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Ein steinern Haus.

Das Pfarrhaus war ein Anbau der Kirche, im selben alterthümlichen Style gebaut, ehrwürdig, feierlich, massiv, aber unheimlich, unwohnlich, kalt und finster. Das Gebäude enthielt eine große Flur, ein großes Zimmer und eine große Küche, sonst fast nur Kammern, die in mittelalterlicher Planlosigkeit, je nach Bedürfniß und Gelegenheit, in verschiedenen Bauarten, von Holz und von Steinen, neben und über einander gethürmt waren. Das große Wohnzimmer war zwischen den gewölbten dicken Mauern so kühl, daß man selbst im heißen Sommer seinen Athem sehen konnte. Das Licht fiel durch die hohen, schmalen Fenster auf die einfach weißgetünchten Wände mit einem unbehaglich grellen Schein und doch spärlich genug. Früher hatten große Lindenbäume davor als natürliche Lichtschirme ein heimliches Düster über das Zimmer verbreitet; der jetzige Pfarrer aber hatte sie der Gesundheit und Sparsamkeit wegen umschlagen lassen.

Die Einrichtung war dem Gebäude ganz entsprechend. Im Wohnzimmer stand nichts als in der Mitte ein großer Tisch, an den vier Wänden ein Schrank, des Pfarrers Schreibpult mit einem Lehnstuhl, ein hartes Sopha und ein paar Stühle. Diese Möbel waren von altem, schwarzem Nußbaumholz, geradlinig, ohne jeden Zierrath, unverwüstlich, zu ihrer Zeit auch kostbar; aber bei ihnen wie bei der ganzen Ausstattung war einzig auf das Nothwendige gesehen, nicht im Entferntesten auf Glanz, Anmuth und Bequemlichkeit. Da gab es keinen Glasschrank mit bunten Geburtstagtassen, keine Blumenvase, kein Bild, keine behaglichen Sessel. Nur ein Luxusgegenstand war da, ein Spiegel, und dieser war so hoch gehängt und so vornübergebeugt, daß man einen Schwindel bekam, wenn man hineinsah.

Wie das Haus, so das Hausen darin. Feierlich, ernst, würdevoll war das Leben hier, aber auch monoton, beschränkt, armselig. Als Werner den Pfarrer das erste Mal in der Kirche sah, diese ausdrucksvolle Hohepriestergestalt, mit dem sichern, in sich ruhenden sittlichen Ernste, da kam er sich selbst so nichtig vor, so flatterhaft wie die Wetterfahne am Kirchthurme. Aber es war nicht seine Art, sich dauernd imponiren zu lassen, und als er den Pfarrer in seinen eignen vier Pfählen jetzt in der Nähe sah, war es nicht schwer, ihm genug der baroken und selbst komischen Seiten abzusehen.

Wer wie er so mitten im Leben stand und stets gestanden hatte, der konnte nicht wissen, was er dem Leben zu verdanken hat und was der Mensch in seiner Vereinzelung ist. Pfarrer Wendelin war Das, was nur irgend der Mensch ohne Geselligkeit, in der strengsten Isolirtheit werden kann. Aengstlich verzagt der Welt und der Zukunft gegenüber, war sein Hochmuth unbegrenzt gegen den Kreis, mit dem er in Berührung stand. An Andern sich gegenüber kannte er kein Recht, in sich keine Pflicht, eine Beschränkung sich aufzulegen. Unfähig, die allergeringste Beschwerde von Andern zu ertragen, verstand er nicht, seine eignen Unerträglichkeiten auch nur zu fühlen. Das Bewußtsein seiner Autorität war ihm so eingewurzelt, daß er in seiner Familie nichts ohne seinen Befehl geschehen lassen konnte; er glaubte, sowohl das innere wie äußere Leben seiner Frau und seiner Kinder wie ein Uhrwerk regeln zu müssen. Wo er nicht in Worten befahl, befahl er in Blicken; von den Seinen setzte sich niemand an den Tisch, trug niemand einen Stuhl an seinen Platz, ohne daß er befehlend und beaufsichtigend mit seinen Augen folgte. Nichts ging in der kleinen Wirthschaft vor ohne seinen Willen; keine Kartoffel im Topf, kein Ei in der Speisekammer, ohne daß er davon wußte. Dabei verbot ihm das Gefühl seiner Würde von diesen alltäglichen Dingen zu reden; nur in kurzen, abgebrochenen Sätzen gab er seine entscheidenden Befehle. Da aber die geistlichen Dinge auf die Kanzel und in sein Amt gehörten, so gab es für ihn keinen Stoff geselliger Unterhaltung, außer wenn er mit seinem Sohne in Streit gerieth, aber auch da gab es kein Austauschen von Ideen, kein Ausgleichen der Ansichten; denn der Pfarrer mußte als Pfarrer und als Vater immer recht haben, und so ging man nach den ersten gewechselten Worten im Bewußtsein der unversöhnlichen Differenzen grollend auseinander. Fast immer saß man schweigend beisammen, oder der Pfarrer ging mit finsteren Mienen, ein Kirchenlied summend, im Zimmer auf der gewohnten Diele auf und ab. Wagte die Hausfrau, die gar zu gern einmal etwas plauderte, ein Wort über eine Nachbarsfamilie, dann schnitt der Alte mit einem schroffen Vorwurf auf diese Leute ihr es ab. Kein Mensch war ihm recht; und wenn es nur war, daß er die Kleider anders trug, er mußte ihm etwas vorwerfen, wodurch er seine Verachtung verdiene. Trug Einer seinen Rock kürzer als der Pfarrer, so war er ein Geck; trug er ihn länger, so war er ein Bauer oder ein Pedant. Daß er dabei oft genug jemanden der Dinge wegen tadelte die er von sich selbst eingestehen mußte, dafür war er blind – wahrscheinlich waren diese Eigenschaften an ihm, dem Pfarrer, ganz andere, und gewiß war jeder Andere nur deshalb schon seiner Verachtung werth, weil er eben ein Anderer war. Diese Geringschätzung dehnte er auf seine eignen Kinder aus. Stets hatte er diese für im Grunde verworfene Geschöpfe gehalten, die nur die Fähigkeit der Verführung, keinen Kern eignen Werthes in sich trügen; nur durch seine strenge Zucht meinte er sie fern vom Bösen erhalten zu können. Deshalb seine stete Angst vor der Zukunft; deshalb seine stete Sorge: Was soll daraus werden? Was soll daraus werden? so frug er, wenn sein Sohn, der Theologe, abwich von der strengsten Orthodoxie, auch wenn er nur eine tiefere Begründung derselben suchte. Was soll daraus werden? so klagte er in sich hinein, wenn Martha heiter blickte bei einem neuen Kleide, wenn sie aufjubelte über einen Vogel, über eine Blume.

So war der stolze Pfarrer Wendelin die Caricatur des Menschen, zu der man wird, ohne den Werth der menschlichen Gesellschaft zu erkennen: ein Knicker, der jedes Stück Brod mißt, das verzehrt wird; ein Sonderling, der keine Gegenseitigkeit schätzt, nicht einmal irgend ein Geburtstagsgeschenk nehmen oder geben will; ein Menschenfeind, der das Leben von seiner finstersten Seite aufzufassen sich bemüht, der keine Freude, keine erheiternde Gewohnheit, keine Festlichkeit der Familie, nur des Lebens strengste Notwendigkeit kennt.

Das aber schienen doch nicht bloße baroke Wunderlichkeiten des Mannes zu sein; oft ließ er einen tiefen, ja unergründlichen Hintergrund seines Wesens bei alle diesem hindurch blicken. Hinter dem absprechenden Aeußern traten dann Ansichten, ja principielle Begründungen hervor. Er beschäftigte sich im Stillen mit dem alten philosophischen Gegensatze des Epikuräismus und Stoicismus und zwar nahm er für den Letztern Partei. Cicero und Seneca, sowie die Schriftsteller der christlichen Entsagungstheorie, insonderheit Thomas a Kempis waren seine Lieblingslectüre; eine Rechtfertigung des Diogenes zu schreiben, war eine Idee, die ihn lange beschäftigt hatte. Als er seinen Sohn für die Universität vorbereitete, waren es diese Anschauungen, in die er ihn vorzüglich einweihte. Ihn aus dem Hause entlassend, faßte er seine Lehren auf einem Gedenkblatte zusammen: Das einzige Glück ist die Tugend – hieß es unter Anderem; die Tugend ist aber jene Kraft des Geistes, die allem wechselnden Sein der Welt, der eignen Sinnlichkeit, dem Gemüthe, dem Verstande gegenüber sich fühlt als die unveränderliche, als die unerschütterlich in sich selbst ruhende Kraft. Bleibe unberührt von der Welt, von der ich dich fern hielt; bewahre dir den ewigen Gleichmuth, die Apathia, in der die alten Weisen die Welt überwanden, und du wirst auf dem Pfade zum Herrn bleiben. Bedenke das: Alle Lust ist ein Nachlassen deiner Geistesstärke. Wohlbefinden, Reichthum, Glück, Ruhm, Gelehrsamkeit, Liebe schätze nicht zu hoch; fliehe sie lieber, als daß du sie suchst. Diese Schätze der Welt sind nicht Uebel an sich, aber weil sie zum Bösen führen können wie zum Guten, so werden sie Uebel. Deshalb entsage ihnen, entsage ihnen von vornherein, ohne sie zu kosten; den Genuß, den du nicht kennst, entbehrst du nicht. Suche dir die Tonne des Diogenes, den engen Kreis des Daseins, in den du dich einlebst, ungestört vom Geräusche der ganzen Welt. Aber glaube nicht, weil du Eines gethan, im Andern dir nachsehen zu dürfen. Es giebt nur eine Tugend – die Tugend in ihrer höchsten Bedeutung, kein mehr oder weniger, keine Grade darin: Entweder mußt du völlig gut sein oder völlig böse. Der Trieb des Menschenherzens ist aber böse von Jugend auf, wie die Schrift sagt; darum suche ihn zu ertödten und sein Tod wird deiner Seele Leben sein.

Es waren diese Grundsätze für den Pfarrer mehr als zufällige Reminiscenzen einer einseitigen classischen Schulbildung; er hatte sie aus dem Schatze der Wissenschaft sich herausgesucht als Schild und Waffe gegen die Zeit, in der er lebte; als Talisman gegen die weiter und weiter greifende Richtung der zersetzenden und schrankenlosen Aufklärung. Er kannte kein Recht und kein Heil in dem aufkeimenden Geltendmachen des Individuellen; aus dem Zunehmen der Bildung sah er das Sinken der Sittlichkeit, aus dem Bewußtsein der Rechte nur die Unterlassung der Pflichten entspringen. Gegen die Freiheit, die zur Frechheit, die Glückseligkeitsträume, die zur Genußsucht ausarteten, gegen die Unbeschränktheit des Gedankens, die ohne Halt in sich zum wahnsinnigen Zerstören von Sitte, Staat, Religion und allem Heiligen fortzustürmen drohte, dagegen sah er keine Rettung als in dem Beugen unter die Autorität, in dem Brechen des menschlichen Eigenwillens.

Daß er aber mit solch eiserner Consequenz und erbittertem Grolle jede Regung eines selbständigen Triebes, jede Neigung nach dem Fremden und Fernen verfolgte, das mußte einen besondern tiefen Grund bei ihm haben – sei es in einem Druck des Gewissens, wie die Leute glaubten, oder sonst einer persönlichen Erfahrung, die seinem Wesen eine solch schroffe Richtung gegeben hatte. Wenn man ihn manchmal, während er mit seinem Liede auf- und niederschritt, plötzlich still stehen und tief in sorgenvolles Nachdenken versinken sah, dann konnte man nicht ohne Mitgefühl für diesen sonderbar verschlossenen Charakter bleiben.

Selbst Werner konnte sich nicht immer von solchem Eindrucke frei machen. Besonders an die großen, finster blickenden, blaßgrauen Augen des Pfarrers vermochte er nicht sich zu gewöhnen. In der Kirche hatte er sich darüber nicht gewundert; da spielt man wohl, dachte er, mit solchen Dingen Komödie; aber im Leben und im alltäglichen Leben bei Schlafrock und Pantoffel stets diese Augen zu sehen, kam ihm grauenhaft vor.

In der That hatte der Pfarrer auch Veranlassung genug, auf diesen Gast mit scharfem Blick zu achten. Sah er doch den verhängnißvollen Strauß an seiner Brust, der in ihm allen Argwohn und alle Vorsorge rege machen mußte.

Dennoch konnte er dem Verunglückten seine Gastfreundschaft nicht entziehen. Der herbeigerufene Arzt hatte, von Werner durch einen Scherz und ein Geschenk bestochen, erklärt, der Patient habe die Hüfte verrenkt und könne auf keine Weise aus dem Hause geschafft werden.

Nach dieser Erklärung fühlte sich Werner dem Pfarrer gegenüber sicher und beruhigt. Das Abenteuer kann seinen Fortgang haben, dachte er vergnügt; der Scherz war gut ausgesonnen und kommt er in Romanen auch oft genug vor, im Leben ist er doch seltener und in dieser Situation unbedingt etwas Neues!

Wie ein Delinquent mußte er die Fragen des Pfarrers über seine Person beantworten. Er gab sich für einen jüngern Regierungsbeamten aus, der eine Fußreise zu seinem Vergnügen machte.

Auf diese Worte schon folgte ein Blick, der seine vollste Verachtung ausdrückte. Zum Vergnügen reisen? antwortete der Pfarrer in seinem meisternden Tone: Das kommt davon! Zwei, drei Tage müssen Sie nun am Ende hier liegen bleiben und die ganze Zeit verlieren sie an ihrer Carrière.

Werner hatte bei dem Abenteuer sich keinen Plan vorgeschrieben; aber daß jemand von einer Verrenkung der Hüfte in zwei, drei Tagen kurirt sein könne, das schien ihm eine für die Dauer seines Hierbleibens wenig versprechende Voraussetzung.

Schon versorgt? war des Pfarrers nächste Frage.

Auf die Antwort: ich habe mein mäßiges Auskommen, warf Wendelin einen vielsagenden Blick auf Johannes. Dieser, in einer Ecke sitzend, krauete sich in den Haaren und schien den Blick nicht zu bemerken.

Der ist schon dreißig Jahre, sagte der Alte nun beziehungsvoll.

– und sieben Wochen, setzte Johannes hinzu.

Hat's aber noch zu nichts gebracht! fuhr der Pfarrer fort.

– was Sie in drei Tagen bei uns neunzig Mal hören werden! brummte der Andere dazwischen, ohne sich in seiner nicht gerade eleganten Stellung zu stören.

Kann nicht eine Predigt halten, ohne stecken zu bleiben bei allen seinen hohen Ideen.

Was wenigstens den Stoff für die häusliche Unterhaltung giebt, setzte Johannes wie vorher wieder hinzu – einen andern werden Sie im ganzen Jahr nicht finden.

Theologe ist Ihr Herr Sohn? frug Werner.

Sollte es wenigstens sein! antwortete der Alte.

Damit war das Gespräch abgebrochen; Wendelin wollte sichtlich sich nicht weiter einlassen. Werner, der sein verächtliches Lächeln bei dem Worte: Vergnügungsreise wohl bemerkt hatte, meinte sich in seinen Augen gar bald ein gutes Licht geben zu können, und da er im Forsthause etwas vom Stoicismus des Pfarrers gehört hatte, so kramte er seine Schulkenntnisse aus und fing an: Das Reisen ist mir das höchste Vergnügen; – verstehen Sie mich recht, ich meine Vergnügen in seiner edelsten Bedeutung, in der Auffassung eines Epikur, der ja sagt: Ohne angenehmes Leben gibt es keine Tugend und ohne Tugend kein angenehmes Leben. Es ist das nicht die Lust des Augenblicks, die – Aristarch zum Gegenstande des menschlichen Strebens macht, sondern das System der Lüste, um mich mit Cicero so auszudrücken, die Glückseligkeit als dauernder Zustand des Gesammtlebens. Diese wahre Lust ist ein Gegenstand der Berechnung und Abwägung; sie erfordert die stete Thätigkeit der Vernunft und des sittlichen Willens. Ja, ich habe mich viel mit diesen Philosophemen beschäftigt, und wie? Herr Pfarrer, meinen Sie nicht, daß dieses von Genußsucht und Kasteiung gleich entfernte Gleichgewicht der Glückseligkeit das Ziel aller aufs Leben gerichteten Philosophie sein muß?

Werner mußte über sich selbst bei dieser pedantischen Auseinandersetzung über Dinge, die ihm außerordentlich gleichgültig waren, lächeln. Aber er irrte sich, wenn er meinte, damit den Pfarrer gewonnen zu haben. Wendelin erwiderte nur: Sie sagten Aristarch. Sie meinten wahrscheinlich Aristipp.

Johannes dagegen schien sich in ein Gespräch mit ihm einlassen zu wollen. Es giebt nur eine Befriedigung, sagte er, mit dem ihm eigenen gepreßten Tone, der sich vergeblich zu bemühen schien, seinen ganzen Gedankeninhalt auszusprechen, – und diese Befriedigung ist auch die einzige Tugend. Was ist gut und bös? Das sind nur relative Begriffe, die wir selbst uns einbilden. An und für sich ist kein Ding weder gut noch bös. Für die Natur giebt es kein Gift, für Gott keine Sünde. Gut ist, was uns nützlich ist; nützlich ist uns Das, was uns zu größerer Realität bringt. Unsre wahre Realität ist Erkennen, gut ist nur das Erkennen; es giebt nur eine Tugend, die Tugend des Geistes. – Haben Sie Spinoza gelesen?

Wer wird Spinoza nicht kennen! sagte Werner, obgleich er ihn nicht kannte. Aber Wendelin schnitt das Gespräch ab, gegen seinen Sohn gewendet mit einem gereizten: Schweig! Nichts von Spinoza!

Johannes schwieg grollend. Es trat wieder eine Pause ein. Der Pfarrer ging mit großen Schritten nicht ohne Heftigkeit auf seiner gewöhnten Diele auf und ab. Er sah Johannes an, der in seiner in sich versunkenen Stellung stier vor sich hinblickte, und dann, gleichsam den Fremden zum Zeugen anrufend, fuhr er auf: Da, da, sehen Sie nur diese Jugend, matt-mürrisch, ohne Lebenskraft und Freude. Was das für ein Gesicht macht! Muß man nicht angst und bange sein, wo das hinaus will? Was soll daraus werden? Was soll daraus werden?

Vater und Sohn sahen einander an mit flammenden Augen und zürnenden Geberden, die bei der Uebereinstimmung, die durch die Familienähnlichkeit erhöht war, einen schreckhaften Eindruck machten. Werner hatte nicht entscheiden können, vor welcher dieser beiden Physiognomien er weniger Grausen empfunden.

An den Spiegel, Papachen! Wer schneidet bessre Fratzen, du oder ich? So sprang der Sohn wüthend auf; durch die ungewohnte Gegenwart eines Fremden war sein Selbstgefühl geweckt und seine lang verhaltene Erbitterung entfesselt. Seiner selbst wieder mächtig, lachte er dem Vater höhnisch ins Gesicht: Väterliche Liebe! Haha! Ein Familienleben das! Ja, ja, mein Herr, so wendete er sich an den Fremden, so geht's hier alle Tage, Jahr aus, Jahr ein! Juchhe, ein lustig Leben, ein Pfarrhausleben! – und mit teuflisch boshaften Geberden ging er zur Thür hinaus.

Der Pfarrer kniff seine Fäuste zusammen. Starr blickte er dem Sohne nach und plötzlich – Jesus meine Zuversicht! vor sich singend, ging er ruhig im Zimmer auf und nieder.

Die Pfarrerin dagegen, die sich des vermeintlich Verunglückten annahm, was war das für eine gute liebe Frau! Wie so recht geschaffen, um Krankenpflegerin zu sein. Ein Mal über das andere fühlte sie dem Pflegling an den Puls, fühlte, ob die Stirn auch nicht zu heiß sei. Sie konnte nicht leise genug auftreten, nicht sorglich genug den Andern zuwinken: sachtchen! sachtchen! – so sprach sie statt: sacht; denn in ihrer zärtlichen Stimmung konnte sie sich nicht zart genug ausdrücken. Duchen sagte sie statt du, und jachen, statt ja.

Die gute Frau hatte kein Ende, was Alles sie dem Gaste zur Kühlung, zur Stärkung, zur Heilung zu empfehlen wußte. Leider vergaß sie nur über jeden neuen Vorschlag, wie das einmal ihre Art war, stets den vorigen auszuführen, so daß dem Gehätschelten – in diesem Falle ganz nach seinem eignen innern Wunsche – von all dem Gutgemeinten doch nichts zu gute kam. Sie war so ganz Liebe die gute Frau, daß sie für Klugheit, Thätigkeit, Entschiedenheit keinen Raum mehr in sich hatte. Sie wollte jedem das Beste, aber sie kam nie dazu, es auszuführen. Ihre kleine Wirthschaft selbst konnte sie nicht beherrschen und die Oberaufsicht des Pfarrers war durchaus nicht überflüssig. Der Zwiespalt in der Familie schmerzte sie tief, aber sie besaß nicht die Energie, zu seiner Ausgleichung nur das Geringste zu thun. Ihre Güte kam im Hause nicht zur Geltung, sondern zehrte sie selbst nur ab.

Als sie mit Werner und ihrem Manne zusammen Kaffee trank, fing sie an zu diesem zu plaudern, was er ihr Sonntags nicht verbieten zu dürfen glaubte. Aber ihr Leben war so arm, daß die geringfügigsten Sachen den Stoff zur Unterhaltung geben mußten. Wer ihr heute einen guten Morgen gewünscht, wie sie es erwidert, ob dieser oder jener auf die Predigt gehört, wie oft der Nachbar in der Kirche geniest habe und sie jedesmal dazu genickt, das erzählte sie heute wie alle Sonn- und Festtage mit umständlichster Breite.

Dem Pfarrer war das lästig heute wie alle Sonn- und Festtage. Er trank rasch seinen Kaffee aus, nahm seinen Stock und ging wie alle Tage zu seinem Spaziergange in die Felder hinaus.

Nun setzte sich die Pfarrerin zu dem freundlichen Kranken, schenkte sich und ihm nochmals ein und war glückselig, einmal Jemanden zu haben, mit dem sie nach Herzenslust schwatzen konnte. Denn Schwatzen, das war ihre Leidenschaft, wohl die einzige ihres ganzen Lebens, und daß sie ihr nicht nachhängen konnte, das drückte ihr gar schwer das Herz, und das war es, was ihr die tiefe Sehnsucht nach der Heimath ihrer Jugend in den Busen pflanzte.

Sie hatte sich jetzt eigentlich voller Neugier zu dem Fremden gesetzt, um zu erfahren, wer er und seine Familie sei, ob er Vater, Mutter, Geschwister habe; aber kaum hatte sie die ersten Fragen gethan, so war sie so im Sprechen darin, daß sie nun keinen Halt mehr hatte, und nachdem sie ihn ein einziges Mal hatte zu Worte kommen lassen, erzählte sie weit und breit, was ihr Lieblingsgespräch war und seit langen Jahren stets in denselben Worten wiederholt wurde, daß sie gar nicht am Rhein geboren sei, sondern weit im Norden an der großen See, von wo ihr Vater, auch ein Geistlicher, herübergezogen sei. Sie schilderte ihm das Heimweh, das sie nach länger als dreißig Jahren noch immer dorthin zog; nur dort, meinte sie, könne sie glücklich sein, nur dort sei Himmel und Natur schön. So verloren sich alle Gedanken dieser Frau in die Sehnsucht nach Vergangenem; wie die ihres Gatten nur der Sorge für die Zukunft gehörten, und beide kannten sie kein Glück der Gegenwart, keine Behaglichkeit des Daseins. Was er durch mürrisches Brüten, ließ sie durch zerstreute Träumerei sich verloren gehen. Als nach unsäglichen Bitten und Klagen ihr Mann schon vor zehn Jahren ihr eine Reise in die Heimath erlaubte, da hatte sie das Städtchen verändert, das Wetter ungünstig, die Bekannten ausgestorben oder zur See verreist gefunden und kam unglücklicher wieder, als sie gegangen war; aber ihre Sehnsucht hatte sich doch nicht gelegt. Sie meinte jetzt, sie hätte im Winter reisen müssen; im Winter sei Alles daheim traulich mit dem Spinnrad um den warmen Ofen versammelt und erzähle sich so viel von den Nachbarn und den fernen Ländern, daß es kein Ende habe. Im Winter nach dem Norden zu reisen, war jetzt ihre heiße, lebenverzehrende Sehnsucht.

Die hellen Thränen standen ihr in den Augen, als sie davon sprach, aber sie sprach auch, daß sie gegen ihren Mann keine Erwähnung davon thäte; es habe ihn einmal zornig gemacht und lieber solle ihr einziger Wunsch in ihr begraben werden, ehe sie ihn kränke. Da reichte ihr Werner gerührt die Hand und sagte: Sie sind eine edle Frau!

Diese Worte ergriffen die gute Pfarrerin so, daß sie in Schluchzen verfiel; laut weinte sie, bis Abends spät der Pfarrer kam, aus Rührung darüber, daß ihr Jemand gesagt: Sie sind eine edle Frau!

Das Abendbrod stand schon nach der Hausregel auf dem Tische, als Wendelin hereintrat. Es bestand in geronnener Milch, Brod, Butter und Käse. Johannes kam nicht, obgleich er gerufen wurde. Martha galt für krank und blieb auf ihrer Kammer. Ehe sie sich setzten, sprachen die Leute still vor sich ihr Gebet. Beim Essen wechselte man kein Wort, aber man verzehrte das Mahl mit einer gewissen Ruhe und Behaglichkeit. Der Pfarrer hatte wenigstens eine gemüthliche Seite; es war das die Genauigkeit und Umständlichkeit, mit der er seine Geschäfte und alle Verrichtungen des alltäglichen Lebens für jeden Tag eintheilte, um jede Stunde mit Würde auszufüllen und keinen Augenblick unbeschäftigt zu erscheinen. Der Morgen, nachdem er die Wirthschaft gemustert, die Wanduhr aufgezogen hatte, gehörte seinem Amte und es gelang ihm, seine Vorbereitungen zu den sonntäglichen Predigten so auszudehnen, daß er jeden Tag ein paar Stunden damit beschäftigt war. Punkt zwölf stand die Suppe auf dem Tische; jeder Tag der Woche hatte nach jeder Jahreszeit sein bestimmtes Gericht. Nach dem Essen ein kurzes Ruhestündchen, dann Lectüre eines theologischen Journals; darauf der Kaffee, der Spaziergang; von sieben bis ein viertel acht das Abendbrod; dann nochmalige Besichtigung der Wirthschaft, Anordnungen für den folgenden Tag, und um acht Uhr trat er wieder in das Zimmer, um bis neun Uhr ein altes Buch, ein Collegienheft vorzunehmen. Heute wollte er dem Fremden Gesellschaft leisten und that es, indem er, sein Lied summend, auf seiner Diele spazierte. Als die Wanduhr neun schnarrte, war Schlafenszeit. Man half dem Gaste, wie er sagte unter unendlichen Schmerzen, in seine Kammer hinauf. Als er eine Weile allein war, hörte er Jemanden durch das Haus schlarren; es war der Alte, der alle Thüren, Fenster und Schlösser, seiner Gewohnheit nach, nochmals untersuchte; bei Werners Thüre angelangt, drehte er den Schlüssel um und stieg hinab in sein Schlafgemach zu ebener Erde.

Das war ein Tag in einer deutschen Bürgerfamilie. Werner mußte noch einen zweiten, eben solchen erleben; und auch an diesem zweiten hatte er das Ziel seiner Wünsche, Martha, nicht gesehen. So brachte ihn seine trostlose Gefangenschaft auf allerlei Gedanken. Er empfand viel Langeweile und auch ein wenig Reue. Er konnte sich doch der Ehrfurcht vor diesen Menschen und dieser Existenz nicht ganz erwehren. Er hatte nie häusliches Leben kennen gelernt. Sein Vater, ein höherer Offizier, war früh gestorben; seine Mutter, eine leichtsinnige Weltdame, hatte ihn, so lange sie für jung gelten wollte, möglichst fern von sich gehalten; und als er in ihrer Nähe weilen durfte, war sie erfreut gewesen, wenn er recht viel von sich reden machte. Als er einst ein Duell auf Leben und Tod wegen einer Bagatelle haben sollte, freute sie sich seines Muthes, und als sie gestorben war, erinnerte er sich nicht, eine Thräne geweint zu haben. Nun sah er hier vier Menschen an einander gefesselt, nicht durch lachendes Glück, nicht durch innige Liebe, nicht durch Nothwendigkeit der Existenz, sondern an einander gefesselt durch ein unsichtbares, unerfaßbares, wie es schien, unzerreißbares Band, das Band der Familie, das Band der Blutsverwandtschaft. Warum geht dieser Sohn nicht in die Welt hinaus? Warum stößt ihn der Vater nicht aus dem Hause? Warum ist diese Tochter ihren Eltern gehorsam? Warum verschmerzt diese Frau ihr Heimweh? Sie alle entbehren, entsagen, leiden, verzweifeln, nicht um Dank, nicht aus Liebe, nur um mit einander zu sein. Ihre innersten Lebensrichtungen reißen sie alle vier aus einander und doch können sie nicht sein ohne einander. Es erfüllte ihn Staunen, ja Schauder vor diesen Mächten, die mit ungeahnter Gewalt das Leben zusammenhalten, die er als die sittlichen Machte erkennen mußte. Erschreckend gewahrte er, daß sie nie Kraft in ihm gehabt, nie ihn geweiht hatten. Aber dann zwang er sich zu lachen über diese verkommenen Figuren. Er machte sich frei von dem bänglichen Gefühl seiner Isolirung durch einen Witz, indem er diese Leute mit den s. g. siamesischen Brüdern verglich, die mit den Rücken zusammengewachsen waren. Stets wollen sie nach entgegengesetzten Seiten und kommen doch nicht von einander.

Der arme Werner! Sein Grauen konnte er überwinden, die Ungeduld nicht. O langweiliges Abenteuer! Nicht, wenn er krank war, konnte er so lange die Ruhe aushalten, und nun diese Ruhe! Keine Billetsdoux! Keine Condolenzkarten vom Bedienten auf silbernem Teller an das Bett gereicht! Keine Kameraden mit den neuesten Evenements, keine zu einer Whist-Partie – nichts als das verdammte Summen des Pfarrers, das Schnattern seiner Frau und Himbeerwasser, ewig Himbeerwasser! Und bei alle dem statt eines Abenteuers sich für den Gefoppten ansehen zu müssen! Das schöne Töchterlein, von der er gepflegt zu werden gemeint hatte, ließ sich mit keinem Blicke sehen. Er hörte sie wohl im Hause sprechen, oder sie klopfte an die Stubenthür und reichte etwas herein, oder sie ging draußen am Fenster vorüber; aber sie warf dann keinen Blick hinein und that, als wisse sie von ihrem Ritter nichts. Krampfhaft kniffen seine Finger in einander, wenn er diese Lage sich überlegte. Er wurde nervös wie ein Frauenzimmer, er hätte aufspringen, auf seinem als krank vorgegebenen Beine tanzen und ausrufen mögen: Ich spiele nicht mehr mit! Sein Entschluß war gefaßt, in dieser Nacht einen Gewaltschritt zu thun, und wenn das Mädchen durchaus kein Einverständniß mit ihm wollte, dann war sie seines Opfers nicht werth und er verschwand vor Morgen noch aus dem Hause.

Auch heute hörte er den Schlüssel seiner Kammer wieder umdrehen. Aber er ging nicht zur Ruhe. Er streckte seine Glieder von sich, um sich dessen zu versichern, daß sie wirklich nicht lahm waren. Dann lauschte er, ob Alles im Hause ruhig wäre. Da hörte er Martha's Kammer, der seinen gegenüber, sich öffnen und leise Tritte an seiner Thür vorüberschreiten. Unten wird alsdann die Hausthür geöffnet; er blickt durch das Giebelfenster und sieht ein helles Kleid an den dunkeln Strebepfeilern der Kirche vorüberschlüpfen.

Werner blickte aus dem Fenster um sich. Er gewahrte, daß er von dem Giebel, wenn auch nicht ohne Gefahr, auf die Gartenmauer und von dort am Weinspalier hinab in den Garten gelangen könne. Ohne Scheu vor der Möglichkeit, daß die morschen Dachziegel mit ihm zusammenbrechen könnten, steigt er über den Rand des Fensters; aber wie groß und freudig ist sein Erstaunen, als er die bequemsten, sichersten Anstalten für seine Wanderung sieht! Oben am Giebel ist ein Strick befestigt, an dem er sich halten, bis zum Ende des Daches forthelfen und auf die Mauer niederlassen kann. Unbekümmert darüber, wer ihm diese gute Gelegenheit verschafft hat, benutzt er sie. Gefahr- und mühelos ist er in den Garten gelangt und geht dann an der Kirche vorbei über den Gottesacker. Des Weges unkundig stolpert er über manchen Grabhügel, über manchen Stein, aber das Geräusch des Strudels weist ihm den Weg. Er erblickt das weiße Kreuz und eine Gestalt sieht er regungslos sich daran lehnen.

Als er ihr nahe ist, erkennt er, wie Martha das Kreuz umschlungen hat und ihr Herz an den kalten Stein drückt. Ihr Gesicht war dem Strome zugewandt, sie sah ihn nicht. In der Lust seines gelingenden Abenteuers betrachtete er mit Muße die ätherische Gestalt und sann darüber nach, wie er sie begrüßen solle – sie bei der Taille zärtlich umfassend, oder mit einem Scherz sie überraschend, von hinten ihr die Augen zuhaltend, oder gar sie keck bei dem wohlbekannten Füßchen ergreifend? Da hörte er sie sprechen. Sie sprach zu sich selbst. Der Wind wehte ihre zitternden Worte ihm zu. Er vernahm: Still, still, mein Herz. – Schaff' in mir Gott ein reines Herz und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. – O gieb mir Kraft, allmächtiger Gott, gieb mir Kraft!

Sie betete. Werner war verlegen. Er verstand das ganze Leben dieses Hauses nicht. Wie ernst und schwer faßten sie alle es auf! Feierlich war die Prosa des Alten, feierlich die Poesie dieses Mädchens. Wie sollte er sich ihr bemerklich machen? Sie im Beten stören? Und dann bei solcher Stimmung welche Unterhaltung führen? Endlich erfaßte er – nicht ihre Taille, nicht ihren Fuß, nur sanft und schüchtern ihre herabhängende Hand. Sie fuhr zusammen. Als sie ihn erkannt, ist ihre Bewegung nicht besänftigt. Sie will fliehen. Er hält sie zurück. Schreck und Zorn malt sich in ihren Zügen. Einen warmen Tropfen fühlt Werner auf seine Hand fallen. Sie hat geweint.

Fort! Was wollen Sie? Fort, fort von mir! So suchte sie ihn mit Entrüstung von sich zu stoßen. Er aber war keck, er hielt ihre Hand und stellte sich so gegen sie, daß sie ihren Platz am Kreuze nicht verlassen konnte. Martha, bat er schmeichlerisch, Sie wollen nichts, gar nichts von mir wissen?

Nichts! Nichts mehr!

Sie zürnen mir?

Ich zürne Ihnen nicht. Seit Sie in unserm Hause sind, weiß ich nichts von Ihnen. Nur das Eine weiß ich, daß Sie kein Recht haben, meine Eltern zu betrügen, mich auf unrechten Wegen zu verfolgen. Fort, fort von mir!

Um Ihretwillen, Martha, bin ich in diesem Hause.

Nicht mit meinem Willen.

Und doch nur durch Sie, durch Ihre Vertraulichkeit gegen mich, durch mein Vertrauen auf Sie bin ich hier. Martha, der erste Kuß, den Sie auf dieser Stelle mir gaben, der mich traf, überraschend wie ein Stern vom Himmel fallend, mußte er mir nicht den Muth machen, Ihnen zu nahen? Und daß ich selbst, in meinen Armen Sie haltend, meine Lippen auf das Heiligthum Ihrer Lippen drücken durfte, übernahm ich damit nicht die Pflicht, die heilige, unverbrüchliche Pflicht, – Ihnen zu zeigen, daß ich Ihrer würdig, daß ich im Stande sei, kein Opfer, keine Gefahr zu scheuen, die diesem Heiligthum mich nahe erhält?

Auch im Dunkel konnte er sehen, wie sie erröthete. Krampfhaft fühlte er ihre Hand in der seinen zucken. Vater, Vater, rief sie aus, du hast recht, nur nicht den geringsten Fehltritt! O warum sträubte ich mich gegen deine Bestimmung! Du wolltest ja mein Bestes. Nun muß ich das hören, nun so vor Ihnen stehen!

So groß, so rein, so anbetungswürdig! rief Werner aus und sank zu ihren Füßen auf die Kniee. Was fürchten Sie? Was scheuen Sie mich? Ich liebe Sie, Martha. Die ganze Welt soll kein Recht, keine Macht haben gegen diese Liebe. Ein sicheres Glück meines Lebens habe ich schon geopfert, indem ich hier bei Ihnen weile, und Sie wollen kein Recht der Poesie, keine Vertraulichkeit der Seelen kennen? Ich komme, mit Ihnen in den Strom zu schauen, mit Ihnen der Natur zu lauschen, zu beten mit Ihnen, wie an jenem Abende – und Sie wollen das Sünde nennen?

Nein, nein! rief sie kämpfend. Nichts, nichts davon! Ich fühl's, der Strom ist die Verführung; mit dem Strome gleitet mein Herz vom Rechten. Ich will nichts mit Ihnen sprechen. O Gott, Sie haben ja meine Eltern belogen, Sie können auch mich belügen!

Martha, das glaubt Ihr Herz nicht.

Ich höre nicht mehr auf mein Herz! So sprach sie dumpf und feierlich, den Busen an den kalten Stein des Kreuzes drückend – mein Herz ist todt für mich. Nur meinem Vater will ich gehorchen. Ach, lassen Sie mich, bat sie dann rührend sanft, das Haupt sinken lassend, mir ist das Leben schon so schwer!

Er küßte ihre Hand heftiger und heftiger, er flehte zu ihr inniger und inniger. Ihre Bitten, sie zu lassen, wurden sanfter und sanfter. Er hatte ihre Kniee umschlungen. Sie legte die Hand auf sein Haupt, als wolle sie ihn von sich weisen; aber sie ließ sie ruhen, als wolle sie ihn an sich fesseln. Durch ihren Widerstand war er jetzt in eine schwellende Stimmung des Entzückens erhoben die er nicht geahnt hatte, als er ihr nachging. Die wonnige Ruhe des Beieinanderseins, die nach dem Schmerze so süß ist, überkam sie; in einem Seufzer schien ihr letzter Widerstand zu schwinden – da stieß sie plötzlich einen Schrei aus und starrte nach der Seite.

Eine gebückte Gestalt in langem schwarzen Talare schwebte unhörbar über die Gräber hinweg dem Abgrunde zu. Kaum zwanzig Schritte von den angstvoll Ueberraschten stand sie auf der Erhöhung des Randes, grauenhaft deutlich gegen den hellen Nachthimmel abgehoben, streckte beide Hände gen Himmel und eben so lautlos, wie sie gekommen, verschwand sie in den jähen Abgrund hinein.

Was ist das? frug Werner und meinte einem Verunglückenden zu Hülfe eilen zu müssen. Sie hielt ihn bebend fest und sagte mit schauerlicher Festigkeit: Der Geist, unser Ahne. Er wandelt umher, weil er Gott geleugnet. Er warnte mich. Um's Himmels willen lassen Sie mich. Es war mir nöthig. Mein Hochmuth mußte gebrochen werden. Jetzt bin ich auf Alles gefaßt, für Alles vorbereitet. Warum wollte ich auch glücklich sein! Die Andern sind es ja auch nicht! Und immer hastiger werdend fuhr sie fort: Sie müssen fort, morgen fort aus dem Hause, oder ich verklage Sie dem Vater. Noch einmal, zum letzten Mal! auf Nimmerwiedersehen!

In Scheu und Ehrfurcht wagte er nicht mehr diese Entschiedenheit zu hindern. Eilig entfloh sie seinen Blicken. Werner stand nun mitten auf dem Kirchhofe allein. Der Himmel über und die Erde unter sich, die kannte er; die Grillen zirpten, eine Nachtigall sang, wie überall im Sommer; aber was zwischen der Erde und dem Himmel hier inmitten dieser Mauern ihm begegnet war, daran hatte er auf der Erde noch nicht glauben gelernt; und er meinte, sie müßten wohl zusammen gehören, die Mädchentugend und das Gespenst: wenigstens wußte er nicht, an welches von beiden zu glauben ihm leichter geworden war.

Seine glückliche Natur verhalf ihm auch jetzt noch zum Humor. Diese neue Welt, in der es Dinge und Gedanken gab, hinausreichend über den gemeinen Verstand und Egoismus dessen, was sonst Welt heißt, flößte ihm in der That Grausen und Ehrfurcht ein. Aber er sank nicht vor ihr nieder, er erlag keinem schreckhaften Eindrucke; er schaute um sich keck behaglich in das romantische Düster der Kirche und der Gräber, und ließ von den Ahnungen dieser Welt sich anschauern. Er fühlte sich fähig, heimisch zu werden auf diesem Boden geheimnißvoller Poesie.

Er stand am Weinspalier vor dem Hause; oben sah er ein Fenster erleuchtet und geöffnet; ein Schatten bewegte sich daran hin und wieder, es war Martha's Schatten. Lange lauschte er ihm. Das Licht erlosch. Eine Flamme weihevoller Empfindungen stieg noch lange aus seinem Herzen zu dem geöffneten dunkeln Fenster empor. Hoch schwoll ihm der Busen vor Verlangen, Erwartung, Wonne, wie wohl einem von langer Irrfahrt Rückkehrenden, dem in dunkler Nacht, wo ihn niemand erwartet, die Lichter des Heimathstrandes entgegenschimmern. Es war eine neue Welt, die vor Werners innerem Auge aufging, aber eine Heimath schien ihm zu winken und er fühlte freudig seine Arme so rüstig, ihr zuzusteuern. Neue gährende Gedanken, wie in jener Nacht, als Martha ihm zuerst den Strom gezeigt, wogten in ihm auf und nieder; aber dies Mal ohne Kampf, ohne Reue, ohne Schmerz, denn ein lebenentscheidender, lebenerobernder Entschluß tauchte verklärend aus ihnen empor.

Rasch aus seinen gestaltenden Träumen sich aufraffend, war er am Spalier, über den Giebel hinauf in sein Zimmer gelangt. Er zündete mit dem Feuerzeug in seinem Cigarrenetui Licht an, nahm Papier aus seinem Portefeuille und schrieb, zerriß das Blatt, ein zweites ebenso, ging gedankenvoll im Zimmer auf und ab, schrieb wieder und endlich stand er auf mit einem zusammengelegten Billet.

Ueber alle Dem waren Stunden vergangen.

Der Mond ging auf und beleuchtete mit feierlichem Scheine die hohen Kirchenmauern, in den spitzen Bogenfenstern sich spiegelnd, an den Strebepfeilern lange Schatten werfend.

Er stieg gerade auf zur ersten Stunde, wo die Geister in die Gräber zurückkehren – wo tausend Werke der Liebe und der Lüge in seinem Schein vollbracht werden.

Auf dem Giebel des Pfarrhauses schlich wieder ein Mann dahin, um aus einem Fenster in ein anderes zu steigen. Er verschwand in Marthas Kammer. Als er wieder hinausstieg, schien der Mond in Werners Antlitz , gedankenvoll und wonnelächelnd.

*

 


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