eine gab eine Dummheit von sich und gähnte schläfrig, der zweite rauchte alles voll und kränkte ihn gleich beim ersten Mal. Da gehen sie über den Hof, man hört Iljas Stimme:

»Komm', wir wollen uns den Fluß ansehen!«

»Nein, ich bin müde. Die Fahrt hat mich durchgerüttelt.«

Der Fluß würde bis morgen nicht wegfließen, die Mutter aber war über den Tod der Großmutter betrübt und durch das Leichenbegängnis ermüdet!

Pjotr Artamonow blieb seiner Gewohnheit getreu, das Unangenehme vorweg zu nehmen, um es schnell von sich abzustoßen und es zu umgehen, und gab seinem Sohn eine Woche Zeit zum Ausruhen; er stellte unterdessen fest, daß Ilja zu den Arbeitern »Sie« sagte und sich des Nachts, am Tore sitzend, lange über etwas mit Tichon und Serafim unterhielt. Er horchte sogar durch das Fenster, wie Tichon mit seiner hohen Stimme dumme Worte formte:

»Ja, ja! Als Habenichts leben, heißt von nichts leben. Es stimmt, Ilja Petrowitsch, wenn man nicht gierig ist, wird alles für alle reichen.«

Und Serafim gackerte fröhlich:

»Ich weiß es! Das habe ich schon längst gehört . . .«

Jakow benahm sich weniger unverständlich: er lief durch die Fabriksgebäude, blickte freundlich die Mädchen an und schaute vom Stalldach auf den Fluß, wenn dort um die Mittagszeit die Frauen badeten.

»Ein junger Stier«, dachte der Vater düster. »Ich muß Serafim sagen, daß er auf ihn aufpaßt, damit er sich nicht ansteckt . . .«

Der Dienstag war ein grauer, versonnener und stiller Tag. Am frühen Morgen fiel eine Stunde lang ein feiner Regen spärlich und träge auf die Erde, gegen Mittag kam die Sonne zum Vorschein, blickte wie unwillig auf das Werk und auf den Keil zwischen den beiden Flüssen, verbarg sich in den grauen Wolken und vergrub sich in ihren weichen Flaum ebenso, wie Natalia des Nachts ihr rotwangiges Gesicht in die Daunenkissen versenkte.

Vor dem Abendtee fragte Artamonow Jakow:

»Wo ist denn Ilja?«

»Ich weiß nicht; er saß dort auf dem Hügel unter der Fichte.«

»Rufe ihn. Nein, es ist nicht nötig. Wie ist's bei euch, vertragt ihr euch?«

Es kam ihm so vor, als ob der jüngere Sohn kaum merklich lächelte, als er sagte:

»Es geht, wir sind einig.«

»Und vielleicht doch nicht ganz? Sprich die Wahrheit . . .«

Jakow sann mit gesenkten Augen nach:

»In unseren Gedanken sind wir nicht ganz einig.«

»In welchen Gedanken?«

»Im allgemeinen, über alles.«

»Worüber denn?«

»Er hält sich bei allem an die Bücher, ich gehe aber einfach vom Verstande aus. Wie ich die Dinge sehe.«

»So«, sagte der Vater und verstand es nicht, ihn eingehender auszufragen.

Er warf sich den Leinenmantel über die Schultern, nahm den Stock, ein Geschenk Alexejs, dessen Griff eine silberne Vogelkralle mit einer Malachitkugel darstellte, und blickte, als er aus dem Tor gegangen war, unter der vorgehaltenen Handfläche auf den Hügel am Fluß, – dort lag unter einem Baum Ilja im weißen Hemd.

»Der Sand ist heute etwas feucht. Er ist unvorsichtig und kann sich erkälten.«

Der Vater ging ohne Eile zu ihm und erwog ehrlich die Schwere all der Worte, die er dem Sohn unbedingt sagen mußte; dabei trat er die grauen Grashalme nieder, die brüchig knisterten. Der Sohn lag mit dem Rücken nach oben, las in einem dicken Buch und klopfte mit einem Bleistift auf die Seiten; beim Geräusch der Schritte bog er gelenkig den Hals, sah den Vater an und, nachdem er den Bleistift zwischen die Seiten des Buches gelegt hatte, klappte er es geräuschvoll zu; dann setzte er sich hin, lehnte seinen Rücken an den Fichtenstamm und streifte das Gesicht des Vaters mit einem freundlichen Blick. Artamonow setzte sich schnaufend auf eine nackte, bogenförmige Wurzel.

»Wir wollen heute nicht vom Werk sprechen, das hat noch Zeit, wir wollen einfach plaudern.«

Aber Ilja umfing die Knie mit den Armen und sagte halblaut:

»Papa, ich habe also beschlossen, mich der Wissenschaft zu weihen.«

»Zu weihen,« wiederholte der Vater. »Als ob du Pope werden wolltest.« Er wollte scherzhaft sprechen, hörte jedoch, daß seine Worte düster und beinahe zornig klangen; er ärgerte sich über sich selbst und schlug mit dem Stock auf den Sand. Und sofort begann etwas Unverständliches und Unnötiges; Iljas blaue Augen verdunkelten sich, die scharf gezeichneten Brauen zogen sich zusammen, er warf die Haare aus der Stirn zurück und begann mit häßlicher Hartnäckigkeit zu sprechen:

»Ich will kein Fabrikant werden, ich tauge nicht für diese Beschäftigung.«

»Ganz ebenso spricht Tichon«, bemerkte der Vater lächelnd.

Der Sohn begann, ohne seine Worte zu beachten, auseinanderzusetzen, weshalb er weder ein Fabrikant, noch der Leiter irgendeines Unternehmens sein wollte; er sprach lange, etwa zehn Minuten, und ab und zu fing der Vater in seinen Worten etwas scheinbar Richtiges auf, das sogar in angenehmer Weise seinen eigenen verworrenen Gedanken entsprach; im großen und ganzen sah er jedoch klar, daß der Sohn unvernünftige und kindische Ansichten äußerte.

»Worte«, sagte er, den Stock neben dem Fuß des Sohnes in den Sand steckend. »Worte! Das ist alles nicht so. Das ist Unsinn. Man muß kommandieren. Ohne Kommando kann das Volk nicht leben. Ohne Nutzen wird niemand arbeiten. Man sagt immer: ›Welchen Nutzen habe ich davon?‹ Alles dreht sich um diese Spindel. Sieh doch, wieviel Sprüche es gibt: ›Der Gevatter wär' ein heiliger Mann, doch sein Herz nicht ohne Gewinn sein kann!‹ Oder ›Auch der Heilige betet um des Nutzens willen.‹ Die Maschine ist ein totes Ding, doch auch sie will geschmiert sein.«

Er sprach ohne Erregung und suchte sich an passende Sprichwörter zu erinnern, mit deren Weisheit er seine Rede reichlich würzte. Es gefiel ihm, daß er ruhig sprach, ohne daß die Worte, die er leicht fand, ihm Schwierigkeiten bereiteten, und er war sicher, daß die Unterredung gut enden würde. Der Sohn schüttete schweigend Sand aus einer Hand in die andere, siebte die roten Baumnadeln durch und blies sie von der Handfläche weg. Plötzlich sagte er aber ebenfalls ruhig:

»Das alles überzeugt mich nicht. Mit dieser Weisheit kann man nicht länger leben.«

Pjotr Artamonow stand auf, indem er sich auf den Stock stützte. Der Sohn half ihm nicht dabei.

»So. Der Vater spricht also nicht die Wahrheit?«

»Es gibt eine andere Wahrheit.«

»Du lügst. Es gibt keine andere.«

Und der Vater sagte, mit dem Stock in der Richtung der Fabrik hinweisend:

»Da ist die Wahrheit! Dein Großvater hat damit begonnen, ich habe mein ganzes Leben dafür hingegeben und jetzt ist die Reihe an dir. Das ist alles. Und was willst du? Wir haben gearbeitet, und du willst dich unterhalten? Du willst durch fremde Mühe als Heiliger leben? Das ist nicht übel erdacht! Geschichte! Pfeif auf die Geschichte! Die Geschichte ist kein Mädchen, man kann sie nicht heiraten. Und was soll diese dumme Geschichte? Wozu ist sie gut? Ich werde dir aber nicht erlauben, zu faulenzen . . .«

Da Pjotr Artamonow fühlte, daß er übermäßig zornig zu sprechen begann, versuchte er, seine Worte abzuschwächen:

»Ich verstehe, du willst in Moskau leben; dort ist es lustiger. Auch Alexej . . .«

Ilja hob das Buch auf, blies die Sandkörnchen weg und sagte:

»Erlauben Sie mir zu studieren.«

»Ich erlaube es nicht!« schrie der Vater auf und steckte den Stock in den Sand. »Bitte nicht darum.«

Da stand auch Ilja auf und sagte halblaut, indem er mit farblos gewordenen Augen über die Schulter des Vaters blickte:

»Nun gut, dann werde ich ohne die Erlaubnis auskommen müssen.«

»Du wirst es nicht wagen!«

»Man kann einem Menschen nicht verbieten zu leben, wie er will«, sagte Ilja, den Kopf schüttelnd.

»Einem Menschen? Du bist mein Sohn und kein Mensch. Was bist du für ein Mensch? Alles, was du hast, ist von mir.«

Das entschlüpfte ihm ganz von selbst, das durfte nicht gesagt werden. Pjotr dämpfte seine Stimme und sagte, vorwurfsvoll den Kopf wiegend:

»So vergiltst du mir meine Sorgen um dich? Ach, du Narr . . .«

Er sah, daß Ilja errötete, und daß ihm die Hände zitterten, der Sohn wollte sie in die Hosentaschen verstecken, doch die Hände fanden die Taschen nicht. Und da Pjotr fürchtete, der Sohn könnte irgendetwas Überflüssiges und nicht wieder Gutzumachendes bemerken, sagte er selbst eilig:

»Ich habe deinetwegen einen Menschen getötet . . . vielleicht . . .«

Artamonow fügte »vielleicht« hinzu, weil er, nachdem die ersten Worte ausgesprochen waren, sofort begriff, daß man sie in einem solchen Augenblick einem Jungen, der ihn sichtlich nicht verstehen wollte, nicht sagen durfte.

»Er wird gleich fragen: was für einen Menschen?« dachte er und schritt schnell über den sandigen Hügelabhang hinunter, während der Sohn gellend laut hinter seinem Nacken schrie:

»Sie haben nicht nur einen getötet, – dort ist ein ganzer Kirchhof der von dem Werk Ermordeten.«

Artamonow blieb stehen und wandte sich um; Ilja hatte die Hand ausgestreckt und wies mit dem Buch auf die in den grauen Himmel ragenden Kreuze. Der Sand knirschte unter den Füßen des Vaters, es fiel Artamonow ein, daß er schon vor einigen Minuten etwas Beleidigendes über das Werk und den Kirchhof gehört hatte. Er wollte das, was ihm entschlüpft war, vertuschen, es war nötig, daß der Sohn es vergaß, und Artamonow schritt auf Bärenart rasch auf ihn zu, schwang, in dem Bestreben, ihn zu erschrecken, den Stock und schrie:

»Was hast du gesagt, Schuft?«

Ilja sprang hinter den Baumstamm:

»Kommen Sie zur Vernunft! Was haben Sie?«

Pjotr schlug auf den Stamm ein, bis der Stock zerbrach; dann schleuderte er ein Bruchstück zu den Füßen des Sohnes so hin, daß das Stück, die grüne Kugel nach oben wendend, schräg in den Sand eindrang. Er drohte:

»Ich werde dich zwingen, die Aborte zu reinigen!«

Er ging und eilte wankend davon – und fühlte, daß sein Verstand durch Worte des Kummers und Zornes irrte, wie ein Weberschiffchen durch eine verworrene Kette »Ich werde ihn fortjagen. Die Not wird ihn zurückzukehren zwingen. Dann soll er die Aborte reinigen. Mache eben keinen Unsinn!« riß er von dem sich rasch drehenden Knäuel kurze Gedanken ab und begriff zugleich dunkel, daß er sich nicht so benommen hatte, wie es sich gehörte, und daß er seine Kränkung übertrieben und angefacht hatte.

Als er das Ufer der Oka erreicht hatte, setzte er sich ermüdet auf den sandigen Abhang, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und begann auf den Fluß zu schauen. In der kleinen seichten Bucht schwamm ein Plötzenschwarm, als wären es Stahlnadeln, die das Wasser durchstocherten. Darauf erschien, würdevoll mit den Flossen ausholend, eine Brachse, schwamm herum, drehte sich auf die Seite, blickte mit dem roten Äuglein nach oben in den trüben Himmel und ließ zerfließende Ringe, wie hellen Rauch, durch das Wasser gleiten.

Artamonow drohte der Brachse mit dem Finger und sagte laut:

»Ich werde dir dein Schicksal schon zurecht zimmern!«

Und er sah sich um, da er hörte, daß die Worte unecht klangen. Das ruhige Strömen des Flusses wusch den Zorn hinweg; die trübe und warme Stille sagte Gedanken vor, die voll stumpfen Staunens waren. Das Seltsamste war, daß jetzt der Sohn, den er liebte, an den er zwanzig Jahre lang ununterbrochen voll Unruhe gedacht hatte, plötzlich, im Laufe weniger Minuten seiner Seele entglitten war und darin einen bösen Schmerz hinterlassen hatte. Artamonow war überzeugt, daß er die ganzen zwanzig Jahre täglich und unermüdlich nur an den Sohn gedacht, nur in der Hoffnung auf ihn und dank der Liebe zu ihm gelebt und von ihm etwas Außergewöhnliches erwartet hatte.

»Wie ein Streichholz, das aufflammt und verschwindet! Was ist denn das?«

Der graue Himmel rötete sich ein ganz klein wenig; an einer Stelle erschien ein heller Fleck, der an den Fettglanz von abgetragenem Tuch erinnerte. Dann sah der gestutzte Mond hervor; es wurde frisch und feucht; der Nebel schwamm als ein leichter Rauch über den Fluß hin. Artamonow kehrte nach Hause zurück, als seine Frau sich schon entkleidet hatte, den linken Fuß auf das runde rechte Knie stützte und sich, das Gesicht verziehend, die Nägel schnitt. Sie sah den Mann von der Seite an und fragte:

»Wohin hast du denn Ilja geschickt?«

»Zum Teufel«, antwortete er, sich auskleidend.

»Du bist immer so böse«, seufzte Natalia. Er antwortete nicht, schnaufte und machte sich mit irgendetwas absichtlich geräuschvoll zu schaffen. Der Regen begann die Fensterscheiben mit Tropfen zu bedecken, ein rieselndes Geflüster schwebte durch den Garten.

»Ilja wird zu stolz auf seine Gelehrsamkeit.«

»Er hat eine dumme Mutter.«

Die Mutter zog die Luft durch die Nase ein, bekreuzte sich und legte sich ins Bett, während Pjotr sich auskleidete und sie dabei mit Genuß beleidigte:

»Was verstehst du? Gar nichts. Die Kinder fürchten dich nicht. Was hast du sie gelehrt? Du kannst nur das eine: essen und schlafen. Und dir die Fratze beschmieren.«

Die Frau sprach in das Kissen hinein:

»Und wer hat sie lernen lassen? Ich sagte ja . . .«

»Schweig!«

Auch er schwieg und lauschte, wie der Regen immer heftiger auf die Blätter des von Nikita gepflanzten Faulbaums fiel. »Der Bucklige hat sich ein schönes Los erwählt. Hat weder Kinder, noch ein Unternehmen. Nur Bienen. Ich würde nicht einmal Bienen züchten, jeder soll sich, wie er will, selbst Honig verschaffen.«

Natalia drehte sich mit der Brust so behutsam nach oben, als liege sie auf Eis und berührte mit der warmen Wange die Schulter ihres Mannes.

»Hast du mit Ilja gestritten?«

Er schämte sich zu erzählen, was sich zwischen ihm und dem Sohn abgespielt hatte; er brummte:

»Mit den Kindern streitet man nicht, man schilt sie aus.«

»Er ist in die Stadt gefahren.«

»Er wird zurückkehren. Man wird nirgends umsonst gefüttert. Er wird spüren, wie die Not riecht und wird zurückkehren. Schlaf, störe mich nicht.«

Nach einer Weile sagte er:

»Jakow braucht nicht mehr zu lernen.«

Und nach einer weiteren Minute:

»Übermorgen fahre ich zur Messe nach Nishni-Nowgorod. Hörst du?«

»Ich höre.«

»Was war das bloß?« überlegte Artamonow und schloß die Augen, er sah aber das Gesicht mit der breiten Stirne vor sich und erinnerte sich des unerträglich kränkenden Glanzes in Iljas Augen.

»Er hat seinen Vater wie einen Arbeiter entlassen, der Schuft! Er hat ihn wie einen Bettler von sich gestoßen «

Die unbegreifliche Schnelligkeit des Bruches war verblüffend; es war so, als hätte Ilja schon längst beschlossen, sich loszureißen. Was hatte ihn aber zu dieser Handlung bewogen? Und Artamonow dachte, sich Iljas scharfe, verurteilende Worte vergegenwärtigend:

»Miron, dieser Windhund, hat ihn beeinflußt! Und daß die Geschäfte dem Menschen schaden, das sind Tichons Gedanken. Der Dummkopf, der Dummkopf! Auf wen hat er gehört? Und dabei hat er ja noch gelernt! Was hat er denn gelernt? Die Arbeiter tun ihm leid, aber nicht der Vater. Und er läuft davon, um in der Ferne seine Heiligkeit großzuziehen.«

Dieser Gedanke ließ die ihm von Ilja zugefügte Kränkung noch heller aufflammen.

»Nein, du irrst dich, du entrinnst mir nicht!«

Hier fiel ihm Nikita ein, der abseits, in einen stillen Winkel geflohen war:

»Alle spannen mich zur Arbeit ein und laufen selbst davon.«

Artamonow überführte sich aber sogleich: Das stimmte nicht, Alexej war ja nicht fortgelaufen, der liebte das Werk, wie der Vater es geliebt hatte. Der ist gierig, unersättlich gierig, und alles an ihm ist geschickt und einfach. Er erinnerte sich, daß er einmal nach einer Rauferei von Betrunkenen in der Fabrik zu seinem Bruder gesagt hatte:

»Das Volk wird verdorben.«

»Merklich«, stimmte Alexej bei.

»Alle sind aus irgendeinem Grunde erbost. Als ob sie alle mit einem einzigen Augenpaar sähen . . .«

Alexej war damit ebenfalls einverstanden und sagte lächelnd:

»Auch das stimmt. Manches Mal fällt mir ein, daß Tichon mit ebensolchen Augen den Vater betrachtete, als er auf deiner Hochzeit mit den Soldaten boxte. Dann fing er selbst zu boxen an. Weißt du es noch?«

»Nun, was liegt an Tichon? Das ist ein armseliger Kerl.«

Da begann Alexej ernst:

»Du sprichst zu oft davon, daß die Menschen verdorben werden. Das ist aber nicht unsere Sache; das ist die Sache der Popen, der Lehrer und wessen noch? Die Sache verschiedener dafür bestimmter Ärzte, und vor allem die Sache der Obrigkeit. Sie haben aufzupassen, daß das Volk nicht verdorben wird, das ist ihre Ware, wir beide sind aber die Käufer. Alles verdirbt nach und nach, Bruder. Du alterst, und ich auch. Und doch wirst du ja einem Mädel nicht sagen: lebe nicht, Mädchen, du wirst eine alte Frau werden!«

»Er ist klug, dieser Teufel«, dachte Pjotr Artamonow. »Er hat gesunden Menschenverstand.«

Und als er der gewandten, durch irgendwelche neuen Späße ausgeschmückten Redeweise Alexejs lauschte, beneidete er ihn um seine Lebhaftigkeit und erinnerte sich wieder an Nikita; der Vater hatte den Buckligen zum Tröster bestimmt, er hatte sich aber in eine dumme Weibersache verwickelt und war nicht mehr da.

Pjotr Artamonow durchdachte vieles in dieser regnerischen Nacht.

Durch die Bitternis seiner Betrachtungen drangen wie Rauchwölkchen noch andere, fremde Gedanken, die ihm das dumpfe Geräusch des Regens zuzuflüstern schien, und die ihn daran hinderten, sich zu rechtfertigen.

»Und worin besteht denn meine Schuld?« fragte er jemanden, und obwohl er keine Antwort fand, fühlte er, daß diese Frage nicht überflüssig war. Als es tagte, beschloß er, zu Nikita ins Kloster zu fahren; vielleicht würde er dort, bei einem Menschen, der fern von der Versuchung und der Unruhe lebte, irgendetwas Tröstendes und sogar etwas Entscheidendes finden.

Als er aber auf einem Postpferdegespann vor dem Kloster vorfuhr und von dem Schütteln auf der Dorfstraße zerschlagen war, dachte er:

»Es ist sehr leicht, in einem Winkel zu stehen. Nein, versuche einmal über die Straße zu laufen! Im Keller verdirbt die Gurke nicht, in der Sonne fault sie aber schnell.«

Er hatte Nikita schon vier Jahre nicht gesehen; die letzte Zusammenkunft mit Nikita war langweilig und wenig herzlich verlaufen: Pjotr hatte den Eindruck, als wäre der Bucklige verlegen und über seinen Besuch ärgerlich; er duckte sich, kauerte sich zusammen und versteckte sich, wie eine Schnecke in ihr Haus; er sprach mit säuerlicher Stimme nicht von Gott, nicht von sich und den Verwandten, sondern nur von den Nöten des Klosters, von den Wallfahrern und der Armut des Volkes; er erzählte ungern und mit sichtlicher Anstrengung. Als Pjotr ihm Geld anbot, sagte er leise und nachlässig:

»Gib das dem Prior, ich brauche es nicht.«

Man sah, daß alle Mönche »Vater Nikodim« mit Ehrerbietung umgaben; der übergroße, knochige, haarige und auf einem Ohr taube Prior sah aus wie ein Waldteufel in einem Priesterrock; er sah Pjotr mit einem unheimlichen Blick der schwarzen Augen ins Gesicht und sagte übertrieben laut:

»Vater Nikodim ist die Zierde unserer armen Einsiedelei.«

Das auf einem niederen Hügel, inmitten einer Einfriedung von bronzefarbenen Fichten gelegene und unter deren dichten Kronen versteckte Kloster empfing Artamonow mit dem dünnen Werktagsgeläute der Glocken, die zur Abendmesse riefen. Der Torwart, aufrecht und lang wie eine Stange, mit einem kleinen, überflüssigen Kinderköpfchen in einem verblichenen, zerdrückten Käppchen, öffnete das Tor und murmelte stotternd und sich verschluckend:

»W–wi–l–l . . .«

Und hauchte dann mit einemmal pfeifend:

»–K–kom–men.«

Die schillernde blaue Wolke, die den halben Himmel bedeckte, hing unbeweglich über dem Kloster und verbreitete ringsum eine bedrückende, undurchdringliche, feuchte und schwüle Wehmut, die das metallische Schreien der Glocken nicht zu erschüttern vermochte.

»Das kann ich allein nicht heben«, sagte schuldbewußt der Herbergsknecht, als er die Kiste mit den Geschenken für Nikita aus dem Wagen herauszuschleppen versuchte und klopfte mit der kleinen, schwarzen Faust auf die Kiste. Müde und staubbedeckt begab sich Pjotr langsam in den Garten zu Nikitas weißer Zelle, die anheimelnd zwischen Kirsch- und Apfelbäumen versteckt lag; er dachte im Gehen, daß er gar nicht hätte herkommen sollen, es wäre besser gewesen, nach Nishni zu fahren. Die unebene, von Wurzeln umsponnene Waldstraße hatte alle seine kummervollen Gedanken aufgewühlt und durcheinander gebracht und sie durch bedrückende Traurigkeit und die Sehnsucht nach Ruhe und Vergessen ersetzt.

»Man müßte sich einmal einen guten Tag antun.«

Er erblickte Nikita auf einer Bank im Halbkreis junger Linden; vor ihm hatten sich, wie auf irgendeinem Bilde, etwa zehn Wallfahrer gelagert: ein schwarzbärtiger Kaufmann in einem Leinenmantel und mit einem mit Lappen umwickelten, in einem Gummischuh steckenden Fuß; ein dicker Greis, der an einen Wechsler der Kastratensekte erinnerte; ein langhaariger Bursche in einem Soldatenmantel, mit breiten Backenknochen und Fischaugen; wie eine Säule oder wie ein Dieb vor dem Richter, stand der Driomower Bäcker Mursin, ein Trinker und Raufbold da, und sagte heiser:

»Das stimmt: Gott ist weit.«

Nikita zeichnete etwas mit dem weißen Stab auf die festgestampfte Erde und belehrte, ohne die Leute anzusehen:

»Und je tiefer der Mensch steht, desto höher schwebt Gott über ihm, vom Gestank unserer Verwesung im Sündenpfuhl vertrieben.«

»Er tröstet«, dachte Artamonow senior und schmunzelte im Geiste.

»Gott sieht: wir glauben tatenlos; wozu braucht er aber den Glauben ohne Taten? Wo bleibt unsere gegenseitige Hilfe, und wo bleibt die Liebe? Und was erflehen wir? Lauter kleinliche Nichtigkeiten. Man muß wohl beten, aber doch . . .«

Er schlug die Augen auf und betrachtete eine Minute lang unverwandt, von unten herauf seinen Bruder. Und er hob langsam den Stab, wie eine große Last, als beabsichtigte er damit jemanden zu schlagen. Der Bucklige stand auf, ließ kraftlos den Kopf sinken, segnete die Leute mit dem Kreuz, sagte aber, statt zu beten:

»Da ist mein Bruder zu mir gekommen.«

Der bartlose Alte machte seine Messingaugen auf eine häßliche Weise rund, blickte Pjotr an und bekreuzte sich schwungvoll und mit deutlicher Absichtlichkeit.

»Geht mit Gott«, fügte Nikita hinzu.

Die Leute gingen alle durcheinander, wie eine von der Weide zurückkehrende Herde; der Alte hatte den Kaufmann mit dem kranken Fuß bei dem einen Ellbogen gepackt, der Bäcker Mursin stützte ihm den zweiten.

»Nun, guten Tag. Segne mich!«

Vater Nikodim schob mit dem langen, vom schwarzen Ärmel der Mönchskutte beflügelten Arm die sich ihm entgegenstreckenden, hohl gefalteten Hände des Bruders beiseite und sagte leise und ohne Freude:

»Ich habe dich nicht erwartet.«

Er hob den Stab in der Richtung der Zelle und schritt vor seinem Bruder her, er ging ruckweise, seine schiefen Beine spreizend und hielt die eine Hand auf der Brust am Herzen.

»Du bist gealtert«, bemerkte Pjotr verlegen.

»Dazu leben wir ja. Die Füße tun mir weh. Hier bei uns ist es feucht.«

Nikita schien noch buckliger geworden zu sein, der Winkel seines Rückens und die rechte Schulter hatten sich gehoben, sie beugten den Körper tiefer zur Erde hin und machten ihn niedriger und breiter; der Mönch erinnerte an eine Spinne, der man den Kopf abgerissen hat und die nun blind und schief über den Weg und den knisternden Kies kriecht. In der engen, sauberen Zelle wirkte »Vater Nikodim« etwas größer, aber noch schrecklicher; als er die Kapuze abnahm, glänzte sein halbnackter, gleichsam hautloser, knochiger Schädel matt wie der einer Leiche; auf den Schläfen, hinter den Ohren und auf dem Hinterkopf hingen ungleiche graue Haarsträhnen herab. Auch sein Gesicht war mager und wächsern; überall auf den Gesichtsknochen war zu wenig Fleisch; die verblichenen Augen erleuchteten es nicht, ihr Blick schien auf die Spitze der großen, aber schwammigen Nase gerichtet zu sein, unter der Nase bewegten sich lautlos die dunklen Striche der vertrockneten Lippen; der Mund war noch größer geworden und zerteilte das Gesicht durch einen tiefen Spalt, besonders unheimlich und unangenehm war aber der graue Schimmel der Haare auf der Oberlippe.

Der Mönch sagte leise, als lauschte er auf etwas, und langsam, als fände er nur mühsam die Worte, zu dem pausbackigen Klosterknecht, der wie ein Badediener aussah:

»Den Samowar! Brot! Honig!«

»Wie leise du sprichst.«

»Die Zähne bröckeln mir ab.«

Der Mönch setzte sich auf einen weiß gestrichenen Holzsessel an den Tisch.

»Lebt ihr alle noch?«

»Ja, wir leben noch.«

»Ist Tichon noch am Leben?«

»Er ist am Leben. Ihm fehlt ja nichts!«

»Er war schon lange nicht bei mir.«

Sie schwiegen. Nikita bewegte die Hand, und die Mönchskutte raschelte. Dieses an Küchenschaben erinnernde Geräusch verdichtete noch mehr Pjotrs Bedrücktheit.

»Ich habe dir Geschenke mitgebracht. Laß die Kiste herschaffen. Es ist Wein drin. Ist bei euch Wein gestattet?«

Nikita antwortete mit einem Seufzer:

»Bei uns geht es nicht streng zu. Das wäre schwierig. Es kommen sogar Trunkenbolde vor, seit das Volk so eifrig das Kloster besucht. Man trinkt. Was kann man tun? Die Welt vergiftet mit ihrem Atem. Auch Mönche sind Menschen.«

»Ich hörte, daß zu dir viele Leute kommen?«

»Das geschieht aus Unverstand«, sagte der Mönch. »Ja, sie kommen. Sie drehen sich im Kreise. Sie suchen nach Heiligkeit und nach einem Heiligen. Nach einem Hinweis, wie man leben soll. Wir lebten und lebten, und auf einmal . . . Wir kennen uns nicht aus. Wir haben keine Geduld.«

Pjotr Artamonow fühlte, daß die Worte des Mönches ihn beunruhigten, und er brummte:

»Das ist Übermut. Sie haben die Leibeigenschaft ertragen und ertragen die Freiheit nicht! Man hält sie nicht genügend im Zaum.«

Nikita schwieg dazu.

»Unter den Herrschaften strichen sie nicht herum und vagabundierten nicht.«

Der Bucklige streifte ihn mit einem Blick und senkte die Augen.

Sie fanden mit Mühe die nötigen Worte, unterbrachen die Unterhaltung durch lange Pausen und sprachen miteinander so lange, bis der Klosterdiener den Samowar, Lindenblütenhonig und warmes Brot brachte, dem noch gährender Dampf entströmte. Sie sahen aufmerksam dem blonden Diener zu, der sich auf dem Fußboden mit dem Öffnen des Kistendeckels ungeschickt zu schaffen machte. Pjotr stellte eine Büchse mit frischem Kaviar und zwei Flaschen auf den Tisch.

»Portwein«, las Nikita. »Der Prior liebt diesen Wein. Er ist ein kluger Mensch. Er versteht viel.«

»Und ich verstehe wenig«, gestand Pjotr herausfordernd.

»Auch du verstehst das, was nötig ist. Wozu braucht man mehr? Es ist schädlich, mehr zu verstehen, als nötig ist«.

Der Mönch seufzte behutsam. Pjotr hörte aus seinen Worten etwas Bitteres heraus. Die Mönchskutte glänzte schmutzig und ölig im Dunkel, das durch das ewige Licht in der Ecke und den Schein der billigen gelben Glaslampe auf dem Tisch spärlich beleuchtet wurde. Als Pjotr bemerkte, mit welcher Gier sein Bruder ein Glas Wein aussaugte, dachte er spöttisch:

»Er weiß Bescheid.«

Nach jedem Glas zupfte Nikita mit den dürren und sehr weißen Fingern Brotkrumen ab, tauchte sie in Honig und kaute bedächtig daran; sein graues, gleichsam ausgerupftes Bärtchen zitterte. Es war nicht zu merken, daß der Wein den Mönch berauschte, aber die trüben Augen wurden heller und blieben noch immer auf die Nasenspitze gerichtet. Pjotr trank vorsichtig, da er dem Bruder nicht betrunken erscheinen wollte; er dachte dabei:

»Er fragt nicht nach Natalia. Er hat auch voriges Mal nicht gefragt. Er schämt sich. Er fragt nach niemandem. Das sind Weltmenschen. Er ist aber ein Heiliger. Ihn suchen die Leute auf . . .«

Er strich erbost mit dem Bart über die Weste und sagte, sich am Ohr zupfend:

»Du hast dich hier geschickt versteckt. Das hast du gut gemacht.«

»Früher war es schön, jetzt wird es schlechter, es gibt zu viele Wallfahrer. Und diese Empfänge . . .«

»Die Empfänge?« Pjotr lächelte. »Wie bei einem Zahnarzt.«

»Ich will mich irgendwohin versetzen lassen, wo es einsamer ist«, sagte der Mönch, vorsichtig Wein in die Gläser einschenkend.

»Wo es ruhiger ist«, fügte Pjotr hinzu und lächelte wieder. Der Mönch saugte den Wein aus, benetzte sich mit der dunklen, an einen Lappen erinnernden Zunge die Lippen und sagte, den knochigen Kopf wiegend:

»Die Zahl der beunruhigten Menschen wächst sehr merklich. Sie verstecken sich und wollen der Sorge entgehen . . .«

»Ich merke es nicht«, erwiderte Pjotr und wußte, daß er die Unwahrheit sprach. »Du hast dich versteckt«, wollte er sagen.

»Doch die Unruhe folgt ihnen wie ein Schatten . . .«

Auf Pjotrs Zunge schwollen von selbst Worte des Vorwurfs an; er wollte streiten und seinen Bruder sogar anschreien, und er sagte, an den Sohn denkend, mit zorniger Stimme:

»Der Mensch sucht selbst nach Unruhe und will selbst seine Not! Tue deine Arbeit, prahle nicht mit dem Verstand und du wirst ruhig leben!«

Nikita schien seine Worte aber nicht zu hören, als wäre er von den eigenen Gedanken betäubt; er schüttelte plötzlich seinen eckigen Körper, als erwachte er; die Mönchskutte umfloß ihn in schwarzen Wogen, er verzog die Lippen und sagte mit Nachdruck und scheinbar ebenfalls erzürnt:

»Sie kommen und bitten: lehre uns! Was weiß ich aber, was kann ich sie lehren? Ich bin kein Weiser. Mich hat der Prior auserwählt. Ich weiß selbst nichts und bin ein unschuldig Verurteilter. Man hat mich zu lehren verurteilt! Wofür hat man mich aber so bestraft?«

»Er macht Andeutungen«, erriet Pjotr Artamonow. »Er will sich beklagen.«

Er begriff, daß Nikita Ursache hatte, sich über sein Schicksal zu beklagen, er hatte schon bei seinen früheren Besuchen diese Klagen erwartet. Er zupfte sich am Ohr und warnte eindringlich den Bruder:

»Viele beklagen sich über das Schicksal, das führt aber zu nichts.«

»Jawohl; man sieht keine Zufriedenen«, sagte der Bucklige und richtete die Augen in die Ecke auf das Licht des Lämpchens.

»Der selige Vater hat dir schon eingeschärft: tröste! Sei also ein Tröster!«

Nikita verzog den Mund zu einem Lächeln, umfaßte sein graues Bärtchen mit der Hand, verbarg sein Schmunzeln und ließ wieder in das Dunkel Worte hinströmen, die Pjotr aufrüttelten und seine Neugierde und die ängstliche Erwartung einer Gefahr erregten.

»Sie flößen hier mir und den Leuten ein, ich wäre weise; das geschieht natürlich zum Nutzen der Einsiedelei und zur Anlockung der Besucher. Für mich ist das aber ein schwieriges Amt. Da heißt es streng sein, Bruder! Womit soll man denn trösten? Leidet nur, sage ich. Ich sehe aber: Alle haben es satt, zu leiden. Hofft! – sage ich. Worauf soll man aber hoffen? Gott ist für sie kein Trost. Es kommt ein Bäcker her . . .«

»Das ist unser Mitbürger Mursin, ein Trunkenbold«, sagte Pjotr Artamonow, in dem Bestreben, etwas abzuwenden und von sich zu stoßen.

»Er dünkt sich schon Richter über Gott zu sein, für ihn ist Gott nicht mehr der Herr der Welt. Jetzt gibt es viele solche Frechlinge. Und dann ist noch ein Bartloser da, hast du ihn bemerkt? Das ist ein böser Mensch, ein Feind der ganzen Welt. Sie kommen und forschen aus. Was soll man ihnen sagen? Sie kommen zu dem Zwecke, um in Versuchung zu führen.«

Der Mönch sprach immer lebhafter. Pjotr erinnerte sich noch daran, wie er seinen Bruder bei früheren Besuchen angetroffen hatte, und es fiel ihm auf, daß Nikitas Augen nicht mehr so schuldbewußt blinzelten wie früher. Damals hatte das Schuldgefühl des Buckligen beruhigend gewirkt – es ziemt einem Schuldigen nicht, zu klagen . . . Jetzt klagte er aber und erklärte, er wäre unschuldig verurteilt. Und Pjotr Artamonow fürchtete, sein Bruder würde sagen:

»Du hast mich verurteilt!«

Er spielte, die Stirn runzelnd, mit der Uhrkette und suchte nach Worten der Selbstverteidigung.

»Ja«, sagte der Bucklige und schien im Geheimen mit dem, worüber er klagte, ganz zufrieden zu sein. »Die Menschen werden immer zudringlicher und haben freche Gedanken. Kürzlich verbrachte bei uns ein Gelehrter etwa zwei Wochen, er war noch jung, schien aber nicht ganz bei Sinnen zu sein, wie ein heftig erschrockener Mensch. Der Prior schärft mir ein: festige ihn durch deine Einfalt, erkläre ihm, was und wie alles ist. Ich merke mir aber fremde Gedanken schlecht. Dieser Gelehrte hat mir stundenlang das Herz aus dem Leibe gerissen; er spricht und spricht, und ich verstehe nicht einmal seine Worte, geschweige denn die Gedanken. Man kann den Teufel nicht als den Beherrscher unseres Fleisches anerkennen, sagt er, dann wären ja zwei Götter da, und es wäre eine Schändung des Leibes Christi, den wir beim Abendmahl genießen: ›empfanget den Leib Christi, eßt von der Quelle der Unsterblichkeit‹. Er lästert Gott: es soll nur einen Gott mit Hörnern geben, sagt er, aber einen einzigen, sonst ist es unmöglich zu leben. Er quälte mich zu Tode, ich vergaß alle Belehrungen von Vater Feodor und schrie: ›Dein Fleisch ist ein Zerrbild und deine Seele ist die Vernichtung‹. Der Prior schimpfte dann über mich: ›Was fällt dir ein,‹ sagte er, ›welchen gotteslächerlichen Unsinn hast du dir entschlüpfen lassen?‹ Ja, so ist es . . .«

Dieser Bericht erschien Pjotr komisch und rückte Nikita in ein jämmerliches Licht, was Pjotr Artamonow etwas beruhigte.

»Es ist schwer, von Gott zu sprechen«, murmelte er.

»Ja, es ist schwer«, gab Vater Nikodim zu und fragte bitter, mit öliger Stimme:

»Weißt du noch, wie unser Vater uns belehrt hat: wir sind einfache Arbeiter, diese Weisheit ist für uns zu hoch?«

»Ich erinnere mich.«

»Jawohl. Vater Feodor schärft mir ein: lies Bücher! Ich lese, – das Buch ist für mich aber wie ein ferner Wald, der unverständlich rauscht. Das Buch gibt dem heutigen Tag keine Antwort. Jetzt sind Gedanken entstanden, die sich durch ein Buch nicht befriedigen lassen. Überall tauchen Sektierer auf. Die Menschen reden so, als ob sie Träume erzählten oder Katzenjammer hätten. Zum Beispiel dieser Mursin . . .«

Der Mönch trank Wein, kaute Brot, rollte aus den Krumen kleine Kugeln, die er mit den Fingern über den Tisch jagte, und fuhr fort:

»Vater Feodor sagt: das ganze Unheil kommt durch den Verstand; der Teufel hat ihn zu einem bösen Hund entbrennen lassen, den er neckt, und der Hund bellt alles grundlos an. Vielleicht ist das auch die Wahrheit; es ist aber kränkend, das zuzugeben. Wir haben hier einen Arzt, einen einfachen, lustigen Menschen, der denkt anders: der Verstand ist ein Kind; für ihn ist alles ein Spielzeug und alles unterhaltend; er will übersehen, wie das und jenes eingerichtet ist und was innen ist. Nun, da zerbricht er es natürlich . . .«

»Vielleicht! Du sprichst aber gefährliche Dinge«, bemerkte Pjotr.

Die Worte des Bruders rüttelten von neuem seine Unruhe wach, sie versetzten ihm Stöße und verblüfften und erschreckten ihn durch ihre Plötzlichkeit und Schärfe. Er wollte Nikita wieder klein kriegen und ihn erniedrigen.

»Der Mönch ist betrunken«, versuchte er sich zu beruhigen.

In der Zelle wurde es schwül, es verbreitete sich ein säuerlicher Geruch von Kohlen und Lampenöl, der Pjotrs Gedanken auslöschte. Auf dem kleinen, schwarzen Fensterviereck streckten sich die Blätter irgendeiner Pflanze aus, die in ihrer Regungslosigkeit wie aus Eisen erschienen. Und Nikita, der an eine Spinne erinnerte, spann still und beharrlich sein Netz.

»Alle Gedanken sind gefährlich. Besonders die einfachen. Denke an Tichon.«

»Er ist irrsinnig.«

»Nein, du hast Unrecht! Er hat einen strengen Verstand. Ich fürchtete mich anfangs sogar, mit ihm zu sprechen; ich wollte es und fürchtete mich! Als der Vater starb, zog mich Tichon sehr an. Du liebtest ja den Vater nicht so wie ich. Dich und Alexej hat dieser ungerechte Tod nicht gekränkt, Tichon aber war gekränkt. Ich zürnte ja damals nicht der Nonne wegen ihrer Dummheit, sondern Gott, und Tichon merkte das gleich. Er sagte: die Mücke lebt, aber der Mensch . . .«

»Du phantasierst!« bemerkte Pjotr streng. »Du hast zuviel getrunken. Welcher Nonne?«

Nikita fuhr beharrlich fort:

»Tichon sagt: wenn Gott der Herr der Welt ist, dann muß der Regen zur rechten Zeit kommen, wie es dem Getreide und den Menschen nützlich ist. Und auch nicht jede Feuersbrunst entsteht durch den Menschen; die Wälder werden vom Blitz angezündet. Und warum mußte Kain sündigen, damit wir sterben? Wozu braucht Gott das Mißgestaltete; wozu braucht er, zum Beispiel, die Buckligen?«

»Aha, das ist es also!« dachte Pjotr, in den Bart lächelnd, und fühlte, daß Nikitas Klagen über Gott ihn sehr beruhigten; es war gut, daß der Mönch nicht über die Verwandten klagte.

»Man kann Kain nicht verstehen. Damit hat Tichon mich wie an eine Kette geschmiedet. Es hat bei mir mit dem Todestag des Vaters begonnen. Ich dachte, wenn ich ins Kloster ginge, würde es vergehen. Es ist aber nicht geschehen. So lebe ich in diesen Gedanken.«

»Früher hast du davon geschwiegen . . .«

»Man kann nicht alles auf einmal sagen. Ich würde auch vielleicht das ganze Leben schweigen, aber die Wallfahrer hindern daran. Die beunruhigen das Gewissen. Und das ist gefährlich. Wie, wenn plötzlich das von Tichon Gesagte in meinen Reden zum Vorschein käme? Nein, er ist ein kluger Mensch, wenn ich ihn vielleicht auch nicht liebe. Er denkt auch über dich nach. Da hat sich ein Mensch für die Kinder abgemüht, sagt er, – und die Kinder sind ihm fremd . . .«

»Was soll das?« fragte Pjotr zornig. »Was kann er wissen?«

»Er weiß schon. Er sagt, die Arbeit ist ein Betrug . . .«

»Ich habe es gehört . . . Man müßte den Dummkopf davonjagen. Ja, er weiß viel von unseren Familienangelegenheiten . . .«

Artamonow sagte das, um Nikita an die qualvolle Nacht zu erinnern, als Tichon ihn aus der Schlinge zog. Dabei dachte er aber an den kleinen Nikonow. Der Mönch verstand die Andeutung nicht; er hob das Glas zum Mund, versenkte die Zunge in den Wein, leckte sich die Lippen und fuhr mit blechern klingenden Worten fort:

»Auch Tichon wurde durch jemanden gekränkt, da riß er sich, wie ein Ausgeplünderter, von allen los . . .«

Pjotr mußte den Mönch von diesen Gedanken ablenken.

»Wie ist es denn jetzt, glaubst du nicht an Gott?« fragte er und staunte: er hatte giftig fragen wollen, es kam aber anders.

»Es ist schwer zu verstehen, wer jetzt glaubt«, antwortete der Mönch nach einer Weile. »Alle denken viel nach, man findet aber keinen Glauben. Man darf nicht denken, wenn man glaubt. Derjenige, der von dem Gott mit den Hörnern sprach . . .«

»Laß das«, riet Pjotr und sah sich um. »Das alles kommt von der Langweile und dem Müßiggang. Man müßte alle in ein eisernes Joch einspannen.«

»Nein, man kann nicht an beide glauben«, sagte Vater Nikodim hartnäckig.

Schon zum zweitenmal wurde auf dem Glockenturm geläutet; die gemessenen Töne schlugen gegen die schwarzen Fensterscheiben. Pjotr fragte:

»Gehst du zur Messe?«

»Ich gehe nicht hin. Meine Füße erlauben mir nicht, so lange zu stehen.«

»Betest du hier für uns?«

Der Mönch antwortete nicht.

»Nun, ich will schlafen, ich bin müde von der Reise.«

Nikita stützte sich schweigend mit den langen Armen auf die Sessellehne, hob vorsichtig seinen eckigen Körper und rief:

»Mitja! Mitri!«

Er ließ sich wieder sinken und sagte schuldbewußt:

»Verzeih: ich habe vergessen. Mein Diener schläft im Gasthof. Ich habe ihn fortgeschickt; ich wollte frei sprechen können, und hier sind lauter Angeber und Verleumder . . .«

Er beschrieb Pjotr in vielen überflüssigen Worten den Weg nach dem Gasthof, und als Pjotr in das Dunkel und in den kalt herabsprühenden Regen hinaustrat, dachte er:

»Der Schwätzer wollte mich nicht fortlassen.«

Und auf einmal fühlte Pjotr Artamonow mit der ihm wohlbekannten Angst, daß er wieder über den Rand einer tiefen Schlucht hinschritt, in die er in der nächsten Minute abstürzen konnte. Er beschleunigte die Schritte, streckte die Hände vor, betastete mit den Fingern den wässerigen Staub des nächtlichen Dunkels und blickte unverwandt in die Ferne, auf den grellen Fleck einer Laterne.

»Nein,« dachte er eilig und stolpernd, »ich brauche das alles nicht. Ich will gleich morgen abreisen. Ich brauche es nicht. Was ist geschehen? Ilja wird zurückkehren! Nein, man muß ein gefestigtes Leben führen. Wie Alexej sich herausgemacht hat. Er könnte mich schädigen.«

Er zwang sich, an Alexej zu denken, weil er weder an Nikita, noch an Tichon denken wollte. Als er sich aber auf das harte Lager des Klostergasthofs hinlegte, wurde er wieder von den bedrückenden Gedanken an den Mönch und an Tichon umfangen. Was war Tichon für ein Mensch? Er wirft auf alles ringsum seinen Schatten, seine Worte erklingen in der kindischen Rede des Sohnes, der Bruder ist von seinen Gedanken verzaubert. »Der Tröster!« dachte er von seinem Bruder. »Und Serafim ist nur ein einfacher Schreiner und versteht es doch zu trösten.«

Er konnte nicht schlafen, die Mücken stachen, hinter der Wand murmelten dreistimmig irgendwelche Leute, es fiel Pjotr ein, es könnten dies der Bäcker Mursin, der Kaufmann mit dem kranken Fuß und der Mensch mit dem Kastratengesicht sein.

»Sie betrinken sich gewiß.«

Der Klosterwächter schlug ab und zu mit dem Klopfer auf ein Eisenbrett; dann wurde plötzlich sehr eilig, als hätte man sich verspätet und wäre erschrocken, zur Morgenmesse geläutet, und bei diesem Geläute schlummerte Pjotr ein.

Nikita kam zu ihm, er war ebenso, wie er gestern im Garten gewesen war und hatte denselben übelwollenden Blick von der Seite und von unten herauf. Pjotr Artamonow wusch und kleidete sich eilig an und befahl dem Diener, ihm ein Pferd bis zur nächsten Poststation zu verschaffen.

»Warum so eilig?« fragte der Mönch, ohne zu staunen. »Ich dachte, du würdest hier eine Weile bleiben.«

»Die Arbeit erlaubt es nicht.«

Man trank Tee. Pjotr überlegte lange, was er seinen Bruder fragen sollte? Und es fiel ihm ein:

»Du willst also von hier fortgehen?«

»Ich glaube wohl. Man läßt mich aber nicht fort.«

»Aus welchem Grunde?«

»Ich bin für sie von Vorteil. Ich bin ihnen nützlich.«

»So. Wohin willst du denn?«

»Vielleicht werde ich wandern.«

»Mit den kranken Füßen?«

»Auch die Fußlosen bewegen sich.«

»Es stimmt, sie bewegen sich«, gab Pjotr zu.

Man schwieg. Dann sagte Nikita:

»Grüße Tichon!«

»Und wen noch?«

»Alle.«

»Gut. Warum fragst du denn nicht, wie Alexej lebt?«

»Was soll ich fragen? Ich weiß, er versteht es. Ich werde vielleicht bald von hier fortgehen.«

»Du wirst doch im Winter nicht fortgehen?«

»Warum? Man geht auch im Winter.«

»Es ist wahr, man geht«, stimmte Pjotr wieder bei und bot dem Bruder Geld an.

»Gib her, es wird für die Reparatur der Mühle verwendet werden. Wirst du nicht beim Prior vorsprechen?«

»Es ist keine Zeit mehr, das Pferd wartet schon.«

Die Brüder umarmten einander zum Abschied. Es war unbequem, Nikita zu umarmen. Er segnete den Bruder nicht, seine rechte Hand hatte sich im Kuttenärmel verwickelt, und Pjotr glaubte, daß das mit Absicht geschehen sei. Nikita stemmte sich mit dem Buckel gegen seinen Bauch und bat mit dumpfer Stimme:

»Verzeih, wenn ich gestern etwas Überflüssiges gesagt habe.«

»Nun, was soll das! Wir sind Brüder.«

»Man denkt und denkt die Nacht durch . . .«

»Ja, ja! Nun, leb wohl . . .«

Als Pjotr aus dem Klostertor heraus war, sah er sich um und erblickte an der weißen Gasthofmauer die an einen Stein erinnernde Gestalt seines Bruders.

»Leb' wohl!« murmelte er, die Mütze ziehend, worauf sein Kopf durch den feinen Regen reichlich benetzt wurde. Sie fuhren durch einen Fichtenwald. Es war sehr still, nur die Fichtennadeln erklangen gläsern unter den Regenperlen. Auf dem Bock der Kalesche hopste ein Mönch herum, das Pferd war ein Fuchs und hatte kahle Ohren.

»Worüber man so spricht!« dachte Pjotr. »Gott schickt den Regen zur unrechten Zeit! – Das geschieht alles aus Bosheit, aus Neid und Scheußlichkeit. Aus Faulheit. Es fehlt die Sorge. Ohne Sorge ist der Mensch wie ein herrenloser Hund.«

Pjotr sah sich um, kauerte sich zusammen und stellte fest, daß es tatsächlich zur unrechten Zeit regnete; und wieder umfingen ihn, gleich einer grauen Wolke, unerfreuliche Gedanken. Um sie los zu werden, trank er auf jeder Station Schnaps.

Als am Abend die in Rauch gehüllte Stadt in der Ferne auftauchte, überquerte die Straße ein schwer keuchender Zug, er pfiff, hüllte alles in Dampf ein, wühlte sich dann in die Erde und verschwand in einem halbrunden Loch.

 


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