Johann Wolfgang von Goethe
Erwin und Elmire. Zweite Fassung
Johann Wolfgang von Goethe

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Zweiter Aufzug

Waldig-buschige Einöde, zwischen Felsen eine Hütte mit einem Garten dabei.

Erster Auftritt

Erwin
    Ihr verblühet, süße Rosen,
    Meine Liebe trug euch nicht;
    Blühtet, ach, dem Hoffnungslosen,
    Dem der Gram die Seele bricht!

    Jener Tage denk' ich trauernd,
    Als ich, Engel, an dir hing,
    Auf das erste Knöspchen lauernd
    Früh zu meinem Garten ging,

    Alle Blüten, alle Früchte
    Noch zu deinen Füßen trug,
    Und vor deinem Angesichte
    Hoffnung in dem Herzen schlug.

    Ihr verblühet, süße Rosen,
    Meine Liebe trug euch nicht;
    Blühtet, ach, dem Hoffnungslosen,
    Dem der Gram die Seele bricht!

So ist es denn vergebens, jenes Bild
Aus meiner Stirne wegzutilgen. Hell
Bleibt die Gestalt und glänzend vor mir stehn.
Je tiefer sich die Sonne hinter Wolken
Und Nebel bergen mag, je trüber sich
Der Schmerz um meine Seele legt; nur heller
Und heller glänzt im Innersten dies Bild,
Dies Angesicht hervor, ich seh', ich seh's! –
Sie wandelt vor mir hin, und blickt nicht her.
O welch ein Wuchs! o welch ein stiller Gang!
Sie tritt so gut und so bescheiden auf,
Als sorgte sie zu zeigen: »Seht ich bin's.«
Und doch geht sie so leis' und leicht dahin,
Als wüßte sie von ihrer eignen Schönheit
So wenig, als der Stern der uns erquickt.
Aber bald wächst das Gefühl in meinem Busen;
Diese stille Betrachtung, heftiger, heftiger
Wendet sie Schmerzen tief in der Brust.
Unwiderstehlich faßt mich das Verlangen
Zu ihr! zu ihr! und diese Gegenwart
Des schönen Bilds vor meiner Seele flieht
Nur mehr und mehr, je mehr ich nach ihm greife.
    Gegen Hütte und Garten gekehrt.
O teurer Mann, den ich in dieser Öde,
So still und glücklich fand, der manche Stunde
Mir Frieden in das Herz gesprochen, der
Zu früh nach jenen seligen Gefilden
Hinüber wandelte. Von deinem Grabe,
Das ich mit Blumen kränzte, sprich zu mir;
Und kannst du mich nicht retten, zieh mich nach.

    Welch ein Lispeln, welch ein Schauer
    Weht vom Grabe des Geliebten!
    Ja, es wehet dem Betrübten
    Sanften Frieden in das Herz.
        Gegen die andre Seite gekehrt.
    Schweige, zarte liebe Stimme!
    Mit den sanften Zaubertönen
    Lockst du mich, vermehrst das Sehnen,
    Marterst mit vergebnem Schmerz.
        Wie oben.
    Welch ein Lispeln, welch ein Schauer
    Weht vom Grabe des Geliebten!
    Ja, es wehet dem Betrübten
    Sanften Frieden in das Herz.

Wer kommt am Flusse her, und steigt behende
Den Fels herauf? Erkenn' ich diesen Mann,
So ist's Valerio. Welch ein Geschick
Führt ihn auf diese Spur? Ich eile schnell
Mich zu verbergen. – Was beschließ' ich? Was
Ist hier zu tun? – Geschwind' in deine Hütte!
Dort kannst du horchen, überlegen dort.

Zweiter Auftritt

Valerio eine blonde Haarlocke in der Hand tragend
Nein, es ist nicht genug die Welt zu fliehn!
Die schönen Locken hab' ich gleich entschlossen
Vom Haupte mir geschnitten, und es ist
An keine Wiederkehr zu denken. Hier
Weih' ich der Einsamkeit den ganzen Rest
Von meinem Leben. Felsen und Gebüsch,
Du hoher Wald, du Wasserfall im Tal,
Vernehmet mein Gelübde, nehmt es an!

    Hier! Es ist mein fester Wille,
    Euch, ihr Nymphen dieser Stille,
    Weih' ich dieses schöne Haar!
    Alle Locken, alle Haare,
    Zierden meiner jungen Jahre,
    Bring' ich euch zum Opfer dar.

Er legt die Locke auf den Felsen.

Dritter Auftritt

Valerio. Erwin.

Valerio ohne Erwin zu sehen
Mein Herz ist nun von aller Welt entfernt,
Ich darf mich wohl dem heilgen Manne zeigen.

Erwin in der Tür der Hütte
Vergebens will ich fliehn; sie zieht mich an,
Die Stimme, die mich sonst so oft getröstet.

Valerio Er kommt! O Heiliger, vergib, du siehst –
    Er erstaunt und tritt zurück.

Erwin Vergib, mein Freund, du siehst nur seinen Schüler.

Valerio Ist's möglich? welche Stimme! welches Bild!

Erwin Hat ihn der Gram nicht ganz und gar entstellt?

Valerio Er ist's! er ist's! mein Freund! Erwin mein Freund!

Erwin Der Schatten deines Freundes ruft dich an.

Valerio O komm an meine Brust, und laß mich endlich
Des süßten Traumes noch mich wachend freuen.

Erwin Du bringst mir eine Freude, die ich nie
Mehr hoffen konnte; ja nicht hoffen wollte.
Mein treuer, bester Freund, ich schließe dich
Mit Lust an meinen Busen, fühle jetzt,
Daß ich noch lebe. Irrend schlich Erwin,
Verbannten Schatten gleich, um diese Felsen:
Allein er lebt! Er lebt! – O teurer Mann,
Ich lebe nur um wieder neu zu bangen.

Valerio O sage mir! O sage viel, und sprich:
Wo ist der Mann, der Edle, der dies Haus
So lang' bewohnte?

Erwin                             Diese kleine Hütte,
Sein Körper und sein Kleid sind hier geblieben;
Er ist gegangen! – Dorthin! wohin ich ihm
Zu folgen noch nicht wert war. Siehst du, hier,
Bedeckt mit Rosen, blüht des Frommen Grab.

Valerio Ich wein' ihm keine Träne: denn die Freude,
Dich hier zu finden, hat mir das Gefühl
Von Schmerz und Tod aus meiner Brust gehoben.

Erwin Ich selbst erkenne mich für schuldig; oft
Weint' ich an seinem Grabe Tränen, die
Den edeln Mann nicht galten. Freund, o Freund!

Valerio Was hab' ich dir zu sagen!

Erwin                                               Rede nicht! –
Warum bist du gekommen? sag' mir an!

Valerio Die Eifersucht der Liebsten trieb mich fort.
Es konnte diese Qual mein treues Herz
Nicht länger tragen.

Erwin                             So verscheuchte dich
Ein allzu großes Glück von ihrer Seite.
Ach wehe! weh! – Wie bringt die Gegenwart
Des alten Freundes, diese liebe Stimme,
Der Blick, der tröstend mir entgegen kam,
Wenn sich mein Herz verzweifelnd spalten wollte,
Wie bringst du, teurer Mann, mir eine Welt
Von Bildern, von Gefühlen in die Wüste! –
Wo bist du hin auf einmal, süßer Friede,
Der dieses Haus und dieses Grab umschwebte?
Auf einmal faßt mich die Erinnrung an,
Gewaltig an; ich widerstehe nicht
Dem Schmerz, der mich ergreift und mich zerreißt.

Valerio Geliebter Freund, vernimm in wenig Worten
Mehr Trost und Glück, als du dir hoffen darfst.

Erwin Die Hoffnung hat mich lang genug getäuscht;
Wenn du mich liebst, so schweig' und laß mich los.

    Rede nicht! Ich darf nicht fragen.
    Schweig' o schweig'! Ich will nichts wissen.
    Ach was werd' ich hören müssen!
    Ja, sie lebt, und nicht für mich!

    Doch, was hast du mir zu sagen?
    Sprich! ich will, ich will es hören.
    Soll ich ewig mich verzehren?
    Schlage zu und töte mich!

Valerio der zuletzt, anstatt Erwinen zuzuhören und auf seine Leidenschaft zu merken, mit Staunen nach der Seite hingesehen, wo er hereingekommen
Ich schweige, wenn du mich nicht hören willst.

Erwin Wo blickst du hin? Was siehst du in dem Tale?

Valerio Zwei Mädchen seh' ich, die den steilen Pfad
Mit Mühe klimmen. Ich betrachte schon
Sie mit Erstaunen eine Weile. Sanft
Regt sich der Wunsch im Busen: »Möchte doch
Auf diesen Pfaden die Geliebte wandeln!«
Mein unbefestigt Herz wird mehr und mehr
Durch deine Gegenwart, o Freund, erschüttert.
Ich finde dich statt jenes edeln Weisen;
Ich weiß die Freude, die noch deiner wartet;
Ich fühle, daß ich noch der Welt gehöre;
Entfliehen könnt' ich, ihr mich nicht entreißen.

Erwin nach der Seite sehend
Sie kommen g'rad herauf; sie sind gekleidet
Wie Mädchen aus der Stadt; und wie verloren
Sie sich in das Gebirg'? Es folgt von weitem
Ein Diener nach; sie scheinen nicht verirrt.
Herein! Herein! mein Freund, ich lasse mich
Vor keinem Menschen sehn, der aus der Stadt
Zu kommen scheint.

Valerio                             Sie irren doch vielleicht;
Es wäre hart, sie nicht zurecht zu weisen. –
O Himmel, trügt mein Auge? – Retter Amor!
Wie machst du es mit deinen Dienern gut!
Sie sind es!

Erwin                   Wer?

Valerio                           Sie sind es! freue dich!
Das Ende deines Leidens ist gekommen.

Erwin Du täuschest mich.

Valerio                               Die allerliebsten Mädchen,
Rosette, mit – Elmiren!

Erwin                                   Welch ein Traum!

Valerio Sieh' hin! Erkennst du sie?

Erwin                                               Ich seh' und sehe
Mit offnen Augen nichts; so blendet mich
Ein neues Glück, das mir den Sinn verwirrt.

Valerio Elmire steht an einem Felsen still.
Sie lehnt sich an und sieht hinab ins Tal;
Ihr tiefer Blick durchwandelt Wies' und Wald;
Sie denkt; gewiß, Erwin, gedenkt sie dein.
Erwin! Erwin!

Erwin aus tiefen Gedanken
                        O wecke mich nicht auf.

Valerio Rosette schreitet heftiger voraus.
Geschwind, Erwin, verberge dich; ich bleibe,
Erschrecke sie mit diesem kurzen Haar,
Mit Ernst und Schweigen. Mag der kleine Gott
Uns alle dann mit schöner Freude kränzen!

Vierter Auftritt

Valerio an der Seite auf einem Felsen sitzend. Rosa.

Rosa Hier ist der Platz! – O Himmel, welch ein Glück!
Valerio! Er ist's! So hat mein Herz,
Elmire hat mich nicht betrogen. Ja!
Ich find' ihn wieder. – Freund, mein teurer Freund,
Was machst du hier? Was hab' ich zu erwarten?
Du hörest meine Stimme, wendest nicht
Dein Angesicht nach deiner Liebsten um?
Doch ja, du siehst mich an, du blickst nach mir,
O komm herab, o komm in meinen Arm!
Du schweigst und bleibst? O Himmel, seh' ich recht!
Dein schönes Haar hast du vom Haupt geschnitten,
O was vermut' ich! was errat' ich nun!

    Kannst du nicht besänftigt werden?
    Bleibst du still und einsam hier?
    Ach, was sagen die Gebärden,
    Ach, was sagt dein Schweigen mir?

    Hast du dich mit ihm verbunden,
    Ist dir nicht ein Wort erlaubt;
    Ach so ist mein Glück verschwunden,
    Ist auf ewig mir geraubt.

Valerio Du jammerst mich, und doch vermag ich
Betrübtes Kind, dir nun zu helfen. Nur
Zum Troste sag' ich dir: Noch ist nicht alles,
Was du zu fürchten scheinst, getan; noch bleibt
Die Hoffnung mir und dir. Allein ich muß
In diesem Augenblick den Druck der Hand
Und jeden liebevollen Gruß versagen.
Entferne dich dorthin, und setze dich
Auf jenen Felsen; bleibe still und nähre
Den festen Vorsatz, dich und den Geliebten
Nicht mehr zu quälen, dort, bis wir dich rufen.

Rosa Ich folge deinen Winken, drücke nicht
Die Freude lebhaft aus, daß du mir wieder
Gegeben bist. Dein freundlich-ernstes Wort,
Dein Blick gebietet mir; ich geh' und hoffe.

Fünfter Auftritt

Valerio. Erwin.

Valerio Erwin! Erwin!

Erwin                         Mein Freund, was hast du mir
Für Schmerzen zubereitet! Sage mir,
Was soll ich denken? Denn von ungefähr
Sind diese Frauen nicht hieher gekommen.
Grausamer Freund, du hast die stille Wohnung
Doch endlich ausgespäht, und kommst mit List,
Mit glatten Worten, mit Verstellung, mich
Erst einzuwiegen; führest dann ein Bild
Vor meinen Augen auf, das jeden Schmerz
Aufs neue regt, das weder Trost noch Hülfe
Mir bringen kann und mir Verzweiflung bringt.

Valerio Nur stille, lieber Mann; ich sage dir
Bis auf das Kleinste, wie es zugegangen.
Nur jetzt ein Wort! – Sie liebt dich –

Erwin                                                       Nein, ach nein!
Laß mich nicht hoffen, daß ich nicht verzweifle.

Valerio Du sollst sie sehen.

Erwin                                   Nein, ich fliehe sie.

Valerio Du sollst sie sprechen!

Erwin                                         Ich verstumme schon.

Valerio Ihr vielgeliebtes Bild wird vor dir stehn.

Erwin Sie nähert sich. Ihr Götter, ich versinke!

Valerio Vernimm ein Wort. Sie hofft, den weisen Alten
Hier oben zu besuchen. Hast du nicht
Ein Kleid von ihm?

Erwin                             Ein neues Kleid ist da;
Man schenkt' es ihm zuletzt, allein er wollte
In seinem alten Rock begraben sein.

Valerio Verkleide dich.

Erwin                           Wozu die Mummerei?
Was er verließ, bleibt mir verehrungswert.

Valerio Es ist kein Scherz; du sollst nur Augenblicke
Verborgen vor ihr stehn, sie sehn, sie hören,
Ihr innres Herz erkennen, wie sie liebt,
Und wen?

Erwin               Was soll ich tun?

Valerio                                         Geschwind, geschwind!

Erwin Doch mein Gesicht, mein glattes Kinn wird bald
Den Trug entdecken; soll ich dann beschämt,
Verloren vor ihr stehn?

Valerio                                 Zum guten Glück
Hat meine Leidenschaft des holden Schmuckes
Der Jugend mich beraubt. Das blonde Haar,
    Er nimmt das Haar vom Felsen.
Ans Kinn gepaßt, macht dich zum weisen Mann.

Erwin Noch immer wechselst du mit Ernst und Scherz.

Valerio Vergnügter hab' ich nie den Sinn geändert.
Sie kommt, geschwind.

Erwin                                     Ich folge; sei es nun
Zum Leben oder Tod; es ist gewagt.

Sie gehen in die Hütte.

Sechster Auftritt

Elmire allein
    Mit vollen Atemzügen
    Saug' ich, Natur, aus dir
    Ein schmerzliches Vergnügen.
    Wie lebt,
    Wie bebt,
    Wie strebt
    Das Herz in mir!

    Freundlich begleiten
    Mich Lüftlein gelinde.
    Flohene Freuden
    Ach, säuseln im Winde,
    Fassen die bebende,
    Die strebende Brust.
    Himmlische Zeiten!
    Ach, wie so geschwinde
    Dämmert und blicket
    Und schwindet die Lust.

    Du lachst mir, angenehmes Tal,
    Und du, o reine Himmelssonne,
    Erfüllst seit langer Zeit zum erstenmal
    Mein Herz mit süßer Frühlingswonne.
    Weh mir! Ach, sonst war meine Seele rein,
    Genoß so friedlich deinen Segen;
    Verbirg dich, Sonne, meiner Pein!
    Verwildre dich, Natur, und stürme mir entgegen.

    Die Winde sausen,
    Die Ströme brausen,
    Die Blätter rascheln
    Dürr ab ins Tal.
    Auf steiler Höhe,
    Am nackten Felsen,
    Lieg' ich und flehe;
    Auf öden Wegen,
    Durch Sturm und Regen,
    Fühl' ich und flieh' ich
    Und suche die Qual.

    Wie glücklich, daß in meinem Herzen
    Sich wieder neue Hoffnung regt!
    O wende, Liebe, diese Schmerzen,
    Die meine Seele kaum erträgt.

Siebenter Auftritt

Elmire. Valerio.

Valerio Welch eine Klage tönet um das Haus?

Elmire Welch eine Stimme tönet mir entgegen?

Valerio Es ist ein Freund, der hier sich wieder findet.

Elmire So hat mich die Vermutung nicht betrogen.

Valerio Ach, meine Freundin, heute gab ich dir
Den besten Trost, belebte deine Hoffnung
In einem Augenblicke, da ich nicht
Bedachte, daß ich selbst des Trostes bald
Auf immer mangeln würde.

Elmire                                         Wie, mein Freund?

Valerio Die Haare sind vom Scheitel abgeschnitten,
Ich von der Welt.

Elmire                         O ferne sei uns das!

Valerio Ich darf nur wenig reden, nur das wenige
Was nötig ist. Du willst den Edeln sehen,
Der hier nun glücklicher als ehmals wohnt.
Er saß in seiner Hütte still, und sah
Die Ankunft zwei bedrängter Herzen schon
In seinem stillen Sinn voraus. Er kommt.
Sogleich will ich ihn rufen.

Elmire                                       Tausend Dank!
O ruf ihn her, wenn ich mich zu der Hütte
Nicht wagen darf. Mein Herz ist offen; nun
Will ich ihm meine Not und meine Schuld
Mit hoffnungsvoller Reue gern gestehn.

Achter Auftritt

Elmire. Erwin in langem Kleide mit weißem Barte tritt aus der Hütte.

Elmire kniet
    Sieh mich, Heilger, wie ich bin,
    Eine arme Sünderin.

Er hebt sie auf, und verbirgt die Bewegungen seines Herzens.

    Angst und Kummer, Reu' und Schmerz
    Quälen dieses arme Herz.
    Sieh' mich vor dir unverstellt,
    Herr, die Schuldigste der Welt.

    Ach, es war ein junges Blut,
    War so lieb, er war so gut!
    Ach, so redlich liebt' er mich!
    Ach, so heimlich quält' er sich!
    Sieh' mich, Heilger, wie ich bin,
    Eine arme Sünderin.

    Ich vernahm sein stummes Flehn,
    Und ich konnt' ihn zehren sehn;
    Hielte mein Gefühl zurück,
    Gönnt' ihm keinen holden Blick.
    Sieh mich vor dir unverstellt,
    Herr, die Schuldigste der Welt.

    Ach, so drängt' und quält' ich ihn;
    Und nun ist der Arme hin.
    Schwebt in Kummer, Mangel, Not,
    Ist verloren, er ist tot.
    Sieh mich, Heilger, wie ich bin,
    Eine arme Sünderin.

Erwin zieht eine Schreibtafel heraus und schreibt mit zitternder Hand einige Worte, schlägt die Tafel zu, und gibt sie Elmiren. Eilig will sie die Blätter aufmachen; er hält sie ab und macht ihr ein Zeichen, sich zu entfernen. Diese Pantomime wird von Musik begleitet, wie alles das Folgende.

Elmire Ja, würd'ger Mann, ich ehre deinen Wink,
Ich überlasse dich der Einsamkeit,
Ich störe nicht dein heiliges Gefühl
Durch meine Gegenwart. Wann darf ich, wann
Die Blätter öffnen? wann die heilgen Züge
Mit Andacht schauen, küssen, in mich trinken?
    Er deutet in die Ferne.
An jener Linde? Wohl! So bleibe dir
Der Friede stets, wie du ihn mir bereitest.
Leb' wohl! Mein Herz bleibt hier mit ewgem Danke.
    ab.

Erwin schaut ihr mit ausgestreckten Armen nach, da reißt er den Mantel und die Maske ab.
    Sie liebt mich!
    Sie liebt mich!
    Welch schreckliches Beben!
    Fühl' ich mich selber?
    Bin ich am Leben?
    Sie liebt mich!
    Sie liebt mich!

    Ach! rings so anders!
    Bist du's noch, Sonne?
    Bist du's noch, Hütte?
    Trage die Wonne,
    Seliges Herz!
    Sie liebt mich!
    Sie liebt mich!

Neunter Auftritt

Erwin. Valerio. Nachher Elmire. Nachher Rosa.

Valerio
    Sie liebt dich! Sie liebt dich!
    Siehst du, die Seele
    Hast du betrübet,
    Die dich nur immer,
    Immer geliebet!

Erwin
    Ich bin so freudig,
    Fühle mein Leben!
    Ach, sie vergibt mir,
    Sie hat vergeben!

Valerio
    Nein, ihre Tränen
    Tust ihr nicht gut.

Erwin
    Sie zu versöhnen
    Fließe mein Blut!
    Sie liebt mich!

Valerio
    Sie liebt dich!
Wo ist sie hin?

Erwin                       Ich schickte sie hinab
Nach jener Linde, daß mir nicht das Herz
Für Füll' und Freude brechen sollte. Nun
Hat sie auf einem Täfelchen, das ich
Ihr in die Hände gab, das Wort gelesen:
»Er ist nicht weit!«

Valerio                           Sie kommt! geschwind, sie kommt.
Nur einen Augenblick in dies Gesträuch!

Sie verstecken sich.

Elmire
    Er ist nicht weit!
    Wo find' ich ihn wieder?
    Er ist nicht weit!
    Mir beben die Glieder.
    O Hoffnung! O Glück!
    Wo geh' ich, wo such' ich,
    Wo find' ich ihn wieder?
    Ihr Götter, erhört mich,
    O gebt ihn zurück!
    Erwin! Erwin!

Erwin hervortretend
Elmire!

Elmire         Weh mir!

Erwin zu ihren Füßen   Ich bin's.

Elmire an seinem Halse               Du bist's!

Valerio hereintretend
    O schauet hernieder!
    Ihr Götter dies Glück!
    Da hast du ihn wieder!
    Da nimm sie zurück!
        ab

Erwin
    Ich habe dich wieder!
    Hier bin ich zurück.
    Ich sinke darnieder,
    Mich tötet das Glück.

Elmire
    Ich habe dich wieder!
    Mir trübt sich der Blick.
    O schauet hernieder,
    Und gönnt mir das Glück!

Rosa welche schon, während Elmirens voriger Strophe, mit Valerio hereingetreten und ihre Freude, Verwunderung und Versöhnung mit dem Geliebten pantomimisch ausgedrückt.
    Da hab' ich ihn wieder!
    Du hast ihn zurück!
    O schauet hernieder!
    Ihr Götter, dies Glück!

Valerio
    Eilet, gute Kinder, eilet,
    Euch auf ewig zu verbinden.
    Dieser Erde Glück zu finden
    Suchet ihr umsonst allein.

Alle
    Laßt uns eilen, eilen, eilen,
    Uns auf ewig zu verbinden!
    Dieser Erde Glück zu finden
    Müsset ihr zu Paaren sein.

Erwin
    Es verhindert mich die Liebe,
    Mich zu kennen, mich zu fassen.
    Ohne Träne kann ich lassen
    Diese Hütte, dieses Grab.

Elmire. Rosa. Valerio
    Oft, durch unser ganzes Leben
    Bringen wir der stillen Hütte
    Neuen Dank und neue Bitte,
    Daß uns bleibe, was sie gab.

Alle
    Laßt uns eilen, eilen, eilen!
    Dank auf Dank sei unser Leben.
    Viel hat uns das Glück gegeben,
    Es erhalte, was es gab!

 


 


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