Friedrich Gerstäcker
So du mir, so ich dir
Friedrich Gerstäcker

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Salomo Schönbein war erster Kommis bei Hanke und Blenkert, einer großen Ausschnittwarenhandlung in Xheim, und einen schmuckern jungen Mann gab es kaum unter den weiteren dreizehntausend Einwohnern der kleinen, aber äußerst lebendigen Stadt.

Mit der Hautevolée fortwährend in Verbindung – denn Hanke und Blenkert führten nun einmal die billigsten und besten Waren im Orte – konnte es ihm nicht fehlen, daß er sich auch deren Sitten aneignete, soweit das nämlich den äußern Menschen betraf. Er ging stets à quatre épingles gekleidet, trug Sonntags wie Alltags den modernsten Frack, die brillanteste Weste, das größte Uhrgehänge, die engsten Beinkleider und das blaueste Halstuch, und die Art, wie er die Haare mitten über der etwas niedern Stirn scheitelte und an beiden Seiten in sorgfältig gebrannten Locken kräuselte, war nicht zu beschreiben.

Kein Wunder denn, daß es wenige junge Mädchen in Xheim gab, von denen Salomo Schönbein nicht fest überzeugt gewesen wäre, daß sie für ihn schwärmten, und wenn es seinen Verdiensten galt, hätte er die Wahl haben können bei hoch und niedrig. Aber Salomo Schönbein trug auch ein Herz in der Brust, und mit dem Herzen ist es ein gar wunderliches Ding; das läßt sich auf keine Vernunftgründe von Stand und Rang ein, das wiegt kein Gold und mißt keinen Grundbesitz, und was es einmal erfaßt hat, hält es fest – bis es wieder los läßt.

Salomo Schönbein liebte also und zwar – dem Leser nicht länger etwas vorzuenthalten, was er doch erfahren muß – die Tochter seines Wirts, des Schneidermeisters Ehrlich in der Essiggasse Nr. 17 zwei Treppen hoch.

Fanny war auch ein liebes, prächtiges Mädchen; aufgeweckt und heiter, mit regelmäßigen lebendigen Zügen und von schlanker reizender Gestalt, jedenfalls ein Mädchen, irgend einen jungen Mann, selbst von den Vorzügen wie sie Salomo Schönbein besaß, zu fesseln.

Fannys Vater, Herr Ehrlich, war nicht reich, aber er besaß doch ein kleines Häuschen in einem belebten Teil der Stadt, hatte eine vortreffliche Kundschaft und – sollte auch Vermögen haben: eine Eigenschaft, die Salomo Schönbein fehlte. Der Meister besaß außerdem auch noch eine gute Portion gesunden Menschenverstand, und hatte schon mit dem jungen Mann darüber gesprochen, daß es bei seiner Bekanntschaft gar keine so üble Spekulation sein würde, wenn er sich selber etablierte. Kredit konnte ihm Herr Ehrlich schon verschaffen, und manche der Geschäftsfreunde von Hanke und Blenkert würden ihn ebenfalls mit Vergnügen unterstützt haben.

Salomo Schönbein wollte im Anfang nicht recht daran, denn sein gutes Herz sagte ihm, daß er seine früheren Prinzipale, wenn er ihnen Konkurrenz eröffnete, ruinieren würde; aber, lieber Gott, jeder ist sich selbst der nächste. Meister Ehrlich erbot sich, ein kleines Kapital vorzuschießen, und die Trauung mit Fanny ward auf den nächsten Monat festgesetzt, die ganze Sache aber noch vor Hanke und Blenkert geheim gehalten, da er sie dicht vor der Messe nicht verlassen konnte, und nicht eher kündigen wollte, bis alles in Ordnung war.

Arme Sterbliche die wir sind – die wir Pläne für den nächsten Morgen machen und nicht wissen, ob die Maschine, die wir unsern Körper nennen, noch bis zur Abenddämmerung zusammenhält, oder ob das Schicksal, jenes launische Ding, uns nicht jeden Augenblick ein Bein stellen und uns mit allen unseren Plänen über den Haufen werfen könnte!

Fanny saß daheim und nähte mit dem Fleiß einer Biene an ihrer Ausstattung, und Salomo hatte sich von seinen Prinzipalen einen Tag Urlaub geben lassen, war hinaus vor das Tor in das dort befindliche Lustwäldchen gegangen und lag, die Rechte krampfhaft geballt, mit der Linken in seinen Locken wühlend, unter einem Baum.

Das Unerwartete war geschehen. Salomo Schönbein, der schon seit fünf Jahren in der Lotterie spielte und noch nie höher als mit seinem Einsatz herausgekommen, hatte ein Achtel vom großen Los gewonnen, und in acht Tagen sollte die Trauung mit der Schneiderstochter stattfinden. – Der Kopf schwindelte ihm, die Gedanken jagten ihm wirr durchs Hirn und er wußte nicht, wo er beginnen, wo er enden sollte.

Aber was war geschehen, das auf einmal eine solche Veränderung in dem sonst so treuen Herzen unseres unglücklichen Freundes hervorgerufen? – Das Unerhörteste! und zwar gleich nach dem Achtel vom großen Los – von dem Hanke und Blenkert jedenfalls Wind bekommen. – Hanke und Blenkert nämlich, das renommierteste Ausschnittwarengeschäft in Xheim, hatten Salomo Schönbein, ihrem ersten Kommis, als er ihnen anzeigte, daß er aus ihrem Geschäft treten wolle – ihre einzige Tochter mit dem Zusatz angeboten, dem ›Hanke und Blenkert‹ noch ein ›et Komp.‹ hinzuzufügen.

Hanke und Blenkerts einzige Tochter konnte sie insofern sein, als Herr Hanke Junggesell, Blenkert aber der glückliche Vater war, und Rosalinde gewissermaßen als ›die Tochter des Geschäfts‹ betrachtet wurde.

Salomo fühlte jetzt, daß er Rosalinden schon lange im stillen geliebt; aber selbst er hatte bis dahin noch nicht gewagt, die Augen so hoch zu erheben, und als ihm jetzt mit dem Achtel vom großen Los das Anerbieten durch Herrn Blenkerts Lippen, der keine Ahnung haben konnte, daß er schon mit einer andern verlobt sei – selber wie vom Himmel fiel, da brach er in sich moralisch zusammen, und daß er damals Herrn Blenkert um den Hals gefallen und ihm gesagt hatte: er mache ihn zum Glücklichsten der Sterblichen, kam ihm jetzt nur noch wie ein Traum vor.

Was sollte er jetzt tun? – dem Schneider sein Wort halten und sein Schwiegersohn werden, während hier ein glänzendes Los seiner harrte? Hätte er denn überhaupt den Männern eine Konkurrenz eröffnen dürfen, die ihn mit offenen Armen in ihr Haus und ihre Familie aufnehmen wollten? – ja die gewissermaßen schon seine Zusage hatten?

Die Tochter des Geschäfts sollte er heiraten? – er, Salomo Schönbein, der bis jetzt nichts als sein ärmliches Salär und drei Louisdor zu Weihnachten gehabt? – Und jetzt – gerade jetzt, wo ihm das geboten wurde und er ein reicher Mann geworden, band ihn sein Versprechen an die Schneiderstochter.

Salomo stand auf, ordnete fast bewußtlos seine zerstörte Frisur wieder und ging wie in einem Traum den Waldweg entlang, der nach der Stadt zurückführte. Der Kopf wirbelte ihm dabei – er wußte nicht, was er tun – was er nur denken sollte, der Wald – die ganze Welt drehte sich mit ihm, und ehe er eigentlich selber begriff, wie er dahin gekommen, fand er sich in der Essiggasse Nr. 17 in seiner eigenen Stube wieder, in deren Tür Herr Ehrlich in seinem Sonntagsstaat stand.

Der Mann hatte ihm auch schon eine ganz lange Rede gehalten, von der er nicht einmal die Worte gehört, noch viel weniger ihren Sinn begriffen. Mit starrem Blick nur sah er in das freundlich zu ihm auflächelnde Gesicht des Schneidermeisters, und folgte diesem dann, als er seine Hand ergriff und ihn wieder die Treppe hinunterführte, rein mechanisch vor die Haustür, wo schon ein Wagen, auf sie wartend, stand.

Er stieg mit ein – wohin? – das war ihm ganz gleich. Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht darüber gewundert, daß sich Herr Ehrlich den ganz außergewöhnlichen Kosten eines Wagens zu einer Spazierfahrt nur unterziehen sollte, heute fiel es ihm aber gar nicht ein, auch nur mit einer Silbe darüber nachzudenken, oder gar nach der Ursache zu fragen. Das einzige, was ihm einfiel, war, die unverhoffte Gelegenheit mit Herrn Ehrlich eine kurze Zeit allein zu sein, auch zu benutzen und mit einer Art von verzweifeltem Mut das Verhältnis mit seiner Tochter abzubrechen, aber – der verzweifelte Mut fehlte ihm eben. So oft er das Wort auf den Lippen spürte, blieb es auch zwischen den Zähnen stecken, er brachte es nicht heraus und gab indessen dem Schwiegervater in spe auf alle seine Fragen und Bemerkungen die verkehrtesten Antworten. Herr Ehrlich wußte wirklich gar nicht, was er heute aus seinem Schwiegersohn in spe machen sollte. Nichtsdestoweniger verdarb das keineswegs seine heute mehr als rosige Laune. Er lächelte oft still vor sich nieder, rieb sich ein paarmal vergnügt die Hände, und wäre Salomo Schönbein nur ein klein wenig mehr für die Außenwelt zurechnungsfähig gewesen, so hätte er merken müssen, daß mit Herrn Ehrlich etwas ganz Absonderliches im Werke sei. Wie die Sachen aber standen, merkte er nicht das geringste, und ehe er selber wußte, wie er dahin gekommen, befand er sich auf dem Bahnhof, sah sich in einem Coupé zwischen einer Menge von anderen fremden Menschen, und hörte, wie die Leute um ihn her sagten, es sei die höchste Zeit, daß sie angekommen, sonst hätten sie zurückbleiben müssen. Erst das Rütteln des Eisenbahnwagens brachte ihn wieder in etwas zu sich selbst.

»Aber, bester Herr Ehrlich,« sagte er zu dem neben ihm sitzenden kleinen Mann, »ich begreife gar nicht – wohin fahren wir eigentlich?«

Herr Ehrlich aber erwiderte kein Wort, ergriff nur seine Hand, drückte sie aus Leibeskräften und sah ihn mit einem unverkennbar gerührten Blick an. Salomo schwindelte es ordentlich – er wußte nicht, wachte oder träumte er? – War das wirklich, daß ihm heute – vor wenigen Stunden Hanke und Blenkert ihre Tochter angetragen? – Hatte er wirklich die Nummer 17 945 gesetzt und war mit dem großen Los herausgekommen, und befand er sich jetzt seinem unausweichbaren Schwiegervater, dem Schneider, gegenüber, der im Begriff stand ihn nach irgend einem fremden Lande, vielleicht nach einer wüsten Insel zu entführen? – Vor den Ohren summte und hämmerte es dabei, das Rasseln der Wagen formte wunderliche, wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklingende Melodien, und endlich fühlte er ordentlich, wie ihm die Luft ausging. – Er wollte schreien – er wollte um Hilfe rufen. – Da plötzlich hielt der Zug; Meister Ehrlich hatte seinen Hut ergriffen, faßte ihn selber jetzt unter den Arm, und aus dem geöffneten Coupé steigend, hielt wieder ein Wagen dort, der sie, ohne daß eine Weigerung irgend etwas genützt hätte, in die Stadt hinaufführte.

Salomo Schönbein war aber auch in der Tat willenlos wie ein kleines Kind, und jetzt ordentlich neugierig geworden, was aus dem allen heute werden würde. Immer dabei mit sich kämpfend, dem Schneidermeister seine Gefühle zu entdecken, und doch nicht imstande, Mut dazu zu fassen, hatte er wirklich mit sich machen lassen, was der Mann wollte. Als der Wagen aber endlich in einer engen Straße, dicht vor einer Kirche hielt, fing ihm das Herz an wie ein Schmiedehammer in der Brust zu pochen, denn hinter dem Fenster, den grünen Myrtenkranz in den Haaren, mit lieblich errötendem Angesicht, stand seine Braut – und hinter ihr die unvermeidliche Schwiegermutter mit noch zwei anderen jungen fremden Damen.

Salomo wurde hineingeführt, und er fühlte, daß er dabei kaum imstande war zu gehen, so zitterten ihm die Knie. – Sein Schwiegervater in spe erzählte ihm dabei mit vor Freude strahlenden Augen, daß er und seine Frau sich diese Überraschung ausgedacht hätten, – daß Fanny schon lange gewünscht habe in ihrem Geburtsort getraut zu werden, – daß er seine Sehnsucht, die Verbindung zu beschleunigen, kenne, und die Tochter endlich den Bitten der Eltern nachgegeben habe, in diese Überraschung zu willigen.

Während er ihm das alles gutmütig lächelnd mitteilte, und Salomo Schönbein auch nicht eine Silbe davon verstand, führte er ihn in die Stube zu seiner Braut, und was nachher da drinnen geschah, wußte er ebenfalls nicht. Wie ein Nachtwandler fiel er seiner Braut um den Hals – oder wurde ihr vielmehr umgefallen – begrüßte die übrigen, deren Gesichter, wie es ihm vorkam, alle einen Regenbogenschein hatten, trank dann Kaffee und aß Backwerk dazu, und kam eigentlich erst wieder zu sich selber, als er mit seiner Braut am Arm in die gerade gegenüberliegende Kirche schritt.

Die frische Luft draußen, nach der etwas schwülen Stube, weckte ihn gewissermaßen aus seinem halbmagnetischen Schlaf. Er begann zu denken, und mit dem Denken überkam ihn auch auf einmal die Gewißheit seiner wahrhaft verzweifelten Lage. Seine ganze Pyramide von Luftschlössern, auf deren äußerstem Gipfel Hanke und Blenkert, mit der Tochter des Geschäfts zwischen sich, in Vaterhuld lächelnd standen, hatte einen furchtbaren Riß bekommen und drohte im nächsten Augenblick prasselnd zusammenzubrechen, und in den dunkeln Gewitterwolken, die an seinem Zukunftshimmel aufstiegen, lachte ihm auch nicht ein einziger Zoll breit blauen, reinen Himmels.

Aber selbst der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird, und in Salomo Schönbeins Herzen begann in diesem Augenblick eine wunderbare, entsetzliche Veränderung. Er haßte den Schneidermeister Ehrlich, der seine Hand gefaßt und sie herzlich drückte, – er haßte die Schwiegermutter, die mit blumengeschmückter Haube und freudestrahlendem Antlitz hinter ihm drein schritt, – ja er haßte in diesem Augenblick selbst seine Braut, das liebe, holde Mädchen, das vertrauensvoll ihr ganzes Lebensglück in seine Hände legen wollte. Er vergaß, daß er selber es sei, der zuerst bittend an sie herangetreten und ihr vorgelogen hatte, wie unendlich glücklich sie ihn durch ihr Jawort mache. Er vergaß, daß der alte ehrliche Schneidermeister es zuerst gewesen, der dem armen, unbedeutenden Kommis sein Kind anvertraute und ihm die erste Hand reichte, in der Welt ein selbständiger Mann zu werden. – Er mußte das alles vergessen, wenn er den schwarzen Undank beschönigen wollte, der jetzt sein ganzes Herz erfüllte; er mußte sein Gewissen damit betäuben, daß er sich selber als schlecht behandelt, als mißbraucht hinstellte, wo er zuerst der Bittende gewesen.

Aber was half ihm jetzt das Grübeln, was der finstere Haß? – Unrettbar riß ihn sein Schicksal dem Unvermeidlichen entgegen. Wie sich mechanisch ein Fuß nach dem andern hob und Schritt nach Schritt die Entfernung kürzte, die ihn noch von dem geglaubten Abgrund trennte, mußte auch jede, selbst die letzte Hoffnung schwinden. Schon umfingen ihn die düsteren, beengenden Räume der Sakristei – dort stand der Priester in dem schwarzen Rock, den sorgfältig gefalteten symbolischen Mühlsteinkragen um den Hals, und er kam sich in dem Augenblick vor wie jemand, der in einen Strom gefallen ist und mit reißender Schnelle einem donnernden Mühlwehr entgegengerissen wird.

Von den übrigen war indes jedes viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, die furchtbare Aufregung des Bräutigams zu bemerken, und wenn sie den Brautjungfern auch vielleicht nicht entging, schrieben sie dieselbe doch natürlich einer ganz andern Ursache zu. Der Geistliche hatte indessen seine Rede begonnen und wußte dabei nicht, wieviel Unglück er mit dem langen, zähen Faden, den er spann, heraufbeschwor. Der fromme Mann hielt es für seine Schuldigkeit, den beiden jungen Leuten so recht mit Allgewalt ins Herz zu reden, und glaubte das nicht anders bewerkstelligen zu können, als wenn er lieber gleich von der Erschaffung der Welt seine Zuhörer allmählich bis zu dem Punkt führte, auf dem sie sich gegenwärtig befanden. Salomo Schönbein indessen hörte so wenig von der Rede, wie er vorher von der Erzählung des Schwiegervaters und von den gerührten Worten der Schwiegermutter gehört. Aber in der Rede sammelte er Kräfte, in der Rede kam er zu einem Bewußtsein seiner Lage, wenigstens von seinem Standpunkt aus. Ihm war es, als sei er ein armes hilfloses Opfertier, das von feindlichen Gestalten zum Altar geschleppt worden, abgeschlachtet zu werden; dort in weiter Ferne streckten Hanke und Blenkert mitleidig die Hände aus, ihn zu retten – mit aufgelösten Haaren und tränenschwimmenden Augen sah er die Tochter des Geschäfts, und wie mit einer Flut von Eis durchgoß es ihn, als in diesem Augenblick der Geistliche, der gerade seine Rede zu einem glücklichen Ende gebracht, seine und der Braut Hand ergriff und die entscheidende Frage an ihn richtete:

»Wollen Sie diese Jungfrau, Fanny Sophie Barbara Ehrlich, zu Ihrer ehelichen Gattin wählen, wollen Sie in Freud' und Leid, in Krankheit und Trübsal treu bei ihr ausharren, und ihr hilfreich und liebend zur Seite stehen in allem, was das Schicksal Ihnen auferlegen möge?« Wie in einem Traum war es ihm dabei, als ob er schon neben sich das leise flüsternde, schüchternde Ja der Braut gehört. Da faßte ihn der böse Geist – da raunte ihm ein schwarzer Unhold aus der Unterwelt ins Ohr: noch sei es möglich die verhaßte Fessel zu brechen. Vor seinem wirren Blick hob sich bittend, flehend die Tochter des Geschäfts, und mit heiserer, angstgequälter Stimme rief er:

»Nein!«

Nach diesem Augenblicke hatte er ein unbestimmtes Gefühl, als ob jemand an seiner Seite ohnmächtig würde, als ob zwei jugendliche Stimmen einen schwachen Schrei ausstießen und eine alte Dame mit einem großen Blumenbouquet auf der Mütze ihm die Augen auskratzen wolle. Im nächsten Moment aber fand er sich auf der Straße, flog mehr als er ging eine schmale Quergasse hinunter, kam gerade auf den Bahnhof, als der Zug anbrauste und – war gerettet.


Von dem Moment an, wo sich Salomo Schönbein, wie er es nannte, ermannt hatte, kam auch ein anderer Geist – ein Geist der finstern, hartnäckigen Entschlossenheit über ihn. Das Schlimmste, was überhaupt geschehen konnte, war geschehen – der Würfel gefallen, und noch dazu ohne seine eigene Schuld. Weshalb hatte der alte Schneidermeister die Trauung so übereilt, wenn er nicht Kunde von dem Lotteriegewinst des Glücklichen bekommen und jetzt recht gut wußte, daß seine Tochter des reichen Eidams nicht mehr würdig war! Diese Gier nach schönem Gold hatte er bestraft; er hatte die Banden abgeschüttelt, die ihn noch an die unteren Schichten der Gesellschaft gefesselt, und mit kaltem Blut wollte er fortan seinen Weg verfolgen. Was jetzt noch kommen konnte und mußte, wußte er recht gut: herzbrechende Vorwürfe der abgeschüttelten Schwiegereltern, Tränen und Klagen der verschmähten Braut – bah, das war noch ein schlimmer Tag, und dann aber auch alles glücklich überstanden. Morgen früh mit Tagesanbruch zog er aus, und heute – ei zum Henker, er brauchte ja nur seine Tür zuzuschließen und niemanden herein zu lassen, dann hatte er von selber Ruhe!

Das geschah. Zu Hause angekommen, schloß er sich ein und gedachte erst spät abends auszugehen, denn die Familie Meister Ehrlichs zog sich immer sehr früh zurück. Nach etwa zwei Stunden hörte er einen Wagen rasseln und vor der Tür halten, aber er wagte nicht aus dem Fenster zu sehen. Jedenfalls war die Familie zurückgekehrt und er durfte nun auf den Besuch des Schneidermeisters rechnen – aber niemand kam. Er hörte im Hause Türen öffnen und schließen und Schritte auf der Treppe und dem Vorsaal, aber an seine Tür kam niemand – niemand bekümmerte sich um ihn, und Salomo Schönbein wurde zuletzt – so sehr ihm das falsche Herz auch im Anfang gepocht – ordentlich ärgerlich darüber.

Das aber half ihm nichts – der Abend kam, an dem er sonst regelmäßig zur bestimmten Zeit zum Nachtessen gerufen wurde. Heute erschien niemand; selbst das Mädchen, das sein Zimmer zu besorgen hatte, kam nicht herauf. – Wollten sie ihn aushungern? – Unten im Hause schien alles seinen regelmäßigen Gang zu haben; kein lautes Wort wurde gehört. Der Klang der Schritte drang deutlich zu ihm herauf, wie die Gesellen zu ihrer gewöhnlichen Zeit ihre Arbeitstische verließen. – Vorsichtig schaute er jetzt aus dem Fenster, aber keiner der Leute sah zu ihm herauf. Unten gab der eine der Gesellen dem Lehrjungen eine Ohrfeige, weil er so lange auf einem Besorgungswege ausgeblieben war, dann gingen die Leute ruhig ihrer Wege – sie konnten keine Ahnung von dem haben, was heute in dem Hause ihres Meisters – oder wenigstens in dessen Familie – vorgegangen war.

Es dunkelte schon, ehe sich Salomo getraute sein Zimmer zu verlassen, denn sein böses Gewissen ließ ihn fürchten, irgend einem Familienmitglied, selbst dem Dienstmädchen, zu begegnen. Vorsichtig verließ er deshalb das Haus, um heut abend in einer Restauration sein Souper zu verzehren, und kehrte erst nach elf Uhr zurück. Insofern aber hatte er seine Zeit vortrefflich dabei benutzt, daß er einen Kontrakt über eine vorläufige neue Wohnung in der Nähe des Hanke und Blenkertschen Geschäfts abgeschlossen. Er traf den Eigentümer eines dort gelegenen Hauses beim Billard und erfuhr hier zu seiner Freude, daß derselbe ein kleines Logis für einen einzelnen soliden Herrn gerade frei und leer stehen habe. Salomo Schönbein betrachtete das als einen Wink des Himmels, zahlte einen Taler Draufgeld und meldete sich bei seinem neuen Wirt auf morgen früh an.

Der Morgen kam. Salomo hatte in seiner Aufregung am Abend vorher mehr wie gewöhnlich getrunken und deshalb auch heute länger wie gewöhnlich geschlafen. Sein Erwachen war ebenfalls höchst unangenehmer Art. Heute, mit kaltem Blut, wollte es ihm doch beinahe vorkommen, als ob er gegen die Leute, die ihn so herzlich aufgenommen, nicht ganz redlich gehandelt – als ob Fanny wohl Ursache habe, sich über ihn zu beklagen. Allerdings hatte er früher selber geglaubt, daß er sie liebe, das Gefühl aber, das jedenfalls nur Achtung gewesen, mißverstanden, und sollte er jetzt, da er das noch zur rechten Zeit entdeckt, sein ganzes Leben, seine ganze bürgerliche Existenz einem solchen Wahne opfern? – Nein – das ging unmöglich an. Hatte er gefehlt, so war es geschehen; er wollte dem Meister Ehrlich keine weiteren Vorwürfe machen. Das alles lag aber jetzt auch hinter ihm, und er, Salomo Schönbein, ging einem neuen, glänzenden Leben entgegen. Mit diesen Gedanken war er aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen, und befand sich, ohne Kaffee, eigentlich noch immer etwas unbehaglich. Aber er mochte nicht danach klingeln und wollte ihn lieber heute morgen auswärts trinken. Überdies mußte er jetzt zu Hanke und Blenkert in das Geschäft, um sich dort noch für heute morgen, seines Umzugs halber, zu entschuldigen, – dann hatte er nur noch die allerdings fatale Unterredung mit seinem Wirt und gewesenen Schwiegervater in spe in Aussicht, und mit der war auch das letzte Unangenehme überstanden – Fanny würde sich schon nicht dabei sehen lassen, und er hoffte, ihr gar nicht mehr zu begegnen. Überdies konnte ihm ja auch der alte Ehrlich gar nichts anhaben. Wollte er ihm Vorwürfe machen? – dazu hatte er kein Recht und er brauchte sich das nicht gefallen zu lassen, und wurde er – Salomo schrak zusammen, denn an seiner Tür klopfte leise ein Finger.

Unwillkürlich fast und ehe er wußte, was er tat, mehr nach alter Gewohnheit, rief er »herein«, und eine Hand drückte draußen die Klinke nieder. – Aber die Tür war noch verschlossen, und Salomo konnte jetzt nicht anders als öffnen – jedenfalls war es die Ricke, die ihm den Kaffee brachte.

Er schob den Nachtriegel zurück und klinkte die Tür auf, fuhr aber unwillkürlich mit einem leisen Ausruf des Erstaunens zurück, als Fanny, die verratene Fanny selber, fertig zum Ausgehen angezogen, vor ihm stand.

»Fanny!« rief er fast unwillkürlich aus, während das junge Mädchen, ihr Auge fest auf ihn geheftet, das Zimmer betrat und die Tür hinter sich wieder in das Schloß drückte.

»Herr Schönbein,« sagte sie dabei ernst, nur mit einer abweisenden Bewegung, als ihr der verlegene Ungetreue einen Stuhl anbieten wollte, »ich finde Ihr Erstaunen gerechtfertigt, mich nach dem, was gestern vorgefallen, heute auf Ihrem Zimmer zu sehen.«

»Beste Fanny!«

»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht,« sagte das Mädchen kalt, »und nennen Sie mich nicht mit einem Namen, zu dem Sie kein Recht mehr haben. Ich bin von jetzt an für Sie nur noch die Tochter des Schneidermeisters Ehrlich – eine Fremde. Doch zur Sache – Sie werden mir wohl glauben, daß mir dieser Schritt schwer genug geworden ist, und es hat einen langen Kampf gekostet, bis ich mich dazu entschlossen habe. Aber es mußte sein, denn mein ganzes künftiges Lebensglück stand dabei auf dem Spiel, und wenn Sie das auch kalt lassen würde, war ich es mir selber schuldig.«

»Aber beste Fan – bestes Fräulein Ehrlich –«

»Ich will Sie nicht lange über die Absicht meines Besuches in Zweifel lasten,« fuhr das Mädchen ernst fort, »Ihnen aber auch zugleich bekennen, daß ich weiß, weshalb Sie mich verschmäht. Daß es auf eine solche Weise geschehen, mögen Sie vor sich und Gott verantworten, mir sollen Sie darüber keine Rechenschaft schuldig sein. Aber der Welt gegenüber hatten Sie kein Recht, meinen guten Namen dem Spott und Hohn preiszugeben, und der Welt gegenüber müssen Sie mir Genugtuung geben.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort,« stammelte Salomo, im höchsten Grade über die Worte, über das ganze Benehmen des Mädchens bestürzt, »daß mir der gestrige Vorfall selber unendlich leid und schmerzlich ist, und ich gern alles tun werde, was in meinen Kräften steht –«

»Ich nehme Sie beim Wort,« sagte das schöne Mädchen ernst. »So hören Sie denn, was ich von Ihnen verlange. Es ist ein Glück, daß unsere gestrige Kirchenszene niemandem bis jetzt bekannt ist als dem Geistlichen, den mein Vater bis jetzt bewogen hat zu schweigen, und meinen beiden Freundinnen. Die letzteren haben, wie ich versichert zu sein glaube, bis jetzt noch nicht darüber gesprochen, aber daß sie auf die Länge der Zeit nicht imstande sein werden das Geheimnis zu bewahren, davon sind Sie wohl, mein Herr, so fest überzeugt wie ich selber. Würde jene Szene aber hier in Xheim bekannt, so wäre mein Name damit an den Pranger geschlagen. Ich wäre das Stichblatt für alle erbärmlichen Witzbolde des ganzen Ortes, und was hat ein armes Mädchen weiter als ihren guten Namen?«

»Aber was, um Gottes willen, kann ich tun? – Mein Herz –«

»Schweigen Sie von Ihrem Herzen,« sagte die Jungfrau kalt, »das hat hierbei nichts mehr zu tun. Mein Herz haben Sie zertreten, und damit sind wir fertig. Für mich gibt es auch nur ein einziges Mittel, dem Hohn der Welt zu begegnen – wenn das auch ein verzweifeltes ist, und ich sehe keinen Grund dafür, es Ihnen nicht zu nennen. – Unser Altgesell – ein braver, wackerer Mensch – liebt mich schon seit längerer Zeit – ich habe seine Liebe nicht erwidert, weil ich – schwach genug war, den Schwüren eines andern zu glauben. Das hat sich jetzt geändert, und heut abend noch werde ich sein Weib. Mein Vater ist heute morgen schon mit Tagesanbruch nach meinem Geburtsorte gefahren, die nötigen Aufgebote mit Geld auszugleichen, und mein künftiger Mann übernimmt das Geschäft, von dem sich mein Vater zurückziehen – ihm wenigstens die Leitung überlassen wird. Vorher aber muß ich durch Sie selbst auch vor der Welt gerechtfertigt werden, damit böse Zungen ferner nicht imstande sind, mir die Schmach des gestrigen Tages vorzuwerfen. Mit einem Wort, Sie müssen mir Genugtuung für das Erlittene geben.«

»Aber Sie spannen mich auf die Folter, Fräulein,« sagte Salomo bestürzt – »so sehr ich mich über Ihren Entschluß, was den wackern Altgesellen betrifft, freue, so begreife ich doch nicht, von welcher Art die Genugtuung sein kann, die ich Ihnen geben soll. Ich kann mich doch nicht – mit Ihnen –«

»Sie sollen es gleich hören,« unterbrach ihn Fanny. »Von jetzt an ist natürlich jeder Verkehr zwischen uns abgebrochen, und ich hoffe sogar, daß Sie mich künftig, wenn wir uns ja zufällig auf der Straße treffen, nicht einmal mehr grüßen werden. Ich will selbst vergessen lernen, daß wir uns je gekannt haben, aber heute – müssen Sie mich noch einmal nach Ersheim in die Kirche begleiten, die gestern der Schauplatz meiner Schande war.«

»Nach Ersheim in die Kirche?« rief Salomo wirklich erstaunt.

»Ja,« sagte Fanny ruhig – »und zwar zum Altar wie gestern. Welchen Zwang ich meinem Herzen dabei antun muß, mir noch einmal den gestrigen furchtbaren Anblick so lebhaft ins Gedächtnis zurückzurufen, können Sie sich wohl denken; die Erinnerung daran würde mich aber wahnsinnig machen, verweigerten Sie mir die Genugtuung, die ich von Ihnen fordere.«

»Aber Sie sprechen in Rätseln!«

»Die leicht zu lösen sind,« sagte die Jungfrau düster; »die größte Schmach, die einem unbescholtenen Mädchen widerfahren kann, haben Sie mir gestern angetan, und mein Vater wollte sie, trotz seinen Jahren, nur in Blut abgewaschen wissen. Meine Bitten haben vermocht, daß er der Vernunft Gehör gab; er hätte sein Kind sonst nur noch mehr dem Gespött der Leute preisgegeben. Andere Genugtuung sollen Sie mir geben. Gestern sprachen Sie ein Nein, als der Geistliche Sie zu Ihrer Antwort nach unserer christlichen Trauungsformel aufforderte – verschmähten die Braut, die vertrauensvoll an Ihre Seite getreten war – heute müssen Sie mir die Genugtuung geben, Sie zu verschmähen.«

»Wir sollen noch einmal zusammen vor den Altar treten?« rief Salomo Schönbein aufs äußerste erstaunt.

»Ja,« sagte das Mädchen mit kalter Entschlossenheit in Blick und Ton. »Die Rache will und muß ich haben, daß ich Ihnen Gleiches mit Gleichem bezahlen kann. Sie sollen Ihr Ja auf die Frage heute klar und deutlich sprechen, und meine Ehrenrettung sei dann Ihr gestriges Nein

»Aber das geht ja unmöglich an!« stammelte Herr Schönbein wirklich bestürzt.

»Geht unmöglich an?« erwiderte das Mädchen mit kaltem Hohn. »Fürchten Sie sich, mein Herr, dem zu begegnen, was Sie gestern die Grausamkeit hatten mit durchdachter Bosheit auf mich, ein armes hilfloses Mädchen, zu häufen? – Geht das jetzt unmöglich an? – Gut; dann aber gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich in zehn Minuten auch bei Hanke und Blenkert bin – Sie werden rot wie Blut? – Hab' ich den richtigen Fleck getroffen? Aber beruhigen Sie sich – Sie können nichts mehr verraten, ich weiß schon alles.«

»Sie wissen? –«

»Ich weiß, weshalb ich verraten bin, und gönne Ihnen Ihr Glück – wenn Sie meinen Willen vorher erfüllen. Weigern Sie sich aber, dann – was kann mir dann noch an der Achtung der Menschen liegen. – Mein Name wird dann in Spott und Übermut auf jedes Buben Lippe sein, und ich selber brauche nichts mehr zu verheimlichen. Weigern Sie sich also, mir die verlangte Genugtuung zu geben, dann will ich selbst mit Rosalinde Blenkert sprechen. Von meinen Lippen soll sie erfahren, welche Rolle Sie in unserem Hause gespielt – von meinen Lippen soll sie hören –«

»Lassen Sie mir nur eine Viertelstunde Zeit,« unterbrach sie Salomo mit flehendem Tone – »nur fünfzehn Minuten, mir alles zu überlegen, was Sie von mir verlangen.«

»Die seien Ihnen gestattet,« sagte Fanny ruhig – »längere Zeit haben wir überdies nicht; die nächste Viertelstunde muß es entscheiden, ob Sie mir helfen wollen – ob ich mir selber helfen soll. Ich lasse Sie für diese Zeit allein und werde indessen auf dem Vorsaal auf und ab gehen.«

»Aber Fräulein Fanny –«

»Zurück, mein Herr!« rief das Mädchen, den bittend nach ihr ausgestreckten Arm mit Entrüstung fortschleudernd – »wenn Sie noch einen Funken von Mitleid mit mir haben, so erfüllen Sie meinen Wunsch, daß ich mit dem heutigen Tage Ihrer verhaßten Nähe enthoben werde – mehr verlange ich nicht. Erfüllen Sie ihn aber nicht, dann sollen Sie erfahren, was ein zum Tod beleidigtes Weib vermag,« und ehe er ihr nur eine Silbe erwidern konnte, verschwand sie durch die Tür und warf sie wieder hinter sich ins Schloß.

Salomo Schönbein blieb, wie sie ihn verlassen hatte, noch eine Weile in peinlicher Verlegenheit stehen. Seinem scharfen Ohr entging aber nicht, daß das gereizte Mädchen wirklich draußen auf dem Vorsaal mit raschen Schritten auf und ab wanderte – sie wartete, bis die ihm gestattete Frist abgelaufen war, und er selbst befand sich jetzt in der peinlichsten Verlegenheit. – Aber was sollte er tun? noch einmal die Trauungszeremonie durchmachen und sich dann durch die beleidigte schöne Furie mit einem Nein blamieren zu lassen? es war zu entsetzlich, wenn er auch gut genug fühlte, wie gerecht das Verlangen war und wie sehr er es verdient hatte. Und weigerte er sich, – die erzürnte Schöne da draußen wäre zu allem fähig gewesen, und wenn sie jetzt zu Hanke und Blenkert ging, konnte alles schief gehen. Noch wußten diese von nichts, und brachte er heute seine früheren Prinzipale dahin, die Verlobung mit ihrer Tochter und Salomo Schönbein nur zu deklarieren, so konnten sie dann nicht mehr zurück, mochte geschehen sein was da wolle. Er selber wollte dann schon vorbauen und in günstiger Stunde seiner zukünftigen Braut die Sache so erzählen, wie sie für ihn am günstigsten lautete. Lief aber das gereizte Mädchen jetzt hinauf und erzählte alles, was sie wußte, so brauchte sie das Ganze nur noch ein wenig auszuschmücken, und er war verloren – seine Stellung zu Hanke und Blenkert und zur Tochter des Geschäfts für immer ruiniert.

Fügte er sich also der kleineren Unannehmlichkeit, und schwor ihm Fanny, daß sie die Sache als Geheimnis bewahren und ihre Freundinnen ebenfalls dazu verpflichten wolle, so durfte er doch wenigstens hoffen, daß sie nicht vor den nächsten vierzehn Tagen ruchbar wurde, und bis dahin konnte er aufgeboten und getraut sein.

»Haben Sie sich entschlossen?« fragte da plötzlich Fanny, die wieder mit eiserner Ruhe auf der Schwelle erschien.

»Ja,« stöhnte Salomo, »ich fühle, daß ich Ihnen diese Genugtuung schuldig bin – Sie können es von mir verlangen.«

»Es ist gut – so kommen Sie –«

»Aber vorher müssen Sie mir schwören, daß Sie gegen niemanden Gebrauch davon machen wollen!«

»Wie meinen Sie das?« fragte die Jungfrau kalt.

»Daß sie – daß sie niemandem das, was heute geschehen wird, erzählen,« sagte Salomo etwas verlegen.

»Glauben Sie, daß ich mit meiner eigenen Schande prahlen werde?« rief Fanny.

»Mißverstehen Sie mich um Gottes willen nicht,« bat Salomo, dem jetzt nur vor allen Dingen daran lag, die Erzürnte nicht noch mehr zu reizen. »Ich meinte mit dem sie nicht Sie, mein Fräulein, sondern die beiden jungen Damen, die wahrscheinlich auch heute Zeugen sein werden. Wenn Sie die dazu verpflichten wollten –«

»Gestern stellten Sie die Bedingung nicht,« sagte Fanny, mit bitterem Lächeln auf den früheren Bräutigam sehend, »aber es sei. Ich nehme das zugleich als ein Geständnis, daß Sie wenigstens in etwas Reue fühlen und jetzt empfinden, wie tief Sie mich eigentlich beleidigt. Ich verspreche Ihnen also dafür zu sorgen und glaube Ihnen deren Schweigen verbürgen zu können – sie sollen es mir schwören. Aber jetzt fort – die Zeit vergeht und wir dürfen den nächsten Zug nicht versäumen, denn mein Vater und der Geistliche warten schon in Ersheim auf uns.«

»Jetzt gleich?« rief Salomo erschreckt – »ich hätte erst notwendig einen Weg zu gehen.«

»Reut Sie Ihre Zusage schon?« rief Fanny höhnisch – »Sie sind an nichts gebunden und können ganz hier bleiben – möglich dann, daß uns der notwendige Weg, den Sie zu gehen haben, in eine Straße, in ein Haus führte.«

»Trauen Sie mir das nicht zu,« bat Salomo erschreckt – »Sie haben übrigens recht; es ist vielleicht besser, wir machen etwas, das für uns beide – für alle dabei Beteiligten peinlich sein muß, so rasch als möglich ab.«

»Gut, dann brauchen wir auch weiter kein Wort darüber zu verlieren,« sagte Fanny kalt. »Folgen Sie mir – der Wagen wartet unten.«

Salomo Schönbein konnte nicht mehr zurück. Er nahm seinen Hut und fand sich wenige Minuten später mit Fanny in einem glücklicherweise geschlossenen Wagen, der sie auf des Mädchens Angabe rasch zum Bahnhof brachte.

Unterwegs sprach Fanny kein Wort. Den Schal um sich geschlagen, lehnte sie in der einen Wagenecke und preßte ihr Tuch gegen die Augen. Auf dem Bahnhof zahlte Salomo die Plätze, und war nur froh, daß er dort keinen Bekannten traf, und in Ersheim angekommen, wurden sie an dem nämlichen Hause, vor dem sie gestern abgestiegen, von der schon dort ihrer harrenden Familie empfangen. – Aber niemand begrüßte ihn oder nahm nur die geringste Notiz von ihm. Stillschweigend und mit kalter Höflichkeit deutete die Mutter auf den Kaffeetisch, und als sich Schönbein, mehr aus Verlegenheit, als weil er irgend ein Bedürfnis danach fühlte, eine Tasse eingeschenkt und sie getrunken hatte, meldete der alte Ehrlich schon, daß der Geistliche ihrer harre und die Zeremonie beginnen könne.

Salomo Schönbein war es, als ob er zum Hochgericht geführt werden solle; aber er biß die Zähne fest aufeinander. In einer Stunde ging der Zug wieder nach Xheim zurück – dann war alles vorüber, alles überstanden, und die peinliche Viertelstunde, die ihm noch zu durchleben blieb, ging ja auch vorüber. Er bot sogar in aller Verlegenheit seiner Pseudobraut den Arm, diese wies ihn jedoch kalt, wenn auch nicht unfreundlich zurück, und der kleine Zug begab sich, quer über die schmale Straße, in die dicht vor dem Haus stehende Kirche.

Dort fanden sie den Geistlichen, wie gestern, in seinem Ornat; aber keine Blumen waren gestreut wie gestern, kein freundliches Lächeln der Eltern begrüßte die jungen Leute an der heiligen Stätte. Alle nötigen Vorbereitungen wurden wohl feierlich, wie sie der Ort mit sich brachte, aber still und stumm und ernst beendet, und zitternden Herzens trat der Bräutigam zum Altar – er fühlte nicht einmal, daß die Hand der Braut, die sie ihm jetzt der Form wegen lassen mußte, noch stärker in der seinen bebte als er selbst.

»Wollen Sie diese Jungfrau,« frug ihn da der Geistliche wieder wie gestern, »Fanny Sophie Barbara Ehrlich, zu Ihrer ehelichen Gattin wählen, wollen Sie in Freud' und Leid, in Krankheit und Trübsal treu bei ihr ausharren und ihr hilfreich und liebend zur Seite stehen in allem, was das Schicksal Ihnen auferlegen möge?«

»Ja,« sagte Salomo mit nicht sehr lauter, aber fester und deutlicher Stimme und zu Boden gesenktem Blick, denn er wußte, was jetzt folgen mußte.

»Und wollen Sie« – wandte sich der Geistliche an die totenbleiche Braut, »diesen Junggesellen, Herrn Salomo Gotthelf Schönbein, zu Ihrem ehelichen Gatten wählen, ihm treu sein und gehorchen und bei ihm ausharren in Freud' und Leid, in Krankheit und Trübsal, und ihm hilfreich und liebend zur Seite stehen in allem, was das Schicksal Ihnen auferlegen möge?«

»Ja,« antwortete Fanny mit fester, entschlossener Stimme, und Salomo ließ erschreckt ihre Hand los und starrte sie mit weit aufgerissenen, stieren Augen an. Der Geistliche nahm den Ring von seinem Finger – er fühlte es nicht – er steckte ihm den andern an, ohne daß Salomo eine Ahnung davon hatte – er sprach die üblichen Formeln und den Segen – er hörte nichts davon, und nur erst als die Mutter die junge Frau in die Arme nahm und sie küßte, und Meister Ehrlich Salomos Hand ergriff, fuhr dieser in blinder Wut empor und schrie:

»Betrüg–!«

Aber er brachte das Wort nicht ganz über die Lippen. Meister Ehrlich hatte seine Hand wie in einem Schraubstock gefaßt, und ihn zu sich niederziehend, flüsterte er, dem jungen Mann dabei einen warnenden, aber auch zugleich drohenden Blick zuwerfend:

»Bst! Schwiegersohn, seien Sie gescheit und fügen Sie sich geduldig in das Unabänderliche, daß Sie nicht auch am Ende noch ausgelacht werden. Was geschehen ist, ist geschehen – das Wort des Geistlichen steht unauslöschbar fest, und – bedenken Sie vor allem, wo Sie sich hier befinden.«

»Aber Ihre Tochter –« rief Salomo.

»Hat gehandelt, wie sie mußte,« sagte der alte Mann, ihn mit sich beiseite führend. »Die Schmach, die Sie ihr angetan, durfte sie nicht auf sich sitzen lassen, sie wäre gebrandmarkt gewesen für ihr ganzes Leben, und das hat mein braves Kind nicht ihrer selbst willen – nicht um Sie verdient. Sie ist gestraft genug, daß Sie ihr Mann geworden sind.«

»So bin ich verraten worden.«

»Nein, das nicht,« lächelte der Meister, »aber verheiratet, und da es, trotz Ihrem eben nicht freundlichen Betragen, bei unserer früheren Verabredung bleibt, so hoffe ich noch einen tüchtigen braven Mann und ordentlichen Ausschnittwarenhändler aus Ihnen zu machen.«

»Und Hanke und Blenkert –«

»Was gehen uns Hanke und Blenkert an,« sagte der Schneidermeister ruhig – »jetzt führen Sie Ihre Frau nach Haus. Lassen Sie sich doch um Gottes willen nichts vor den beiden Mädchen merken. Die Dinger können ja den Mund nicht halten, und wenn die nur eine Ahnung davon hätten, wie die Sache wirklich steht, wüßte es morgen früh ganz Xheim, und daran liegt Ihnen gewiß nicht viel.«

Salomo Schönbein war wie vor den Kopf geschlagen. An dem Geschehenen ließ sich aber in der Tat – darin hatte der Meister recht – nichts mehr ändern. Die Trauung war nach allen Regeln, Formen und Gesetzen vollzogen, und Salomo Schönbein – lieber Leser, – Salomo Schönbein fügte sich in das Unabänderliche und hat später diese Heirat nicht bereut.

Hanke und Blenkert, aus deren Geschäft er natürlich augenblicklich treten mußte, machten sechs Wochen später einen bösartigen Bankerott, und Salomo Schönbein stand schon in derselben Zeit einem Geschäft vor, das sich durch des alten Ehrlich Umsicht alljährlich vergrößerte.

Fanny hat übrigens ihrem Mann, als sie sich endlich verständigten, fest versprochen, nie wieder Ja zu sagen, wenn sie eigentlich Nein sagen sollte, und daß sie das jenes eine Mal getan, hat niemand weniger bereut als Salomo Schönbein.

 


 


 << zurück