Maxim Gorki
Die alte Isergil und andere Erzählungen
Maxim Gorki

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der Steppe

Wir verließen Perekop in der allerdüstersten Gemütsstimmung – hungrig wie die Wölfe und wütend auf die ganze Welt. In den letzten zwölf Stunden hatten wir all unsere Kräfte und Talente erfolglos aufgeboten, um etwas zu stehlen oder zu verdienen, und als wir uns endlich davon überzeugt hatten, daß uns weder das eine noch das andere gelingen wollte, beschlossen wir weiterzugehen. Wohin? Nur weiter.

Unter allen Umständen waren wir bereit, auf dem Lebenspfad weiter zu wandern, den wir schon lange beschritten hatten. Dieser wertlose Beschluß glomm deutlich jedem von uns mit düsterem Glanz in den hungrigen Augen.

Wir waren drei. Vor kurzem erst hatten wir uns kennengelernt, als wir in Cherson in einer Kneipe am Ufer des Dnjepr zusammentrafen.

Der eine war Soldat bei einem Eisenbahnbataillon, dann angeblich Wegemeister gewesen, ein rothaariger muskulöser Mensch mit kalten grauen Augen; er konnte deutsch sprechen und kannte sich sehr genau im Gefängnisleben aus.

Unsereins spricht nicht gern von seiner Vergangenheit, dafür hat jeder mehr oder weniger triftige Gründe. Deswegen glaubt einer dem andern – wenigstens nach außen hin, denn innerlich traut kaum einer von uns sich selber ganz.

Als unser zweiter Gefährte – ein dürres kleines Männlein mit schmalen, immer skeptisch verkniffenen Lippen behauptete, daß er ein ehemaliger Student der Moskauer Universität sei, nahmen der Soldat und ich dies als Tatsache hin. In Wirklichkeit war es uns entschieden gleichgültig, ob er irgendwann einmal Student, Spitzel oder Dieb gewesen, wichtig war nur, daß er im Augenblick unserer Bekanntschaft uns glich; er hungerte, genoß in den Städten die besondere Aufmerksamkeit der Polizei und in den Dörfern das Mißtrauen der Bauern, haßte die einen wie die andern mit dem Haß eines gehetzten hungrigen Tieres, träumte von Rache an allen und allem – mit einem Wort, er war sowohl in seiner Stellung zu den Herren des Lebens und Mächtigen der Welt wie in seiner Gemütsverfassung vom gleichen Schlage wie wir.

Der dritte war ich. Aus Bescheidenheit, die mir von klein auf eigen ist, will ich meine Qualitäten mit keinem Wort erwähnen, aber auch über meine Mängel schweigen, weil ich nicht naiv zu erscheinen wünsche. Doch, bitte, als Beitrag zu meiner Charakteristik will ich sagen, daß ich mich stets für besser als die anderen hielt und dies bis zum heutigen Tage mit Erfolg fortsetze.

So also hatten wir Perekop verlassen und zogen weiter im Vertrauen auf die Schafhirten, die man immer um ein Stück Brot bitten konnte, was sie den vorüberziehenden Wanderern nur selten versagten.

Ich ging neben dem Soldaten, der Student schritt hinter uns. Über seinen Schultern hing etwas, das einem Jackett ähnelte; auf seinem spitzen, eckigen glattgeschorenen Kopf ruhten die Überreste eines breitrandigen Hutes; eine graue, mit verschiedenfarbigen Flicken versehene Hose schlotterte um seine Beine. Aus einem aufgelesenen Stiefelschaft hatte er sich mit Hilfe von Schnüren, die er aus seinem Rockfutter gedreht hatte, Sohlen hergestellt; diese Ausrüstung nannte er Sandalen. Er schritt schweigend und staubaufwirbelnd. Hin und wieder erglänzten seine kleinen grünlichen Augen. Der Soldat war mit einem roten Baumwollhemd bekleidet, das er nach seiner Aussage »eigenhändig« in Cherson erworben hatte; über dem Hemd trug er noch eine warme wattierte Weste; auf dem Kopf saß eine Militärmütze von unbestimmter Farbe, die nach Soldatenart am oberen Rand über der rechten Braue eingeknifft war; um seine Beine flatterten weite Fuhrmannshosen. Er war barfuß.

Auch ich war bekleidet und barfuß.

Nach allen Seiten dehnte sich um uns in ihrer riesenhaften Weite die Steppe und lag wie eine ungeheure runde dunkle Schale unter der Kuppel des blauen, glühenden wolkenlosen Himmels. Die graue, staubige Straße durchschnitt sie wie ein breites Band und sengte unsere Füße. Stellenweise stießen wir auf Stoppelfelder, die merkwürdige Ähnlichkeit mit den lange nicht rasierten Wangen des Soldaten hatten.

Der Soldat ging und sang mit heiserem Baß: ». . . und deine heilige Auferstehung preisen und rüh‑ühmen wir . . .«

Während seiner Dienstzeit war er so etwas wie Vorsänger in der Bataillonskirche gewesen und kannte eine große Anzahl von Kirchenliedern, Lobpreisungen und Gesängen, deren Kenntnis er jedesmal mißbrauchte, wenn unsere Unterhaltung aus irgendeinem Grunde versiegte.

Vor uns am Horizont erstanden undeutliche Gebilde mit weichen Umrissen in lieblichen violett bis zartrosa Tönungen.

»Offenbar sind das nun die Berge der Krim«, sagte der Student.

»Berge?« rief der Soldat, »allzufrüh hast du sie erblickt, mein Freund. Das sind Wolken. Und sieh, was für welche . . . wie Moosbeeren mit Milch . . .«

Ich bemerkte, daß es im höchsten Grade angenehm wäre, wenn diese Wolken wirklich aus Moosbeeren bestehen würden.

»Ach, zum Teufel!« schimpfte der Soldat und spie aus. »Wenn uns doch nur eine einzige lebendige Seele in den Weg laufen würde! Aber auch nicht eine . . . Man wird wie die Bären im Winter an den eigenen Tatzen saugen müssen.«

»Ich habe gesagt, wir sollten uns in Richtung besiedelter Gegenden bewegen«, äußerte belehrend der Student.

»Du hast gesagt!« brauste der Soldat auf. »Dazu bist du auch gelehrt, um zu reden. Was gibt es hier schon für besiedelte Gegenden? Weiß der Teufel, wo sie sind!«

Der Student schwieg und kniff die Lippen aufeinander. Die Sonne ging unter, die Wolken am Horizont spielten in den vielfältigsten, mit Worten nicht zu beschreibenden Farben. Es roch nach Erde und Salz.

Von diesem trockenen würzigen Geruch steigerte sich unser Appetit noch mehr.

Der Magen zog sich zusammen. Das war ein eigentümliches und unangenehmes Gefühl: es schien, als ob der Saft aus allen Muskeln des Körpers floß und verdunstete und sie ihre natürliche Geschmeidigkeit verloren hätten. Das Gefühl einer stechenden Trockenheit erfüllte die Mundhöhle und Kehle, der Geist verwirrte sich, vor den Augen flimmerten dunkle Flecken. Manchmal nahmen sie das Aussehen eines dampfenden Fleischstückes oder eines Brotlaibes an; die Erinnerung versah diese Visionen der Vergangenheit, diese stummen Erscheinungen mit den ihnen eigenen Düften, und dann war es, als drehte sich ein Messer im Magen um.

Wir wanderten trotzdem weiter, indem wir einander unsere Empfindungen beschrieben, hielten dabei scharf nach allen Seiten Umschau, ob nicht irgendwo eine Schafherde zu erblicken war, und horchten, ob sich nicht das auffällige Knarren einer Tataren-Arba vernehmen ließ, die Früchte zum armenischen Markt brachte.

Doch die Steppe war lautlos und leer.

Am Vorabend dieses schweren Tages hatten wir zu dritt vier Pfund Roggenbrot und fünf Wassermelonen verzehrt, aber vierzig Werst hatten wir inzwischen zurückgelegt – die Ausgaben deckten sich nicht mit den Einnahmen. Auf dem Marktplatz in Perikop eingeschlafen, erwachten wir vor Hunger.

Mit Recht hatte der Student uns geraten, sich nicht schlafen zu legen, sondern sich im Laufe der Nacht zu betätigen . . . Doch in anständiger Gesellschaft ist es nicht üblich, laut von Projekten zu sprechen, die das Eigentumsrecht verletzen – ich schweige. Ich möchte nur aufrichtig sein, es liegt nicht in meinem Interesse, grob zu werden. Ich weiß, daß die Menschen in unseren hochkultivierten Tagen immer weichlicher werden; auch wenn sie ihren Nächsten mit der sichtbaren Absicht, ihn zu erwürgen, an die Gurgel fassen, bemühen sie sich, es mit der größten Liebenswürdigkeit und unter Berücksichtigung allen im gegebenen Falle angebrachten Anstandes zu tun. Die Erfahrung meiner eigenen Gurgel veranlaßt mich, diesen Fortschritt der Sitten zu vermerken, und mit dem angenehmen Gefühl der Überzeugung bestätige ich, daß sich alles in dieser Welt entwickelt und vervollkommnet.

Im besonderen wird dieser bemerkenswerte Verlauf schwerwiegend durch das jährliche Anwachsen von Gefängnissen, Kneipen und Bordellen bestätigt . . .

So gingen wir in den roten Strahlen der untergehenden Sonne durch die öde, schweigende Steppe, schluckten den Hungerspeichel herunter und bemühten uns, den Schmerz im Magen durch freundschaftliche Gespräche zu unterdrücken. Langsam sank die Sonne vor uns in die weichen Wolken und färbte sich mit ihren reichen Strahlen. Hinter uns und zu beiden Seiten stieg bläulicher Nebel von der Steppe zum Himmel empor und verengte unfreundlich den Horizont.

»Brüder, sammelt was zum Feuermachen«, sagte der Soldat und hob ein kleines Stück Holz vom Weg auf. »Wir werden in der Steppe übernachten müssen – der Tau fällt! Nehmt alles, getrockneten Kuhmist, jede Rute!«

Wir gingen auseinander und begannen, trockenes Steppengras und alles Brennbare aufzusammeln. Jedesmal, wenn wir uns bücken mußten, erwachte im Körper das leidenschaftliche Verlangen, sich hinzuwerfen und die Erde zu essen, diese fette schwarze Erde, viel davon zu essen, bis zum Umfallen und dann – einzuschlafen. Und sei es für immer. Nur essen, kauen und fühlen, wie der warme dicke Brei aus dem Munde langsam durch die ausgetrocknete Speiseröhre in den vor Verlangen, irgend etwas aufzunehmen, brennenden Magen hinabgleitet.

»Wenn wir wenigstens irgendwelche Wurzeln fänden«, seufzte der Soldat. »Es gibt solche eßbaren Wurzeln . . .«

Aber in der aufgepflügten schwarzen Erde gab es so etwas nicht.

Die südliche Nacht brach schnell herein, und der letzte Sonnenstrahl war kaum erloschen, als am dunkelblauen Himmel bereits die Sterne erglänzten und dunkle Schatten sich immer dichter um uns zusammenzogen, die endlose Fläche der Steppe einengend.

»Freunde«, sagte halblaut der Student, »dort links liegt ein Mensch.«

»Ein Mensch?« fragte zweifelnd der Soldat. »Was hat er da zu liegen?«

»Geh, frag ihn. Wahrscheinlich hat er Brot, wenn er sich in der Steppe hingelegt hat.«

Der Soldat blickte in die Richtung, wo der Mensch lag, und spuckte entschlossen aus.

»Gehen wir zu ihm!«

Nur die scharfen grünen Augen des Studenten hatten erkennen können, daß der dunkle Haufen, der etwa hundert Meter links vom Weg entfernt lag, ein Mensch war. Wir schritten schnell über die Ackerklumpen zu ihm und fühlten, wie die entstandene Hoffnung auf etwas Eßbares den Schmerz des Hungers verschärfte. Wir waren schon ganz nah – der Mensch rührte sich nicht.

»Vielleicht ist es gar kein Mensch«, äußerte mürrisch der Soldat und gab damit unseren gemeinsamen Gedanken Ausdruck.

Aber in demselben Augenblick wurde unser Zweifel zerstreut, denn der Haufen auf der Erde bewegte sich plötzlich, wuchs, und wir sahen, daß es wirklich ein lebendiger Mensch war, der kniend die Hand gegen uns ausstreckte und mit dumpfer zitternder Stimme rief: »Stehenbleiben oder ich schieße!«

In der trüben Luft ertönte ein trockenes, kurzes Knacken.

Wir blieben wie auf Kommando stehen und schwiegen sekundenlang, verblüfft von diesem unliebenswürdigen Empfang.

»Seht mal diesen Schurken!« knurrte der Soldat ausdrucksvoll.

»Na ja«, sagte der Student nachdenklich, »hat eine Pistole . . ., wie es scheint, ein rogenreicher Fisch . . .«

»He«, rief der Soldat, der offenbar einen Entschluß gefaßt hatte.

Der Mensch schwieg, ohne seine Haltung zu ändern.

»He, du! Wir werden dich nicht anrühren . . . Gib uns nur Brot – hast du welches? Gib es, Bruder, um Christi willen! . . . Sei verflucht, Satan!«

Die letzten Worte murmelte der Soldat in seinen Bart.

Der Mensch schwieg.

»Hörst du?« sagte der Soldat aufs neue bebend vor Zorn und Verzweiflung. »Gib uns Brot! Wir kommen nicht zu dir heran . . . Wirf es uns zu . . .«

»Gut«, sagte der Mensch kurz.

Er hätte »meine teuren Brüder!« zu uns sagen können, und wenn er seine heiligsten und reinsten Gefühle in diese drei Worte hineingelegt hätte, sie hätten uns nicht so erregt und menschlich berührt wie dieses dumpfe und kurze »gut«!

»Fürchte dich nicht vor uns, guter Mensch«, sagte der Soldat mit weichem Lächeln, obwohl der Mann es nicht sehen konnte, denn er war mindestens zwanzig Schritt von uns entfernt.

»Wir sind friedliche Leute, gehen aus Rußland zum Kuban . . ., haben unterwegs das ganze Geld ausgegeben und alles aufgegessen, sind zwei Tage schon ohne Fressen . . .«

»Fangt auf!« sagte der gute Mensch und holte mit der Hand in der Luft aus. Etwas Schwarzes flog vorbei und fiel nicht weit von uns auf den Acker. Der Student stürzte sich darauf.

»Noch mal! Mehr habe ich nicht . . .«

Als der Student diese originelle Gabe aufgesammelt hatte, erwies sich, daß wir vier Pfund altbackenes Weizenbrot hatten. Es war voller Erde und sehr hart. Altes Brot sättigt besser als frisches; es enthält weniger Feuchtigkeit.

»Da . . ., und da . . ., und da!« verteilte der Soldat mit konzentrierter Aufmerksamkeit die Stücke. »Halt . . . das ist ungleich! Bei dir, Gelehrter, muß ein Stück ab, sonst hat der zu wenig . . .«

Der Student unterwarf sich widerspruchslos dem Beschluß, ein Stück Brot von fünf Solotnik abzugeben, ich erhielt es und steckte es in den Mund.

Ich begann zu kauen, langsam zu kauen und konnte die krampfhafte Bewegung der Kinnladen kaum aufhalten, die bereit waren, Steine zu zerkleinern. Es bereitete mir einen schmerzhaften Genuß, das Zucken der Speiseröhre zu fühlen und sie mit kleinen Bissen langsam zu befriedigen. Bissen für Bissen dieses Warmen, unbeschreiblich Wohlschmeckenden gelangte in den Magen, und es schien, als verwandelte es sich sogleich in Blut und Hirn. Freude – eine eigenartige, stille und belebende Freude erwärmte das Herz in dem Maße, wie der Magen sich füllte. Ganz vertieft in den Genuß der Empfindungen, die ich durchlebte, vergaß ich die verfluchten Tage des chronischen Hungers, vergaß meine Kameraden.

Aber als ich mir die letzten Brotkrümel aus der hohlen Hand in den Mund geschüttet hatte, fühlte ich ein unüberwindliches Verlangen zu essen.

»Dieser Satan hat noch Speck oder irgendwelches Fleisch zurückbehalten«, brummte der Soldat, der mir gegenüber auf der Erde saß und sich mit den Händen den Magen rieb.

»Höchstwahrscheinlich, denn das Brot roch nach Fleisch . . . Ja, und Brot hat er sicher auch noch«, sagte der Student und fügte leise hinzu: »Wenn der Revolver nicht wäre . . .«

»Was mag das für einer sein?«

»Scheinbar einer von unsern Brüdern, ein Isaak . . .«

»Ein Hund«, entschied der Soldat.

Wir saßen dicht aneinandergedrängt und schauten in die Richtung, wo unser Wohltäter mit dem Revolver lag. Kein Ton, kein Lebenszeichen kamen von dort zu uns herüber.

Die Nacht sammelte ihre dunklen Mächte um uns. Totenstille herrschte in der Steppe – wir hörten einer des anderen Atemzüge. Hin und wieder ertönte irgendwo das melancholische Pfeifen der Zieselmaus . . . Sterne, die lebenden Blumen des Himmels, funkelten über uns . . . Wir wollten essen.

Mit Stolz bekenne ich: ich war nicht schlechter und nicht besser als meine zufälligen Gefährten in dieser etwas seltsamen Nacht. Ich schlug ihnen vor, aufzustehen und zu dem Menschen zu gehen. Wir brauchten ihn ja nicht anzurühren, aber wir würden alles aufessen, was wir fanden. Er würde schießen. Mag er! Von dreien trifft er nur einen – falls er trifft. Und wenn ja – eine Revolverkugel kann kaum tödlich sein.

»Gehen wir!« sagte der Soldat und sprang auf.

Der Student erhob sich langsamer als er.

Und wir gingen, liefen fast. Der Student hielt sich hinter uns.

»Kamerad!« rief vorwurfsvoll der Soldat.

Ein dumpfes Murmeln und der scharfe Laut des knackenden Hahnes schlugen uns entgegen. Dann blitzte es auf, und der trockene Klang eines Schusses ertönte.

»Vorbei!« schrie erfreut der Soldat und erreichte den Menschen mit einem Satz. »Nun, du Satan, jetzt werde ich's dir geben . . .«

Der Student stürzte sich auf den Schultersack.

Aber der »Satan« fiel von den Knien auf den Rücken, streckte die Arme von sich und röchelte.

»Was zum Teufel« staunte der Soldat, der bereits den Fuß erhoben hatte, um dem Menschen einen Tritt zu versetzen. »Hat er etwa auf sich selbst geknallt? Du, was ist dir? He! Hast du dich selber erschossen?«

»Fleisch, irgendwelche Fladen, und Brot . . . viel Brot, Brüder!« ertönte die frohlockende Stimme des Studenten.

»Nun, hol dich der Teufel, krepiere . . ., laßt uns essen!« rief der Soldat. Ich nahm den Revolver aus der Hand des Menschen, der bereits aufgehört hatte zu röcheln und jetzt regungslos dalag. In der Trommel befand sich noch eine Patrone.

Wir aßen aufs neue, aßen schweigend. Der Mensch lag und schwieg auch, ohne ein Glied zu rühren. Wir schenkten ihm keine Beachtung.

»War das wirklich, liebe Brüder, um des Brotes willen?« ertönte plötzlich eine heisere und bebende Stimme.

Wir fuhren zusammen. Der Student verschluckte sich sogar, beugte sich zur Erde und begann zu husten.

Der Soldat hatte fertiggekaut und fing an zu schimpfen.

»Du Hundeseele, mögest du zerbersten wie ein trockener Klotz! Ziehen wir dir etwa das Fell ab? Wozu sollten wir es brauchen? Halt deine dumme Schnauze, du unsauberer Geist! Bewaffnest dich und schießt auf Menschen. Du Satan . . .«

Er schimpfte und aß, wodurch seine Schmähungen an Bedeutsamkeit und Kraft verloren.

»Wart nur, wenn wir gegessen haben, rechnen wir mit dir ab«, versprach der Student unheilverkündend.

Dann vernahm man in der Stille der Nacht ein aufheulendes Schluchzen, das uns erschreckte.

»Brüder . . ., konnte ich denn wissen? Ich schoß . . ., weil ich Angst hatte . . . Ach, mein Gott! Das Fieber hat mich erschöpft . . . Sobald die Sonne untergeht . . ., das ist mein Unglück! Wegen des Fiebers bin ich auch von Afon fortgegangen . . . Ich habe dort getischlert . . ., ich bin Tischler . . . Zu Hause habe ich eine Frau . . ., zwei kleine Mädchen . . . drei Jahre, es geht ins vierte, daß ich sie nicht gesehen habe . . . Brüder, eßt alles auf . . .«

»Du brauchst nicht zu bitten, wir werden schon alles aufessen«, sagte der Student.

»Mein Gott, wenn ich gewußt hätte, daß ihr nichts als friedliche, gute Leute seid . . ., hätte ich denn dann geschossen? Aber hier, Brüder, die Steppe, die Nacht . . ., bin ich schuld?«

Er sprach und weinte, richtiger gesagt, er gab ein bebendes ängstliches Geheul von sich.

»Er flennt!« sagte der Soldat verächtlich.

»Er muß Geld bei sich haben«, erklärte der Student.

Der Soldat kniff die Augen zusammen, sah ihn an und lächelte hämisch.

»Worauf du nicht alles kommst . . . Nun, was ist, wollen wir Feuer anmachen und dann schlafen . . .«

»Und er?« erkundigte sich der Student.

»Hol ihn der Teufel! Sollen wir ihn etwa braten?«

»Eigentlich sollte man es«, sagte der Student und schüttelte seinen spitzen Kopf.

Wir gingen das gesammelte Heizmaterial holen, das wir hingeworfen hatten, als uns der Tischler durch seinen Zuruf zum Stehenbleiben veranlaßt hatte, brachten es heran und saßen bald um das Feuer. Es brannte ruhig in der windstillen Nacht und erhellte unsern kleinen Platz. Wir wurden schläfrig, obwohl wir noch einmal zu Abend hätten essen können.

»Brüder!« rief uns der Tischler zu. Er lag drei Schritt von uns entfernt, und dann und wann schien es mir, als ob er etwas flüsterte.

»Ja?« sagte der Soldat.

»Kann ich zu euch . . . ans Feuer? Der Tod ist mir nahe . . ., in den Gliedern reißt es! Gott, ich sehe, daß ich nicht mehr nach Hause komme . . .«

»Kriech her«, erlaubte der Student.

Langsam, als fürchtete er, einen Arm oder ein Bein zu verlieren, schob sich der Tischler auf der Erde an das Feuer heran. Er war ein großer, schrecklich abgemagerter Mann; alles schlotterte irgendwie an ihm, und die trüben, großen Augen spiegelten seinen quälenden Schmerz wider. Sein verzerrtes Gesicht war knochig und selbst im Feuerschein von erdig gelber Totenfarbe. Er zitterte am ganzen Körper und erweckte verächtliches Mitleid. Die mageren langen Hände zum Feuer ausgestreckt, rieb er seine knochigen Finger. Die Gelenke bogen sich matt und langsam. Schließlich wurde es einem zuwider, ihn anzusehen.

»Warum gehst du in solch einem Zustand zu Fuß? Bist wohl geizig?« fragte mürrisch der Soldat.

»Es wurde mir geraten . . . Reise nicht zu Wasser . . ., sagten sie, sondern geh durch die Krim, da ist Luft, sagt man. Aber ich kann nicht gehen . . ., ich sterbe, Brüder! Ich sterbe allein in der Steppe . . . Die Vögel werden mich zerhacken, und niemand wird es erfahren . . . Meine Frau . . ., meine Töchter werden warten . . ., ich habe ihnen geschrieben . . ., aber meine Knochen wird der Steppenregen abwaschen . . . Mein Gott, mein Gott!«

Er heulte auf mit dem wehmütigen Geheul eines verwundeten Wolfes.

»Ach, du Teufel!« sagte der Soldat wütend und sprang auf. »Was flennst du? Was läßt du den Leuten keine Ruhe? Krepierst du? Nun krepiere, aber schweig . . .«

»Laßt uns zum Schlafen hinlegen«, sagte ich. »Und du, wenn du am Feuer bleiben willst, dann heul nicht mehr . . .«

»Hast du gehört?« sagte der Soldat grimmig. »Nun, merk es dir. Glaubst du, wir geben uns mit dir ab, weil du uns Brot zugeworfen und eine Kugel auf uns abgefeuert hast? Du griesgrämiger Teufel! Andere würden – pfui!«

Der Soldat schwieg und streckte sich auf der Erde aus.

Der Student lag bereits. Auch ich legte mich hin. Der eingeschüchterte Tischler zog sich zu einem Klumpen zusammen, rückte an das Feuer und sah schweigend hinein. Ich hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen. Der Student lag links von ihm, er hatte sich zu einem Knäuel zusammengerollt und schien gleich eingeschlafen zu sein. Der Soldat hatte die Hände unter den Kopf gelegt und blickte in den Himmel.

»Welch eine Nacht, was? So viele Sterne . . .« wandte er sich an mich. »Der Himmel ist eine Decke, aber kein Himmel. Ich liebe dieses Landstreicherleben, mein Freund. Es ist voll Kälte und Hunger, aber sehr frei . . . Kein Vorgesetzter ist über dir . . . Und wenn du dir den Kopf abbeißt – niemand wird dir auch nur ein Wort sagen. In diesen Tagen habe ich gehungert, war erbost . . ., aber jetzt liege ich und schaue in den Himmel . . . Die Sterne blinzeln mir zu; das macht nichts, Lakutin, wandere über die Erde und unterwirf dich niemand . . . Und ums Herz wird dir wohl . . . Und du, was ist mir dir? He, Tischler, sei nicht böse auf mich und fürchte nichts! Daß wir dein Brot aufgegessen haben, macht nichts: Du hattest Brot, und wir hatten keins, da haben wir deins aufgegessen . . . Aber du bist ein wilder Mensch, du schießt auf uns . . . Weißt du denn nicht, daß eine Kugel einem Menschen Schaden zufügen kann? Vorhin war ich zornig auf dich, und wenn du nicht umgefallen wärst, hätte ich dich, Bruder, für deine Frechheit durchgeprügelt. Aber was nun das Brot betrifft – morgen kommst du nach Perekop und kaufst dir dort welches – Geld hast du natürlich . . . Hast du das Fieber schon lange?«

Lange noch summten der Baß des Soldaten und die bebende Stimme des kranken Tischlers in meinen Ohren. Die Nacht war dunkel, fast schwarz, senkte sich immer tiefer auf die Erde nieder, und frische würzige Luft füllte die Brust.

Gleichmäßiges Licht und belebende Wärme gingen vom Feuer aus . . . Die Augen fielen zu.

 

»Steh auf! Schnell! Laß uns gehen!«

Erschrocken öffnete ich die Augen und sprang eilig auf, wobei der Soldat mir half, der mich kräftig am Arm packte und von der Erde hochriß.

»Nun schnell, vorwärts!«

Sein Gesicht war finster und erregt. Ich sah mich um. Die Sonne ging auf, und ihr rosa Schein lag bereits auf dem unbeweglichen bläulichen Gesicht des Tischlers. Sein Mund war geöffnet, die Augen, weit aus den Höhlen getreten, blickten gläsern und voll Entsetzen. Seine Kleidung war auf der Brust völlig zerrissen; unnatürlich, wie zerbrochen lag er da. Der Student war fort.

»Nun, hast du dich satt gesehen? Komm, sag ich!« rief der Soldat eindringlich und zog mich an der Hand weiter.

»Ist er gestorben?« fragte ich, von der Morgenfrische schauernd.

»Natürlich. Wenn man dich erwürgt, wirst du auch sterben«, erklärte der Soldat.

»Der Student hat ihn . . .?« rief ich aus.

»Nun, wer denn sonst? Du vielleicht? Oder wohl ich? Da hast du den Gelehrten . . . Geschickt ist er mit dem Menschen fertig geworden . . . und hat seine Gefährten schön hereingelegt. Hätte ich das gewußt, ich hätte den Studenten gestern erschlagen. Mit einem Hieb niedergeschlagen. Krach – mit der Faust in die Schläfe . . ., und ein Schurke wäre weniger auf der Welt! Begreifst du, was er angerichtet hat? Jetzt müssen wir aufpassen, daß kein menschliches Auge uns in der Steppe erblickt. Hast du verstanden? Denn heute werden sie den Tischler finden und sehen, daß er erwürgt und beraubt worden ist. Und unsereins wird beobachtet werden: Woher kommst du, wo hast du übernachtet? Obwohl wir beide nichts haben . . . Aber sein Revolver steckt in meiner Brusttasche! Das ist schon ein Stück!«

»Wirf ihn fort«, riet ich dem Soldaten.

»Fortwerfen«, sagte er nachdenklich. »Das ist ein wertvoller Gegenstand . . . Vielleicht werden wir auch nicht aufgegriffen . . .? Nein, ich werfe ihn nicht fort . . . Wer kann wissen, daß der Tischler eine Waffe hatte? Ich werfe ihn nicht weg . . ., er kostet wohl drei Rubel. Eine Kugel ist drin . . . Ach, hätte ich doch diese Kugel unserem lieben Gefährten ins Ohr gejagt! Wieviel Geld mag dieser Hund geraubt haben – wie? Satan!«

»Und die armen kleinen Mädchen . . .«, sagte ich.

»Mädchen? Welche? Ach, von dem . . . Nun, sie werden aufwachsen, uns werden sie nicht heiraten, von ihnen ist auch nicht die Rede . . . Vorwärts, Bruder, schneller . . . Wohin wollen wir gehen?«

»Ich weiß nicht . . ., einerlei.«

»Ich weiß auch nicht und weiß auch, daß es ganz gleich ist. Gehen wir nach rechts hinüber; dort muß das Meer sein.«

Wir gingen nach rechts.

Ich wandte mich um. Fern von uns in der Steppe erhob sich ein kleiner dunkler Hügel, und über ihm strahlte die Sonne.

»Schaust du, ob er auferstanden ist? Hab keine Angst, um uns einzuholen, steht er nicht mehr auf . . . Der Gelehrte scheint Übung darin zu haben, hat es gründlich besorgt, der Bursche . . . Das ist vielleicht ein Gefährte! Uns hat er gehörig hereingelegt! Ach, Bruder! Die Menschen werden verderbter, von Jahr zu Jahr verderbter!« sagte der Soldat traurig.

Ganz von heller Morgensonne übergossen, breitete sich die schweigende öde Steppe um uns aus, die am Horizont in so hellem freundlichem und freigebigem Licht mit dem Himmel verschmolz, daß jede dunkle und ungerechte Tat in der erhabenen Weite dieser freien, von der blauen Himmelskuppe bedeckten Ebene unmöglich schien.

»Aber essen möchte man, Bruder!« sagte mein Gefährte und drehte sich eine Zigarette.

»Wann werden wir heute essen, und wo, und was?«

Das war ein Rätsel!

 

Hiermit beendete der Erzähler – mein Bettnachbar im Krankenhaus – seine Geschichte und sagte zu mir: »Das ist alles. Ich befreundete mich sehr mit diesem Soldaten, und wir erreichten gemeinsam den Karsker Bezirk. Er war ein guter und erfahrener Bursche, ein typischer Landstreicher. Ich achtete ihn. Bis Kleinasien gingen wir zusammen, und dort verloren wir uns . . .«

»Denken Sie manchmal an den Tischler?« fragte ich.

»Wie Sie sehen, oder wie Sie gehört haben . . .«

»Und – nichts weiter?«

Er fing an zu lachen.

»Was soll ich dabei empfinden? Ich bin nicht schuld daran, was mit ihm geschah, so wie Sie nicht schuld daran sind, was mit mir geschehen ist . . . Und so hat keiner an etwas schuld, denn wir sind einer wie der andre – Vieh.«

 


 << zurück weiter >>