Johann Wolfgang von Goethe
Dichtung und Wahrheit. Dritter und vierter Teil
Johann Wolfgang von Goethe

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Nachträgliches Vorwort

»Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drei Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. Im zweiten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Beete ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen.

Freilich ist es Gartenfreunden wohl bekannt, daß eine Pflanze nicht in jedem Boden, ja in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht, und die angewendete Mühe nicht immer reichlich belohnt; und so hätte denn auch diese Darstellung, mehrere Jahre früher oder zu einer günstigeren Zeit unternommen, eine frischere und frohere Gestalt gewinnen mögen. Sie ist aber nun, wie es jedem Gewordenen begegnet, in ihre Begrenzung eingeschlossen, sie ist von ihrem individuellen Zustand umschrieben, von dem sich nichts hinzu noch hinweg tun läßt, und ich wünsche, daß dieses Werk, eine Ausgeburt mehr der Notwendigkeit als der Wahl, meine Leser einigermaßen erfreuen und ihnen nützlich sein möge. Diesen Wunsch tue ich um so angelegentlicher, als ich mich eine Zeitlang von ihnen beurlaube: denn in der nächsten Epoche, zu der ich schreiten müßte, fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen setzen Frucht an, und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam, und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt.

So geht es den Werken der Natur und der Menschen, und so ging es auch mir mit meinen Arbeiten, wie schon die erste Epoche Beispiele genug darlegt.

Möge nun die gegenwärtige Bemühung ihre Hauptabsicht erreichen und als Einleitung zu meinen poetischen und andern Produktionen dienen, wovon ich eine neue Ausgabe vorbereite.

In dem Laufe derselben und, ist es mir durch das Schicksal gegönnt, nach deren Vollendung gedenke ich mehr Aufklärung zu geben, die man von mir verlangt hat und verlangen wird. Denn obgleich jedes dichterische Werk zur Zeit seiner Erscheinung auf sich selbst ruhen und aus sich selbst wirken soll, und ich deswegen bei keinem weder Vor- noch Nachwort, auch gegen die Kritik keine Entschuldigung geliebt, so werden doch solche Arbeiten, insofern sie in die Vergangenheit zurücktreten, unwirksamer, eben je mehr sie im Augenblick gewirkt, ja man schätzt sie weniger, je mehr sie zur Verbreitung der vaterländischen Kultur beigetragen haben; wie die Mutter so leicht durch eine Anzahl schöner Töchter verfinstert wird. Deshalb ist es billig, ihnen einen historischen Wert zu verschaffen, indem man sich über ihre Entstehung mit wohlwollenden Kennern unterhält.

Vom Vergangenen und Geleisteten mag man gern im Alter sprechen, um so mehr als einer frischen Jugend nicht zu verargen ist, wenn sie ihre eigenen Verdienste gelten macht und, mit mehr oder weniger Bewußtsein und Vorsatz, besonders das Nächstvergangene in die Ferne zu drängen und zu übernebeln trachtet. – –

Die Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert, wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt. Die Lebensbeschreibung soll das Leben darstellen, wie es an und für sich und um sein selbst willen da ist. Dem Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren. Wollte man die Herrlichkeit des Frühlings und seiner Blüten nach dem wenigen Obst berechnen, das zuletzt noch von den Bäumen genommen wird, so würde man eine sehr unvollkommene Vorstellung jener lieblichen Jahreszeit haben. Und doch hat der Gärtner das Recht, sein Jahr bloß nach dem zu beurteilen, was ihm Keller und Kammern füllt. Alles wahrhaft Biographische, wohin die zurückgebliebenen Briefe, die Tagebücher, die Memoiren und so manches andere zu rechnen sind, bringen das vergangene Leben wieder hervor, mehr oder weniger wirklich oder im ausführlichen Bilde. Man wird nicht müde, Biographien zu lesen, so wenig als Reisebeschreibungen: denn man lebt mit Lebendigen. Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft. Ja man kann sagen, sie wird immer verdrießlicher zu lesen, je länger die Welt steht: denn jeder Nachfolgende ist genötigt, ein schärferes, ein feineres Resultat aus den Weltbegebenheiten herauszusublimieren, da denn zuletzt, was nicht als caput mortuum liegen bleibt, im Rauch aufgeht.

Soll aber und muß Geschichte sein, so kann der Biograph sich um sie ein großes Verdienst erwerben, daß er ihr das Lebendige, das sich ihren Augen entzieht, aufbewahren und mitteilen mag. – –

Wenn wir unsere Bildung von fremden Literaturen zu erlangen suchen, so fragen wir nicht, wie alt die Werke sind, sondern wir nehmen an, daß sie vortrefflich seien, und suchen, so entfernt auch die Seiten, so fremd auch die Zustände sein mögen, sie uns und uns ihnen zu assimilieren. Was eine Bildung betrifft, die wir aus vaterländischer Literatur nehmen, verhält es sich ganz anders. Der Knabe nimmt seine Bildung aus Schriften, die ohngefähr gleiches Alter mit ihm haben, der Jüngling aus gleichzeitigen, ältere bleiben entweder auf dem Punkte stehen, wo sie in ihrer Jugend gestanden, andere gehn mit dem Zeitalter fort, andere, die dem Zeitalter vorgeschritten, halten zuletzt gleichfalls an und sehen sich um, wie die übrigen nachkommen. Die alte Literatur der eigenen Nation ist immer als eine fremde anzusehen.

Diese Bemerkungen werden uns bei dem Fortschritt sowohl meiner eigenen Geschichte, als der deutschen Literargeschichte überhaupt zum Leitfaden dienen können.«


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