Goethe
Sankt-Rochus-Fest zu Bingen
Goethe

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Sehen wir doch ein Beispiel an Vätern und Müttern, die, mit vielen Kindern gesegnet, liebreiche Sorge für alle tragen.

Zeichnet sich aber eins oder das andere darunter in Folgsamkeit und Gehorsam besonders aus, befolgt ohne Fragen und Zaudern die elterlichen Gebote, vollzieht es die Befehle sträcklich und beträgt sich dergestalt, als lebte es nur in und für die Erzeuger; so erwirbt es sich große Vorrechte.

Auf dessen Bitte und Vorbitte hören die Eltern und lassen oft Zorn und Unmut, durch freundliche Liebkosungen besänftigt, vorübergehen. Also denke man sich, menschlicherweise, das Verhältnis unsers Heiligen zu Gott, in welches er sich durch unbedingte Ergebung emporgeschwungen.

Wir Zuhörenden schauten indes zu dem reinen Gewölbe des Himmels hinauf; das klarste Blau war von leicht hinschwebenden Wolken belebt, wir standen auf hoher Stelle.

Die Aussicht rheinaufwärts licht, deutlich, frei, den Prediger zur Linken über uns, die Zuhörer vor ihm und uns hinabwärts.

Der Raum, auf welchem die zahlreiche Gemeinde steht, ist eine große, unvollendete Terrasse, ungleich und hinterwärts abhängig.

Künftig, mit baumeisterlichem Sinne, zweckmäßig herangemauert und eingerichtet, wäre das Ganze eine der schönsten Örtlichkeiten in der Welt.

Kein Prediger, vor mehrern tausend Zuhörern sprechend, sah je eine so reiche Landschaft über ihren Häuptern.

Nun stelle der Baumeister aber die Menge auf eine reine, gleiche, vielleicht hinterwärts wenig erhöhte Fläche, so sähen alle den Prediger und hörten bequem; diesmal aber, bei unvollendeter Anlage, standen sie abwärts, hintereinander, sich ineinander schickend, so gut sie konnten.

Eine von oben überschaute wundersame, stillschwankende Woge. Der Platz, wo der Bischof der Predigt zuhörte, war nur durch den hervorragenden Baldachin bezeichnet, er selbst in der Menge verborgen und verschlungen.

Auch diesem würdigen obersten Geistlichen würde der einsichtige Baumeister einen angemessenen, ansehnlichen Platz anweisen und dadurch die Feier verherrlichen.

Dieser Umblick, diese dem geübten Kunstauge abgenötigten Betrachtungen hinderten nicht, aufmerksam zu sein auf die Worte des würdigen Predigers, der zum zweiten Teile schritt, und etwa folgendermaßen sprechen fortfuhr: »eine solche Ergebung in den Willen Gottes, so hoch verdienstlich sie auch gepriesen werden kann, wäre jedoch nur unfruchtbar geblieben, wenn der fromme Jüngling nicht seinen Nächsten so wie sich selbst, ja mehr wie sich selbst geliebt hätte.

Denn ob er gleich, vertrauensvoll auf die Fügungen Gottes, sein Vermögen den Armen verteilt, um als frommer Pilger das heilige Land zu erreichen, so ließ er sich doch von diesem preiswürdigen Entschlusse unterwegs ablenken.

Die große Not, worin er seine Mitchristen findet, legt ihm die unerläßliche Pflicht auf, den gefährlichsten Kranken beizustehen, ohne an sich selbst zu denken.

Er folgt seinem Beruf durch mehrere Städte, bis er endlich, selbst vom wütenden Übel ergriffen, seinen Nächsten weiter zu dienen außerstand gesetzt wird.

Durch diese gefahrvolle Tätigkeit nun hat er sich dem göttlichen Wesen abermals genähert: denn wie Gott die Welt in so hohem Grade liebte, daß er zu ihrem Heil seinen einzigen Sohn gab, so opferte Sankt Rochus sich selbst seinen Mitmenschen«.

Die Aufmerksamkeit auf jedes Wort war groß, die Zuhörer unübersehbar.

Alle einzeln herangekommene Wallfahrer und alle vereinigten Gemeindeprozessionen standen hier versammelt, nachdem sie vorher ihre Standarten und Fahnen an die Kirche zur linken Hand des Predigers angelehnt hatten, zu nicht geringer Zierde des Ortes.

Erfreulich aber war nebenan in einem kleinen Höfchen, das gegen die Versammlung zu unvollendet sich öffnete, sämtlich herangetragene Bilder auf Gerüsten erhöht zu sehen, als die vornehmsten Zuhörer ihre Rechte behauptend.

Drei Muttergottesbilder, von verschiedener Größe, standen neu und frisch im Sonnenscheine, die langen rosenfarbenen Schleifenbänder flatterten munter und lustig im lebhaftesten Zugwinde.

Das Christuskind in Goldstoff blieb immer freundlich.

Der heilige Rochus, auch mehr als einmal, schaute seinem eigenen Feste geruhig zu, die Gestalt im schwarzen Samtkleide wie billig obenan.

Der Prediger wandte sich nun zum dritten Teil und ließ sich ohngefähr also vernehmen: »aber auch diese wichtige und schwere Handlung wäre von keinen seligen Folgen gewesen, wenn Sankt Rochus, für so große Aufopferungen, einen irdischen Lohn erwartet hätte.

Solchen gottseligen Taten kann nur Gott lohnen, und zwar in Ewigkeit.

Die Spanne der Zeit ist zu kurz für grenzenlose Vergeltung.

Und so hat auch der Ewige unsern heiligen Mann für alle Zeiten begnadigt und ihm die höchste Seligkeit gewährt: nämlich andern, wie er schon hienieden im Leben getan, auch von oben herab für und für hülfreich zu sein.

Wir dürfen daher in jedem Sinne ihn als ein Muster ansehn, an welchem wir die Stufen unsers geistlichen Wachstums abmessen.

Habt ihr nun in traurigen Tagen euch an ihn gewendet und glückliche Erhörung erlebt durch göttliche Huld, so beseitiget jetzt allen Übermut und anmaßliches Hochfahren; aber fragt euch demütig und wohlgemut: ' haben wir denn seine Eigenschaften vor Augen gehabt?

Haben wir uns beeifert ihm nachzustreben?

Ergaben wir uns, zur schrecklichsten Zeit, unter kaum erträglichen Lasten in den Willen Gottes?

Unterdrückten wir ein aufkeimendes Murren?

Lebten wir einer getrosten Hoffnung, um zu verdienen, daß sie uns nun, so unerwartet als gnädig, gewährt sei?

Haben wir in den gräßlichsten Tagen pestartig wütender Krankheiten nicht nur gebetet und um Rettung gefleht?

Haben wir den Unsrigen, näher oder entfernteren Verwandten und Bekannten, ja Fremden und Widersachern in dieser Not beigestanden, um Gottes und des Heiligen willen unser Leben dran gewagt?

' Könnt ihr nun diese Fragen im stillen Herzen mit Ja beantworten, wie gewiß die meisten unter euch redlich vermögen, so bringt ihr ein löbliches Zeugnis mit nach Hause.

Dürft ihr sodann, wie ich nicht zweifle, noch hinzufügen: wir haben bei allem diesem an keinen irdischen Vorteil gedacht, sondern wir begnügten uns an der gottgefälligen Tat selbst, so könnt ihr euch um desto mehr erfreuen, keine Fehlbitte getan zu haben und ähnlicher geworden zu sein dem Fürbittenden.

Wachset und nehmet zu an diesen geistlichen Eigenschaften, auch in guten Tagen, damit ihr zu schlimmer Zeit, wie sie oft unversehens hereinbricht, zu Gott, durch seinen Heiligen, Gebt und Gelübde wenden dürftet.


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