Maxim Gorki
Nachtasyl
Maxim Gorki

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Dritter Aufzug

Ein öder Platz zwischen Gebäuden, der mit allerhand Rumpelkram angefüllt und mit Unkraut bewachsen ist. Im Hintergrunde eine hohe, aus Ziegelsteinen errichtete Brandmauer, die den Himmel verdeckt. Neben ihr Holundergebüsch. Rechts eine dunkle, aus Balken gefügte Wand, die zu einem Hofgebäude, einem Schuppen oder Stall gehört. Links die graue, hier und da Reste von Kalkbewurf aufweisende Wand des Hauses, in dem Kostylews Herberge sich befindet. Die letztere steht schräg, so daß ihre hintere Ecke bis fast in die Mitte des Platzes vorspringt. Zwischen ihr und der roten Wand ein schmaler Durchgang. In der grauen Wand zwei Fenster – das eine in gleicher Höhe mit dem Boden, das andere etwa anderthalb Meter höher und näher nach der Brandmauer zu. Neben der grauen Wand liegt, mit den Kufen nach oben, ein großer Schlitten und ein etwa drei Meter großer Balken. Rechts neben der Wand ein Haufen alter Bretter und behauener Balken. Es ist Abend, die Sonne geht unter und wirft ein rötliches Licht auf die Brandmauer. Der Frühling hat eben erst begonnen, der Schnee ist kaum geschmolzen. Das schwarze Geäst der Holunderbüsche zeigt noch keine Knospen. Auf dem Balken sitzen nebeneinander Natascha und Nastja. Auf dem Holzhaufen Luka und der Baron. Kleschtsch liegt auf einem Holzhaufen neben der rechten Wand. Aus dem unteren Fenster schaut Bubnow in den Hof.

 

Nastja  mit geschlossenen Augen, bewegt den Kopf im Takt zu ihrer Erzählung, die sie in singendem Ton vorträgt: In der Nacht also kommt er in den Garten, in die Laube, wie wir es verabredet hatten … und ich warte schon längst und zittre vor Angst und Kummer. Auch er zittert am ganzen Leibe und ist kreideweiß , in der Hand aber hat er einen Revolver …

Natascha  knabbert Sonnenblumenkerne: Was du sagst! Diese Studenten sind doch Tollköpfe …

Nastja: Und mit schrecklicher Stimme spricht er zu mir: Meine teure Geliebte …

Bubnow: Ha ha! Meine »teure« hat er gesagt?

Der Baron: Still da! Laß sie ruhig schwindeln – brauchst ja nicht zuzuhören, wenn's dir nicht gefällt … Also weiter!

Nastja: Meine Herzallerliebste, sagt er, mein Goldschatz! Die Eltern verweigern mir meine Einwilligung dazu, sagt er, daß ich dich heirate … und drohen mir mit ihrem Fluche, wenn ich nicht von dir lasse. Und so muß ich mir denn, sagt er, das Leben nehmen … Und sein Revolver war ganz fürchterlich groß und mit zehn Kugeln geladen … Lebe wohl, sagt er, traute Freundin meines Herzens! Mein Entschluß ist unwiderruflich … ich kann ohne dich nicht leben. Ich aber antwortete ihm: Mein unvergeßlicher Freund … mein Raoul …

Bubnow  erstaunt: Wie hieß er? Graul?

Der Baron: Du irrst dich. Nastjka! Das letzte Mal hieß er doch Gaston!

Nastja  springt auf: Schweigt … ihr Unglücklichen! Ihr … elenden Strolche! Könnt ihr überhaupt begreifen, was Liebe ist … wirkliche, echte Liebe? Und ich … ich habe sie gekostet, diese wirkliche Liebe! Zum Baron. Du Jammerkerl … Du willst ein gebildeter Mensch sein … sagst, du hättest im Bett Kaffee getrunken …

Luka: So habt doch Geduld! Stört sie nicht! Nehmt Rücksicht auf sie … nicht aufs Wort kommt es an, sondern darauf, warum's gesprochen wird – seht ihr, darauf kommt's an! Immer erzähl, meine Liebe – hat nichts zu sagen!

Bubnow: Immer färb dir die Federn, Krähe … na, leg doch los!

Der Baron: Weiter also!

Natascha: Achte nicht auf sie, wer sind sie denn? Sie reden nur aus Neid so … weil sie von sich nichts zu erzählen wissen …

Nastja  setzt sich wieder: Ich will nicht … Ich erzähl nicht weiter … Wenn sie's nicht glauben wollen … und darüber lachen … Bricht plötzlich ab, schweigt ein paar Sekunden, schließt wieder die Augen und fährt dann laut und hastig fort zu erzählen, wobei sie im Takt zu ihrer Rede die Hand bewegt und gleichsam auf eine in der Ferne erklingende Musik lauscht. Und ich antworte ihm darauf: Du Freude meines Daseins! Du glänzender Stern! Auch ich vermag ohne dich nicht zu leben … weil ich dich wahnsinnig liebe und allezeit lieben werde, solange das Herz in meiner Brust schlägt! Aber, sag ich, beraube dich nicht deines jungen Lebens … denn sieh, deine teuren Eltern, deren einzige Freude du bist – sie bedürfen dein … Laß ab von mir! Mag ich lieber zugrunde gehen … aus Sehnsucht nach dir, mein Leben … ich bin allein … ich bin – so eine! Ja, laß mich sterben … was liegt daran … denn ich tauge nichts … und habe nichts … rein gar nichts … Bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und weint still in sich hinein.

Natascha  wendet sich zur Seite, leise: Nicht doch … weine nicht! Luka streichelt lächelnd Nastjas Kopf.

Bubnow  lacht laut: Nein, so 'n Teufelsmädel – was?

Der Baron  lacht gleichfalls: Sag mal, Großväterchen, glaubst du ihr denn, was sie da erzählt? Das ist ja alles aus ihrem Buch … aus der »Verhängnisvollen Liebe« … alles verrücktes Zeug! Laß sie laufen! …

Natascha: Was geht's dich denn an? Schweig lieber, du! Der Herrgott hat dich genug gestraft …

Nastja  wütend: Du Hohlkopf! Sag, wo ist deine Seele?

Luka  faßt Nastja an der Hand: Komm, meine Liebe! Ärgere dich nicht … hat nichts zu sagen! Ich weiß ja … Ich – glaube dir. Du hast recht, und nicht jene da … Wenn du's selber glaubst, dann hattest du eben eine solche … echte Liebe … Gewiß doch! Ganz gewiß! Und dem da, deinem … Liebsten, sei nicht böse … Er lacht vielleicht wirklich nur … darum, weil er neidisch ist … Hat wohl nie im Leben was Echtes gekostet … nein, ganz gewiß nicht! Komm! …

Nastja  preßt ihre Arme gegen die Brust: Großväterchen! Bei Gott … 's ist wahr! Alles ist wahr! … Der Student war ein Franzose … Gastoscha hieß er … und ein schwarzes Bärtchen hatte er … und trug immer Lackstiefel … der Blitz soll mich auf der Stelle treffen, wenn's nicht wahr ist! Und wie er mich liebte … ach, wie er mich liebte!

Luka: Ich weiß ja! Hat nichts zu sagen! Ich glaub dir's! Lackstiefel trug er also, sagst du? Ei, ei! Na, und du hast ihn natürlich auch geliebt. Beide ab um die Ecke

Der Baron: Ein zu dummes Frauenzimmer! Gutmütig, aber dumm … unerträglich dumm!

Bubnow: Wie nur ein Mensch so in einem fort lügen kann! Immer, als wenn sie vorm Untersuchungsrichter stände …

Natascha: Die Lüge muß doch angenehmer sein als die Wahrheit … Auch ich …

Der Baron: Was »auch du«? Sprich weiter.

Natascha: Auch ich denk mir manches aus … Denke mir's aus …und warte …

Der Baron: Auf was?

Natascha  lächelt verlegen: Na, so … Vielleicht, denk ich … kommt morgen jemand … irgend jemand Besonderes … Oder es passiert was … etwas Niedagewesenes … Lange schon wart ich … immer wart ich … Und schließlich … wenn man's bei Licht besieht … was kann man groß erwarten? Pause.

Der Baron  lächelnd: Gar nichts kann man erwarten … Ich wenigstens – erwarte nichts mehr! Für mich … war alles schon da! Alles vorbei … zu Ende! Was weiter?

Natascha: Manchmal stell ich mir auch vor, daß ich morgen … plötzlich sterbe … davon wird mir dann so bange …Im Sommer denkt man gern an den Tod … da gibt es Gewitter … jeden Augenblick kann einen der Blitz treffen …

Der Baron: Du hast es nicht gut im Leben … Deine Schwester ist ein richtiger Satan …

Natascha: Wer hat's überhaupt gut im Leben? Alle haben es schlecht … soviel ich sehe …

Kleschtsch  hat bisher unbeweglich und teilnahmslos dagelegen und springt plötzlich auf: Alle? Das ist nicht wahr! Nicht alle! Wenn's alle schlecht hätten … dann müßte man's so hinnehmen! Das wäre kein Grund zu klagen … ja!

Bubnow: Sag mal – reitet dich der Teufel? Hört doch! Brüllt mit einemmal auf. Kleschtsch legt sich wieder auf seinen Platz und knurrt vor sich hin.

Der Baron: Muß doch sehen, was Nastenjka macht … muß mich mit ihr vertragen … sonst gibt sie kein Geld für Schnaps …

Bubnow: Daß die Menschen das Lügen nicht lassen können! Bei Nastjka begreif ich's schließlich. Die ist dran gewöhnt, sich die Backen zu schminken … da versucht sie's auch mal mit der Seele … schminkt sich ihr Seelchen rot … Aber die andern – warum tun die es? Luka zum Beispiel … was flunkert der nicht zusammen … so mir nichts, dir nichts! Warum lügt er nur … in seinen Jahren!

Der Baron  geht lächelnd ab: Alle Menschen – haben graue Seelen … alle legen gern ein bißchen Rot auf …

Luka  tritt hinter der Ecke hervor: Sag doch, Baron – warum kränkst du das Mädchen? Laß sie doch … mag sie weinen, sich die Zeit vertreiben … Sie vergießt doch nur zu ihrem Vergnügen Tränen … was kann's dir schaden?

Der Baron: Ein albernes Ding ist sie, Alter! Das wächst einem ja zum Halse heraus … Heut – Raoul, morgen Gaston … und ewig ein und dasselbe! Übrigens – will ich mich wieder mit ihr aussöhnen … Ab.

Luka: Geh, sei hübsch freundlich zu ihr! Gegen einen Menschen freundlich sein – schadet niemals …

Natascha: Wie gut du bist, Großväterchen … Wie kommt es, daß du so gut bist?

Luka: Gut bin ich, sagst du? Na … 's ist doch recht so, denk ich … ja! Hinter der roten Wand hört man leisen Gesang und Harmonikaspiel. Siehst du, Mädel – es muß doch auch einer da sein, der gut ist … Wir sollen Erbarmen haben mit den Menschen! Christus, siehst du – der hatte Erbarmen mit allen und hat's auch uns so befohlen … Zur rechten Zeit Erbarmen haben – glaub mir's, es ist immer gut! Da war ich zum Beispiel mal als Wächter in einem Landhaus angestellt, bei einem Ingenieur, nicht weit von der Stadt Tomsk in Sibirien … Na, schön! Mitten im Walde stand das Landhaus, eine ganz einsame Gegend … und Winter war's, und ich war ganz allein in dem Landhaus … Schön war's dort – ganz prächtig! Und einmal … hör ich, wie sie näher schleichen!

Natascha: Diebe?

Luka: J. Sie schleichen also näher, und ich nehme meine Büchse und trete ins Freie … Ich sehe: es sind zwei Mann … eben steigen sie in ein Fenster ein und sind so eifrig bei der Sache, daß sie mich gar nicht sehen. Ich schrei auf sie los: Heda! … Macht, daß ihr fortkommt … Und sie stürzen, denkt euch, auf mich mit 'nem Beil los … Ich warne sie – Halt! Ruf ich, sonst geb ich Feuer! … Und dabei leg ich bald auf den einen, bald auf den andern an. Sie fallen auf die Knie, das sollte heißen: Verschone uns! Na, ich war mächtig tückisch … wegen des Beils, weißt du! Ihr Waldteufel, sag ich, ich hab euch fortjagen wollen – und ihr seid nicht gegangen! … Und jetzt, sag ich, mag mal einer von euch im Busch drüben Ruten holen! Sie tun's. Und nun befehl ich: Einer von euch lege sich hin und der andre – mag ihn prügeln! Und so haben sie, auf mein Geheiß, sich gegenseitig durchgeprügelt. Und wie sie jeder ihre Tracht Prügel weg haben, da sagen sie zu mir: Großväterchen, sagen sie, gib uns ein Stück Brot, um Christi Willen! Nicht 'nen Bissen haben wir im Leibe. Das waren nun die Diebe, meine Tochter … lacht  … die mit 'nem Beil auf mich losgegangen waren! Ja … ein paar prächtige Jungen waren's … Ich sage zu ihnen: Ihr Waldteufel, hättet doch gleich um Brot bitten sollen! Da meinten sie: 's war uns schon über … man bittet, bittet und kein Mensch gibt was … Da geht einem die Geduld aus! Na, und so blieben sie also bei mir, den ganzen Winter. Der eine – Stepan hieß er – nimmt gern mal die Büchse und geht in de Wald. Und der andre, Jakow mit Namen, war immer krank, hustete immer … Zu dreien, heißt das, bewachten wir so das Landhaus. Und wie der Frühling kam – da sagten sie: Leb wohl, Großväterchen! Und machten sich auf … nach Rußland …

Natascha: Es waren wohl Sträflinge, die fortgelaufen waren?

Luka: Ja, das waren sie … Flüchtlinge … hatten ihren Ansiedelungsort verlassen … ein paar prächtige Jungen … Hätt ich kein Erbarmen mit ihnen gehabt – wer weiß, wie's gekommen wäre! Vielleicht hätten sie mich erschlagen … Dann wären sie vor Gericht gekommen und ins Gefängnis und nach Sibirien zurück … wozu das? Das Gefängnis lehrt dich nichts Gutes, und auch Sibirien lehrt dich's nicht … Aber ein Mensch – der kann dich das Gut lehren … sehr einfach! Pause.

Bubnow: Hm–ja! … Und ich … kann nicht mal lügen! Warum sollt ich's tun? Immer raus mit der Wahrheit, das ist meine Meinung, ob sie euch gefällt oder nicht! Wozu sich genieren?

Kleschtsch  springt jäh empor, als wenn ihn etwas gestochen hätte; schreiend: Was für eine Wahrheit? Wo ist die Wahrheit? Klopft mit den Händen auf seine zerfetzten Kleider. Da ist die Wahrheit – da! Keine Arbeit … keine Kraft in en Gliedern – das ist die Wahrheit! Keinen Winkel, in dem man zu Hause ist! Krepieren muß man … das ist sie, deine Wahrheit! Teufel noch eins! Was … was soll sie mir, diese – Wahrheit?! Laß mich nur einmal frei aufatmen … aufatmen laß mich! Was hab ich denn verbrochen? … Wozu die Wahrheit, zum Teufel? Ich kann nicht leben … nicht leben … das ist die Wahrheit!

Bubnow: Hört mal … den hat's aber gepackt …

Luka: Herr Jesus … sag doch, mein Lieber, du …

Kleschtsch  zitternd vor Erregung: Ihr sagt nur immer – die Wahrheit! Du, Alter – du tröstest alle … Und ich sage dir: ich hasse alle! Und auch diese Wahrheit, diese verdammte … verflucht soll sie sein! Hast verstanden? Merk dir's! Verflucht soll sie sein! Geht eilends um die Ecke, während er dabei zurückschaut.

Luka: Ei, ei, ei! Ist der aber außer sich geraten … Und wo ist er denn hingerannt?

Natascha: Wie ein Verrückter tobt er davon …

Bubnow: Der hat ordentlich losgelegt! Wie im Theater … 's kommt öfter vor, so was … Hat sich noch nicht gewöhnt ans Leben …

Pepel  kommt langsam hinter der Ecke vor: Guten Abend allerseits! Na, Luka, alter Luchs – erzählst wieder mal Geschichten?

Luka: Hättest hören sollen, wie hier ein Mensch geschrien hat!

Pepel: Der Kleschtsch, meinst du, hm? Was ist denn mit ihm los? Rennt an mir vorbei, als wenn er verbrüht wäre …

Luka: Wirst auch davonrennen, wenn's dir mal so … ans Herz geht …

Pepel  setzt sich: Ich kann den Menschen nicht leiden … zu bös ist er mir und zu eingebildet. Ahmt Kleschtsch nach. »Ich bin ein Mensch, der arbeitet …« Also ob die andern weniger wären als er … Arbeite doch, wenn's dir Vergnügen macht … was brauchst du da groß stolz zu sein? Wenn man die Menschen nach der Arbeit schätzen sollte … dann wär ja ein Pferd besser als jeder Mensch … das zieht den Wagen – und hält's Maul dazu! Natascha … sind deine Leute zu Hause?

Natascha: Sie sind auf den Friedhof gegangen … dann wollten sie zur Abendmesse gehen …

Pepel: Hast also mal 'ne freie Stunde … Das kommt selten vor!

Luka  nachdenklich zu Bubnow: Du sagst – die Wahrheit … Die Wahrheit ist aber nicht immer gut für den Menschen … nicht immer heilst du die Seele mit der Wahrheit … Zum Beispiel folgender Fall: ich kannte einen Menschen, der glaubte an das Land der Gerechten.

Bubnow: An wa–s?

Luka: An das Land der Gerechten. Es muß, sagte er, auf der Welt ein Land der Gerechten geben … in dem Lande wohnen sozusagen Menschen von besonderer Art … gute Menschen, die einander achten, die sich gegenseitig helfen, wo sie können … alles ist bei ihnen gut und schön! Dieses Land der Gerechten also wollte jener Mensch immer suchen gehen … Er war arm, und es ging ihm schlecht …und wie's ihm schon gar zu schwer fiel, daß ihm nichts weiter übrigblieb, als sich hinzulegen und zu sterben – da verlor er noch immer nicht den Mut, sondern lächelte öfters vor sich hin und meinte: Hat nichts zu sagen – ich trag's! Noch ein Weilchen wart ich – dann werf ich dieses Leben ganz von mir und geh in das Land der Gerechten … Seine einzige Freude war es – dieses Land der Gerechten …

Pepel: Na, und …? Ist er hingegangen?

Bubnow: Wohin? Ha ha ha!

Luka: Nun wurde nach eben jenem Ort – die Sache ist nämlich in Sibirien passiert – ein Verbannter gebracht, ein Gelehrter Mensch … mit Büchern und mit Plänen und mit allerhand Künsten … Und jener Mensch spricht zu dem Gelehrten: Sag mir doch gefälligst, wo liegt das Land der Gerechten, und wie kann man dahin gelangen? Da schlägt nun der Gelehrte gleich seine Bücher auf und breitet seine Pläne aus … und guckt und guckt – aber das Land der Gerechten findet er nirgends! Alles ist sonst richtig, alle Länder sind aufgezeichnet – nur das Land der Gerechten nicht!

Pepel  leise: Nanu? War's wirklich nicht drauf? Bubnow lacht laut auf.

Natascha: Was lachst du denn? Sprich weiter, Großväterchen!

Luka: Der Mensch – will ihm nicht glauben … Es muß drauf sein, sagt er … such nur genauer! Sonst sind ja, sagt er, alle deine Bücher und Pläne nicht 'nen Pfifferling wert, wenn das Land der Gerechten nicht drin verzeichnet ist … Mein Gelehrter ist beleidigt. Meine Pläne, sagt er, sind ganz richtig, und ein Land der Gerechten gibt's überhaupt nirgends. – Na, da wurde nun der andere ganz wütend. Was? Sagt er, da habe ich nun gelebt und gelebt, geduldet und geduldet und immer geglaubt, es gebe solch ein Land! Und nach deinen Plänen gibt es keins! Das ist Raub … und zu dem Gelehrten sagt er: Du nichtsnutziger Kerl! Ein Schuft bist du und kein Gelehrter! Und gab ihm eins übern Schädel, und noch eins … Schweigt ein Weilchen. Und dann ging er nach Hause … und hängte sich auf … Alle schweigen. Luka blickt stumm auf Pepel und Natascha.

Pepel  leise: Hol's der Teufel … die Geschichte ist nicht lustig …

Natascha: Er konnt's nicht ertragen … so enttäuscht zu werden …

Bubnow  mürrisch: Alles Märchen …

Pepel: Hm – ja … da hatte er das Land der Gerechten … es war nicht zu finden, scheint's …

Natascha: Er kann einem leid tun … Der arme Mensch …

Bubnow: Ist ja alles nur ausgedacht … He he! Das Land der Gerechten – wie will er denn dahin kommen? He he he! Verschwindet vom Fenster.

Luka  nickt nach Bubnows Fenster hin: Da lacht er nun! Ach ja! Pause. Na, Kinder … gehabt euch wohl! Ich verlaß euch bald …

Pepel: Wohin geht denn die Reise?

Luka: Nach Kleinrußland … da soll ein neuer Glaube aufgekommen sein, hör ich … will mal sehen, was dran ist … ja! Die Menschen suchen und suchen, wollen immer was Besseres finden … Gott geb ihnen nur Geduld!

Pepel: Was meinst du … werden sie's finden?

Luka: Wer? Die Menschen? Gewiß werden sie's finden! Wer den rechten Willen hat – der findet … Wer eifrig sucht – der findet!

Natascha: Wenn sie doch was finden möchten! … Etwas recht Schönes müßten sie ausfindig machen …

Luka: Das werden sie schon! Man muß ihnen nur helfen, meine Tochter … muß sie respektieren …

Natascha: Wie soll ich ihnen helfen? Ich bin selbst … so hilflos …

Pepel  in entschlossenem Ton: Hör mal, Natascha … ich möchte mit dir reden … In seinem Beisein … er weiß alles … Komm … mit mir!

Natascha: Wohin? Ins Gefängnis?

Pepel: Ich hab dir schon gesagt, daß ich aufhören will mit dem Stehlen! Bei Gott – ich laß es! Wenn ich's gesagt habe, halt ich Wort! Ich hab Lesen und Schreiben gelernt … kann mich redlich ernähren … Mit einer Kopfbewegung nach Luka: Er hat mir geraten – ich sollt's in Sibirien versuchen … freiwillig sollt ich hingehen … Was meinst du – wollen wir hin? Glaub mir, ich habe mein Leben längst satt! Ach, Natascha! Ich seh doch, wie die Dinge liegen … Ich such mich damit zu trösten, daß andere noch mehr stehlen als ich – und dabei in Ehren leben … Aber was hilft mir das? Gar nichts? Reue verspür ich nicht … glaub auch an kein Gewissen … Eins aber fühl ich: ich muß anders leben! Besser muß ich leben! So muß ich leben … daß ich mich selber achten kann …

Luka: Ganz recht, mein Lieber! Der Herr sei mit dir … Christus mag dir helfen! Ganz richtig sagst du: Der Mensch muß sich selber achten …

Pepel: Ich war schon von klein auf nur – der Dieb … Immer hieß es: Wasjka der Dieb, Wasjka, der Spitzbubenjunge! Gut, mir kann's recht sein; weil ihr's so wolltet, bin ich ein Dieb geworden … Nur ihnen zum Possen bin ich's vielleicht geworden … weil nie jemand darauf kam, mich anders zu nennen als … Dieb! … Nenn du mich anders, Natascha … nun?

Natascha  schwermütig: Ich trau nicht recht … Worte sind Worte … Und dann … ich weiß nicht … ich bin heut so unruhig … so bange ist mir ums Herz … als ob ich etwas erwartete! Hättest heut nicht davon anfangen sollen, Wassilij …

Pepel: Wann denn sonst? Ich sage dir's nicht zum erstenmal …

Natascha: Wie soll ich denn mit dir gehen? Ich liebe dich ja … nicht so … Manchmal gefällst du mir wohl … aber 's kommt auch vor, daß es mir zuwider ist, dich nur anzusehen. Jedenfalls – lieb ich dich nicht … Wenn man liebt, sieht man keine Fehler am Geliebten … und ich seh doch welche an dir …

Pepel: Wirst mich schon liebgewinnen, hab keine Angst! Wirst dich an mich gewöhnen … sag nur erst »ja!« Länger als ein Jahr hab ich dir zugeschaut, und ich sehe, du bist ein braves Mädchen, … ein guter, treuer Mensch … von Herzen hab ich dich liebgewonnen! Wassilissa, noch im ausgehkleide, erscheint am oberen Fenster; sie drückt sich gegen den Pfosten und lauscht.

Natascha: So … mich hast du liebgewonnen, und meine Schwester …

Pepel  verlegen: Was ich mich aus der mache! Die Sorte ist nicht weit her …

Luka: Hat nichts zu sagen, meine Tochter! Man ißt auch mal Gartenmelde … wenn man nämlich kein Brot hat …

Pepel  düster: Hab Erbarmen mit mir! 's ist kein leichtes Leben, das ich führe – so freudlos, gehetzt wie ein Wolf … Wenn ich im Moor versänke … wonach ich fasse, alles verfault … nichts gibt mir Halt … Deine Schwester, dacht ich, würde anders sein … wäre sie nicht so geldgierig – ich hätte um sie … alles gewagt! Wenn sie nur zu mir gehalten hätte – ganz und gar zu mir … Na, ihr Herz steht eben nach anderem … ihr ist's ums Geld zu tun … und um die Freiheit … und nach Freiheit begehrt sie nur, um liederlich sein zu können. Die kann mir nicht helfen … Du aber – bist wie eine junge Tanne: du stichst wohl, aber du gibt's Halt …

Luka: Und ich sage dir: Nimm ihn, meine Tochter, nimm ihn! Er ist 'n herzensguter Junge ! Mußt ihn nur öfter daran erinnern, daß er gut ist … damit er's nicht vergißt, heißt das! Er wird dir's schon glauben! … Sag ihm nur immer: »Wassja«, sag, »du bist ein guter Mensch … vergiß das nicht!« Überleg doch mal, meine Liebe – was sollst du sonst anfangen? Deine Schwester – die ist ein böses Tier; von ihrem Manne läßt sich auch nicht Gutes sagen: keine Worte gibt's, seine Schlechtigkeit zu benennen … und dieses ganze Leben hier … wo findest du 'nen Weg … hier heraus? Der Wasja aber … ist ein kräftiger Bursche …

Natascha: Einen Weg find ich nicht … das weiß ich … hab's schon selbst überlegt … Aber ich … trau halt keinem … Ich seh keinen Weg hier heraus …

Pepel: Einen Weg gibt's wohl … aber den laß ich dich nicht gehen … Eher schlag ich dich tot …

Natascha  lächelnd: Sieh doch … ich bin noch nicht mal deine Frau, und schon willst du mich totschlagen!

Pepel  legt seinen Arm um sie: Sag »ja«, Natascha, 's wird schon werden …

Natascha  schmiegt sich an ihn an: Na … eins will ich dir sagen, Wassilij … und Gott soll mein Zeuge sein: sowie du mich ein einziges Mal schlägst … oder sonstwie beleidigst … dann ist mir alles eins … entweder häng ich mich auf, oder …

Pepel: Die Hand soll mir verdorren, wenn ich dich nur anrühre …

Luka: Hat nichts zu sagen, meine Liebe, kannst ihm glauben! Du bist ihm nötiger, als er dir …

Wassilissa  aus dem Fenster: Nun seid ihr also verlobt! Gott gebe euch Eintracht und Liebe!

Natascha: Sie sind schon zurück … o Gott! Sie haben uns gesehen … ach, Wassilij!

Pepel: Was ängstigst du dich? Jetzt darf dich niemand mehr anrühren!

Wassilissa: Fürcht dich nicht, Natalja! Der wird dich nicht schlagen … Er kann weder schlagen noch lieben … ich kenn ihn!

Luka  leise: Ach, so 'n Weib … die richtige Giftschlange …

Wassilissa: Er ist nur mit Worten kühn …

Kostylew  tritt auf: Nataschka! Was machst du hier, du Bettelding? Klatschst hier, was? Klagst über deine Verwandten? Und dabei ist der Samowar nicht in Ordnung und der Tisch nicht abgeräumt?

Natascha  im Abgehen: Ihr wolltet doch in die Kirche gehen …

Kostylew: Was wir wollten, geht dich nichts an! Kümmre dich um deine Geschäfte … tu, was man dich heißt!

Pepel: Kusch dich, du! Sie ist nicht mehr deine Magd … Natalja, geh nicht … nicht 'nen Finger rühre!

Natascha: Du kommandiere hier nicht rum … es hat noch Zeit damit! Ab.

Pepel  zu Kostylew: Das hört jetzt auf! Habt dem armen Mädel genug zugesetzt! Jetzt gehört sie mir.

Kostylew: Di–ie? Wann hast du sie gekauft? Was hast du gegeben? Wassilissa lacht laut auf.

Luka: Wasja! Geh fort …

Pepel: Macht euch nur lustig über mich! Daß ihr nicht noch Tränen vergießt!

Wassilissa: Was du sagst! Vor dir hab ich große Angst!

Luka: Geh fort, Wassilij! Merkst du nicht, wie sie dich aufhetzt … dich stachelt – verstehst du nicht?

Pepel: Aha … so! Zu Wassilissa. Gib dir keine Mühe! Was du willst, geschieht nicht!

Wassilissa: Und was ich nicht will, geschieht auch nicht, Wasja!

Pepel  droht ihr mit der Faust: Das werden wir sehen! Ab.

Wassilissa  vom Fenster verschwindend: Dir will ich 'ne schöne Hochzeit ausrichten!

Kostylew  tritt an Luka heran: Na, was treibst du, Alter?

Luka: Nichts treib ich, Alter! …

Kostylew: So … du gehst fort, hör ich?

Luka: 's ist Zeit …

Kostylew: Wohin denn?

Luka: Wohin mich die Augen führen …

Kostylew: Willst wohl 'n bißchen die Dörfer unsicher machen … Scheinst kein rechtes Sitzfleisch zu haben …

Luka: Rastet das Eisen, so rostet es, so sagt das Sprichwort.

Kostylew: Vom Eisen mag das gelten. Ein Mensch aber muß festsitzen an einer Stelle … Es geht nicht, daß die Menschen wie Küchenschaben durcheinanderlaufen … bald dahin, bald dorthin … Ein Mensch muß seinen Ort haben, an dem er zu Hause ist … er darf nicht zwecklos herumkriechen auf der Erde …

Luka: Und wenn einer – überall zu Hause ist?

Kostylew: Dann ist er eben – ein Landstreicher … ein unnützer Mensch … Ein Mensch muß sich nützlich machen … muß arbeiten …

Luka: Was du sagst!

Kostylew: Jawohl! Was denn sonst? … Du nennst dich 'nen Wanderer, 'nen Pilger … Was heißt ein Pilger? Ein Pilger ist 'n Mensch, der seinen eigenen Weg geht – sich absondert, ein Sonderling sozusagen, den andern nicht ähnlich … Das heißt eben – wenn 's ein wirklicher Pilger ist … Er forscht und grübelt … und findet am Ende auch etwas … vielleicht gar die Wahrheit, wer weiß! Mag er seine Wahrheit für sich behalten und – schweigen! Ist er ein wirklicher Pilger – dann schweigt er. Oder er spricht so, daß ihn keiner versteht … Er hat keine Wünsche, mischt sich in nichts ein, verdreht den Leuten nicht die Köpfe … Wie die andern leben – das kümmert ihn gar nichts. Er lebe fromm und gerecht … suche die Wälder auf, die Einöden … wo ihn niemand sieht. Keinem soll er im Wege sein, niemanden verdammen … sondern für alle beten … für alle Sünder dieser Welt … für mich, für dich … für alle! Darum eben flieht er die Eitelkeiten des Lebens – daß er bete. So ist 's … Pause. Und du? Was bist du für ein Pilger? … Nicht mal 'nen Paß hast du … Jeder ordentliche Mensch muß einen Paß haben … alle ordentlichen Leute haben Pässe … ja! …

Luka: Es gibt eben – Leute, und es gibt – Menschen …

Kostylew: Mach keine Späßchen! Gib keine Rätsel auf … ich bin nicht dein Hansnarr … Was heißt das: Leute – und Menschen?

Luka: Wo ist da ein Rätsel? Ich meine – es gibt steinigen Boden, der zur Aussaat nicht taugt … und es gibt fruchtbaren Boden … was man auch darauf sät – das gedeiht … So ist's …

Kostylew: Nun? Was willst du damit sagen?

Luka: Du zum Beispiel … Wenn der Herrgott selbst zu dir sagte: Michailo! Sei ein Mensch! … es wär umsonst, es würde gar nichts nützen … Wie du bist, so bleibst du nun schon mal …

Kostylew: So … und weißt du auch, daß der Onkel meiner Frau bei der Polizei ist? Und wenn ich …

Wassilissa  betritt den Platz: Michailo Iwanytsch, komm Tee trinken …

Kostylew  zu Luka: Hör mal, du – mach dich aus dem Staube! Fort aus meinem Hause! …

Wassilissa: Ja, schnür nur dein Ränzchen, Alter … Hast eine zu böse Zunge … Wer weiß … bist vielleicht ein weggelaufener Sträfling …

Kostylew: Daß du mir noch heut verduftest! Sonst … sollst mal sehen …

Luka: Rufst sonst den Onkel, was? Immer ruf ihn! Sag ihm: »Hier kannst du 'nen Sträfling fangen, Onkel!« Dann kriegt der Onkel 'ne Belohnung … drei Kopeken …

Bubnow  vom unteren Fenster her: Was habt ihr da für Geschäfte? Wofür – drei Kopeken?

Luka: Mich wollen sie verkaufen …

Wassilissa  zu ihrem Gatten: Komm schon …

Bubnow: Für drei Kopeken? Sieh dich nur vor, Alter … die verkaufen dich schon für eine Kopeke …

Kostylew  zu Bubnow: Glotzt da heraus … wie 'n Kobold aus 'm Ofenloch! Schickt sich mit Wassilissa zum Fortgehen an.

Wassilissa: Wieviel Gesindel es doch auf der Welt gibt … wieviel Schwindler!

Luka: Wünsch euch guten Appetit! …

Wassilissa  dreht sich nach ihm um: Nimm dich in acht … du Giftpilz! Ab mit ihrem Gatten um die Ecke.

Luka: Heut nacht – brech ich auf …

Bubnow: Machst du recht, 's ist immer das beste, sich beizeiten zu drücken …

Luka: Ganz richtig …

Bubnow: Ich weiß Bescheid. Hab mich auch mal rechtzeitig gedrückt und bin dadurch um Sibirien rumgekommen …

Luka: Was du sagst!

Bubnow: 's ist wahr. Die Sache war nämlich so: Meine Frau hatte ein Techtelmechtel mit dem Gesellen … Ein tüchtiger Geselle war's, das muß ich sagen … machte aus Hundefellen die schönsten Waschbärpelze … Katzenfelle färbt er in Känguruhs um … in Bisamratten … in was man wollte … Ein sehr geschickter Bursche. Mit dem hatte also meine Frau angebändelt … und so fest hingen sie aneinander, daß ich jeden Augenblick fürchten mußte, sie würden mich vergiften oder sonstwie aus der Welt schaffen. Ich prügelte nun öfters mal meine Frau durch … und der Geselle prügelte mich durch … Ganz barbarisch hat er zugeschlagen! Einmal hat er mir den Bart halb ausgerauft und 'ne Rippe gebrochen. Na, ich war natürlich auch nicht fein … gab meiner Frau eins mit der eisernen Elle übern Schädel … überhaupt war's der richtige Krieg zwischen uns ! Schließlich sah ich: es kommt nichts raus dabei … sie kriegen mich unter! Da faßte ich den Plan – meine Frau um die Ecke zu bringen … fest entschlossen war ich dazu! Aber zur rechten Zeit besann ich mich – und machte mich aus dem Staube …

Luka: 's war besser so! Laß sie dort ruhig aus Hunden Waschbären machen! …

Bubnow: Leider war die Werkstatt auf ihren Namen eingetragen … Nur was ich am Leibe trug, behielt ich! Obwohl ich, ehrlich gesagt, die Werkstatt schließlich versoffen hätte … Ich bin nämlich ein Quartalssäufer, verstehst du …

Luka: Ein Quartalssäufer?

Bubnow: So ist's. Wenn ich richtig in 'n Zug komme, versauf ich alles, bis auf die blanke haut … Und dann bin ich auch faul … nichts ist mir schrecklicher als arbeiten! … Satin und der Schauspieler kommen streitend herein.

Satin: Blödsinn! Nirgendshin wirst du gehen … Alles dummes Zeug, was du da redest! Sag mal, Alter – was hast du diesem Jammerkerl vorgeschwatzt?

Der Schauspieler: Rede keinen Unsinn! Großvater, sag ihm, daß er Unsinn redet! Ich gehe wirklich! Heut hab ich gearbeitet, hab die Straße gefegt … und keinen Schnaps getrunken! Was sagst du nun! Was sagst du nun? Da, sieh her – zwei Fünfzehner, und ich bin nüchtern!

Satin: Wie albern! Gib her, ich will sie versaufen … oder verspielen …

Der Schauspieler: Laß sein! Das ist schon für die Reise!

Luka  zu Satin: Höre, du – warum willst du ihn abbringen von seinem Vorsatz?

Satin: »Sag mal, du Zauberer, Liebling der Götter – was soll mit mir noch mal werden?« Ganz blank bin ich, Bruder – alles hab ich verspielt! Noch ist die Welt nicht verloren, alter – noch gibt es Kartenspieler, die geschickter mogeln als ich …

Luka: Bist 'n lustiger Bruder, Konstantin … ein lieber Mensch! …

Bubnow: Du, Schauspieler – komm mal her! Der Schauspieler tritt an das Fenster heran, kauert sich davor nieder und unterhält sich leise mit Bubnow.

Satin: Wie ich noch jung war – da war ich ein fideles Huhn! Mit Vergnügen denk ich dran zurück! … Eine Seele von Mensch war ich … ich tanzte ausgezeichnet, spielte Theater, war ein famoser Gesellschafter … einfach großartig!

Luka: Wie bist du denn abgekommen von deinem Wege – hm?

Satin: Bist du neugierig, Alterchen! Alles möchtest du wissen … warum denn?

Luka: Möchte gern verstehen, was so … menschliche Angelegenheiten sin d… Und dich versteh ich nicht, Konstantin, wenn ich dich so anseh! Ein so lieber Mensch … und so gescheit … und mit einemmal …

Satin: das Gefängnis, Großvater! Vier Jahre sieben Monate hab ich abgemacht, und wie ich herauskam, als entlassener Sträfling – fand ich meinen Weg versperrt …

Luka: Oh, oh, oh! Warum hast du denn gesessen?

Satin: wegen eines Schurken … den ich im Jähzorn erschlagen hatte … Im Gefängnis hab ich auch meine Kartenkunststücke gelernt …

Luka: Und warum hast du ihn erschlagen? Wegen eines Weibes?

Satin: Wegen meiner eignen Schwester … Aber geh mir jetzt vom Halse – ich liebe es nicht, wenn man mich aushorcht … Es sind … alte Geschichten … meine Schwester ist tot … neun Jahre schon ist's her … Ein prächtiges Geschöpf war sie, meine Schwester …

Luka: Nimmst das Leben nicht schwer! Andern fällt's weniger leicht … Wie hat hier zum Beispiel der Schlosser hier vorhin aufgeschrien – oh, oh!

Satin: der Kleschtsch?

Luka: Derselbige. Keine Arbeit, schrie er … kein gar nichts …

Satin: Wird sich dran gewöhnen … Sag, was soll ich nun anfangen?

Luka  leise: Guck! Da kommt er … Kleschtsch kommt langsam, mit gesenktem Kopf, herein.

Satin: Heda, junger Witwer! Was läßt du den Kopf so hängen? Worüber grübelst du?

Kleschtsch: Ich zerbrech mir den Schädel darüber … was ich jetzt tun soll! Mein Werkzeug ist hin … alles hat das Begräbnis aufgefressen …

Satin: Ich will dir 'nen Rat geben: Tu gar nichts! Belaste die Erde mit deinem Gewicht – ganz einfach!

Kleschtsch: Du hast gut reden … Ich – habe noch Scham vor den Leuten.

Satin: Lege sie ab, deine Scham! Haben die Leute vielleicht Scham darüber, daß du schlechter lebst als ein Hund? Wenn du nicht arbeitest und ich nicht arbeite … und noch hundert, tausend andere nicht arbeiten … und schließlich alle – begreifst du wohl? – alle die Arbeit hinwerfen und kein Mensch mehr was tut – was, meinst du, wird dann wohl geschehen?

Kleschtsch: Dann werden alle verhungern …

Luka  zu Satin: Es gibt eine solche Sekte, »Flüchtlinge« nennen sie sich … die reden ganz so wie du …

Satin: Ich kenne sie … Die sind gar nicht so dumm, Alterchen! Aus Kostylews Fenster hört man Natascha schreien: »Was tust du? Hör doch auf … was hab ich denn getan?«

Luka  unruhig: Wer schrie da? War's nicht Natascha? Ach, du … Aus Kostylews Wohnung vernimmt man lauten Lärm und das Klirren von zerschlagenem Geschirr. Dazwischen ruft Kostylew mit kreischender Stimme: »A–ah … du Ketzerin … du Aas!«

Wassilissa:  hinter der Bühne: Halt … wart mal … ich will sie … so … und so …

Natascha: Hilfe! Sie schlagen mich tot!

Satin  schreit ins Fenster hinein: Head! Was fällt euch ein?

Luka  läuft besorgt hin und her: Den Wasjka … muß man rufen … den Wassilij … O Gott! … Kinder, meine Lieben …

Der Schauspieler  eilt fort: Ich hol ihn … sofort …

Bubnow: Die setzen dem armen Mädel was zu …

Satin: Komm, Alter … wir werden Zeugen sein …

Luka  ab hinter Satin: Warum Zeugen? Was bin ich schon für 'n Zeuge ? Wenn nur Wasjka bald käme … o weh!

Natascha  hinter der Bühne: Schwester … liebe Schwester … Wa–a–a …

Bubnow: Jetzt haben sie ihr den Mund verstopft … will gleich mal sehen … Der Lärm in Kostylews Wohnung wird schwächer, er verzieht sich offenbar aus der Wohnstube in den Hausflur. Man hört Kostrufen: »Halt!« Eine Tür wird zugeschlagen, wodurch der ganze Lärm gleichsam wie mit einem Beil abgeschnitten wird. Auf der Bühne ist es still. Abenddämmerung.

Kleschtsch  sitzt teilnahmslos auf dem Holzhaufen und reibt sich heftig die Hände. Dann beginnt er etwas vor sich hin zu murmeln, erst undeutlich, dann lauter: Ja, was tun? … Leben muß man … Lauter. Wenigstens ein Obdach … aber nein, nicht mal das … nicht mal 'nen Winkel, wo man sich niederlassen könnte … Nichts als der nackte Mensch … ganz hilflos – und verlassen … Geht langsam, in gebeugter Haltung ab. Ein paar Sekunden unheimliche Stille. Dann erhebt sich irgendwo in dem Durchgang ein wirrer Lärm, ein Chaos von Tönen, das immer lauter wird und immer näher kommt. Man hört einzelne Stimmen.

Wassilissa  hinter der Bühne: Ich bin ihre Schwester! Laßt mich los!

Kostylew  hinter der Bühne: Wie kommst du dazu, dich einzumischen?

Wassilissa  hinter der Bühne: Du Zuchthäusler …

Satin  hinter der Bühne: Den Wasjka holt! … macht rasch! … Schiefkopf, schlag zu! Eine Polizistenpfeife ertönt.

Der Tatar  stürzt auf die Bühne; seine rechte Hand ist verbunden: Was ist das für 'n Gesetz – am hellen Tage zu morden? Schiefkopf kommt eilig herbei, hinter ihm Medwedew.

Schiefkopf: Na, der hat's von mir gekriegt!

Medwedew: Wie kommst du dazu, ihn zu schlagen?

Der Tatar: Und du – weißt du nicht, was deine Pflicht ist?

Medwedew  läuft hinter Schiefkopf her: Halt! Gib meine Pfeife zurück …

Kostylew  stürzt auf die Bühne: Abram! Fang ihn … halt ihn fest! Er hat mich geschlagen … Hinter der Ecke hervor kommen Kwaschnja und Nastja – sie führen Natascha, die ganz zerzaust und über zugerichtet ist, unter den Armen. Satin weicht hinter das Haus zurück, wobei er Wassilissa zurückstößt, die mit den Armen herumfuchtelt und ihre Schwester zu schlagen versucht. Um sie herum springt wie ein Besessener Aljoschka, er pfeift ihr die Ohren voll, schreit und heult. Noch ein paar weitere zerlumpte Gestalten, Männer und Frauen, erscheinen.

Satin  zu Wassilissa: Wohin denn, verdammte Eule?

Wassilissa: Weg, Sträfling! Und wenn mich's das Leben kostet – ich reiße sie in Stücke …

Kwaschnja  führt Natascha auf die Seite: So hör doch auf, Karpowna … Schäm dich! Wie kann man so unmenschlich sein?

Medwedew  nimmt Satin beim Kragen: Aha … jetzt hab ich dich!

Satin: Schiefkopf! Schlag zu! … Wasjka … Wasjka! Alle drängen sich im Haufen an den Durchgang neben der roten Wand. Natascha wird nach rechts geführt und dort auf den Holzhaufen gesetzt.

Pepel  springt aus der Gasse vor und treibt schweigend, mit kräftigen Stößen, alle auseinander: Wo ist Natascha? Du …

Kostylew  versteckt sich hinter der Ecke: Abram! Fang den Wasjka … Brüder, helft den Wasjka fangen! Den Dieb … den Räuber …

Pepel: Da … du alter Wüstling! Schlägt mit kräftigen Hieben auf Kostylew los. Dieser stürzt so hin, daß hinter der Ecke nur sein Oberkörper sichtbar ist. Pepel eilt zu Natascha hin.

Wassilissa: Haut den Wasjka! Ihr Täubchen … haut den Dieb!

Medwedew  zu Satin: Hast dich nicht einzumischen … das ist hier – 'ne Familienangelegenheit! Sie sind miteinander verwandt … Und wer bist du!

Pepel  zu Natascha: Was hat sie dir getan? Hat sie dich gestochen?

Kwaschnja: Sieh doch, was für Bestien! Mit kochendem Wasser haben sie ihr die Beine verbrüht …

Nastja: Den Samowar haben sie umgestoßen …

Der Tatar: Kann zufällig gewesen sein … wenn man's nicht genau weiß, soll man nicht reden …

Natascha  halb ohnmächtig: Wassilij … nimm mich weg von hier … versteck mich …

Wassilissa: Seht nur, meine Lieben! Guckt doch her! Erschlagen haben sie ihn! Alle sammeln sich an dem Durchgang um Kostylew. Von der Menge sondert sich Bubnow ab, der an Pepel herantritt.

Bubnow  leise: Wasjka! Der Alte … hat genug!

Pepel  sieht ihn an, als ob er seine Worte nicht begriffe: Geh, hol eine Droschke … sie muß ins Krankenhaus … na, mit denen will ich abrechnen

Bubnow: Hör, was ich sage: den Alten hat jemand kaltgemacht … Der Lärm auf der Bühne verlöscht gleichsam wie ein Feuer, auf das man Wasser gießt. Man vernimmt einzelne halblaute Ausrufe: »Ist's wirklich wahr?«, »Da haben wir's!«, »Nanu?«, »Wollen uns lieber drücken, Bruder!«, »Teufel noch eins!«, »Jetzt heißt es Kopf oben!«, »Reißt aus, ehe die Polizei kommt!« Die Menge wird kleiner. Bubnow und der Tatar entfernen sich. Nastja und Kwaschnja stürzen zu Kostylews Leichnam.

Wassilissa  erhebt sich vom Boden und ruft laut, in triumphierendem Ton: Erschlagen haben sie ihn … meinen Mann! Und wer hat's getan? Der da! Wasjka hat ihn erschlagen! Ich hab's gesehen, meine Lieben! Ich hab's gesehen! Na, Wasjka? Heda, Polizei!

Pepel  entfernt sich von Natascha: Laß mich mal … Platz da!
Starrt auf den Leichnam. Zu Wassilissa: Na? Jetzt bist du wohl froh? Stößt den Leichnam mit dem Fuße. Ist wirklich krepiert. … der alte Hund! Nu hast du deinen Willen … Soll ich dir nicht auch gleich … 's Genick umdrehen? Stürzt auf sie zu, doch fassen ihn Satin und Schiefkopf rasch. Wassilissa versteckt sich in der Seitengasse.

Satin: Komm doch zur Besinnung!

Schiefkopf: Prrr! Wohin springst du denn?

Wassilissa  erscheint wieder auf dem Platze: Na, Wasjka, mein Herzensfreund? Niemand entgeht seinem Schicksal … Die Polizei! Abram … so pfeif doch!

Medwedew: Sie haben mir ja die Pfeife weggenommen, die Teufelskerle …

Aljoschka: Da ist sie! Er pfeift. Medwedew läuft hinter ihm her.

Satin  geleitet Pepel zu Natascha zurück: Hab keine Angst, Wasjka! Totschlag bei 'ner Prügelei … Lappalie! Da gibt's nicht viel …

Wassilissa: Haltet ihn nur fest! Wasjka hat ihn erschlagen … ich hab's gesehen!

Satin: Ich hab ihm auch ein paar Hiebe versetzt … Was braucht denn so 'n alter Mann viel! Gib mich nur als Zeugen an, Wasjka …

Pepel: Ich brauch mich nicht zu rechtfertigen … Aber die Wassilissa … die will ich 'reinlegen! Sie wollte es habe … sie hat mich dazu angestiftet, ihren Mann totzuschlagen … jawohl, sie hat mich angestiftet …

Natascha  plötzlich einfallend, mit lauter Stimme: Ah! … jetzt versteh ich! So steht's, Wassilij?! Hört doch, ihr guten Leute: 's war alles besprochen! Er und meine Schwester … sie haben es eingefädelt, haben's drauf angelegt! Sieh doch, Wassilij! Darum hast du vorhin … mit mir so geredet … damit sie alles hörte?! Ihr guten Leute, sie ist seine Liebste … Ihr wißt ja … alle wissen es … sie sind einig miteinander! Sie … sie hat ihn angestiftet, ihren Mann zu erschlagen … er war ihnen im Wege … und auch ich war ihnen im Wege … Darum hat sie mich … so zugerichtet …

Pepel: Natalja! Was sprichst du da … was sprichst du?!

Satin: Ist ja dummes Zeug!

Wassilissa: Sie lügt! Alles Lüge … ich weiß von nichts … Wasjka hat ihn erschlagen … er ganz allein!

Natascha: Sie haben's besprochen! Verflucht sollt ihr sein … alle beide …

Satin: Das wird 'n verzwicktes Spiel … Jetzt heißt es: Kopf oben, Wassilij, sonst kriegen sie dich unter!

Schiefkopf: Kann's nicht begreifen! … Ach … sind das Geschichten!

Pepel: Natalja! Sprichst du … im Ernst? Kannst du wirklich glauben, daß ich … mit ihr …

Satin: Bei Gott, Natascha … nimm doch Vernunft an!

Wassilissa  in der Seitengasse: Meinen Mann haben sie erschlagen … Euer Wohlgeboren … Wasjka Pepel, der Dieb … hat ihn erschlagen, Herr Kommissar! Ich hab's gesehen, alle haben es gesehen …

Natascha  wälzt sich halb besinnungslos hin und her: Ihr guten Leute … meine Schwester und Wasjka … die haben ihn erschlagen! Herr Polizeimann … hören sie doch mal … diese da, meine Schwester, hat ihn verleitet … ihren Liebsten … hat sie angestiftet … da ist er, der Verfluchte – die beiden haben's getan! Nehmt sie fest … stellt sie vor Gericht … Auch mich nehmt mit … ins Gefängnis mit mir! Um Christi willen … ins Gefängnis …


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