Nikolai Gogol
Petersburger Erzählungen
Nikolai Gogol

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Der Newskij Prospekt

Nichts Schöneres gibt es als den Newskij Prospekt, in Petersburg einmal gewiß nicht – hier bedeutet er ganz einfach alles! Kein Glanz, den diese schönste Straße unserer Residenz entbehren müßte! Ich bin mir sicher, daß nicht einer von den bleichgesichtigen Beamten, die die Stadt bevölkern, den Newskij Prospekt um alle Güter dieser Welt vertauschen möchte. Nicht Leute nur, die fünfundzwanzig Jahre zählen und im Besitze eines flotten Schnurrbartes und fabelhaft geschnittener Kleider sind, begeistern sich so lebhaft für den Newskij Prospekt, nein, auch bejahrte Leute, deren Kinn schon weiße Stoppeln trägt und deren Kopf so blank ist wie ein silbernes Tablett. Und nun die Damen erst! Die Damen sind vom Newskij Prospekt womöglich noch entzückter. Und wer ist nicht entzückt von ihm? Wenn man den Prospekt betritt, spürt man sogleich diesen gewissen Duft von frohem Müßiggang. Und bist du auch in dringenden und wichtigen Geschäften unterwegs, betrittst du ihn, so hast du jegliches Geschäft vergessen. Das ist der einzige Ort der Stadt, den man nicht aufsucht, weil man muß, nach dem uns nicht nur die Notwendigkeit und das Geschäftsinteresse lenken, die doch sonst ganz Petersburg regieren. Und triffst du einen auf dem Newskij Prospekt, dann sieht er nicht so egoistisch aus, wie wenn du ihm zum Beispiel in der Morskaja, der Gorochowaja, Meschtschanskaja oder auf dem Litejnij Prospekt begegnest, kurzum, in einer von den Straßen, wo die nackte Gier und Habsucht und der Kampf ums Dasein aus den Zügen jedes Menschen sprechen, der vorübergeht oder -fährt, sei es im eigenen Wagen, sei es in der Droschke. Und jedermann passiert den Newskij Prospekt, die Hauptverkehrsader der Residenz. Hier dürfen Leute aus dem Wyborger und Petersburger Viertel überzeugt sein, ihren Freunden zu begegnen, die sie seit manchem Jahr nicht mehr gesehen haben, weil sie weit draußen an der Moskauer Chaussee und in der Sandberggegend wohnen. Und kein Adreßbuch und kein Meldeamt kann besser Auskunft geben als der Newskij Prospekt. Allmächtiger Newskij Prospekt! Du einzig richtige Promenade der in dieser Hinsicht armen Residenz! Wie fein gekehrt sind deine Bürgersteige, und, du lieber Gott, wie viele Füße lassen ihre Spur darauf! Hier trappt der abgemusterte Soldat mit plumpen schmutzigen Stiefeln, deren Wucht schier den Granit zersprengt; hier huscht der winzige, hauchleichte Schuh der jungen Maid, die ihren Kopf nach jedem eleganten Ladenfenster wendet, wie sich die Sonnenblume stets zum Lichte dreht; hier klirrt der Säbel des von großen Hoffnungen erfüllten Fähnrichs und ritzt scharfe Kratzer ins Trottoir – hier führt ein jeder seine Kraft spazieren oder seine Schwäche, die deswegen ja nicht weniger Eindruck machen muß. Und wie geschwind und wie phantastisch wechseln hier die Bilder an einem einzigen Tag! Wie groß die Zahl der Wandlungen in kurzen vierundzwanzig Stunden! Beginnen wir mit jener frühen Zeit des Morgens, da Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brote riecht und von betagten Weibern in zerlumpten Kleidern wimmelt, die ihre Plätze vor den Kirchentüren zu erreichen trachten und heftige Attacken auf das Mitleid der Passanten machen. Um diese Stunde ist kein Leben auf dem Newskij Prospekt. Die ehrenfesten Kaufleute und ihre Ladendiener schlafen noch in ihren Nachthemden aus holländischer Leinwand oder seifen sich die schönen, glatten Backen ab oder sitzen auch beim ersten Frühstück. Hungrige Bettler lungern vor den Kaffeehäusern; ein sehr verschlafener Ganymed, der gestern abend, flink wie eine Fliege, mit den Schokoladentassen das Lokal durchflitzte, erscheint, den Besen in der Hand und ohne Schlips, und steckt den armen Teufeln altbackene Pasteten und kümmerliche Kuchenreste zu. Werktätiges Volk eilt durch die Straßen, und zuweilen kreuzt den Prospekt ein Zug von Arbeitern in hohen Stiefeln, so bespritzt mit Kalk, daß selbst der Katherinenkanal, der für sein reines Wasser doch bekannt ist, kaum genügen würde, sie zu säubern. Um diese Zeit ist es für Damen wenig ratsam, auszugehen, denn unser Volk bedient sich gern so derber Redensarten, wie sie die Damen höchstwahrscheinlich nicht einmal in unsern Schauspielhäusern von der Bühne hören. Zuweilen trottet ein verschlafener Beamter, der auf dem Weg in die Kanzlei den Prospekt passieren muß, mit seiner Mappe unterm Arm vorüber. Man kann entschieden sagen, daß um die Zeit, das heißt vor zwölf Uhr mittags, der Prospekt für jeden nur ein Mittel und für niemand einen Zweck bedeutet – er füllt sich immer mehr mit Menschen an, von denen aber keiner etwas anderes als seine Arbeit, seine Sorgen und Enttäuschungen im Kopfe hat, von denen keiner an die Straße denkt, durch die er geht. Der Arbeiter spricht bloß von einem Silberzehner oder sieben Groschen Kupfer, die alten Männer und die alten Weiber fuchteln mit den Händen und reden laut mit ihrem Bruder Innerlich, wobei sie sich sehr lebhaft zu gebärden pflegen; doch niemand hört darauf, und niemand lacht darüber als allenfalls die buntbejackten kleinen Jungen, die, leere Milchkannen und frisch besohlte Stiefel in den Händen, schnell den Prospekt hinunterrennen. Um diese Zeit kannst du dich kleiden, wie du magst, du kannst – stell dir das vor – statt eines Hutes eine Mütze auf dem Kopfe tragen, der Kragen kann dir viel zu weit aus der Krawatte schlüpfen, kein Mensch wird es auch nur bemerken.

Um zwölf Uhr okkupiert den Newskij Prospekt die Schar der Hofmeister aus allen Ländern mit ihren Zöglingen, die zierliche batistne Kragen tragen. Die Jones aus England und die Cocq aus Frankreich wandeln Arm in Arm mit ihren Schutzbefohlenen dahin und machen ihnen, pflichtbewußt und gründlich, wie sie sind, geziemend klar, daß Ladenschilder an den Häusern dazu dienen, kundzumachen, was für Waren in dem betreffenden Geschäft zu haben sind. Die Gouvernanten, bleiche Misses und rotbackige Slawinnen, lustwandeln gravitätisch hinter ihren leichtfüßigen, zappeligen kleinen Schülerinnen und rufen ihnen zu, sie möchten ihre linke Schulter etwas höher nehmen und sich freundlichst gerade halten. Kurz, zu dieser Zeit ist unser Newskij Prospekt der reinste Pädagogen Prospekt. Wenn aber dann die zweite Stunde naht, verringert sich die Zahl der Gouvernanten, Hofmeister und Kinder, das junge Volk wird mählich ganz verdrängt von seinen zärtlichen Erzeugern, die da Arm in Arm mit ihren in den mannigfachsten Farben schillernden, nervösen Gattinnen einherstolzieren. Später gesellen sich zu ihnen all die Leute, die daheim noch irgendwelche äußerst wichtigen Pflichten zu erfüllen hatten, als da sind: mit ihrem Arzt vom Wetter und dem kleinen Pickel sprechen, der ihnen an der Nase aufgesprungen ist, sich nach dem Wohlsein ihrer Pferde sowie ihrer selbstverständlich hochbegabten Sprößlinge erkundigen, den heutigen Theaterzettel lesen und in der Zeitung nach den angekommenen und abgereisten Fremden sehen, Tee oder Kaffee trinken und so weiter. Des weiteren erscheinen um die Zeit die Staatsbeamten, die unter allen wohl das beste Los gezogen haben; ich meine: die Beamten zu besonderer Verwendung. Ferner erblickt man hier Beamte aus dem Außenministerium, die sich bekanntlich der feudalsten Umgangsformen rühmen dürfen. Gott, was es für schöne Ämter und Posten gibt! Wie muß solch eine Tätigkeit den Geist erheben und ergötzen! Aber, o weh, ich stehe leider nicht im Staatsdienst und bin darum des großen Glücks beraubt, die schmelzende Behandlung hoher Vorgesetzten zu genießen. Und alles, was uns jetzt auf dem Prospekt begegnet, ist überströmt von Vornehmheit: Herren in langen Überröcken, mit den Händen in den Taschen, Damen in rosa, weißen und blaßblauen Atlasmänteln und mit schicken Hüten. Wir sehen einzigartige Favoris, die mit erstaunlicher, nie dagewesener Kunst hinter die Halsbinde gesteckt sind, samtweiche, atlasblanke Favoris, so schwarz wie Breitschwanz oder Kohle, letzteres freilich leider nur bei Herren aus dem Außenministerium. Beamten anderer Behörden hat Gottes Wille schwarze Favoris versagt; sie müssen sich, so schwer es ihnen fällt, mit rötlichen behelfen. Wir sehen hier Schnurrbärte von der wunderbarsten Art, die keine Feder schildert und kein Pinsel malt; Schnurrbärte, denen sicherlich die bessere Hälfte des Lebens ihrer Inhaber gehört und die sich Tag und Nacht der treuesten Pflege zu erfreuen haben; Schnurrbärte, die mit den wohlriechendsten Essenzen übergossen, die mit den feinsten, seltensten Pomaden eingefettet und zur Nacht in allerkostbarstes Velinpapier gewickelt werden; Schnurrbärte, denen ihre Besitzer die rührendste Anhänglichkeit bezeigen und die den Neid jedes Begegnenden erwecken müssen. Hier, auf dem Newskij Prospekt, wird unser Blick geblendet durch Zehntausende von Hüten, Damenkleidern, leichten, bunten Schals, denen gar oft zwei volle Tage lang die Neigung ihrer Trägerinnen treu bleibt. Ist es doch, als löse sich auf einmal eine ganze Flut leuchtender Schmetterlinge von der Erde und gaukle, einer bunten Wolke gleich, über dem schwarzen Käfervolk der Männer durch die Luft. Hier sehen wir so schlanke Taillen, wie wir sie in unsere kühnsten Träumen nie gesehen haben, Taillen, nicht viel dicker als ein Flaschenhals, so fein und zart, daß wir bei der Begegnung achtungsvoll beiseite weichen, aus lauter Angst davor, sie etwa mit dem Ellenbogen unsanft zu berühren; ja, unser Herz erbebt und zittert in der Furcht, wir könnten schon durch einen unbesonnenen Atemzug solch wunderherrliches Erzeugnis der Natur und Kunst zerbrechen. Und was für Damenärmel erst uns auf dem Newskij Prospekt begegnen! Diese Pracht! Sie gleichen fast zwei Luftballons, als müßte sich so eine Dame ganz von selber in die Luft erheben, wenn sie von ihrem Mann nicht festgehalten würde. Ist es denn nicht genauso leicht und lieblich, eine Dame aufzuheben, wie einen Becher voll Champagner an den Mund zu führen? Und nirgends in der Welt verneigen sich die Leute beim Zusammentreffen mit so ungezwungener Eleganz wie auf dem Newskij Prospekt. Hier finden wir ein einzigartiges Lächeln – ach, ein Lächeln, das jedes Kunstwerk übertrifft. Bald ist es so, daß du den Kopf betroffen hängen läßt und dich viel kleiner dünkst als der geringste Grashalm, und bald so, daß du dir höher vorkommst als der Turm des Admiralitätsgebäudes und du über ihn hinaus bis in die Wolken ragst. Hier triffst du Leute, die mit seltener Vornehmheit und edlem Selbstgefühl vom Wetter oder von Konzerten reden. Hier triffst du Charaktere und Erscheinungen in überwältigender Fülle. Allmächtiger! Welch sonderbare Charaktere begegnen dir auf dem Prospekt! Es gibt da eine Menge Leute, die dir bei der Begegnung sicher auf die Stiefel schauen und, kaum daß sie an dir vorüber sind, sich umdrehn und die Schöße deines Fracks besichtigen. Ich habe bis zum heutigen Tag noch nicht herausgebracht, was sie damit bezwecken mögen. Im Anfang wollte ich sie schon für Schuster halten, aber davon ist gar keine Rede: sie sind zum größten Teil Beamte der verschiedensten Kanzleien, die es für gewöhnlich meisterhaft verstehen, Berichte einer Staatsbehörde an die andere abzufassen; zum andern Teil sind es auch Herren, welche ihre Zeit vorwiegend dem Flanieren und dem Zeitungslesen in den Kaffeehäusern widmen – kurz, es sind lauter feine, ehrenwerte Leute. Um diese wunderbare Stunde zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, wo man den Newskij Prospekt schlechtweg »die Hauptstadt in Bewegung« nennen kann, ist hier die große Ausstellung des Allerschönsten, was Menschengeist erschaffen hat. Der eine zeigt seinen stutzerhaften Mantel mit dem feinsten Biberkragen, der zweite seine edle Griechennase, der dritte hat ganz fabelhafte Favoris, die vierte ein paar hübsche Augen sowie einen wunderbaren Hut, der fünfte einen Ring mit einem Talisman am wohlgepflegten kleinen Finger, die sechste einen winzigen Fuß in einem staunenswerten Schuh, der siebente eine bezaubernde Krawatte, der achte einen Schnurrbart, der Bewunderung erweckt. Da aber schlägt es drei, und das heißt: Schluß der Ausstellung; die Menge lichtet sich . . . Um drei Uhr gibt es wiederum ein neues Bild. Auf einmal wird es Frühling auf dem Newskij Prospekt – er wird ganz grün vor lauter Uniformfräcken: denn die Bürozeit der Beamten ist zu Ende. Die Titularräte, die Hofräte, und was es sonst für Räte gibt, treibt ein gewaltiger Hunger, ihre Schritte zu beschleunigen. Doch was Kollegienregistrator und Regierungs- oder Kollegiensekretär heißt, eilt, soweit es jung ist, noch die Zeit zu nützen, und promeniert auf dem Prospekt mit einer Air, als hätte es beileibe nicht sechs Stunden lang auf der Kanzlei geschuftet. Die älteren Kollegiensekretäre, die Titular- und Hofräte hingegen gehen schnell und mit gesenktem Kopf dahin, es reizt sie nicht, die Leute auf der Straße zu betrachten; sie stecken halbwegs noch in ihrer Tätigkeit. Ihr Hirn ist voller Wirrwarr und beherbergt ein Archiv von angefangener und nicht abgeschlossener Arbeit; sie sehen eine ganze Weile noch statt der Schaufenster und Ladenschilder nichts als Aktenbündel und das rundliche Gesicht des Herrn Kanzleidirektors vor sich schweben.

Von vier Uhr an verödet der Prospekt aufs neue, und schwerlich läßt sich dort noch ein Beamter blicken. Nur hier und da huscht ein Laufmädchen mit dem Korb am Arm aus einem Laden, oder es kommt, in einen schlechten Friesmantel gehüllt, das unglückliche Opfer irgendeines Amtsvorstands daher oder ein zugereister Sonderling, der nicht nach Zeit und Stunde fragt; vielleicht auch eine lange, dürre Miß aus England, den Arbeitsbeutel und ein Buch in ihren Händen; zuweilen auch ein Tagelöhner mit dünnem Bart, ein echter Russe in halbtuchenem Rocke, dessen Taille hoch oben an den Schulterblättern sitzt, ein Mensch, der nie recht weiß, wovon er morgen leben wird, und an dem einfach alles schlottert, der Rücken und die Arme und die Beine und der Kopf, wenn er so dürftig und bescheiden seine Straße zieht; und höchstens etwa noch ein kleiner Handwerksmann – sonst triffst du um diese Stunde niemand auf dem Prospekt.

Doch senkt sich dann die Dämmerung auf die Häuser und die Straßen und steigt der Nachtwächter, in seine Bastmatte gewickelt, auf die Leiter und zündet die Laternen an, und lugen aus den niedern Ladenfenstern keck die Kupferstiche, die sich bei Tage nicht zu zeigen wagten, dann wird der Newskij Prospekt belebt und wimmelt wieder von Passanten. Dann naht geheimnisreich die Stunde, da das Lampenlicht jedwedem Ding etwas Verführerisches, Wunderbares leiht. Und uns begegnen in der Mehrzahl junge Männer, meistens Junggesellen, in wattierten Paletots und dicken Mänteln. Es ist, als strebe um diese Stunde jeder nur nach einem Ziel oder nach etwas Ähnlichem wie einem Ziel – es liegt ein Hauch verwegenen Leichtsinns in der Luft. Die Schritte all der Leute wechseln zwischen Hast und Stocken; die Schatten gleiten langgezogen an den Mauern hin und übers Pflaster und streifen mit den Köpfen fast die Polizeibrücke. Die jüngeren Kollegienregistratoren, Regierungs- und Kollegiensekretäre flanieren ohne Ende auf und ab, indes die älteren Kollegiensekretäre, die Titular- und Hofräte daheim in ihren Stuben sitzen, entweder weil sie Ehekrüppel sind oder weil ihre deutsche Köchin, die mit ihnen haust, so ausgezeichnet kocht. Hier trifft man auch die alten würdigen Herren wieder, die man des Nachmittags um zwei Uhr so gewichtig und mit so staunenswerter Vornehmheit auf dem Prospekt lustwandeln sah. Jetzt rennen sie genauso wie die jungen Sekretäre, um irgendeiner »Dame« ins Gesicht zu sehen, die ihnen schon von weitem aufgefallen ist. Die dick mit roter Schminke übertünchten vollen Wangen und geschwellten Lippen dieser Damen sind die Wonne all der Bummler, ganz besonders aber der Kommis, der Handwerker und Handelsleute, die in deutschen Röcken rudelweise und für gewöhnlich Arm in Arm daherspazieren.

»Halt!« rief um diese Zeit der Leutnant Pirogow und zog den jungen Mann in Frack und Mantel, welcher mit ihm ging, erregt am Ärmel. »Hast du das Weib gesehen?«

»Natürlich; wundervoll; schön wie die Bianca Peruginos.«

»Ja, welche meinst du denn?«

»Wen sonst als sie? Die mit dem dunkeln Haar . . . Und diese Augen! Himmel, was für Augen! Und die Haltung, diese Linie, die Gesichtsform, wundervoll!«

»Ach was, ich sprech doch von der Blonden, da hinter ihr, die eben auf die andere Seite ging. Und warum steigst du der Brünetten denn nicht nach, wenn sie dir so gefällt?«

»Was glaubst du denn!« erwiderte der junge Mann im Frack und wurde rot. »Als ob sie so ein Frauenzimmer wäre, wie sie am Abend auf dem Prospekt flanieren! Das ist doch eine feine Dame«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »allein der Mantel kostet gut und gerne achtzig Rubel.«

»Du Unschuldslamm!« schrie Pirogow und stieß ihn mit Gewalt nach jener Richtung, wo des schönen Mädchens bunter Mantel wehte. »Marsch, vorwärts, dummer Kerl, sonst hast du sie verpaßt. Und ich, ich steig der Blonden nach.«

Die Freunde trennten sich.

›Euch Weiber kennen wir!‹ so dachte selbstzufrieden und mit sieghaft sicherem Lächeln Pirogow, fest überzeugt, daß es nicht eine Schöne gebe, die ihm widerstehen könnte.

Der junge Mann im Frack ging zaghaften und unentschlossenen Schrittes auf das andere Trottoir, wo weit vor ihm der bunte Mantel wehte. Wenn sich die Schöne auf den Lichtkreis einer der Laternen zu bewegte, gewann der Mantel immer grelleren Glanz, um dann, wenn sie sich wieder von dem Licht entfernte, für eine Weile ganz in Dunkelheit zu sinken. Ihm schlug das Herz, und unwillkürlich schritt er schneller aus. Er wagte es sich gar nicht vorzustellen, daß ihn die Schöne, die da eilig vor ihm herschritt, überhaupt beachten könnte, geschweige denn, daß er dem häßlichen Gedanken Raum gab, der ihm von seinem Freund, dem Leutnant, eingeblasen war. Er wollte nur ihr Haus erkunden, wollte wissen, wo das wundervolle Wesen wohne, das scheinbar geradewegs vom Himmel auf den Newskij Prospekt herabgeflogen war und sicher wieder in ein unbekanntes Land entfliegen würde. Er lief mit solcher Hast, daß er in einem fort gesetzte Herren mit ergrauten Favoris vom Bürgersteig hinunterstieß. Der junge Mann gehörte einer Menschenklasse an, die sich bei uns zulande etwas seltsam ausnimmt und die von unsern Petersburger Bürgern so gewaltig absticht wie eine Traumgestalt, die uns im Schlaf erscheint, von unserer Tageswelt der harten Wirklichkeiten. Und sein Beruf war eine Seltenheit in dieser Stadt, wo jeder Mensch entweder Staatsbeamter oder Kaufmann oder deutscher Handwerksmeister ist. Denn er war Künstler. Ist das nicht ein sonderbares Ding, ein Petersburger Künstler? Ein Künstler in dem Land des Schneegestöbers, ein Künstler in dem Land der Finnen, wo alles feucht und flach und eben, alles blaß und grau und neblig ist! Nein, unsere Künstler haben wenig Ähnlichkeit mit denen in Italien, die stolz und feurig sind, so wie Italien und sein Himmel selbst. Im Gegenteil, es sind meist brave, sanfte, schüchterne und sorglose Gesellen, sie lieben ihre Kunst voll stiller Wärme, sie trinken Tee in ihrer kleinen Bude mit den wenigen Freunden, die sie haben, sie unterhalten sich bescheiden über ihren Lieblingsgegenstand und denken nicht einmal an Überfluß. So einer holt sich Tag für Tag ein altes Bettelweib ins Haus und zwingt es, sechs geschlagne Stunden still zu sitzen, während er das bekümmert stumpfsinnige Gesicht der Alten auf die Leinwand zaubert Oder er malt ein Interieur: sein eigenes Zimmer, in dem lauter künstlerischer Rumpelkram herumliegt, gipsene Gliedmaßen, die kaffeebraun vor Staub und Alter sind, zerbrochene Staffeleien, eine aufs Gesicht gefallene Palette, einen Freund, der die Gitarre zupft, mit Ölfarbe bekleckste Wände und durchs offne Fenster sieht man fern die blasse Newa und wohl ein paar arme Fischer in grellroten Hemden. Die Bilder dieser Künstler zeigen meist ein graues, trübes Kolorit, des Nordens unverwischbares Gepräge. Trotzdem sind sie mit lebhaftem Genuß und Eifer bei der Arbeit. Oft haben sie ein ehrliches Talent. Und wenn einmal die frische Luft Italiens sie umwehte, so würden ihre Gaben sich wahrscheinlich kühn und breit und hell entfalten, einer Stubenpflanze gleich, die man ins Freie trägt. Sie sind gewöhnlich äußerst schüchtern von Natur: ein Stern und ein geflochtenes Schulterstück verwirren sie so sehr, daß sie den Preis für ihre Bilder gleich heruntersetzen. Sie haben manchmal eine Schwäche für das Elegante, doch ihre Eleganz wirkt unvermittelt und ein bißchen künstlich aufgepfropft. So tragen sie etwa zu einem feinen Frack einen zerrissenen Mantel oder zu einer teuern Samtweste einen mit Ölfarbe befleckten Rock, genauso, wie man wohl auf einer angefangenen Landschaft, die sie malen, kopfunter eine Nymphe prangen sieht: sie haben eben keine andre Leinwand da und überpinseln darum flott ein Werk von früher, das sie einst mit gleicher Hingabe geschaffen hatten. Ein solcher Künstler sieht dir nie gerade ins Gesicht, und sieht er dich auch an, so tut er's matt und unbestimmt; nein, das ist nicht der Habichtsblick des Seelenforschers und nicht der Falkenblick des Reiteroffiziers. Das kommt daher, weil solch ein Malersmann zugleich mit deinen Zügen die Züge eines gipsgegossenen Herkules in seinem Atelier vor Augen hat, oder er sieht ein Bild von sich, das er in Zukunft malen will. Deswegen gibt er oft verdrehte Antworten und redet ganz zerstreut daher; merkt er dann selbst, wie ihm in seinem Kopfe die Dinge durcheinanderlaufen, so wird er noch verlegener. Ein solcher Künstler war auch der von uns beschriebene junge Mann, der Maler Piskarjow, ein schüchterner, verlegener Mensch, dem aber doch im Herzen Funken eines ehrlichen Gefühles glommen, bereit, im rechten Augenblick zur Flamme aufzuschlagen. Heimlich vor Angst erzitternd, eilte er dem Mädchen nach, das ihn mit solcher Allgewalt bezaubert hatte, und staunte selber über seine Dreistigkeit. Die Fremde, die all seine Sinne, sein Gefühl, sein Denken an sich bannte, wendete auf einmal ihren Kopf und sah ihn an. O Himmel, diese götterschönen Züge! Die blendendweiße, edle Stirn war eingerahmt von prächtigem Haar, so schwarz wie Ebenholz. Es wellte sich in wundervollen Locken; ein paar von ihnen stahlen sich unter ihrem Hut hervor und gaukelten auf ihre Wangen nieder, die von der Abendkälte fein und frisch gerötet waren. Ihr fest geschlossener Mund schien ihm umspielt von einem Schwarme holder Phantasien. Erinnerungen an die schöne Kinderzeit, an froh entrückte Träumereien bei dem stillen Licht der Lampe – das alles einte sich zu lichter Harmonie und leuchtete von diesem reinen Mund. Sie sah sich nach dem Maler um, und unter diesem Blick erzitterte sein Herz; sie blickte unwillig; der Zorn darüber, daß er ihr so frech zu folgen wagte, sprach aus ihren Zügen; doch in dem schönen Antlitz war sogar der Zorn bezaubernd. Von Scham und Schüchternheit gezwungen, hemmte unser Maler seinen Schritt und senkte seine Lider. Doch konnte er die Göttin aus den Augen lassen, ohne jene heilige Stätte zu erkunden, an der sie ihren irdischen Wohnsitz aufgeschlagen hatte? Solche Gedanken gingen unserm jungen Träumer durch den Kopf, und er beschloß, die Schöne weiterzuverfolgen. Damit sie dieses aber nicht bemerke, blieb er in größerer Entfernung hinter ihr zurück und schaute scheinbar harmlos interessiert nach rechts und links und las die Inschriften der Ladenschilder, wobei er freilich keinen Schritt der Fremden unbeachtet ließ. Und mählich wurden die Passanten spärlicher, die Straßen stiller. Die Schöne wendete den Kopf. Es wollte Piskarjow bedünken, als kräusele ein leises Lächeln ihren Mund. Ein Zittern packte ihn, er traute seinen eigenen Augen nicht. Nein, nein, es war nur die Laterne, deren trügerisches Licht ihm dieses Lächeln ihres holden Mundes vorgespiegelt hatte; seine eigenen Träume narrten ihn. Aber der Atem stockte ihm im Hals, ein sonderbares Beben faßte ihn, seine Gefühle brannten lichterloh, und er sah alles wie durch einen Nebel. Das Trottoir glitt unter ihm dahin, die Wagen mit den schnellen Trabern schienen stillzustehn, die Brücke dehnte sich ins grenzenlose, und ihre Joche barsten auseinander, ein Haus stand auf dem Kopf, das Dach nach unten, ein Wächterhäuschen sauste ihm entgegen, die Hellebarde eines Polizisten und die goldnen Buchstaben auf einem Ladenschild, nebst einer Schere, die daraufgemalt war, blitzten dicht vor seinen Wimpern. Und alles das hatte nur ein Blick bewirkt, die flüchtige Wendung eines hübschen Köpfchens. Er hörte, sah und spürte nichts, er folgte nur der leichten Spur der schönen kleinen Füße und mühte sich, das Tempo seiner eigenen Schritte zu verringern, die nach dem Taktschlag seines Herzens immer schneller wurden. Zuweilen faßte ihn ein Zweifel, ob sie ihn in Wirklichkeit so freundlich angesehen hätte; dann blieb er einen Augenblick betroffen stehen. Jedoch das Klopfen seines Herzens und die übermächtige Gewalt seiner entfesselten Gefühle beflügelten von neuem seinen Schritt. Und eh er sich's versah, erhob sich plötzlich vor seinem Blick ein hohes Haus mit vier erhellten Fensterreihen, er rannte an das eiserne Geländer vor der Haustür. Die Schöne lief die Treppe hinauf, sie sah sich um, sie legte einen Finger auf den Mund und winkte ihm, daß er ihr folgen möge. Ihm zitterten die Knie; seine Gedanken und Gefühle brannten; gleich einem Blitze schlug die Freude unerträglich scharf in seine Seele. Nein, das war kein Traum mehr! Lieber Gott, so viel an Glück in einer flüchtigen Sekunde! Ein wunderreiches Leben, eingepreßt in zwei vergängliche Minuten!

Doch war das nicht trotzdem ein Traum? Er hätte doch um einen Himmelsblick der schönen Göttin freudig alle Jahre seines Lebens hingegeben; sich ihrer Wohnung nur zu nähern, deuchte ihn das höchste Glück. War es denn möglich, daß sie ihm so freundliche Beachtung schenkte? Er sprang die Treppe voller Hast hinauf. Er hegte keinen irdischen Gedanken, und nicht die Flamme niederer Leidenschaft durchglühte ihn – nein, er war rein und makellos in diesem Augenblick, ein keuscher Jüngling, ganz erfüllt vom dunkeln Drange wunschentbundner Seelenliebe. Und was in einem schon verdorbenen Menschen freche Hoffnungen entfesselt hätte, erfüllte seinen Sinn noch mehr mit Andacht. Das Vertrauen, das ihm dieses schwache schöne Menschenkind erwies, zwang ihm das heilige Gelübde strenger ritterlicher Selbstzucht ab, das heilige Gelübde, alles, was sie nur von ihm verlangen mochte, sklavisch zu erfüllen. Oh, wären ihre Forderungen nur recht schwer und beinah über Menschenkraft, er wollte sich nur um so mächtiger zusammenraffen, um jedes Hindernis zu überwinden. Es war, daran ließ sich nicht zweifeln, ein geheimes und sehr wichtiges Ereignis, das die Fremde ihm vertrauen wollte; es müßten große, schwere Dienste sein, die sie von ihm verlangen würde – nun gut, er spürte wohl den Willen und die Kraft, alles für sie zu tun.

Die Treppe lief in Krümmungen empor, und seine hastigen Gedanken folgten jeder Wendung, die die Schöne machte. »Pst, leise, leise!« tönte eine Stimme, süß wie Harfenklang, und ließ ihn wiederum in allen Fibern beben. Ganz oben in der Dunkelheit des vierten Stockwerks klopfte die Fremde an; die Tür ging auf, und beide traten ein. Ein ziemlich hübsches Frauenzimmer empfing sie mit der Kerze in der Hand, doch sah sie Piskarjow so frech zweideutig an, daß er die Augen unwillkürlich niederschlug. Sie traten in ein Zimmer, wo drei weibliche Gestalten saßen, jede ganz für sich in einer Ecke. Von den dreien legte eine Karten, um die Zukunft zu befragen; die zweite saß vor dem Klavier und spielte mit zwei Fingern auf höchst primitive Weise eine abgedroschene Polonäse, und die dritte saß vor einem Spiegel, kämmte ihr langes Haar und ließ sich durch den Eintritt eines fremden Herrn darin nicht stören. Häßliche Unordnung, wie man sie sonst wohl höchstens auf der Bude eines liederlichen Junggesellen findet, herrschte überall. Die übrigens recht eleganten Möbel lagen voller Staub, und Spinngewebe überzogen den stuckierten Deckensims; durch die halboffne Tür des Nebenzimmers leuchteten der Sporn am Absatz eines hohen Stiefels und der rote Aufschlag einer Uniform; eine brutale Männerstimme und das ordinäre Lachen eines Weibes klangen ungeniert herüber.

Großer Gott, wo war er hier! Er wollte es im Anfang gar nicht glauben und schaute all die Dinge, die sich in dem Raum befanden, näher an. Aber die nackten Wände und die vorhanglosen Fenster gaben keine Kunde von dem Walten einer ordentlichen Hausfrau. Verlebt und müde waren die Gesichter dieser traurigen Geschöpfe, und eines von den Frauenzimmern saß direkt vor seiner Nase und sah ihn mit demselben ruhigen Stumpfsinn an, mit dem man einen Fleck auf einem fremden Kleid betrachtet. Dies alles sagte ihm, daß er in eins der widerwärtigen Asyle geraten war, worin das traurige, aus eitler Talmibildung und der Übervölkerung der Residenz geborene Laster seine Heimstatt aufgeschlagen hat – eins der Asyle, wo der Mensch in seinem Wahn alles, was rein und heilig dieses Leben schmückt, mit tempelschänderischer Faust erwürgt und roh verlacht und wo das Weib, der Schöpfung Zier und Krone, sich in ein sonderbar zweideutiges Geschöpf verwandelt, wo es zugleich mit seiner Herzensreinheit seine Weiblichkeit verliert und sich die schlechten Sitten und die Frechheit des männlichen Geschlechts zu eigen macht und aufhört, jenes schwache, reizende und über uns so weit erhabene Geschöpf zu sein. Der Maler musterte die Schöne von den Füßen bis zum Kopf, ungläubig, als ob er sich erst noch überzeugen müßte, daß sie in der Tat dieselbe war, die ihn auf dem Prospekt bezaubert und gezwungen hatte, ihr zu folgen. Doch sie stand vor ihm, schön wie je; ihr Haar war immer noch entzückend, und die Augen deuchten ihn noch immer himmlisch. Sie war so jung; sie zählte schwerlich mehr als siebzehn Jahre. Er sah, sie konnte sich dem Laster erst seit kurzer Zeit ergeben haben; er hätte es auch jetzt noch nicht gewagt, nur ihre Wangen zu berühren, sie waren frisch und sanft von feiner Röte überhaucht; ja, sie war schön.

Reglos stand er vor ihr und war bereit, in aller Unschuld fortzuträumen, wie bisher. Die Schöne aber schien das ewige Schweigen langweilig zu finden; sie lächelte bedeutungsvoll und sah ihm fest und offen in die Augen. Doch ihr Lächeln hatte etwas häßlich Freches, es wirkte wunderlich bei ihr und paßte zu dem reizenden Gesicht so schlecht, wie frommer Augenaufschlag zu der Fratze eines Halsabschneiders und wie ein Kontobuch zu einem Dichter paßt. Ein Zittern faßte Piskarjow. Sie tat den schönen Mund auf und begann zu sprechen, doch was sie sagte, klang gemein und dumm. Es war, als ob der Mensch mit seiner Lauterkeit auch den Verstand verlöre! Er wollte lieber nichts mehr hören. Er war verwirrt und hilflos wie ein Kind. Statt ihr Entgegenkommen auszunützen, statt sich an diesem Glücksfall zu erfreuen, wie es wohl jeder andere gehalten hätte, lief er Hals über Kopf davon gleich einer wilden Steppenziege und rannte aus dem Haus.

Trübselig ließ er Kopf und Hände hangen, als er daheim in seiner Stube saß. So muß sich wohl ein armer Teufel fühlen, der eine wundervolle Perle aus dem Meer gefischt hat und sie dann gleich wieder in das Wasser fallen läßt. »So schön; das göttliche Gesicht! Und da, an diesem Orte . . .!« Das war alles, was er sagen konnte.

Und es ist wahr: nie faßt uns stärkeres Bedauern, wie wenn der Fäulnishauch des Lasters eine schöne Frau umgibt. Ja, wenn ein Scheusal sich dem Laster hingibt . . . Eine Schönheit aber, eine zarte Schönheit, die können wir in unseren Gedanken nur mit Lauterkeit und Keuschheit in Verbindung bringen. Die Schöne, die den armen Piskarjow so ganz verzaubert hatte, war in der Tat ein wundervolles, ungewöhnliches Geschöpf. Und daß sie in den trüben Bodensatz der menschlichen Gesellschaft hatte sinken können, schien noch viel ungewöhnlicher. All ihre Züge waren von so reiner Bildung, der Ausdruck ihres lieblichen Gesichts war von so hohem Adel . . . Man konnte es sich überhaupt nicht denken, daß schon das Laster seine grimmen Klauen in das holde Kind geschlagen hätte. Sie wäre einem liebenden Gemahl der köstlichste Besitz, sein Paradies und seine Welt, sein ganzer Reichtum und sein Glück gewesen, ein schöner, stiller Stern im traulichen Familienkreise, fern der Welt, und hätte mit der leisesten Bewegung ihrer schönen Lippen ihr kleines Reich so süß und sanft regiert. Sie wäre die geborene Göttin für einen menschenvollen Saal gewesen, auf spiegelndem Parkett, beim Glanz der Kerzen, umhuldigt von der stummen Andacht der Verehrer, die sie sich scharenweis zu Füßen zwingen müßte. Doch wehe über sie: der finstere Wille eines Höllengeistes, erfüllt vom Durst, die Harmonie der Welt zu schänden, der Böse hatte sie mit grimmem Hohn gepackt und in den fürchterlichen Pfuhl gestürzt.

Erfüllt von tiefem Mitleid, das sein Herz zerriß, saß Piskarjow bei der herabgebrannten Kerze. Die Mitternacht war schon vorbei, es schlug halb eins vom Glockenturm, doch er saß ohne Regung da und ohne Schlaf, in tatenloser Mattigkeit. Schon wollte ihn der Schlummer, seine Unbeweglichkeit benützend, verstohlen anschleichend in seine starken Arme nehmen, schon fing das Zimmer zu verschwinden an, nur noch das Licht der Kerze sandte seinen Schein bis in die Träume, denen er verfiel – da klopfte es auf einmal an die Tür. Er fuhr zusammen und erwachte. Zur Tür herein trat ein Lakai in prunkvoller Livree. Sein stilles Zimmer hatte niemals eine prunkvolle Livree gesehen, und noch dazu um diese sonderbare Zeit . . . Er wollte es im Anfang gar nicht glauben und blickte den eintretenden Bedienten voll gespannter Neugier an. Der aber sprach mit höflicher Verneigung: »Empfehlung von der Dame, die der Herr vor einigen Stunden heimbegleitet hat. Das gnädige Fräulein bittet Sie, sie freundlichst aufzusuchen, und hat mich mit dem Wagen hergeschickt, um Sie zu holen.«

Der Maler stand in stummem Staunen. Was hieß das? Ein Wagen, ein Livreebedienter . . .? Nein, das konnte nur ein Irrtum sein . . .

»Ja, hören Sie, mein Lieber«, sagte er in einiger Verlegenheit, »Sie werden höchstwahrscheinlich falsch gegangen sein. Ihr gnädiges Fräulein hat Sie offenbar zu einem andern geschickt und nicht zu mir.«

»Nein, gnädiger Herr, es kann kein Irrtum sein. Sie haben doch das gnädige Fräulein heimbegleitet bis zum Litejnij, und weiter in den vierten Stock und bis ins Zimmer?«

»Ja.«

»Dann wollen Sie sich freundlichst recht beeilen; das gnädige Fräulein wünscht Sie unbedingt zu sprechen und läßt Sie bitten, gleich zu ihr zu kommen.«

Nun lief der Maler eilends in den Hof hinunter. Dort stand wirklich eine vornehme Kalesche. Er sprang hinein, der Schlag fiel hinter ihm ins Schloß, die Räder und die Hufe dröhnten auf dem Pflaster, und die erhellten Häuser mit den brennenden Laternen und den Ladenschildern flogen nur so vorüber an den Wagenfenstern. Der Maler grübelte den ganzen Weg und wußte nicht, was er von diesem Abenteuer denken solle. Ein eigenes Haus, eine Kalesche und ein Diener in so prunkvoller Livree . . . Das paßte doch auf keine Art zu jenem Zimmer hoch im vierten Stock mit seinen staubigen Fenstern und dem fürchterlich verstimmten Klimperkasten.

Der Wagen hielt vor einem Hauseingang, der grell beleuchtet war. Der Maler staunte über die unzähligen Kaleschen, die da in langen Reihen warteten, über den Lärm, den das Geschwätz der Kutscher machte, über den hellen Glanz, der aus den Fenstern fiel, und über die Musik, die auf die Straße drang. Der prunkvolle Livreebediente half ihm aus dem Wagen und führte ihn respektvoll in ein lichtes Vestibül mit Marmorsäulen, wo ein goldbetreßter Pförtner eine große Menge Pelze, Umhänge und Mäntel zu bewachen hatte. Eine graziös geschwungene Treppe mit hellblitzenden Geländern schwang sich, von Wohlgeruch erfüllt, empor zur Beletage. Und schon betrat er sie, schon stand er in der Tür zum ersten Saal und wich sogleich zurück, betroffen von der Menschenmenge, die da wogte. Die fabelhafte Buntheit der Gesellschaft brachte ihn vollständig in Verwirrung. Ihm sah das aus, als sei die ganze Welt von einem bösen Geist in lauter kleine Bruchstückchen zerkrümelt worden, und diese Krümel wären hier zu einem Wirrwarr ohne Sinn und Zweck vermischt. Glänzende Damenschultern, schwarze Fräcke, Kronleuchter, Lampen, luftig flatternde Musselingewänder, ätherische Bandschleifen und ein dicker Kontrabaß, der über das Geländer der großartigen Estrade ragte, – das alles stach ihm blendend in die Augen. Er sah unzählige alte Herren sowie Herren »in den besten Jahren«, reich geschmückt mit Ordenssternen, und Damen, die sich ungezwungen, stolz und anmutig auf dem Parkett bewegten oder auch in langen Reihen an den Wänden saßen; er hörte viele Leute englisch und französisch plaudern; die jungen Herren in den schwarzen Fräcken zeigten einen fabelhaften Anstand, sie redeten und schwiegen mit Grandezza; alles, was sie sagten, hatte Hand und Fuß, sie wußten leutselig zu scherzen und verehrungsvoll zu lächeln, sie hatten wunderbare Favoris und brachten ihre wohlgepflegten Hände beim Betasten der Krawatte sehr geschickt zur Geltung; die Damen waren elfenhaft und ganz erfüllt von Selbstgefälligkeit und Lust; und wie sie ihre Augen niederschlugen – zum Entzücken! Der Maler mußte sich vor Angst an eine Säule stützen, sein eingeschüchtertes Gesicht schon zeigte deutlich, daß er überwältigt war. Die Menge drängte sich gerade zu der Zeit um eine kleinere Tänzergruppe. Die Damen glitten leicht dahin, gehüllt in transparente Schöpfungen der Modestadt Paris, in Kleider, die aus lauter Luft gewoben schienen. Ganz flüchtig nur berührten sie mit ihren blankbeschuhten Füßchen das Parkett und wirkten auf die Weise noch ätherischer, als wenn sie, ohne es zu streifen, durch die Luft geflogen wären. Doch eine unter ihnen war noch schöner, prächtiger und glänzender gekleidet als die andern. Ein unbeschreiblich feiner und harmonischer Geschmack sprach aus dem Kleid und aus dem Schmuck, welchen sie trug, und dabei wirkte es durchaus nicht so, als hätte sie sich überhaupt darum bemüht; man mußte glauben, daß sich alles ganz von selbst auf sie ergossen hätte. Sie blickte in die Schar der Zuschauer, die sie umstanden, sah sie aber nicht; die schönen langen Wimpern waren gleichgültig gesenkt. Die lichte Weiße des Gesichts erschien noch blendender, wenn sie ihr Köpfchen beugte und dadurch die wunderbare Stirn in einen leichten Schatten tauchte.

Der Maler Piskarjow gebrauchte alle seine Kräfte, um sich durchzudrängen und die Schöne aus der Nähe zu betrachten; doch zu seinem ungeheuern Ärger stand ihm immerzu ein dicker Kopf mit schwarzem Lockenhaar im Weg. Und außerdem war er so in die Menge eingequetscht, daß er sich weder vor- noch rückwärts wagte, weil er dabei Gefahr lief, irgendeinem Geheimrat einen Rippenstoß zu geben. Doch schließlich kämpfte er sich durch und sah an sich herunter, weil er seinen Anzug richten wollte. Himmlischer Vater! Was erblickte er? Sein Rock war ja voll Farbenflecken. In seinem Drang, der Einladung zu folgen, hatte er nicht daran gedacht, sich umzukleiden. Er wurde rot bis hinter beide Ohren und senkte seinen Kopf und wollte machen, daß er fortkam; doch das war leider völlig ausgeschlossen, denn hinter ihm erhob sich buchstäblich ein Wall von lauter Kammerjunkern in blitzblanken Uniformen. Er wünschte sich weit fort von dieser Schönen mit der weißen Stirne und den langen Wimpern. Scheu hob er seinen Blick, um zu erforschen, ob sie ihn nicht schon bemerkt hätte. Mein Gott! Sie stand vor ihm . . . Doch was war das? Was sollte das bedeuten? »Sie ist's!« rief er beinahe laut. Und wirklich, das war sie, es war die Schöne, die er auf dem Prospekt gesehen hatte und der er bis in ihre Wohnung nachgegangen war.

Und nun hob sie die Lider und ließ ihren klaren Blick über die vielen Leute wandern. »Lieber Gott, wie schön . . .!« war alles, was er, stockenden Atems, sagen konnte. Ihr Auge streifte still den ganzen Kreis, in dem ein jeder danach lechzte, daß sie ihn beachte; doch wie ermüdet und zerstreut sah sie gleich wieder weg und senkte ihren Blick in den des Malers. – Welch ein Himmel! Welch ein Paradies! Herrgott, gib mir die Kraft, das zu ertragen! Mein Leben hat nicht Platz für soviel Glück, es wird davon zersprengt, ich sterbe! – Sie gab ihm ein Zeichen, nicht durch ein Heben ihrer Hand, auch nicht durch eine Neigung ihres Kopfes, nur durch einen Blick der sieghaft schönen Augen, ein Zeichen, so geheim und leise, daß es kein anderer bemerken konnte; er aber sah es und verstand es wohl. Lang dauerte der Tanz; die Musikanten wurden müde, die Musik schien zu verlöschen, zu ersterben; dann schwang sie sich von neuem auf und schmetterte und dröhnte, und schließlich war der Tanz zu Ende. Die Schöne setzte sich, und ihre müde Brust hob sich schwer atmend unter einem dünnen Hauch von Tüll; die Hand – Allmächtiger, welch wundervolle Hand! – sank ihr aufs Knie und drückte unter sich das luftige Gewand zusammen, der Stoff schien musikalisch aufzuseufzen unter diesem Druck, und seine zarte Fliederfarbe machte das helle Weiß der schönen Hand noch leuchtender. Nur diese Hand berühren, weiter nichts! Kein andrer Wunsch, ein jeder wäre frech. – Er trat bescheiden hinter ihren Stuhl und wagte nicht zu reden, nicht zu atmen.

»Sie haben sich gelangweilt?« sagte sie. »Ich auch. – Ich sehe schon, daß Sie mich hassen«, fügte sie hinzu und schlug die langen Wimpern nieder.

»Ich – Sie hassen? Ich?« so wollte Piskarjow in tödlicher Verwirrung sprechen und hätte sicher einen Schwall von Worten ohne richtigen Zusammenhang hervorgestammelt, da aber trat ein Kammerherr mit anmutig gelockter Tolle auf dem Kopf an sie heran und produzierte sich in liebenswürdig witzigen Bonmots. Er sah sehr hübsch aus, wie er so die lückenlose Reihe seiner weißen Zähne zeigte; doch jedes seiner sprühenden Bonmots trieb unserm Maler einen spitzen Nagel in das Herz. Da wendete sich endlich Gott sei Dank ein anderer Kavalier mit einer Frage an den Kammerherrn.

»Das ist nicht auszuhalten!« flüsterte die Schöne und erhob den himmlisch reinen Blick zu Piskarjow. »Ich will mich drüben niedersetzen, ganz am andern Ende des Saales. Wollen Sie mir folgen?«

Sie schlüpfte in das dichteste Gewühl und war verschwunden. Wie von Sinnen, drängte er sich ohne Rücksicht durch die Menge und erreichte sie auch bald.

Dort saß sie, eine Kaiserin, weit schöner und vornehmer als all die andern. Und ihre Augen schauten nach ihm aus.

»Ah, sind Sie da?« so sprach sie sanft. »Ich will zu Ihnen offen sein. Die Art, auf die wir uns getroffen haben, ist Ihnen sicher sonderbar erschienen. Nun, Sie werden wohl nicht glauben, daß ich eins der armen und verächtlichen Geschöpfe sei, bei denen Sie mich zuvor fanden? Mein Verhalten muß Sie seltsam dünken, aber ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen«, sagte sie und sah ihm prüfend in die Augen. »Werden Sie die Kraft besitzen, das Geheimnis niemals zu verraten?«

»Ja, die Kraft besitze ich!« . . .

Nun aber trat ein älterer Herr an sie heran, gab ihr die Hand und fing in einer Sprache zu parlieren an, die Piskarjow nicht kannte. Sie warf dem Maler einen Blick zu, der ihn bat, auf seinem Platz zu bleiben und zu warten, bis sie wiederkäme. Ihn aber packte eine Ungeduld, daß er nicht fähig war, einem Befehle zu gehorchen, nicht einmal dem Befehl aus ihrem Mund. Er folgte ihr, jedoch die Menge trennte sie. Er sah das fliederfarbene Kleid nicht mehr; unruhig eilte er aus einem Zimmer in das andere und bahnte sich mit unbarmherzigen Rippenstößen seinen Weg. Aber in allen Zimmern saßen Würdenträger bei der Whistpartie und hüllten sich in Schweigsamkeit. In einer Zimmerecke stritten ein paar ältere Herren über das Problem, ob der Armeedienst der Zivilkarriere vorzuziehen sei, in einer andern Ecke taten junge Gecken in erlesenen Fräcken ein mehrbändiges Werk, die ernste Arbeit eines Dichters, mit ein paar Redensarten ab. Ein alter Herr von würdiger Erscheinung faßte Piskarjow an einem Knopfe seines Fracks und bat ihn um sein Urteil über eine treffende Behauptung, die er aufgestellt hatte; der Maler aber stieß ihn schroff zur Seite und bemerkte nicht einmal, daß dem so schnöd Behandelten ein ziemlich hoher Orden am Halse hing. Er lief ins nächste Zimmer – sie war nicht zu finden. Und auch im dritten war sie nicht. – Wo ist sie? Zeigt sie mir! Ich kann nicht leben, ohne sie zu sehen! Ich muß zu Ende hören, was sie mir erzählen will! – Doch all sein Suchen blieb umsonst. Erregt und müde, drückte er sich irgendwo in eine Ecke und starrte auf die Menschenflut. Jedoch vor seinen angestrengten Augen fing auf einmal alles zu verschwimmen an. Und endlich tauchten klar die Wände seines Zimmers aus dem Dunst. Er schlug die Augen auf: da stand der Leuchter noch, in dessen Höhlung ein beinah erloschenes Flämmchen flackerte; die Kerze war zerschmolzen, und ein Bach aus Talg war auf dem alten Tisch erstarrt.

Geschlafen hatte er . . .! Gott, welch ein schöner Traum! Und warum mußte er daraus erwachen? Konnte der Traum nicht eine einzige Minute länger währen? Sie wäre ihm bestimmt noch einmal in den Weg getreten! Verhaßte Dämmerung sah ihm mit widrig düsterem Licht ins Fenster. Das Zimmer lag so grau und trüb und liederlich vor ihm. – Wie häßlich war die Wirklichkeit! Wie fern von seinem Traum! Er zog sich eilends aus, kroch in sein Bett und hüllte sich in seine Decke. Er wollte die entflohene Traumerscheinung gewaltsam wieder aus dem Nichts beschwören. Und siehe da, der Traum verzog auch nicht, zu kommen, doch führte er ihm andere, ganz andre Dinge vor, als die er sehen wollte: bald tauchte Leutnant Pirogow mit einer Pfeife zwischen seinen Zähnen auf, bald der Portier der Kunstakademie, bald ein befrackter Wirklicher Staatsrat, bald eine junge Estin, die ihm schon vor längerer Zeit zu einem Studienkopf gesessen hatte, und anderer Kram von solcher Art.

Bis an die Mittagsstunde lag er so im Bett und suchte immer wieder einzuschlafen; jedoch die Schöne wollte nicht erscheinen. Sie zeigte höchstens einen Augenblick ihr reizendes Gesicht, und höchstens einen Augenblick lang hallte ihm ihr leichter Schritt ins Ohr und schimmerte vor seinen Blicken flüchtig ihr entblößter Arm, so blendend weiß wie frischgefallener Schnee.

Er schob das ganze Leben von sich in die Ferne der Vergessenheit, er saß mit hoffnungslos verstörter Miene da und war nur voll von seinem Traum. Er fühlte sich nicht fähig, etwas zu beginnen, und seine Augen starrten teilnahmslos und ohne Leben durch das Fenster auf den Hof, wo ein zerlumpter Wasserträger Wasser auf den Boden schüttete, das an der Luft gefror, und wo die Stimme eines Händlers kläglich meckerte: »Kauft alte Kleider, kauft!« Alles Alltägliche und Wirkliche schlug sonderbar befremdend an sein Ohr. So saß er, bis es Abend ward, und warf sich dann mit einer wahren Gier ins Bett. Er kämpfte lange um den Schlaf, und endlich zwang er ihn. Und wieder träumte er; es war ein dummer, widerlicher Traum. »Erbarm dich meiner, Gott im Himmel: einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick führ mich zu ihr!« Und wieder harrte er des Abends, wieder schlief er ein, und wieder zeigte ihm der Traum ein Wesen, das ein richtiger Beamter war und gleichzeitig ein richtiges Fagott. Oh, das war unerträglich! Endlich, endlich kam sie doch! Die Locken wallten um ihr Haupt, sie sah ihn an . . . O Gott, warum so flüchtig nur? Sie hüllte sich in Dunst . . . Und statt der Schönen wieder irgend so ein dummer Traum.

Auf die Art wurden seine Träume ihm zuletzt das Leben, und damit nahm sein Leben eine sonderbare Wendung: er schlief im Wachen und war wach im Schlaf. Wenn er so stumm vor seinem leeren Tische saß und wie abwesend durch die Straße ging, dann sah er einem Mondsüchtigen ähnlich oder einem Säufer, der vom Alkohol völlig verwüstet ist. Sein Blick war leer, die angeborene Zerstreutheit wuchs und wurde übermächtig und machte sein Gesicht gefühllos, stumpf und starr. Erst wenn die Nacht hereinbrach, wurde er lebendig.

Dies Leben nahm ihm alle Kraft. Und eine fürchterliche Qual war es für ihn, daß ihn die Träume bald vollkommen mieden. Um diesen seinen einzigen Reichtum wiederzuerlangen, deuchte ihn jedes Mittel recht. Er hörte, daß es wohl ein Mittel gäbe, Träume zu erzeugen – man müsse einfach Opium nehmen. Aber woher verschaffte er sich Opium? Ihm fiel ein Perser ein, ein Schalhändler, der einen Laden hatte und ihn jedesmal, wenn er ihn traf, beschwor, er möge ihm ein schönes Mädchen malen. Er faßte den Entschluß, den Perser aufzusuchen, denn er war überzeugt, daß dieser ihm wohl Opium geben könnte. Der Perser saß auf seinem Diwan mit gekreuzten Beinen.

»Für was du Opium wollen?« fragte er den Maler.

Der sagte etwas von Schlaflosigkeit.

»Gut, ich dir Opium geben, du mir schönes Mädchen malen. Muß richtig schönes Mädchen sein! Mit schwarze Brauen und so große Augen wie Oliven; und ich muß neben Mädchen liegen, Pfeife rauchen! Aber richtig schön gemalen, hörst du! Richtig schönes Mädchen!«

Der Maler Piskarjow versprach ihm alles. Und der Perser ging hinaus und kehrte gleich mit einem Fläschchen wieder, das mit einer dunkeln Flüssigkeit gefüllt war. Behutsam goß er einen Teil davon in eine andre kleine Flasche ab, die er dem Maler mit der Warnung reichte, niemals mehr als sieben Tropfen von der Flüssigkeit in Wasser einzunehmen. Und der Maler griff begierig nach dem Fläschchen, das ihm selbst um einen Haufen Gold nicht feil gewesen wäre, und lief in der größten Hast nach Hause.

Und dort angekommen, goß er ein paar Tropfen in ein Glas voll Wasser, trank es aus und warf sich auf sein Bett.

O Himmel, dieses Glück! Da war sie! Wieder sie, doch nun in einer völlig neuen Welt! Mein Gott, in welcher reinen Schönheit sie am Fenster eines hellen Häuschens auf dem Lande saß! Sie war so schlicht gewandet wie die Schönen in dem Traume eines Dichters. Und wie sie ihr Haar trug . . . Schlicht und kleidsam! Eine kurze Flechte schmiegte sich an ihren schlanken Nacken; alles einfach und bescheiden, und doch über allem so ein selbstverständlich sicherer Geschmack. Entzückend auch die Anmut ihres Ganges! Melodisch klangen ihre Schritte und das Rauschen ihres einfachen Gewandes! Reizend war der Arm mit dem aus Haar geflochtenen Armband! Und sie sprach, und dabei standen ihr die Tränen in den Augen: »Oh, verachten Sie mich nicht! Ich bin nicht, wie Sie glauben. Sehn Sie mich doch an, genau und richtig, und dann sagen Sie mir selbst: bin ich wohl fähig, das zu tun, was Sie mir zutrauen?« – »Nein, nein! Und dem der sich erdreistet, das zu glauben, will ich selbst . . .« Er wachte auf, ergriffen und erschüttert, helle Tränen in den Augen. ›Es wäre besser, wenn sie überhaupt nicht lebte, wenn es sie nicht gäbe hier auf Erden, wenn sie nur die Schöpfung eines hingerissenen Künstlers wäre! Niemals verließe ich dies Bild, zu jeder Stunde könnte ich dich sehen und dich küssen, in dir leben, in dir atmen, wie im wunderbarsten Traum – wie glücklich wäre ich, ich hätte weiter keinen Wunsch. Anrufen würde ich dich als Schutzgeist vor dem Schlaf und beim Erwachen, warten würde ich, bis du erschienest, wenn ich etwas Heiliges und Göttliches zu schaffen hätte. Doch so – welch fürchterliches Leben! Daß sie lebt, was frommt das mir! Kann denn das Leben eines Irren eine Freude sein für seine Freundschaft und Verwandtschaft, die ihn einst geliebt? Du großer Gott, was ist das Leben! Ewiger Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Traum.‹ Gedanken dieser Art beschäftigten ihn ohne Unterlaß. Er konnte an nichts anderes denken, er aß fast gar nichts mehr und harrte ungeduldig, mit der Leidenschaft des toll Verliebten, auf den Abend und das heißersehnte Traumbild. Weil er ohne Unterlaß sein Denken nur dem einen weihte, so gewann dies eine einen Einfluß auf sein Dasein und auf seine Phantasie, daß ihm das heißersehnte Bild fast jeden Tag erschien, und stets in einer Lage, die der Wirklichkeit vollkommen widersprach – denn seine sehnenden Gedanken waren völlig rein, wie die Gedanken eines Kindes. Durch diese Träume wurde ihr Gegenstand zur höchsten Lauterkeit gehoben und verklärt.

Das Opium, das er nahm, entfachte seine Liebesqual zu ungeheurer Glut, und wenn je einer bis zum letzten Grad der Raserei und Leidenschaft, bis zu der fürchterlichsten Selbstvernichtung von der Liebe hingerissen wurde, war es der unselige Piskarjow.

Von allen seinen Träumen machte einer ihm noch höhere Freude als die andern: er saß in seinem Atelier, mit der Palette in der Hand, und fühlte sich von Herzen froh! Sie weilte bei ihm und war seine Frau. Sie saß an seiner Seite, ihren schönen Arm auf seinen Stuhl gestützt, und sah ihm bei der Arbeit zu. In ihrem Blick lag eine sanfte Mattigkeit, als könne sie die Überfülle ihres Glückes kaum noch tragen; das ganze Zimmer atmete den Duft des Paradieses, und es war so hell darin, man sah es auf den ersten Blick, daß Frauenhände hier am Werk der Ordnung waren. Allmächtiger! Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust . . . Nein, schöner hatte er noch nie geträumt. Er stand an diesem Morgen frischer auf als sonst und war nicht so zerstreut. In seinem Kopfe wurden seltsame Gedanken wach. – ›Vielleicht ist sie‹, so dachte er, ›durch ein entsetzliches Geschick und wider ihren Willen auf den Weg des Lasters hingeleitet worden. Vielleicht sehnt sich ihr Herz nach Buße. Vielleicht hat sie den heißen Wunsch, sich diesem fürchterlichen Leben zu entreißen. Darf man denn kalten Mutes zusehn, wie sie blind in ihr Verderben rennt, da man ihr nur die Hand zu reichen braucht, um sie vom Untergange zu erretten?‹ Und weiter dachte er: ›Mich kennt kein Mensch, wer kümmert sich um mich, und was bekümmern mich die andern! Wenn sie sich bußfertig erzeigt und ihrem früheren Lebenswandel absagt, mach ich sie zu meiner Frau. Ich muß sie heiraten, ich tu damit ein besseres Werk als mancher, der seine Hausbesorgerin zum Weibe nimmt oder am Ende gar ein ganz verächtliches Geschöpf. Nein, meine Tat wird selbstlos sein, vielleicht sogar erhaben; ich gebe dieser Erde ihre schönste Zier zurück!‹

Als er zu diesem unbesonnenen Entschluß gekommen war, empfand er, wie das Blut ihm in die Stirne schoß; er ging zum Spiegel und erschrak, wie blaß er war, wie hohl und eingefallen seine Wangen. Dann machte er sorgfältig Toilette; er wusch sich, kämmte sich, zog seinen neuen Frack und eine stutzerhafte Weste an, warf seinen Mantel über und verließ das Haus. Er atmete mit Lust die kühle Luft und fühlte frische Kraft in seinem Herzen, wie ein Genesener, der sich nach langer Zimmerhaft zum erstenmal ins Freie wagt. Sein Herz schlug heftig, als er in die Straße kam, die er seit der für ihn entscheidenden Begegnung mit der Schönen niemals mehr betreten hatte.

Er suchte lange nach dem Haus; es war, als hätte sein Gedächtnis ihn verlassen. Zweimal ging er die Straße auf und ab und wußte nicht, vor welchem Haus er stehenbleiben solle. Dann endlich kam ihm eines doch bekannt vor. Er eilte in den vierten Stock hinauf und klopfte an die Tür. Sie wurde ihm sogleich geöffnet, und wer war's, der ihm entgegenkam? Sie war es, sie, in der er lebte, sich selbst zu Angst und Qual und Wonne lebte – sie stand vor ihm, sie selber stand vor ihm. Ein Zittern überfiel ihn, und ihm wurde schwach, daß er sich kaum noch auf den Füßen halten konnte – so jäh bestürmte ihn die Freude. Und sie stand vor ihm, schön wie beim erstenmal. Und sahen ihre Augen auch verschlafen aus, und war sie auch ein wenig blaß und nicht so frisch wie jüngst, schön war sie immer noch.

»Ah!« rief sie, als sie Piskarjow erblickte, und rieb sich den Schlaf aus ihren Augen (dabei war es zwei Uhr nachmittags). »Warum sind Sie denn damals fortgerannt?«

Er sank erschöpft in einen Stuhl und sah sie an.

»Ich bin gerade aufgestanden«, fuhr sie lächelnd fort. »Sie haben mich erst früh um sieben heimgebracht. Ich hatte einen fürchterlichen Rausch.«

Oh, wärest du doch lieber stumm und hättest keine Sprache, statt daß du solche Reden führst! Das zeigte ihm auf einmal, wie im Lichte eines Blitzes, ihr gesamtes Leben. Und dennoch nahm er seine Kraft zusammen und versuchte, ob er nicht mit seiner Mahnung auf sie wirken könnte. Er faßte sich ein Herz und hielt ihr mit gepreßter und dennoch leidenschaftentflammter Stimme vor, wie fürchterlich ihr Leben sei. Sie hörte ihm aufmerksam und mit jenem leisen Staunen zu, das wir bei etwas Unerwartetem und Sonderbarem zeigen. Sie schaute mit verstohlenem Lächeln zwischendurch auf ihre Freundin, welche hinten in der Ecke saß und nun den Kamm, den sie gerade reinigte, beiseite legte, um dem neuen Sittenprediger zu lauschen.

»Ich bin freilich arm«, so schloß er endlich seine lange, lehrhafte Ermahnung, »doch wir wollen arbeiten, wir wollen um die Wette tätig sein, um unsre schlechte Lage zu verbessern. Es gibt nichts Schöneres, als alles nur sich selber zu verdanken. Ich werde meine Bilder malen; du wirst bei mir sitzen und mich inspirieren und dabei etwas sticken oder andre Handarbeiten machen, und du sollst sehn, es wird uns an nichts fehlen . . .«

»Ja, das könnte mir so passen!« sagte sie und lächelte geringschätzig. »Ich bin doch keine Waschfrau oder Näherin, daß ich mich mit der Arbeit schinden soll.«

Mein Gott, in dieser Antwort lag ihr ganzes erniedrigtes, verachtungswürdiges Leben, ein Leben, ausgefüllt von Eitelkeit und Müßiggang, die ja des Lasters ständige Trabanten sind.

»Heiraten Sie doch lieber mich!« begann mit albernem Gefeix die andere Person, die bis zu diesem Augenblick geschwiegen hatte. »Wenn ich Ihre Frau bin, sitz ich immer so schön sittsam da.« Und sie verzog ihr trauriges Gesicht zu einer blöden Fratze, die der Schönen größte Heiterkeit erregte.

Nein, das war zuviel! Er hatte nicht die Kraft, das zu ertragen! Er stürzte aus dem Zimmer fort; seine Gefühle und Gedanken waren wie erstorben, und sein Geist verwirrte sich. Er irrte stumpfsinnig und ohne Ziel, blind, taub, empfindungslos für alles, bis zum Abend durch die Stadt. Niemand wird je ergründen, wo er übernachtete. Am nächsten Tag erst kehrte er, von einem unklaren Instinkt geführt, ins Atelier zurück, bleich wie der Tod, entsetzlich anzuschauen, mit zerrauftem Haar, den hellen Wahnsinn im Gesicht. Er schloß sich ein, ließ niemand zu sich und verlangte auch nach nichts. Vier Tage gingen hin, und seine Türe wurde nie geöffnet; schon war es eine Woche, und das Zimmer blieb verschlossen. Da ging man an die Tür und rief nach ihm, doch keine Antwort kam. So brach man denn die Türe auf und fand ihn als entseelten Leichnam mit durchschnittener Kehle. Ein blutiges Rasiermesser lag neben ihm am Fußboden. Die krampfhaft weggespreizten Arme und die schauerlich verzerrte Miene zeigten klar, daß seine Hand der Sicherheit ermangelt hatte; ihm war noch lange Qual beschert gewesen, bevor die sündige Seele seinem Leib entfloh.

So ging als Opfer seiner überspannten Leidenschaft der arme Piskarjow zugrunde, der stille, schüchterne, bescheidene, kindlich-naive Mensch, der einen Funken ehrlichen Talents in sich getragen hatte, aus dem vielleicht dereinst noch eine hohe, helle Flamme aufgelodert wäre. Niemand beweinte ihn, und niemand zeigte sich bei seinem Leichnam als die in dergleichen Fällen unvermeidliche Gestalt des Polizeiwachtmeisters und das gleichgültige Gesicht des Physikus. Man schaffte seinen Sarg in aller Stille ohne Assistenz der Geistlichkeit nach Ochta auf den Friedhof. Und weinen – niemand weinte als der Polizist, der ihn begleiten mußte, und auch bei dem erzeugte diese Tränen nur der Schnaps, von dem er einen Schoppen mehr getrunken hatte, als er eigentlich vertrug. Nicht einmal Leutnant Pirogow bekümmerte sich um den toten armen Kerl, dem er bei Lebzeiten doch seine hohe Protektion gewidmet hatte. Lieber Gott, es fehlte ihm auch einfach an der Zeit, nach ihm zu fragen; er war nämlich voll von einem eigenen sonderbaren Abenteuer. Wirklich, sprechen wir jetzt lieber von dem Leutnant!

Ich habe für Verstorbene wenig übrig, und mich packt stets ein äußerst peinliches Gefühl, wenn mir ein langer Leichenzug begegnet, geführt von einem Invaliden, der so ähnlich wie ein Kapuziner ausstaffiert ist und der seine Prise mit der linken Hand zur Nase führt, weil seine rechte ja die Fackel trägt. Ich fühle stets den stärksten Abscheu, wenn ich einen reichen Katafalk mit einem samtbezogenen Sarg darauf erblicke; jedoch zum Abscheu kommt noch Traurigkeit, wenn mir ein Lastfuhrmann begegnet, der einen nackten Armensarg aus rohem Kiefernholz zum Friedhof fährt, ohne Gefolge, außer einem fremden Bettelweib, das sich an irgendeiner Ecke angeschlossen hat, weil es nicht weiß, womit es sonst die Zeit verbringen soll.

Wenn ich nicht irre, haben wir den Leutnant Pirogow verlassen, als er sich von dem armen Maler trennte und der Blondine nachstieg, die ihn so bezaubert hatte. Diese blonde Frau war ein graziöses Geschöpf, das einen Mann wohl interessieren konnte. Sie blieb beinah vor jedem Laden stehen und besah die Gürtel, Tücher, Ohrgehänge, Handschuhe und andern kleinen Nichtigkeiten, die im Fenster lagen. Und dabei schwänzelte sie recht kokett, warf Blicke links und rechts und schaute sich beständig um. »Dich krieg ich, Schätzchen!« sagte unser Leutnant zuversichtlich; er schlug den Kragen auf, damit nicht etwa einer seiner Freunde ihn erkenne, und stieg ihr weiter nach. – Jedoch vor allem dürfte es wohl angemessen sein, dem lieben Leser zu erzählen, was der Leutnant Pirogow für eine Sorte Mensch war.

Bevor wir aber darauf kommen, was der Leutnant Pirogow für eine Sorte Mensch war, ist es angemessen, einiges von der Gesellschaftsklasse zu erzählen, zu der Leutnant Pirogow gehörte. Es gibt in Petersburg eine gewisse Klasse Offiziere, die sozusagen eine Mittelklasse der Gesellschaft bilden. Zu Abendessen und Diners bei einem Staatsrat oder einem Wirklichen Staatsrat, der diesen Rang durch vierzig Dienstjahre verdient hat, ist stets mindestens ein solcher Offizier geladen. Da gibt es ein paar blasse Töchter, farblos und blaß wie Petersburg und teilweise schon überreif, da trinkt man Tee und spielt Klavier und tanzt wohl auch ein bißchen; da machen sich ein paar blitzblanke Epauletten gut im Schein der Lampe, wenn sie zwischen einer sittsamen Blondine und dem schwarzen Fracke ihres Bruders oder eines anderen Bekannten funkeln. Es ist nicht so leicht, diese fischblütigen jungen Mädchen gut zu unterhalten und so weit zu bringen, daß sie lachen; oh, dazu gehört viel Kunst, oder man sagt wohl richtiger: vollkommene Kunstverlassenheit. Man darf dabei nicht zu gescheit und nicht zu witzig reden, sondern muß sich streng an die Banalitäten halten, die die Damen so besonders schätzen. Und in der Hinsicht leistet diese Art von Offizieren eine Menge, diese Gerechtigkeit muß ihnen jeder widerfahren lassen. Ihr bester Lohn dafür sind die von Lachen halberstickten Rufe: »Hören Sie doch auf! Sie Schlimmer, nein, man kommt vor Lachen einfach um!« In höheren Gesellschaftsschichten trifft man diese Offiziere selten oder, um die reine Wahrheit zu gestehen, nie; hier werden sie vollkommen durch die Herren ausgestochen, welche man in diesem Kreis »Aristokraten« nennt. Im übrigen sind diese Offiziere als gebildete und wohlerzogene Leute angesehen. Ihr Lieblingsthema ist die Literatur: sie zollen Gretsch, Bulgarin, Puschkin Lob und sprechen sehr verächtlich und satirisch von A. A. Orlow. Sie fehlen nie bei einem populären Vortrag, und mag er sich selbst mit Buchhaltung oder am Ende gar mit Forstwirtschaft beschäftigen. Und im Theater kann man spielen, was man will – einer von diesen Herren ist ganz sicher drin, es sei denn, daß ein Volksschwank aufgeführt wird, der ihren Geschmack, der immerhin verwöhnt ist, doch zu sehr verletzen würde. Sonst aber trifft man sie unfehlbar im Theater. Sie sind die beste Einnahmequelle für die Direktion. Sie schätzen in den Stücken auch vor allem schöne Verse sehr und lieben es, die Schauspieler mit großem Lärm herauszurufen. Viele von den Offizieren dieser Sorte geben Unterricht an öffentlichen Instituten oder bereiten Schüler für derartige Institute vor und bringen es auf die Weise mit der Zeit zu einer Equipage mit zwei Pferden. Dann geht es in größerem Stile weiter vorwärts und hinauf; sie heiraten am Ende eine Kaufmannstochter, die Klavier spielt und dem Bräutigam so etwa hunderttausend Rubel und dazu eine sehr weitverzweigte bärtige Verwandtschaft in die Ehe bringt. Doch wird so hoher Ehre nur ein Offizier gewürdigt, welcher mindestens zum Range eines Obersten emporgestiegen ist. Denn mag auch so ein Knasterbart von echtem russischem Stil noch so stark nach Weißkohl duften, für die Tochter macht er trotzdem Ansprüche auf einen General oder doch wenigstens auf einen Obersten. Das sind im allgemeinen die Charakterzüge dieser Art von Offizieren. Der Leutnant Pirogow jedoch besaß zudem noch eine Menge von Talenten, die ihn persönlich aus der Menge hoben. Er deklamierte mit dem schönsten Feuer Verse aus dem »Dimitrij Donskoi« und aus »Verstand schafft Leiden« und hatte eine seltne Fähigkeit, Rauchringe in die Luft zu blasen; dieses konnte er so gut, daß er oft gleich zehn Ringe einen durch den andern blies. Er wußte äußerst witzig die bekannte Anekdote zu erzählen, daß ein Kanonenrohr ein Ding für sich ist und ein Einhorn auch ein Ding für sich. Er unterhielt sich gern über Damen vom Theater und bekannte Tänzerinnen, doch sprach er dabei nicht so scharf, wie sich die jungen Fähnriche gewöhnlich zu dem Thema äußern. Er war von seinem Range, der ihm kürzlich erst verliehen worden war, tief innerlich befriedigt. Freilich sagte er zuweilen, wenn er sich auf seinem Diwan rekelte: »Mein Gott, es ist ja alles eitel! Was ist denn groß dabei, wenn ich schon Leutnant bin!« Doch heimlich schmeichelte ihm seine neue Würde sehr. Er spielte im Gespräch sehr gern beiläufig darauf an, und als ihm auf der Straße einst ein Schreiber in den Weg lief, der ihm nicht den schuldigen Respekt zu zeigen schien, hielt er ihn ohne weiteres an und gab ihm kurz, doch mit der nötigen Schärfe, zu verstehen, daß er ein Leutnant sei und nicht ein x-beliebiger andrer Offizier. Dabei bemühte er sich, seine Worte möglichst wirkungsvoll zu setzen, weil in dem Augenblick gerade zwei sehr hübsche Damen dicht an ihm vorüberstrichen. Leutnant Pirogow war überhaupt ein leidenschaftlicher Verehrer alles Schönen. Darum protegierte er ja auch den Maler Piskarjow. Übrigens war wohl ein weiterer Grund hierfür der Umstand, daß er darauf brannte, sein von Tapferkeit umstrahltes Antlitz einmal porträtiert zu sehen. Genug jetzt aber von den Eigenschaften des Leutnants Pirogow! Der Mensch ist ein so wunderbares Wesen, daß man seine Vorzüge so auf den Sturz niemals erschöpfend schildern kann; je länger man ihn anschaut, desto mehr besondere Züge fallen einem auf, und wer sie alle schildern wollte, fände nie ein Ende.

Also, der Leutnant Pirogow stieg jener Unbekannten weiter nach, von Zeit zu Zeit sprach er sie an, und sie erwiderte ihm kurz und schroff, zuweilen brummte sie auch nur etwas Unverständliches. Sie gingen durch das schmutzige Kasaner Tor und kamen in die Meschtschanskaja, wo es, wie bekannt, die vielen Kram- und Tabakläden, die vielen deutschen Handwerker und die estnischen Sylphiden gibt. Die blonde Schöne lief jetzt schneller und entwich auf einmal in ein Haus, das nicht gerade reinlich wirkte. Der Leutnant Pirogow ihr nach. Sie rannte eine schmale, dunkle Treppe hinauf und ging zu einer Tür hinein, durch die der Leutnant Pirogow ihr wieder unverfroren folgte. Er stand in einem großen Zimmer mit geschwärzten Wänden und verräuchertem Plafond. Der Tisch lag voll von Eisenschrauben, Schlosserwerkzeug, blitzenden Kaffeemaschinen, gelben Messingleuchtern; am Boden waren Feilspäne von Eisen und anderem Metall verstreut. Der Leutnant sah sofort, daß er sich in der Wohnung eines Handwerkers befand. Die Unbekannte schlüpfte schnell durch eine Seitentür hinaus. Er zögerte nur einen Augenblick, dann folgte er der russischen Devise: »Vorwärts marsch!« Er kam in eine zweite Stube, die der ersten wenig glich. Sie war so ordentlich und sauber, daß kein anderer als ein Deutscher sie bewohnen konnte. Leutnant Pirogow erblickte sehr verblüfft ein mehr als sonderbares Bild.

Vor ihm saß Schiller – nicht der Schiller, der den Wilhelm Teil und die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs geschrieben hat, nein, der bekannte Schiller, der die Gürtlerwerkstatt in der Meschtschanskaja hat. Und neben ihm stand Hoffmann – nicht der Dichter Hoffmann, nein, der bestens renommierte Schustermeister aus der Offizerskaja, der ein intimer Freund von Schiller war. Der brave Schiller hatte einen Rausch, er saß auf einem Stuhl und stampfte mit dem Fuß und sagte etwas, was sehr wütend klang. Das alles hätte Pirogow nicht weiter groß verblüfft; was ihn verblüffte, war das äußerst seltsame Gebaren der zwei Leute. Schiller saß auf seinem Stuhl mit hochgehobenem Kopf und streckte seine ziemlich dicke Nase vor, Hoffmann hingegen hielt mit zwei gespreizten Fingern das besagte Riechorgan gepackt und fuhrwerkte mit seinem scharfen Schustermesser an des Freundes Nase hin und her. Sie sprachen beide deutsch dazu, und deshalb blieb es Leutnant Pirogow vollkommen dunkel, was die zwei vorhatten. Denn seine Kenntnisse des Deutschen gingen nur bis zu den beiden Worten »Guten Morgen«. Was nun aber Schiller sagte, war das Folgende: »Nein, weg mit Schaden! Ich mag keine Nase mehr!« rief er und fuchtelte mit beiden Händen durch die Luft. »Bloß für die dumme Nase brauch ich drei Pfund Schnupftabak im Monat. Und ich zahl in dem gemeinen russischen Geschäft – weil deutsche Läden ja den russischen Tabak nicht führen –, ich zahl in dem gemeinen russischen Geschäft vierzig Kopeken für das Pfund – macht einen Rubel zwanzig, nicht? Zwölfmal ein Rubel zwanzig – das macht vierzehn Rubel vierzig. Begreifst du das, mein guter Hoffmann, he? Bloß für die Nase vierzehn Rubel vierzig. Und an den Feiertagen schnupfe ich Rapé, weil ich an Feiertagen nicht den gemeinen russischen Tabak schnupfen mag. Im Jahr verbrauche ich drei Pfund Rapé, zwei Rubel für das Pfund. Vierzehn und sechs – macht zwanzig Rubel vierzig bloß für Schnupftabak! Ist das nicht unerhört? Sag selber, lieber Hoffmann, habe ich nicht recht?« Hoffmann, der auch betrunken war, gab seine Zustimmung. »Zwanzig Rubel vierzig Kopeken! Ich bin ein Schwabe, der in Deutschland einen König hat! Nein, ich mag keine Nase mehr! Schneid mir die Nase ab! Da hast du meine Nase! Weg damit!«

Und wäre Leutnant Pirogow nicht unvermutet eingetreten, so hätte Hoffmann seinem Freunde Schiller ohne Federlesen die Nase amputiert – er hatte schon das Messer so gefaßt, wie wenn er im Begriff sei, eine Sohle zuzuschneiden.

Schiller war sehr erbost, weil ihm auf einmal dieser fremde, ungebetene Gast so störend in die Quere kam. Denn ob er auch von Bier und Wein benebelt war, er hatte doch das deutliche Gefühl, daß es unpassend sei, wenn unberufene Zeugen ihn in diesem Zustand sähen. Inzwischen hatte sich der Leutnant Pirogow verbeugt und sagte mit der Anmut, die ihn zierte: »Ach Verzeihung, bitte –«

»Marsch hinaus!« schrie Schiller stotternd.

Der Leutnant fuhr zurück. Daß man ihm so kam, war ihm etwas Neues. Das Lächeln, das sein freundliches Gesicht verzogen hatte, war mit einem Ruck verschwunden. Und im Gefühl gekränkter Würde sagte er: »Ich muß mich wundern, werter Herr . . . Sie haben augenscheinlich nicht bemerkt . . . Sie müssen wissen, ich bin Offizier . . .«

»Stellt auch was vor, ein Offizier! Und ich bin Schwabe!« Schiller paukte mit der Faust bekräftigend auf den Tisch. »Was Offizier! Das könnt ich selbst leicht sein: anderthalb Jahre Junker und zwei Jahre Leutnant, und dann bin ich morgen Offizier. Ich mag nur nicht zum Militär. Ich puste auf die Offiziere: huitt!« Schiller blies über seine Hand.

Der Leutnant Pirogow sah ein, daß ihm nichts übrigblieb, als sich zu drücken. Doch war ihm diese gröbliche Behandlung, welche seinem hohen Range schlecht entsprach, sehr peinlich. Er machte auf der Treppe mehrmals halt, um seine Fassung wiederzugewinnen und zu überlegen, wie er diesem Kerl von einem Schiller seine Frechheit wohl vergelten könnte. Am Ende aber kam er zu dem Schluß, daß Schiller immerhin entschuldigt werden dürfte, weil er von Bier und Wein benebelt war. Er rief sich auch das Bild der reizenden Blondine wieder vor die Augen und kam zu dem Entschluß, die Kränkung zu vergessen. Schon früh am nächsten Morgen stellte Pirogow sich wieder in der Werkstätte des Gürtlermeisters ein. Im ersten Zimmer trat die reizende Blondine auf ihn zu und fragte ihn mit ziemlich barscher Stimme, die ihr aber trefflich zu Gesicht stand: »Womit kann ich dienen?«

»Schönen guten Morgen, Schätzchen! Kennen Sie mich noch? Was haben Sie für hübsche Augen, kleiner Schelm!« Der Leutnant faßte sie dabei mit einem Finger freundlich unters Kinn und wollte ihren Kopf zu sich emporheben; doch die Blondine schrie erschrocken auf und fragte mit der gleichen Barschheit wie zuvor: »Was wünschen Sie?«

»Ich wünsche, Sie zu sehen, und sonst nichts«, erklärte Leutnant Pirogow mit einem liebenswürdigen Lächeln und näherte sich ihr; als er jedoch bemerkte, daß die scheue blonde Frau zur Seitentür hinaus entschlüpfen wollte, rief er schnell: »Ich möchte mir sehr gerne ein Paar Sporen machen lassen, Schätzchen! Kann ich mir wohl bei Ihnen Sporen machen lassen? Obgleich ja meine Leidenschaft zu Ihnen keinen Sporn braucht, sondern eher einen Zügel . . . Nein, was haben Sie für hübsche Arme!«

Leutnant Pirogow war immer äußerst schmelzend, wenn er einer Dame so sein Herz zu Füßen legte.

»Ich hole meinen Mann. Er wird gleich kommen«, rief die Deutsche und verschwand. Nach einigen Minuten sah der Leutnant Pirogow den Meister Schiller in die Stube treten. Er sah verschlafen drein und hatte sich nach dem Rausch von gestern eben erst aus seinem Bett gefunden. Als er den Offizier erblickte, tauchte in ihm wie ein halbverwischtes Traumbild ihre gestrige Begegnung auf. Nicht daß ihm davon etwas im Gedächtnis haftete, wie es gewesen war, aber ihm schwante dunkel so etwas, als hätte er sich ziemlich dumm benommen. Deshalb zeigte er dem Offizier ein brummiges Gesicht.

»Ja, fünfzehn Rubel muß ich wenigstens für ein Paar Sporen nehmen«, sagte er, um Pirogow vom Hals zu kriegen. Denn ihm als ehrenfestem Deutschen war der Anblick eines Menschen peinlich, der ihn gestern in durchaus nicht präsentablem Zustande gesehen hatte. Schiller trank gern ohne Zeugen, nur mit zwei, drei ganz vertrauten Freunden, und schloß dabei die Tür sogar vor seinen Arbeitsleuten zu.

»Ist das nicht etwas teuer?« fragte Pirogow sehr liebenswürdig.

»Deutsche Arbeit!« sagte Schiller kühl und streichelte sein Kinn. »Ein Russe wird sie Ihnen für zwei Rubel machen.«

»Bitte sehr, um Ihnen zu beweisen, daß ich Sie besonders schätze und Sie kennenlernen möchte, zahle ich die fünfzehn Rubel gern!«

Schiller stand einen Augenblick gesenkten Hauptes da und dachte nach. Als ehrenfester Deutscher fühlte er doch einige Gewissensbisse. Deshalb wollte er dem Leutnant die Geschichte gern verleiden und erklärte darum, daß er ihm die Sporen frühestens in vierzehn Tagen liefern könne. Aber Pirogow erklärte sich auch damit ohne Widerrede einverstanden.

Der Deutsche grübelte darüber nach, wie er die Arbeit möglichst gut ausführen könnte, um den Preis von fünfzehn Rubeln zu rechtfertigen. Inzwischen kam die blonde Frau herein und kramte auf dem Tisch umher, wo die Kaffeemaschinen standen. Leutnant Pirogow benutzte die Versunkenheit Schillers dazu, schnell an die Frau heranzutreten und ihr den bis zur Schulter nackten Arm zu drücken. Doch das mißfiel dem wackern Schiller sehr.

»Frau!« brüllte er.

»Ja, Männchen?« fragte sie.

»Marsch, in die Küche!«

Und die blonde Frau entfernte sich.

»Also in vierzehn Tagen?« fragte Pirogow.

»Jawohl, in vierzehn Tagen«, sagte Schiller in Gedanken, »ich habe jetzt so sehr viel Arbeit.«

»Schön! Auf Wiedersehn, ich komme dann vorbei!«

»Auf Wiedersehen«, brummte Schiller und verschloß die Türe hinter ihm.

Der Leutnant war gewillt, die Werbung fortzusetzen, wenn ihn auch die Deutsche deutlich abgewiesen hatte. Er begriff es nicht, daß eine Frau ihm widerstehen könnte, weil ihm doch sein liebenswürdiges Wesen und sein hoher Rang das größte Anrecht auf Beachtung gaben. Es ist nicht überflüssig, zu bemerken, daß Frau Schiller bei aller ihrer Niedlichkeit auffallend dumm war. Dummheit ist ja übrigens bei einer hübschen Frau ein ganz besondrer Reiz. Ich wenigstens hab manchen Mann gekannt, der von der Dummheit seiner Frau begeistert war und darin alle Zeichen kindlicher Unschuld zu erblicken glaubte. Schönheit vollbringt die allergrößten Wunder. An einer schönen Frau wirkt jeder geistige Defekt nicht etwa abstoßend, nein, ganz im Gegenteil: besonders reizvoll, und das Laster selber hat an ihr noch einen Hauch von Lieblichkeit. Doch wo die Schönheit fehlt, muß eine Frau wohl vierzigmal so klug sein wie ein Mann, um, wenn nicht Liebe so doch Achtung zu erringen. Doch bei aller ihrer Dummheit war Frau Schiller ihrer ehelichen Pflicht beständig treu, und deshalb fiel es Pirogow recht schwer, sein kühnes Unternehmen zum Erfolg zu führen. Jedoch die Überwindung solcher Schwierigkeiten schafft besonderen Genuß, und darum wurde die Blondine unserm Leutnant täglich interessanter. Aus diesem Grund kam er so häufig, sich nach seinen Sporen zu erkundigen, daß dies Schiller mit der Zeit zuwider wurde. Er gab sich alle Mühe, die begonnenen Sporen schleunigst zu vollenden, und endlich brach der Tag an, da sie fertig waren.

»Ach, welch wunderbare Arbeit!« sagte Pirogow, als er die Sporen sah. »Herrgott, wie die gemacht sind! Solche Sporen hat nicht einmal unser General!«

Der wackere Schiller fühlte sich in seiner Eitelkeit geschmeichelt. Sein Blick ward ordentlich vergnügt, er söhnte sich innerlich vollkommen mit dem Leutnant aus. ›Russische Offiziere, das sind kluge Leute‹, dachte er bei sich.

»Dann könnten Sie wohl auch Beschläge machen, für einen Dolch zum Beispiel oder andere Waffen?«

»Ja, das kann ich gut!« sprach Schiller lächelnd.

»Oh, dann hätt ich gern einen Beschlag für meinen Dolch. Ich bring ihn her. Der Dolch ist gute türkische Arbeit, bloß hätte ich gerne einen anderen Beschlag.«

Den wackern Schiller traf das Wort wie ein Bombe, und er zog die Stirn in Falten. ›Ja, da haben wir's!‹ sprach er zu sich und schalt sich heimlich aus, daß er diese Bestellung selbst herausgefordert hatte. Sie jetzt noch abzulehnen, wäre ihm nicht anständig erschienen; auch hatte seine Arbeit bei dem Offizier so großes Lob gefunden . . . Er schüttelte unschlüssig den Kopf, doch dann erklärte er sich einverstanden. Aber der Kuß, den Pirogow zum Abschied dreist dem hübschen blonden Frauchen auf die Lippen drückte, flößte Schiller wieder lebhafte Bedenken ein.

Ich halte es für nützlich, dem geschätzten Leser jetzt vor allem zu noch etwas näherer Bekanntschaft mit dem wackeren Schiller zu verhelfen. Schiller war der richtige deutsche Mann, wie er im Buche steht. Mit zwanzig Jahren, in dem seligen Alter, wo der Russe noch leichtsinnig in den Tag hineinlebt, hatte Schiller schon sein ganzes Leben bindend festgelegt und wich von da an niemals und in keinem Fall von diesen selbstgegebenen Gesetzen ab. Er hatte es sich vorgenommen, stets um sieben aufzustehen und um zwei zu essen, sich in jeder Hinsicht akkurat zu zeigen und sich jeden Sonntag zu betrinken. Er hatte sich das Wort gegeben, im Verlaufe von zehn Jahren fünfzigtausend Rubel auf die Bank zu legen, und daß er das auch erreichen würde, war so unabwendbar wie das Schicksal; denn viel eher wird ein Subalternbeamter es vergessen, vor der Türe seines Chefs herumzuschwänzeln, als daß sich ein Deutscher je sein Wort bricht. Schiller ging mit seinen Ausgaben nie über seinen Voranschlag hinaus, und stieg in einem Jahre der Kartoffelpreis zu ungewohnter Höhe, so legte er doch keinen Groschen mehr für dieses Nahrungsmittel an und schränkte lieber den Verbrauch ein. Daß er auf die Art zuweilen etwas Hunger leiden mußte, war nicht schlimm, und er gewöhnte sich sehr bald an diese schmale Kost. Seine Prinzipientreue ging so weit, daß er sich's vorgenommen hatte, seiner Frau nur zweimal täglich einen Kuß zu geben, und damit er ja nicht in die Lage käme, über dieses Maß hinauszugehen, tat er nie mehr als einen Kaffeelöffel Pfeffer in die Suppe. Am Sonntag freilich wurde diese Regel nicht so streng befolgt; an diesem Tag trank Schiller nämlich stets zwei Flaschen Bier und eine Flasche Kümmelschnaps, obgleich er diesen immer für ein elendes Gesöff erklärte. Er trank nicht etwa wie ein Engländer, der nach dem Mittagessen gleich die Tür verschließt und sich allein dem stillen Suff ergibt. Nein, ganz im Gegenteil: als Deutscher hielt er sehr auf Unterhaltung und Gemütlichkeit beim Trunk, er trank entweder mit dem Schustermeister Hoffmann oder mit dem Tischlermeister Kuntz, der ebenfalls ein Deutscher und ein ausgepichter Säufer war. Ein solcher Mensch war also unser wackerer Schiller, der sich jetzt in äußerst widerwärtiger Lage fand. Trotz seinem deutschen Phlegma mußte er bei Pirogows unpassendem Benehmen fast so etwas wie Eifersucht empfinden. Er zerbrach sich den Kopf und fand doch keinen Weg, wie er sich diesen Russen, den verdammten Offizier, vom Halse schaffen könnte. Leutnant Pirogow saß mittlerweile bei den Kameraden, sog an seiner Pfeife – es ist ein Gebot der Vorsehung, daß man die Offiziere und die Pfeifen meist zusammen antrifft –, sog also an seiner Pfeife und ließ mit Behagen lächelnd sehr vielsagende Bemerkungen darüber fallen, daß er mit der hübschen Deutschen angebändelt hätte. Und nach seinen Worten stand er schon auf sehr vertrautem Fuß mit ihr, obgleich er in der Tat beinah schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, sie herumzukriegen.

An einem schönen Tage ging er durch die Meschtschanskaja, an dem Haus vorbei, das Schillers Firmenschild mit den daraufgemalten Kaffee- und Teemaschinen trug. Ganz außerordentlich erfreut sah er die blonde Frau im Fenster lehnen. Er warf ihr eine Kußhand zu, blieb stehen und begann: »Ah, guten Morgen, schöne Frau!«

Sie nickte ihm wie einem näheren Bekannten zu.

»Nun, ist Ihr Mann zu Hause?«

»Ja«, erwiderte die blonde Frau.

»Wann ist er denn mal nicht zu Hause?«

»Sonntags ist er für gewöhnlich nicht zu Hause«, sagte die ein wenig dümmliche Blondine.

›Das ist fein‹, sprach Pirogow zu sich, ›das merk ich mir!‹

Und schon am nächsten Sonntag stand er, wie vom Firmament geschneit, vor der Blondine. Schiller war wirklich nicht da. Die hübsche Hausfrau hatte keinen schlechten Schrecken; aber Pirogow ging diesmal sehr behutsam vor, er zeigte sich respektvoll und verbeugte sich galant, wobei er seine schlanke, wunderbar geschnürte Taille schön zur Geltung brachte. Er scherzte liebenswürdig, doch die kleine deutsche Pute sagte höchstens ja und nein dazu. Er suchte ihr von allen Seiten beizukommen, aber als er sah, daß nichts bei ihr verfing, schlug er zu guter Letzt ein Tänzchen vor. Und damit war sie auf der Stelle einverstanden, weil die Deutschen alle leidenschaftlich gerne tanzen. Hierauf aber setzte Pirogow die größte Hoffnung; erstens machte es ihm selber Spaß, und zweitens gab es ihm Gelegenheit, seine Turnüre und Gewandtheit zu beweisen, und drittens kommt man sich beim Tanze näher als sonst bei irgendwas: er konnte seinen Arm um die entzückende Blondine legen, und das war der erste Schritt zu allem andern; kurz, er sah sich schon am Ziel. Und so begann er denn eine Gavotte vor sich hin zu trällern, weil es ihm bewußt war, daß es bei den deutschen Frauen heißt »nur immer langsam voran«. Die reizende Blondine stellte sich mitten in die Stube hin und hob den schönen kleinen Fuß. Und diese Stellung fand der Leutnant so entzückend, daß er sich gleich auf sie stürzte und sie küssen wollte, doch die Deutsche fing zu schreien an und wurde dadurch in den Augen Pirogows noch reizender. Er küßte sie, wohin er traf. Da ging die Tür auf, und in ihr erschienen Schiller, Hoffmann und der Tischlermeister Kuntz. Und diese biedern Handwerksmeister waren alle drei besoffen wie die Schuster.

Doch ich darf es meinen Lesern ruhig selber überlassen, sich des Meisters Schiller zornige Empörung auszumalen.

»Halunke!« brüllte er, im höchsten Grad empört. »Wie darfst du Schuft dich unterstehen, meine Frau zu küssen? Du bist kein Offizier, du bist ein Lump. Da schlag der Teufel drein! Hab ich nicht recht, mein guter Hoffmann, was? Ich bin ein Deutscher und kein Schwein von einem Russen.«

Hoffmann war natürlich ganz der gleichen Meinung.

»Nein, o nein! Ich danke schön für Hörner! Pack du ihn am Kragen, guter Hoffmann!« Schiller fuchtelte mit beiden Armen, sein Gesicht glich in der Farbe auf ein Haar der roten Weste, die er trug. »Acht Jahre bin ich jetzt in Petersburg, ich hab in Schwaben meine alte Mutter, und mein Onkel lebt in Nürnberg, ja, ich bin ein Deutscher, kein gehörntes Rindvieh! Reiß ihm alles runter, guter Hoffmann! Ja, und du, Freund Kuntz, du hältst ihn an den Armen und den Beinen fest!«

Die Deutschen packten Pirogow ganz unverfroren an den Armen und den Beinen.

Umsonst versuchte er sich loszumachen. Die drei Handwerksmeister waren Petersburger Deutsche von dem allerstärksten Schlag, und sie verfuhren derart unmanierlich und so grob mit ihm, daß ich bekennen muß: ich finde keine Worte, dies betrübliche Ereignis zu beschreiben.

Ich zweifle nicht daran, daß Schiller tags darauf im stärksten Fieber zitterte wie Espenlaub und jeden Augenblick das Eintreten der Polizei erwartete. Er hätte, weiß der liebe Gott, wieviel darum gegeben, wenn die Sache gestern bloß ein Traum gewesen wäre. Aber was geschehen ist, das läßt sich nicht mehr ändern. Es gibt nichts auf der Erde, was sich mit dem Zorn und der Empörung Pirogows vergleichen ließe. Schon der Gedanke an die gräßliche Beleidigung, die man ihm angetan, versetzte ihn in Raserei. Verbannung nach Sibirien und Spießrutenlaufen deuchten ihn das mindeste an Strafe für den Meister Schiller. Er rannte heim und zog sich um, entschlossen, gleich zu seinem General zu laufen und ihm das gemeine Attentat der deutschen Handwerksmeister in den grellsten Farben auszumalen. Weiter wollte er dem Generalstab eine schriftliche Beschwerde unterbreiten, und sollte die von diesem ausgesprochene Strafe ihm noch nicht genügen, so war er entschlossen, bis zur obersten Instanz zu gehen.

Doch alles lief sehr seltsam aus: der Leutnant Pirogow trat unterwegs in ein Cafe, verspeiste dort zwei Stück Blätterteiggebäck, las dies und das in der »Nordischen Biene« und war, als er von neuem auf die Straße trat, bedeutend milder aufgelegt. Der Abend war sehr angenehm und kühl; darum flanierte er noch eine Weile auf dem Newskij Prospekt. Um neun Uhr fühlte er sich ganz beruhigt und fand nun, daß er den General am Sonntag besser nicht belästigen sollte; auch würde er ihn wohl um diese Stunde kaum zu Hause antreffen. So ging er denn zu einer Soiree im Hause des Direktors eines Kontrollbüros. Dort traf er einen netten Kreis von Staatsbeamten und von Offizieren seiner Division. Es wurde ein vergnügter Abend, und der Leutnant Pirogow fiel bei der polnischen Masurka durch sein gutes Tanzen auf. Nicht nur die Damen, sondern selbst die Kavaliere waren förmlich »weg« von ihm.

›Wie sonderbar ist unsere Welt doch eingerichtet!‹ sprach ich zu mir, als ich vorgestern auf dem Newskij Prospekt spazierenging und mir diese zwei seltsamen Geschichten ins Gedächtnis rief. ›Wie merkwürdig und unbegreiflich spielt doch das Geschick mit uns! Erhalten wir wohl jemals das, was wir uns wünschen? Erreichen wir je das, was scheinbar doch das Ziel all unserer Anlagen und Kräfte ist? Nein, alles kommt gerade umgekehrt. Dem einen schenkt das Schicksal wunderbare Pferde, doch er fährt gleichgültig damit herum und merkt von ihrer Schönheit nichts, während der andere, der ein wilder Pferdenarr ist, darauf angewiesen bleibt, zu Fuß zu gehen und im Zungenschnalzen Trost zu suchen, wenn stolze Traber flink an ihm vorübersausen. Der eine hat den wunderbarsten Koch, jedoch zu seinem Schmerz einen so kleinen Mund, daß er auf keine Art mehr als zwei Bröckchen durch die Zähne bringt; der andre hat ein Maulwerk wie ein Scheunentor und muß sich – ach, du liebe Zeit – an einem deutschen Erdäpfelgericht zum Mittagsmahl genügen lassen. Wie merkwürdig spielt das Geschick mit uns!‹

Jedoch die allersonderbarsten Dinge geschehen auf dem Newskij Prospekt. Oh, traut ihm nicht, dem Newskij Prospekt! Ich wickle mich so fest wie möglich in den Mantel, wenn ich ihn betrete, und mühe mich, gar nichts von dem zu sehen, was mir dort begegnet. Denn es ist doch alles nur Betrug und Gaukelspiel und täuscht ganz etwas andres vor, als was es ist! Sie glauben wohl, der Herr da in dem gutgeschnittenen Rock sei reich? Oh, weit gefehlt: nimm ihm den Rock, so bleibt von ihm nichts übrig. Sie geben sich dem Wahne hin, die dicken Herren, die da vor dem Kirchenneubau stehen, beurteilten den Stil des werdenden Gebäudes? Keine Spur: sie sprechen nur davon, wie komisch sich dort oben die zwei Krähen gegenübersitzen. Und Sie glauben wohl, der aufgeregte Herr, der mit den Armen fuchtelt, redet davon, daß seine Gattin vom Fenster aus Papierkugeln nach einem Offizier geworfen hätte, den er gar nicht kennt? Ach, keine Spur: er spricht von Lafayette. Sie meinen wohl, die Damen dort . . .? Aber den Damen trauen Sie am allerwenigsten! Und blicken Sie nur nicht zu häufig in die Ladenfenster: die Kinkerlitzchen, die da prangen, sind recht schön, doch riechen sie nach furchtbar hohen Preisen! Behüte Sie der liebe Gott davor, daß Sie den Dämchen unter ihre Hüte schauen! Und mag der Mantel einer Schönen abends aus der Ferne noch so verführerisch im Winde wehen, ich würde niemals wagen, ihr aus Neugier nachzusteigen. Und vor allem weichen Sie, um Gottes willen, nur in weitem Bogen den Laternen aus! Und gehn Sie schnell, so schnell es geht, daran vorbei! Sie haben ja noch Glück, wenn weiter nichts geschieht, als daß Sie einen Brennölfleck auf Ihren guten Anzug kriegen. Aber ganz von den Laternen abgesehen, hier ist auch alles andere Lug und Trug. Er lügt zu jeder Zeit, der Newskij Prospekt, am meisten aber dann, wenn droben über ihm die Nacht den dunkeln Schleier aufhängt, gegen den die weißen und die ockergelben Häuserfronten noch viel greller leuchten, und wenn sich die ganze Stadt in Lärm und Glanz verwandelt, wenn Myriaden von Kaleschen auf den Brücken donnern, wenn die Vorreiter mit lautem Ruf in ihren Sätteln auf- und niederhüpfen, wenn der Leibhaftige selber die Laternen ansteckt, um uns alles in verlogenem und falschem Licht zu zeigen . . .

 


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