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Iphigenie:
      Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
      Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines,
      Wie in der Göttin stilles Heiligtum,
      Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
      Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
      Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
      So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
      Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
      Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
      Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
      Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
      Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
      Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
      Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.
      Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern
      Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram
      Das nächste Glück vor seinen Lippen weg,
      Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken
      Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
      Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo
      Sich Mitgeborne spielend fest und fester
      Mit sanften Banden aneinanderknüpften.
      Ich rechte mit den Göttern nicht; allein
      Der Frauen Zustand ist beklagenswert.
      Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann,
      Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
      Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg!
      Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.
      Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!
      Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen
      Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar
      Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!
      So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
      In ernsten, heil'gen Sklavenbanden fest.
      O wie beschämt gesteh ich, daß ich dir
      Mit stillem Widerwillen diene, Göttin,
      Dir, meiner Retterin! Mein Leben sollte
      Zu freiem Dienste dir gewidmet sein.
      Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe
      Noch jetzt auf dich, Diana, die du mich,
      Des größten Königes verstoßne Tochter,
      In deinen heil'gen, sanften Arm genommen.
      Ja, Tochter Zeus', wenn du den hohen Mann,
      Den du, die Tochter fordernd, ängstigtest,
      Wenn du den göttergleichen Agamemnon,
      Der dir sein Liebstes zum Altare brachte,
      Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich
      Nach seinem Vaterland zurückbegleitet,
      Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn,
      Die schonen Schätze, wohl erhalten hast:
      So gib auch mich den Meinen endlich wieder,
      Und rette mich, die du vom Tod errettet,
      Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode!
Iphigenie. Arkas.
Arkas:
      Der König sendet mich hierher und beut
      Der Priesterin Dianens Gruß und Heil!
      Dies ist der Tag, da Tauris seiner Göttin
      Für wunderbare neue Siege dankt.
      Ich eile vor dem König und dem Heer,
      Zu melden, daß er kommt und daß es naht.
Iphigenie:
      Wir sind bereit, sie würdig zu empfangen,
      Und unsre Göttin sieht willkommnem Opfer
      Von Thoas' Hand mit Gnadenblick entgegen.
Arkas:
      O fänd ich auch den Blick der Priesterin,
      Der werten, vielgeehrten, deinen Blick,
      O heil'ge Jungfrau, heller, leuchtender,
      Uns allen gutes Zeichen! Noch bedeckt
      Der Gram geheimnisvoll dein Innerstes;
      Vergebens harren wir schon jahrelang
      Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust.
      Solang ich dich an dieser Stätte kenne,
      Ist dies der Blick, vor dem ich immer schaudre;
      Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele
      Ins Innerste des Busens dir geschmiedet.
Iphigenie:
      Wie's der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt.
Arkas:
      Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist?
Iphigenie:
      Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?
Arkas:
      Und dir ist fremd das Vaterland geworden.
Iphigenie:
      Das ist's, warum mein blutend Herz nicht heilt
      In erster Jugend, da sich kaum die Seele
      An Vater, Mutter und Geschwister band,
      Die neuen Schößlinge, gesellt und lieblich,
      Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts
      Zu dringen strebten: leider faßte da
      Ein fremder Fluch mich an und trennte mich
      Von den Geliebten, riß das schöne Band
      Mit ehrner Faust entzwei. Sie war dahin,
      Der Jugend beste Freude, das Gedeihn
      Der ersten Jahre. Selbst gerettet, war
      Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust
      Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.
Arkas:
      Wenn du dich so unglücklich nennen willst,
      So darf ich dich auch wohl undankbar nennen.
Iphigenie:
      Dank habt ihr stets.
Arkas:
      Doch nicht den reinen Dank,
      Um dessentwillen man die Wohltat tut;
      Den frohen Blick, der ein zufriednes Leben
      Und ein geneigtes Herz dem Wirte zeigt.
      Als dich ein tief geheimnisvolles Schicksal
      Vor so viel Jahren diesem Tempel brachte,
      Kam Thoas, dir als einer Gottgegebnen
      Mit Ehrfurcht und mit Neigung zu begegnen,
      Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich,
      Das jedem Fremden sonst voll Grausens war,
      Weil niemand unser Reich vor dir betrat,
      Der an Dianens heil'gen Stufen nicht
      Nach altem Brauch, ein blutig Opfer, fiel.
Iphigenie:
      Frei atmen macht das Leben nicht allein.
      Welch Leben ist's, das an der heil'gen Stätte
      Gleich einem Schatten um sein eigen Grab
      Ich nur vertrauern muß? Und nenn ich das
      Ein fröhlich selbstbewußtes Leben, wenn
      Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt,
      Zu jenen grauen Tagen vorbereitet,
      Die an dem Ufer Lethes selbstvergessend
      Die Trauerschar der Abgeschiednen feiert?
      Ein unnütz Leben ist ein früher Tod;
      Dies Frauenschicksal ist vor allen meins.
Arkas:
      Den edlen Stolz, daß du dir selbst nicht gnügest,
      Verzeih ich dir, sosehr ich dich bedaure:
      Er raubet den Genuß des Lebens dir.
      Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?
      Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?
      Wer hat den alten grausamen Gebrauch,
      Daß am Altar Dianens jeder Fremde
      Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr
      Mit sanfter Überredung aufgehalten
      Und die Gefangnen vom gewissen Tod
      Ins Vaterland so oft zurückgeschickt?
      Hat nicht Diane, statt erzürnt zu sein,
      Daß sie der blut'gen alten Opfer mangelt,
      Dein sanft Gebet in reichem Maß erhört?
      Umschwebt mit frohem Fluge nicht der Sieg
      Das Heer? und eilt er nicht sogar voraus?
      Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los,
      Seitdem der König, der uns weis' und tapfer
      So lang geführet, nun sich auch der Milde
      In deiner Gegenwart erfreut und uns
      Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert?
      Das nennst du unnütz, wenn von deinem Wesen
      Auf Tausende herab ein Balsam träufelt?
      Wenn du dem Volke, dem ein Gott dich brachte,
      Des neuen Glückes ew'ge Quelle wirst
      Und an dem unwirtbaren Todesufer
      Dem Fremden Heil und Rückkehr zubereitest?
Iphigenie:
      Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,
      Der vorwärts sieht, wie viel noch übrigbleibt.
Arkas:
      Doch lobst du den, der, was er tut, nicht schätzt?
Iphigenie:
      Man tadelt den, der seine Taten wägt.
Arkas:
      Auch den, der wahren Wert zu stolz nicht achtet,
      Wie den, der falschen Wert zu eitel hebt.
      Glaub mir und hör auf eines Mannes Wort,
      Der treu und redlich dir ergeben ist:
      Wenn heut der König mit dir redet, so
      Erleichtr ihm, was er dir zu sagen denkt.
Iphigenie:
      Du ängstest mich mit jedem guten Worte;
      Oft wich ich seinem Antrag mühsam aus.
Arkas:
      Bedenke, was du tust und was dir nützt.
      Seitdem der König seinen Sohn verloren,
      Vertraut er wenigen der Seinen mehr,
      Und diesen wenigen nicht mehr wie sonst.
      Mißgünstig sieht er jedes Edlen Sohn
      Als seines Reiches Folger an, er fürchtet
      Ein einsam hülflos Alter, ja vielleicht
      Verwegnen Aufstand und frühzeit'gen Tod.
      Der Skythe setzt ins Reden keinen Vorzug,
      Am wenigsten der König. Er, der nur
      Gewohnt ist, zu befehlen und zu tun,
      Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch
      Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.
      Erschwer's ihm nicht durch ein rückhaltend Weigern,
      Durch ein vorsätzlich Mißverstehen. Geh
      Gefällig ihm den halben Weg entgegen.
Iphigenie:
      Soll ich beschleunigen, was mich bedroht?
Arkas:
      Willst du sein Werben eine Drohung nennen?
Iphigenie:
      Es ist die schrecklichste von allen mir.
Arkas:
      Gib ihm für seine Neigung nur Vertraun.
Iphigenie:
      Wenn er von Furcht erst meine Seele löst.
Arkas:
      Warum verschweigst du deine Herkunft ihm?
Iphigenie:
      Weil einer Priesterin Geheimnis ziemt.
Arkas:
      Dem König sollte nichts Geheimnis sein;
      Und ob er's gleich nicht fordert, fühlt er's doch
      Und fühlt es tief in seiner großen Seele,
      Daß du sorgfältig dich vor ihm verwahrst.
Iphigenie:
      Nährt er Verdruß und Unmut gegen mich?
Arkas:
      So scheint es fast. Zwar schweigt er auch von dir;
      Doch haben hingeworfne Worte mich
      Belehrt, daß seine Seele fest den Wunsch
      Ergriffen hat, dich zu besitzen. Laß,
      O überlaß ihn nicht sich selbst! damit
      In seinem Busen nicht der Unmut reife
      Und dir Entsetzen bringe, du zu spät
      An meinen treuen Rat mit Reue denkest.
Iphigenie:
      Wie? Sinnt der König, was kein edler Mann,
      Der seinen Namen liebt und dem Verehrung
      Der Himmlischen den Busen bändiget,
      Je denken sollte? Sinnt er, vom Altar
      Mich in sein Bette mit Gewalt zu ziehn?
      So ruf ich alle Götter und vor allen
      Dianen, die entschloßne Göttin, an,
      Die ihren Schutz der Priesterin gewiß
      Und Jungfrau einer Jungfrau gern gewährt.
Arkas:
      Sei ruhig! Ein gewaltsam neues Blut
      Treibt nicht den König, solche Jünglingstat
      Verwegen auszuüben. Wie er sinnt,
      Befürcht ich andern harten Schluß von ihm,
      Den unaufhaltbar er vollenden wird:
      Denn seine Seel ist fest und unbeweglich.
      Drum bitt ich dich, vertrau ihm, sei ihm dankbar,
      Wenn du ihm weiter nichts gewähren kannst.
Iphigenie:
      O sage, was dir weiter noch bekannt ist!
Arkas:
      Erfahr's von ihm. Ich seh den König kommen;
      Du ehrst ihn, und dich heißt dein eigen Herz,
      Ihm freundlich und vertraulich zu begegnen.
      Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort
      Der Frauen weit geführt.
Iphigenie allein:
      Zwar seh ich nicht,
      Wie ich dem Rat des Treuen folgen soll;
      Doch folg ich gern der Pflicht, dem Könige
      Für seine Wohltat gutes Wort zu geben,
      Und wünsche mir, daß ich dem Mächtigen,
      Was ihm gefällt, mit Wahrheit sagen möge.
Iphigenie. Thoas.
Iphigenie:
      Mit königlichen Gütern segne dich
      Die Göttin! Sie gewähre Sieg und Ruhm
      Und Reichtum und das Wohl der Deinigen
      Und jedes frommen Wunsches Fülle dir!
      Daß, der du über viele sorgend herrschest,
      Du auch vor vielen seltnes Glück genießest.
Thoas:
      Zufrieden wär ich, wenn mein Volk mich rühmte:
      Was ich erwarb, genießen andre mehr
      Als ich. Der ist am glücklichsten, er sei
      Ein König oder ein Geringer, dem
      In seinem Hause Wohl bereitet ist.
      Du nahmest teil an meinen tiefen Schmerzen,
      Als mir das Schwert der Feinde meinen Sohn,
      Den letzten, besten, von der Seite riß.
      Solang die Rache meinen Geist besaß,
      Empfand ich nicht die Öde meiner Wohnung;
      Doch jetzt, da ich befriedigt wiederkehre,
      Ihr Reich zerstört, mein Sohn gerochen ist,
      Bleibt mir zu Hause nichts, das mich ergetze.
      Der fröhliche Gehorsam, den ich sonst
      Aus einem jeden Auge blicken sah,
      Ist nun von Sorg' und Unmut still gedämpft.
      Ein jeder sinnt, was künftig werden wird,
      Und folgt dem Kinderlosen, weil er muß.
      Nun komm ich heut in diesen Tempel, den
      Ich oft betrat, um Sieg zu bitten und
      Für Sieg zu danken. Einen alten Wunsch
      Trag ich im Busen, der auch dir nicht fremd
      Noch unerwartet ist: ich hoffe, dich
      Zum Segen meines Volks und mir zum Segen
      Als Braut in meine Wohnung einzuführen.
Iphigenie:
      Der Unbekannten bietest du zu viel,
      O König, an. Es steht die Flüchtige
      Beschämt vor dir, die nichts an diesem Ufer
      Als Schutz und Ruhe sucht, die du ihr gabst.
Thoas:
      Daß du in das Geheimnis deiner Ankunft
      Vor mir wie vor dem Letzten stets dich hüllest,
      Wär unter keinem Volke recht und gut.
      Dies Ufer schreckt die Fremden: das Gesetz
      Gebietet's und die Not. Allein von dir,
      Die jedes frommen Rechts genießt, ein wohl
      Von uns empfangner Gast, nach eignem Sinn
      Und Willen ihres Tages sich erfreut,
      Von dir hofft ich Vertrauen, das der Wirt
      Für seine Treue wohl erwarten darf.
Iphigenie:
      Verbarg ich meiner Eltern Namen und
      Mein Haus, o König, war's Verlegenheit,
      Nicht Mißtraun. Denn vielleicht, ach wüßtest du,
      Wer vor dir steht und welch verwünschtes Haupt
      Du nährst und schützest: ein Entsetzen faßte
      Dein großes Herz mit seltnem Schauer an,
      Und statt die Seite deines Thrones mir
      Zu bieten, triebest du mich vor der Zeit
      Aus deinem Reiche; stießest mich vielleicht,
      Eh zu den Meinen frohe Rückkehr mir
      Und meiner Wandrung Ende zugedacht ist,
      Dem Elend zu, das jeden Schweifenden,
      Von seinem Haus Vertriebnen überall
      Mit kalter, fremder Schreckenshand erwartet.
Thoas:
      Was auch der Rat der Götter mit dir sei
      Und was sie deinem Haus und dir gedenken,
      So fehlt es doch, seitdem du bei uns wohnst
      Und eines frommen Gastes Recht genießest,
      An Segen nicht, der mir von oben kommt.
      Ich möchte schwer zu überreden sein,
      Daß ich an dir ein schuldvoll Haupt beschütze.
Iphigenie:
      Dir bringt die Wohltat Segen, nicht der Gast.
Thoas:
      Was man Verruchten tut, wird nicht gesegnet.
      Drum endige dein Schweigen und dein Weigern;
      Es fordert dies kein ungerechter Mann.
      Die Göttin übergab dich meinen Händen;
      Wie du ihr heilig warst, so warst du's mir.
      Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz:
      Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst,
      So sprech ich dich von aller Fordrung los.
      Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt
      Und ist dein Stamm vertrieben oder durch
      Ein ungeheures Unheil ausgelöscht,
      So bist du mein durch mehr als ein Gesetz.
      Sprich offen! und du weißt, ich halte Wort.
Iphigenie:
      Vom alten Bande löset ungern sich
      Die Zunge los, ein langverschwiegenes
      Geheimnis endlich zu entdecken. Denn
      Einmal vertraut, verläßt es ohne Rückkehr
      Des tiefen Herzens sichre Wohnung, schadet,
      Wie es die Götter wollen, oder nützt.
      Vernimm! Ich bin aus Tantalus' Geschlecht.
Thoas:
      Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.
      Nennst du den deinen Ahnherrn, den die Welt
      Als einen ehmals Hochbegnadigten
      Der Götter kennt? Ist's jener Tantalus,
      Den Jupiter zu Rat und Tafel zog,
      An dessen alterfahrnen, vielen Sinn
      Verknüpfenden Gesprächen Götter selbst,
      Wie an Orakelsprüchen, sich ergötzten?
Iphigenie:
      Et ist es; aber Götter sollten nicht
      Mit Menschen wie mit ihresgleichen wandeln:
      Das sterbliche Geschlecht ist viel zu schwach,
      In ungewohnter Höhe nicht zu schwindeln.
      Unedel war er nicht und kein Verräter,
      Allein zum Knecht zu groß, und zum Gesellen
      Des großen Donnrers nur ein Mensch. So war
      Auch sein Vergehen menschlich; ihr Gericht
      War streng, und Dichter singen: Übermut
      Und Untreu stürzten ihn von Jovis Tisch
      Zur Schmach des alten Tartarus hinab.
      Ach, und sein ganz Geschlecht trug ihren Haß!
Thoas:
      Trug es die Schuld des Ahnherrn oder eigne?
Iphigenie:
      Zwar die gewalt'ge Brust und der Titanen
      Kraftvolles Mark war seiner Söhn' und Enkel
      Gewisses Erbteil; doch es schmiedete
      Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band.
      Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld
      Verbarg er ihrem scheuen, düstern Blick;
      Zur Wut ward ihnen jegliche Begier,
      Und grenzenlos drang ihre Wut umher.
      Schon Pelops, der Gewaltig-Wollende,
      Des Tantalus geliebter Sohn, erwarb
      Sich durch Verrat und Mord das schönste Weib,
      Önomaus' Erzeugte, Hippodamien.
      Sie bringt den Wünschen des Gemahls zwei Söhne,
      Thyest und Atreus. Neidisch sehen sie
      Des Vaters Liebe zu dem ersten Sohn,
      Aus einem andern Bette wachsend, an.
      Der Haß verbindet sie, und heimlich wagt
      Das Paar im Brudermord die erste Tat.
      Der Vater wähnet Hippodamien
      Die Mörderin, und grimmig fordert er
      Von ihr den Sohn zurück, und sie entleibt
      Sich selbst –
Thoas:
      Du schweigest? Fahre fort zu reden!
      Laß dein Vertraun dich nicht gereuen! Sprich!
Iphigenie:
      Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,
      Der froh von ihren Taten, ihrer Größe
      Den Hörer unterhält und still sich freuend
      Ans Ende dieser schönen Reihe sich
      Geschlossen sieht! Denn es erzeugt nicht gleich
      Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer;
      Erst eine Reihe Böser oder Guter
      Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude
      Der Welt hervor. – Nach ihres Vaters Tode
      Gebieten Atreus und Thyest der Stadt,
      Gemeinsam herrschend. Lange konnte nicht
      Die Eintracht dauern. Bald entehrt Thyest
      Des Bruders Bette. Rächend treibet Atreus
      Ihn aus dem Reiche. Tückisch hatte schon
      Thyest, auf schwere Taten sinnend, lange
      Dem Bruder einen Sohn entwandt und heimlich
      Ihn als den seinen schmeichelnd auferzogen.
      Dem füllet er die Brust mit Wut und Rache
      Und sendet ihn zur Königsstadt, daß er
      Im Oheim seinen eignen Vater morde.
      Des Jünglings Vorsatz wird entdeckt: der König
      Straft grausam den gesandten Mörder, wähnend,
      Er töte seines Bruders Sohn. Zu spät
      Erfährt er, wer vor seinen trunknen Augen
      Gemartert stirbt; und die Begier der Rache
      Aus seiner Brust zu tilgen, sinnt er still
      Auf unerhörte Tat. Er scheint gelassen,
      Gleichgültig und versöhnt und lockt den Bruder
      Mit seinen beiden Söhnen in das Reich
      Zurück, ergreift die Knaben, schlachtet sie
      Und setzt die ekle, schaudervolle Speise
      Dem Vater bei dem ersten Mahle vor.
      Und da Thyest an seinem Fleische sich
      Gesättigt, eine Wehmut ihn ergreift,
      Er nach den Kindern fragt, den Tritt, die Stimme
      Der Knaben an des Saales Türe schon
      Zu hören glaubt, wirft Atreus grinsend
      Ihm Haupt und Füße der Erschlagnen hin. –
      Du wendest schaudernd dein Gesicht, o König:
      So wendete die Sonn ihr Antlitz weg
      Und ihren Wagen aus dem ew'gen Gleise.
      Dies sind die Ahnherrn deiner Priesterin;
      Und viel unseliges Geschick der Männer,
      Viel Taten des verworrnen Sinnes deckt
      Die Nacht mit schweren Fittichen und läßt
      Uns nur in grauenvolle Dämmrung sehn.
Thoas:
      Verbirg sie schweigend auch. Es sei genug
      Der Greuel! Sage nun, durch welch ein Wunder
      Von diesem wilden Stamme du entsprangst.
Iphigenie:
      Des Atreus ältster Sohn war Agamemnon:
      Er ist mein Vater. Doch ich darf es sagen,
      In ihm hab ich seit meiner ersten Zeit
      Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn.
      Ihm brachte Klytämnestra mich, den Erstling
      Der Liebe, dann Elektren. Ruhig herrschte
      Der König, und es war dem Hause Tantals
      Die lang entbehrte Rast gewährt. Allein
      Es mangelte dem Glück der Eltern noch
      Ein Sohn, und kaum war dieser Wunsch erfüllt,
      Daß zwischen beiden Schwestern nun Orest,
      Der Liebling, wuchs, als neues Übel schon
      Dem sichern Hause zubereitet war.
      Der Ruf des Krieges ist zu euch gekommen,
      Der, um den Raub der schönsten Frau zu rächen,
      Die ganze Macht der Fürsten Griechenlands
      Um Trojens Mauern lagerte. Ob sie
      Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel
      Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte
      Der Griechen Heer. In Aulis harrten sie
      Auf günst'gen Wind vergebens: denn Diane,
      Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt
      Die Eilenden zurück und forderte
      Durch Kalchas' Mund des Königs ältste Tochter.
      Sie lockten mit der Mutter mich ins Lager;
      Sie rissen mich vor den Altar und weihten
      Der Göttin dieses Haupt. – Sie war versöhnt:
      Sie wollte nicht mein Blut und hüllte rettend
      In eine Wolke mich; in diesem Tempel
      Erkannt ich mich zuerst vom Tode wieder.
      Ich bin es selbst, bin Iphigenie,
      Des Atreus Enkel, Agamemnons Tochter,
      Des Göttin Eigentum, die mit dir spricht.
Thoas:
      Mehr Vorzug und Vertrauen geb ich nicht
      Der Königstochter als der Unbekannten.
      Ich wiederhole meinen ersten Antrag:
      Komm, folge mir und teile, was ich habe.
Iphigenie:
      Wie darf ich solchen Schritt, o König, wagen?
      Hat nicht die Göttin, die mich rettete,
      Allein das Recht auf mein geweihtes Leben?
      Sie hat für mich den Schutzort ausgesucht,
      Und sie bewahrt mich einem Vater, den
      Sie durch den Schein genug gestraft, vielleicht
      Zur schönsten Freude seines Alters hier.
      Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah;
      Und ich, auf ihren Weg nicht achtend, hätte
      Mich wider ihren Willen hier gefesselt?
      Ein Zeichen bat ich, wenn ich bleiben sollte.
Thoas:
      Das Zeichen ist, daß du noch hier verweilst.
      Such Ausflucht solcher Art nicht ängstlich auf.
      Man spricht vergebens viel, um zu versagen;
      Der andre hört von allem nur das Nein.
Iphigenie:
      Nicht Worte sind es, die nur blenden sollen;
      Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt.
      Und sagst du dir nicht selbst, wie ich dem Vater,
      Der Mutter, den Geschwistern mich entgegen
      Mit ängstlichen Gefühlen sehnen muß?
      Daß in den alten Hallen, wo die Trauer
      Noch manchmal stille meinen Namen lispelt,
      Die Freude, wie um eine Neugeborne,
      Den schönsten Kranz von Säul' an Säulen schlinge!
      O sendetest du mich auf Schiffen hin!
      Du gäbest mir und allen neues Leben.
Thoas:
      So kehr zurück! Tu, was dein Herz dich heißt,
      Und höre nicht die Stimme guten Rats
      Und der Vernunft. Sei ganz ein Weib und gib
      Dich hin dem Triebe, der dich zügellos
      Ergreift und dahin oder dorthin reißt.
      Wenn ihnen eine Lust im Busen brennt,
      Hält vom Verräter sie kein heilig Band,
      Der sie dem Vater oder dem Gemahl
      Aus langbewährten, treuen Armen lockt;
      Und schweigt in ihrer Brust die rasche Glut,
      So dringt auf sie vergebens treu und mächtig
      Der Überredung goldne Zunge los.
Iphigenie:
      Gedenk, o König, deines edeln Wortes!
      Willst du mein Zutraum so erwidern? Du
      Schienst vorbereitet, alles zu vernehmen.
Thoas:
      Aufs Ungehoffte war ich nicht bereitet;
      Doch sollt ich's auch erwarten: wußt ich nicht,
      Daß ich mit einem Weibe handeln ging?
Iphigenie:
      Schilt nicht, o König, unser arm Geschlecht.
      Nicht herrlich wie die euern, aber nicht
      Unedel sind die Waffen eines Weibes.
      Glaub es, darin bin ich dir vorzuziehn,
      Daß ich dein Glück mehr als du selber kenne.
      Du wähnest, unbekannt mit dir und mir,
      Ein näher Band werd uns zum Glück vereinen.
      Voll guten Mutes wie voll guten Willens
      Dringst du in mich, daß ich mich fügen soll;
      Und hier dank ich den Göttern, daß sie mir
      Die Festigkeit gegeben, dieses Bündnis
      Nicht einzugehen, das sie nicht gebilligt.
Thoas:
      Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz.
Iphigenie:
      Sie reden nur durch unser Herz zu uns.
Thoas:
      Und hab ich, sie zu hören, nicht das Recht?
Iphigenie:
      Es überbraust der Sturm die zarte Stimme.
Thoas:
      Die Priesterin vernimmt sie wohl allein?
Iphigenie:
      Vor allen andern merke sie der Fürst.
Thoas:
      Dein heilig Amt und dein geerbtes Recht
      An Jovis Tisch bringt dich den Göttern näher
      Als einen erdgeborenen Wilden.
Iphigenie:
      So
      Büß ich nun das Vertraun, das du erzwangst.
Thoas:
      Ich bin ein Mensch; und besser ist's, wir enden.
      So bleibe denn mein Wort: Sei Priesterin
      Der Göttin, wie sie dich erkoren hat;
      Doch mir verzeih Diane, daß ich ihr
      Bisher mit Unrecht und mit innerm Vorwurf
      Die alten Opfer vorenthalten habe.
      Kein Fremder nahet glücklich unserm Ufer:
      Von alters her ist ihm der Tod gewiß.
      Nur du hast mich mit einer Freundlichkeit,
      In der ich bald der zarten Tochter Liebe,
      Bald stille Neigung einer Braut zu sehn
      Mich tief erfreute, wie mit Zauberbanden
      Gefesselt, daß ich meiner Pflicht vergaß.
      Du hattest mir die Sinnen eingewiegt,
      Das Murren meines Volks vernahm ich nicht;
      Nun rufen sie die Schuld von meines Sohnes
      Frühzeit'gem Tode lauter über mich.
      Um deinetwillen halt ich länger nicht
      Die Menge, die das Opfer dringend fordert.
Iphigenie:
      Um meinetwillen hab ich's nie begehrt.
      Der mißversteht die Himmlischen, der sie
      Blutgierig wähnt; er dichtet ihnen nur
      Die eignen grausamen Begierden an.
      Entzog die Göttin mich nicht selbst dem Priester?
      Ihr war mein Dienst willkommner als mein Tod.
Thoas:
      Es ziemt sich nicht für uns, den heiligen
      Gebrauch mit leicht beweglicher Vernunft
      Nach unserm Sinn zu deuten und zu lenken.
      Tu deine Pflicht, ich werde meine tun.
      Zwei Fremde, die wir in des Ufers Höhlen
      Versteckt gefunden und die meinem Lande
      Nichts Gutes bringen, sind in meiner Hand.
      Mit diesen nehme deine Göttin wieder
      Ihr erstes, rechtes, lang entbehrtes Opfer!
      Ich sende sie hierher; du weißt den Dienst.
Iphigenie: allein
      Du hast Wolken, gnädige Retterin,
      Einzuhüllen unschuldig Verfolgte
      Und auf Winden dem ehrnen Geschick sie
      Aus den Armen, über das Meer,
      Über der Erde weiteste Strecken,
      Und wohin es dir gut dünkt, zu tragen.
      Weise bist du und siehest das Künftige;
      Nicht vorüber ist dir das Vergangne,
      Und dein Blick ruht über den Deinen,
      Wie dein Licht, das Leben der Nächte,
      Über der Erde ruhet und waltet.
      O enthalte vom Blut meine Hände!
      Nimmer bringt es Segen und Ruhe;
      Und die Gestalt des zufällig Ermordeten
      Wird auf des traurig-unwilligen Mörders
      Böse Stunden lauern und schrecken.
      Denn die Unsterblichen lieben der Menschen
      Weit verbreitete gute Geschlechter,
      Und sie fristen das flüchtige Leben
      Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
      Ihres eigenen, ewigen Himmels
      Mitgenießendes fröhliches Anschaun
      Eine Weile gönnen und lassen.