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3. Kapitel. Das Kränzchen und seine Gründung

Neben der Annenschule befand sich ein Gymnasium. In den ersten Monaten der bestehenden Nachbarschaft hatte man von hüben nach drüben »angebandelt«. Die Höfe grenzten aneinander. Nichts war nun leichter, als vom Treppenfenster aus, hinüber zu kokettieren oder kleine, mit Steinchen beschwerte Zettel über die nicht allzu hohe Mauer zu schleudern! Kam man des Morgens zur Schule, so traf man »zufällig« die Helden seiner Träume und verließ man mittags die Anstalt – – – so begegnete man »wieder« unvermuteterweise den betreffenden Gymnasiasten. –

Der Mädchenschuldirektor stürzte nach einigen unangenehmen Entdeckungen zu seinem nachbarlichen Kollegen. Er machte ihm die bittersten Vorwürfe, daß »die Knaben seinen Schülerinnen die Köpfe verdrehten!« – Auf diese Rede entgegnete der Gymnasialdirektor kurz und ironisch: »Verehrter Freund, solche Anfechtungen pflegen meist durchaus wechselseitig zu sein. Schon im Paradiese war Eva das Karnickel, welches anfing! – – – Meine Lehrer behaupten sogar entschieden, daß Ihre Mädel meine Jungen mit dem Augenschmeißen erst wild und aufsässig gemacht hätten!« – – »Aber ein Wandel muß fraglos geschaffen werden!« – – »Das ist auch mein Wunsch und Wille!«

Man ratschlagte hin und her. Man erhitzte sich. Endlich wurde eine Einigung erzielt! – Als die beiden Parteien einst nach den Ferien in ihre Schulräume zurückkehrten, da – – – war die allgemeine Enttäuschung groß. Eine riesenhohe, steinerne Mauer trennte die Höfe. In den Treppenhäusern waren Milchglasscheiben bis zu einer unerkletterbaren Höhe angebracht. Was aber das Schlimmste war? – – – Die Knabenschule begann in der Frühe zehn Minuten vor voll und schloß mittags eine Viertelstunde vor der Annenschule. Nebenbei waren am Ausgang und an den Ecken bewachende Lehrer postiert, welche für sofortige Säuberung der Straßen sorgten. – – Hüben herrschte Jammer und Verzweiflung. – – Drüben Wut und Empörungsgelüste!« – –

Endlich fanden sich die erregten Gemüter mit den Thatsachen ab. Man schnitt Herzen in die Schulbänke, auch Monogramme. Man stöhnte und ärgerte sich. Und zuletzt verschob man etwaige Begegnungen auf die Nachmittage. Schließlich gab es immer Hefte und Stahlfedern zu besorgen oder die leeren Tintenfässer begründeten vor den Eltern ein schleuniges Einholen des schwarzen Saftes. – – Aber die gute alte Zeit war es nicht mehr! –

Lotte Bach verließ um dreiviertel acht Uhr morgens das elterliche Haus. Ihr Weg zur Schule war ein sehr kurzer; denn diese befand sich in der gleichen Straße, ungefähr in einer Entfernung von vier Minuten. Sie hatte auf der Treppe Max Helm getroffen. Beide waren am Geländer entlang »heruntergerutscht«, um sich »das dösige Runterklettern« zu ersparen. Die Mappen hatte man bequemlichkeitshalber vorher von Absatz zu Absatz geschleudert, was nicht gerade zu deren Verbesserung zutrug! – Alle Warnungen, alle Erzählungen von wirklich abschreckenden Unglücksfällen bei diesem »Geländerrutschen« verfingen bei unseren leichtsinnigen Freunden nicht. »Wenn Fräulein Hinz und Herr Kunz sich die Nase oder das Genick gebrochen haben, so thut mir das sehr leid! Aber es war ihre eigene Schuld! Warum sind sie so tapschig? ihr kann so was nicht passieren!«

Damit war für Lotte die Sache abgethan! – – Auf der Straße war es heute herrlich! Der Schnee lag recht hoch, und neben den Bordschwellen der Fußsteige glänzten gefrorene schmale Eisläufe. – Vor jedem Hause arbeitete eine emsige Portierfamilie, um den Schnee fortzuschaffen und den Zugang zum Gebäude freizulegen. Auf eisernen Schaufeln trug man Asche und Sand herbei und bestreute damit die gefährlichen glatten Trottoirs. – Augenscheinlich war auch Kühne bei der Arbeit gewesen. »Schneepieke«, Spaten und Ascheimer standen friedlich neben dem Vorgärtchen. Der Mann selbst war verschwunden. »Du, Max, Kühne is futschikato perdutto, wir wollen ihm helfen; dann denkt der olle Knopp noch, daß eine gütige Fee hier war. Wollen wir?« – – »Meinshalben! Der ist sicher wieder in der Budike und kauft sich Mut! Die olle Blinzhaut kann schon bald nich' mehr aus den Augen sehen. Immer is er im Thran!« – entgegnete Helm, sich umschauend. – Auch er lehnte seine Mappe gegen die Mauer. Dann hackte er munter in den festgefrorenen Schnee, den Lotte zusammenkehrte und auf einen Haufen »schippte«. – Sie ächzte unter der Anstrengung.

Plötzlich warf sie die Geräte hin: »Nee – – – du, dazu sind wir doch zu fein! Und dann kommen jetzt schon so viele Schuljöhren aus den unteren Klassen. Wenn die mich schneeschippen sehen, verlieren sie den Respekt vor der ersten Klasse!« – Inzwischen hatte sie mit froststarren Fingern eine Schneekugel gedreht und schleuderte sie mitten in das Gesicht des betroffenen Kameraden. – »Siehste, so was darf man immer! Das verdirbt nicht den Ruf!« – rief sie lachend. »Na warte, du Ekel!« – meinte Max und erwiderte das Bombardement mit den kalten weißen Kugeln. – Dann warf er einen Blick auf seine, von einer Tante ererbten, silbernen Uhr, auf die er mächtig stolz war: »Ich muß weg – – – tchö!« Mißgönnend hatte auch sie auf das Zifferblatt geschaut. Eine Uhr war ihrer Seele heißeste Sehnsucht.

»Ich muß auch 'rüber! Tchö, olles Haus, sei recht artig und mach' mir Freude!« neckte sie. Ein langes Vorzeigen seiner gesund roten Zunge war des Freundes verächtliche Antwort. –

Er »schlidderte« auf dem Damme nach rechts; sie nach links ab. –

Im Hausflur der Annenschule standen Lene König und Käte Heintze. Sie waren durch ihren weiten Schulweg miteinander befreundet. Beide kamen aus Schöneberg. Beide waren auf der Pferdebahn abonniert. »Du kommst ja heute so spät, Lotte! Wo bist du denn so lange geblieben?« – – »Wir haben geschneeballt und geschliddert!« – entgegnete die Gefragte und schlug die eisigen Hände gegeneinander. »Morgen!« – – »Morgen!« – – »Mädel, bist du blaugefroren! Deine ›Gurke‹ ist ganz rot!« – – »Na, du sei man still, deine ›Kartoffel‹ sieht auch wie ein Leuchtturm aus!« – – »Wir haben aber auch einen dollen Weg. Die Bahn war so voll, daß wir hinten stehen mußten. Und gedauert hat's 'ne Ewigkeit! Bei dem Schnee kamen wir ja trotz Vorspann nich' vorwärts.« – – »Dich, dicke Kanone, weiterzuschleppen – – – dazu gehört auch was!« – – »Na, Lotteken, du bist auch nich' von Pappe! Du bist ebenso dick wie ich!« – – Lotte hörte aber nicht mehr zu. Sie war fortgestürzt. Alice und Julia kamen gerade zärtlich untergefaßt an. »'n Tag, süßer, goldener Mops! – – – 'Morgen, Wonnekloß geliebter!« – Mit diesen Worten umarmte Bachs Jüngste die beiden, welche ihre besten Schulfreundinnen waren. Jeden Tag tauschten sie neue Schwüre aus. Seit der Enttäuschung mit »Lohngrin« war ihre Freundschaft noch leidenschaftlicher geworden: »Rate 'mal, von wem wir dich grüßen sollen, Lotte?« – fragte Alice Hutten. Die andere wurde noch roter, wenn dies möglich war. – Sie wußte genau, von wem; aber sie spielte die Unwissende. Um keinen Preis der Welt hätte sie den Mädeln zugegeben, daß auch sie – – »ihn« – – heimlich anbetete. Immer that sie, als ob »er« ihr im höchsten Grade »schnuppe« wäre! – – »Keine Ahnung!« – heuchelte sie daher. – »Von deinen Eltern?« – – »Nein, du kleiner Schöps! Aber von Herrn Feller. Ich habe gerade mit ihm ordentlich plaudern wollen, da kam Julia mit ihrem ›Beefsteak‹ an, und die Freude war aus. Er verabschiedete sich sofort. ›Diese grauenhaften Anstandsbaubaus wären ihm ein Greuel‹, hatte er gesagt. – Es sei sehr gut, daß Fräulein Bach nicht mit solchem Übel behaftet sei. Trotzdem sähe er dich nie auf der Straße – – –«

»Kinder, es läutet! Wir müssen eilen! Heute ist die erste Stunde beim Direx!« – mahnte Julia. – Sie hasteten vorwärts, andere Mitschülerinnen schlossen sich ihnen an. »Es giebt ja nichts Scheußlicheres wie die Schule!« – wütete Lotte. –¦ »Nie kann man hier über vernünftige Sachen sprechen. In der Stunde tratscht man Weisheit, und in den Pausen sind immer tausend Mondkälber um uns herum! Wir müssen sehen, daß wir uns manchmal ordentlich ausplaudern können!« – »Das ist wahr, das wollen wir wirklich thun!« – versetzte Alice interessiert.

Die Stunde hatte begonnen. Der Direktor führte die jungen Mädchen auf Flügeln der Phantasie nach Spanien. Mit großem Schwunge führte er ihnen Hannibals strapaziösen Übergang über den Kleinen Sankt Bernard und feinen Einfall in Norditalien vor. Alle lauschten aufmerksam! Plötzlich fuhr Alice zusammen. Ein mehrfach gefalteter Zettel flog durch die Luft auf ihr Geschichtsbuch nieder, welches aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Hastig griff sie zu und verbarg ihn. Lottes blaue Schelmenaugen trafen die ihren. – Vorsichtig öffnete sie das »verbotene Briefchen«.

»Süßes Herz! Wollen nachher näheres besprechen. Ist Dir Hannibalchen heute auch so ›wurscht‹ wie mir? Ein Paar warme Wiener wären mir lieber! – – Au! – – – Direx sieht sogar bildschön aus! Hast Du Wilhemine F. lange gesprochen? Was hast Du ihr von mir erzählt? Was sagt sie über mich? Wenn's doch erst läutete und die englische Stunde vorbei wäre, daß wir Pause hätten. I love you! – – Lotte. – U. A. w. g.«

Der Schlaufuchs vermied in jedem Schreiben, den Primaner Feller als männliches Individuum einzuführen. Sie machte stets aus Willi eine »Wilhelmine« und benutzte zu seiner Bezeichnung nur die weiblichen Fürwörter. – Natürlich war es um Alices Aufmerksamkeit geschehen. Sie riß eine Seite vorsichtig aus dem Diarium und halbierte sie. Alsdann suchte sie aus ihrem Federkasten einen Bleistift und begann unter dem Tisch eine Antwort zu kritzeln. Nach einer Weile reichte sie diese, mit einer Oblate verklebt, vorsichtig weiter. Sie ging durch vier Hände. Dann empfing sie Lotte und las sie begierig, trotzdem mit halbem Ohre dem Unterrichte lauschend. Das Schreiben lautete:

»Herzigstes aller Süßen! – Sie erzählte mir ungefähr fünf Minuten von Dir. Glaube mir, sie liebt Dich heiß. Davon später! Habe eine himmlische Idee. Wir bilden ein Kränzchen. Jede Woche bei einer andern. Feste Statuten machen wir beide. Die Eintretenden müssen diese auf die Bibel beeiden. Eltern kriegen wir schon 'rum. Näheres in der Pause! Ewig, ewig nur Dein! Alice.«

»Lotte Bach, wollen Sie bitte das Letzte wiederholen!« – rief der Direktor. Lotte fuhr entsetzt in die Höhe und sammelte blitzschnell ihre Gedanken. Aber der Mut verließ sie nie; kühnlich begann sie: »So erschien Hannibal mit seinen von Haß und Rache entflammten Scharen am Fuße der Alpen. Kühn drang er gegen die verweichlichten Römer nach Süden vor. Im Jahre zweihundertachtzehn kam es zur Schlacht am Tessin und zu einem Gefecht an der Trebia. In beiden waren die Punier siegreich. Eine dritte Schlacht wurde schon zweihundertsiebzehn am trasimenischen See geliefert. – – – Die Römer hatten inzwischen – – die Statuten – – – Sie stotterte. Beifällig mit dem Kopfe wiegend, hatte der Professor bis hierher gelauscht. Jetzt lächelte er mitleidig: »Gut, mein Herzchen, Sie machen mir Freude, weil Sie sich jetzt im ganzen etwas zusammennehmen. Bleiben Sie so! Aber mit Statuten haben wir im zweiten punischen Kriege nichts zu thun! – Sie denken wohl nur an die zertrümmerten Hermen von Athen bei der syrakusanischen Expedition, nicht wahr? Und dann heißt es: ›Statue‹ und nicht: ›Statute‹. Sehen Sie, Statuten sind schriftlich niedergelegte Vorschriften bei Vereinen, bei Bankinstituten! – – – Unsere Schule hat ihre Statuten! – – – Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« –

»Ja, Herr Direktor, danke! Ich hatte mich auch nur versprochen!« – Sie setzte sich, wurde blutrot vor verhaltenem Kichern und stopfte sich das Taschentuch in den Mund. Auch Alice tauchte lachend unter. –

»Da sehen Sie nur, wie nervös Sie sind, Lottchen!« – meinte der gute Direktor besorgt. Trotzdem Sie so sehr gesund aussehen, haben Sie zuweilen ganz hysterische Lachanfälle. Solch junges Ding wie Sie! Tz, tz! Wollen Sie einen Schluck Wasser trinken? Gehen Sie, mein Kind, gehen Sie – – –«

Das Kind ging und wälzte sich auf dem Korridor in echt natürlichem und gesundem Gelächter. Sehr wenig beruhigt, kehrte sie endlich in den Unterricht zurück. – In der kleinen Pause erzählte sie den Mitschülerinnen, was ihr passiert war. Dabei streichelte sie ihre eigenen dicken Bäckchen und sagte beständig: »Armes, nervöses Ich, daß du so viel lachen mußt!«

In der großen Pause vereinigten sich die vier Freundinnen endlich auf dem Korridore. Käte Heintze wollte sich ihnen zugesellen; aber sie wurde diplomatisch »abgewimmelt«. – – »Wißt ihr, mir ist der Kopf so voll mit unserer Kränzchenidee, ich kann jetzt unmöglich die dumme Turnstunde mitnehmen. Ich suche irgend einen Vorwand, um mich loszuschwindeln!« – meinte Lotte. – »Ich halte es auch nicht aus. Überhaupt, da wir beide doch die Statuten – (allgemeines Gelächter) – 'rausknobeln müssen!« – fügte Alice hinzu. – »Die Sache wird grandios! Schade, daß Lotte ihre Grete Thronick dabei haben will! – – Wir sind ihr doch fremd, sie wird uns stören!« – »Nicht einen Schritt ohne Grete! Was fällt euch ein? Ihr habt, wie mir scheint, keine Ahnung von Freundschaft! Grete stört nie! – Im übrigen, arrangiert doch euer Kränzchen ohne mich!« –

Schnippisch drehte sie sich um und wollte weitergehen: »Hab dich doch nich, Lotte, wer wird so empfindlich sein?« – rief Lene. – »Ihr nehmt ja Käte auch nich' dazu! Und ich mache keinen solchen Trara!« – »Ohne dich, du bist verdreht!« – schrieen Alice und Julia gleichzeitig und packten die Davoneilende. Sie ließ sich leicht versöhnen und gnädigst abküssen. – »Also nur wir vier und Gretchen!« – summierte Julia. – »Dazu werden sich auch unsere Eltern leichter bereit finden. Dann kostet die Aufnahme nicht soviel!« – »Ja, die Aufnahme ist immer der Dollpunkt!« – seufzte Lene König. – »Mama stöhnt, daß jeder Besuch meiner Freundinnen minimum eine Mark fünfzig Pfennig bis zwei Mark kostet!« – Lotte wußte, daß die Witwe König nur auf ihre recht geringe Staatspension und den Erwerb ihrer Tochter angewiesen war. Der Regierungsrat hatte sich erst kürzlich darüber geäußert. Seine Worte schwebten ihr noch deutlich vor. Nebenbei klopfte ihr gutes Herz in vollstem Mitgefühl: »Das ist aber auch lächerlich, was ihr euch für Umstände mit uns dummen Affen macht! Alle Welt spricht darüber! Ihr seid zu nobel; wenn man bedenkt, wie poplich einen die reichen Schreibers aufnehmen!« – sie zuckte verächtlich die Achseln. – »Da giebt es nicht für fünfzig Pfennig Schlagsahne und einen Napfkuchen mit Rosinen, so einen feinen abgeriebenen, wie ihr ihn immer habt! – Und kein Obst und keine belegten Brötchen und Weizenbier, solch feines süßes! Nee, erst kam ein Dienstbolzen in rosa, mit einem Hamburger Häubchen auf dem Kopfe, die trug ein riesiges silbernes Tablett. Die Kristallteller klirrten nur so! Weißt du, Alice, ich stieß dich noch an? Mir klopfte ordentlich das Herz; denn ich rechnete auf Apfeltorte mit Schlagsahne oder Baisertorte; aber hat sich was – – –« – – »Wahrhaftig, lumpiger matter Thee und ganz kleine geschmierte Stullen. Auf einigen war rheinisches Mus aufgeschmiert, die anderen hatten mit dem Messer kunstvoll gerippte Butter! Als ob einen Kunstschmiere satt macht? Mir bellte der Magen!« – ergänzte Alice, noch in der Rückerinnerung empört. – »Was aber das Dollste ist« – fügte Lotte hinzu, – »da wollte einem die dürre Frau Schreiber in ihrer Spitzentoilette noch einreden, sie lebten ganz im englischen Stile. Na, wenn so 'ne Hungerpotenlutscherei englisch ist, dann pfeife ich auf England! Na überhaupt! Und der englische Salon da! So was Verrücktes! Ein Stuhl hoch, einer tief! Ein Sofa gelb und eine Kissenhutsche rot. Und wenn man einen Eckdivan näher beguckt, ist es nur eine riesige geschnitzte braune Cigarrenkiste ohne Cigarren und 'ne Decke drauf mit zwei Kissen. Und als ich mich schüchtern auf einen Schemel ohne Lehne niederließ, drehte sich das tolle Ding plötzlich mit mir um. Und so sonderbar gequietscht hat's dabei, daß ich ordentlich rot und verlegen wurde! Na, überhaupt, die Engländer, die karrierten Plättbretter mit ihrer verkauten Quatschsprache: uaua und ß, ß! das dämlich ›th‹. – Da lobe ich mir unser Deutschland, und ach fein: unsere soliden Happenpappen!« – – »Lotte, schweif nicht ab. Und dann: englisch ist nun 'mal Mode. Uns Deutschen ist doch nur wohl, wenn wir fremden Völkern nachmachen und sie bewundern können!« – meinte Julia. – »Wenn ich 'mal Kinder habe, lasse ich sie nichts Ausländisches sehen! Aber jeden Tag renne ich mit ihnen Unter die Linden und zeige ihnen unseren geliebten Kaiser und Bismarck und Moltke und die trommelnde Schloßwache! Wer den alten Helden-Wilhelm sieht, wenn die Wache aufzieht, und da nich wie ein Schloßhund heult, der kann mir gewogen bleiben!« – Feierliches Schweigen entstand bei diesem Ausspruch der Offizierstochter. Lotte strampelte vor glühendem Patriotismus: »Fest steht und treu die Wacht am Rhein!« – citierte sie begeistert. – »Sieben Söhne müssen von mir fürs Vaterland sterben, und all' meine Töchter sollen wie Leonore Prohaska für unsere Hohenzollern kämpfen! Ach, wenn ich den Franzosen doch jetzt die Buchsen vollsohlen könnte!« – setzte sie racheschnaubend hinzu.

»Na, reg' dich nicht auf, Dickchen! Papa ist doch gewiß ein kluger Mann; aber der sagt, wir hätten jetzt unsere Kriege gewonnen und eine Stellung in der Welt, das wäre genug! Jetzt müßte sich Handel und Landwirtschaft innen im Lande heben, das sei die Hauptsache! Und im großen und ganzen solle jeder Bürger sich um seine Familie kümmern und Staat – – Staat sein lassen; das wäre die beste Politik!« – – »Pfui, Alice, wie kann dein Papa so was sagen?« – wandte Lotte empört ein. – »Jeder Deutsche muß verrückt werden vor Wonne über das, was unser alter Kaiser und der Kronprinz geleistet haben, bäh! Und der kleine – – der Enkel, ist piekklug und berechtigt zu den größten Hoffnungen! Es giebt eben nur unsere Hohenzollern! Und wenn da nich jeder von überzogen ist, kann er mir leid thun, mir, Lotte Bach, bätsch basta!« – Sie stampfte mit dem Fuße auf und ballte die Rechte zu einer Faust, während die Linke die dicke Butterstulle drohend schwenkte. – »Und wenn beim Schachbrett eine Figur fehlt, kann man auch nicht spielen! So ist es auch bei einem Volke!« –

»Julia, Lotte, Alice!« – beschwor Lene. – »Seid ihr denn verrückt? Wir wollen ein Kränzchen verabreden und ihr politisiert, als ob ihr beim Bier im Restaurant säßt! Kommt jetzt endlich mal auf die Hauptsache!« – Die anderen gaben ihr recht. Man kam darin überein, daß die Versammlung in jeder Woche bei einem anderen Kränzchenmitgliede sein sollte. Die Zusammenkunft sollte von vier bis spätestens halb acht dauern. Dann brauchte es kein Abendbrot zu geben, und die ganze Aufnahme füllte und durfte nur in Kaffee und Zwieback, höchstens ›Mushörnchen‹ und ›Schnecken‹ bestehen. Die konnte man schlimmstenfalls vom Taschengeld ›rausknausern‹; wenn sich die Eltern ›gnietschig‹ zeigten. Lotte und Alice sollten aber vor allem feste Statuten ausarbeiten. – »Nehmt mir nich übel, aber ihr vergeßt wieder die Hauptsache! Ich muß an alles denken!« – rief Lotte geringschätzig. – »Glaubt ihr, daß unsere Mütter uns einen ganzen Nachmittag zusammenkommen lassen, um zu quatschen? Scheene was?! Ja Kuchen! – Unser Kind muß einen Namen haben! Ich denke, wir nennen es ›Dramatisches Lesekränzchen‹. Anstandshalber bringt jeder ›Wilhelm Tell‹ mit, den lesen wir zum Scheine mit verteilten Rollen!« – – »Dann sitzen uns so und so viel Anstandsekel auf dem Halse! Deine Schwestern, deine Spazierfranzösin, mein Beefsteak und bei dir auch 'ne Schwester!« – warf Julia ein. »Unsinn, die werden rausgegrault, das nehme ich auf mich!« – sagte Lotte. – »Erinnerst du dich, Alice, wie schnell ich neulich deine Mama über Bord brachte – – –«

Die große Schulglocke unterbrach wieder die Unterhaltung. Die jungen Mädchen eilten, stubsend und drängend durch die andern heraufströmenden Schülerinnen hindurchwindend, treppab zum Turnsaal. Lotte blieb vor der Thür wartend stehen: »Also du kommst nach?« – »Bestimmt!« – »Hand drauf!«

Alice schüttelte ihr die Hand. – – – Es wurde still auf dem Hofe und im Treppenhause. Aus dem Gesangsaale hörte man den vierstimmigen Gesang einer Motette. In der untersten Klasse lautierten quieksige Kinderstimmen, im Chore brüllend: »P – – – f – – o – – r – – – Pfor – – – t – – e – – – te – – – Pforte!« – – – Lotte stand in Gedanken versunken da. Während sie aber vor sich hinstarrte, rieben ihre Fäuste ununterbrochen über Stirn und Wangen, bis diese dunkelrot erglühten. Sie verfolgte damit einen bestimmten Zweck, der ihr altbewährtes Mittel zu neuen Ehren bringen sollte.

Nach ungefähr zehn Minuten erschien Fräulein Lager, um den Unterricht zu erteilen. Jetzt stand die kleine Bach matt und in sich zusammengesunken da: »Nanu, Lotte, wie sehen Sie aus? Ist Ihnen schlecht geworden? Sie glühen ja ordentlich vor Fieber!« – – Die Heuchlerin blickte trübe durch halbgeschlossene Augenlider zu ihr empor: »Ich habe – – – solche – – – furchtbaren Kopfschmerzen – – – Fräulein – – –, und mir – – – ist so schlimm.« – »Das glaube ich gern, Herzchen!« – Die fette, kühle, kleine Hand der Dame fuhr über Lottes Gesicht. – »Sie sind siedendheiß! Da dürfen Sie aber nicht mitturnen, gehen Sie lieber nach Haus! Wollen Sie nicht, nein? – – Na, dann bleiben Sie in der Klasse oben, trinken Sie ganz langsam kaltes Wasser und legen Sie sich ein nasses Taschentuch auf die Schläfen. Aber lesen Sie nicht, das strengt an. Dabei hilft nur Ruhe!« –

Die leidende Lotte schlich schlotternd und langsam wieder treppauf, bis ihr das Klappen der Turnsaalthür verriet, daß die Lehrerin verschwunden war. Da plötzlich bekam sie ihre elastische Frische wieder und hopste, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, empor. In der leeren Klasse turnte sie schaukelnd zwischen den Tischen, zeichnete beleidigende Lehrerporträts mit Kreide an die sonst so respektierte Tafel und lachte sich selbst halbtot über ihre findigen Ideen. Die Zeit verflog schnell. Ordentlich enttäuscht drehte sie sich um, als Alice hereintanzte: »Schon?« – – »Du bist gut und kannst so bleiben!« – entgegnete diese. – »Wenn du wüßtest, was für Mühe es gekostet hat, mich loszuschwindeln, nachdem du schon mir die besten Entschuldigungsgründe weggenommen! Ich mußte warten, bis das Sprungbrett drankam. Dann that ich, als ob ich hinfiel! Sieh nur, wie ich hinke!« – Sie ging mit nachschleppendem Schritte lahmend durch den Mittelgang. –

Darauf begaben sie sich an die Verfassung ihrer neuen Vereinsgesetze. – Diese kamen im ersten Kränzchen schön abgeschrieben zur Verlesung. – – – »Vätachen, du erlaubst es doch und bittest für mich bei Mutta'n!« – hatte Lotte geschmeichelt. Sie saß auf des Rats Schoß und lehnte ihren Kopf gegen den seinen, dabei seine Ohren leise kraulend, was er sehr liebte: »Sieh 'mal, du bist jetzt doch Geheimrat geworden, da mußte doppelt nett sein, und jetzt kann es dir ja auch wa–haftig nich drauf ankommen. Das Kränzchen is doch nur alle fünf Wochen bei uns. Wir sind doch man bloß fünfe! Also! Fünf Kuchenschnecken zum Sechser macht fünfundzwanzig Pfennige!« – – »Die Geldfrage laß nur deine Sorge nicht sein, Wildfang!« – erwiderte er. – »Na, ich meine ja auch man bloß, mein altes Vätachen. Der Wohlthätigkeit sind keine Schranken gesetzt! – – – Und nun bitte für mich. – Ich muß jetzt die Neuigkeit den Jungens mitteilen! Au, mein Zopf!«

Der Geheimrat hatte sie am Haar gezogen. Sie riß den starken Zopf mit einem Rucke los und sprang davon. Diesmal brauchte der gute Papa nicht lange zu bitten. Die neugebackene Geheimrätin und ihre Töchter waren von der Kränzchenidee begeistert. »Denn ein verstärkter Umgang mit Mädeln zog die Range von den wilden Jungen ein wenig ab. Und das war gut und die höchste Zeit!« Soviel Einsehen hatten sie doch nun auch gewonnen, seitdem sich die tollen Streiche rapide vermehrt hatten. Das Mädchen war das »schwarze Schaf« der Straße, das heißt: auch ihre Freunde rechneten zu den bekanntesten »Ruppsäcken«. Wie oft hatten nicht die verliebten Eltern den von ihnen so hochgeachteten und prächtigen Hauswirt »Herrn Neuert« um Geduld für ihre Jüngste bitten müssen. Und der gute Mann, der selbst Vater war, hatte dann mit nachsichtigem Lächeln »beide« Augen zugedrückt. –

Lotte stand am Fenster ihres Zimmers und pfiff ihre bekannten Lockpfiffe. Gegen die Kälte hatte sie ein Tuch umgeschlagen. Plötzlich zerfiel ein Schneeball erkältend und stäubend an ihrem Kopfe. – Franz Haffner hatte ihn geschickt dirigiert.

»Pfui Deibel!« – knirschte sie erschrocken. – »Na warte man, Jungeken!«

»Was ist los, Lotte, hast 'n Klaps?« – brüllte Mäxchen Helm von oben herab und beugte den Kopf neugierig über die blendend weiße Schneeschicht. –

»O nein, mein Haseken, immer wer frägt, hat ihn, das mußte doch nachgerade wissen!« – antwortete diese zart, – »Jungens, Alice, Grete, Lene, Julia und ich haben jetzt alle Sonnabend ein dramatisches Lesekränzchen, etsch!«

»Ein Lesekränzchen für Affenschwänzchen! O jemine, wie thut das weh!« – sang Max. »Natürlich, ihr Weiber!« – meinte Franz. – »Sobald ihr en gros auftretet, seid ihr eine ekelhafte Bande! Versumpft gegenseitig! Und um dich ist es schade, Lotte, wahrhaftig, du warst bis auf dein Puppengespiele so ein vernünftiges Geschöpf! Nu wirste auch bald so ein Greuel wie all die andern werden! – – – Äx, die scheußlichen Weiber!« – –

»Na, und ihr seid man ganz still – – ihr!« – entgegnete Lotte fuchtig. – – »Ihr Männer seid noch viel doller ekelhaft! Pfui, ich kann mich gar nicht begreifen, mit so was Gräßlichem überhaupt umgegangen zu sein! – Ihr dämliches Mannsvolk, könnt euch nicht einmal allein einen Knopp annähen, bätsch!«

»Schweig, Weibsbild!« – kreischte Max. – »Schweigt ihr – – –« sich auf der Wortsuche nach dem tollsten Verachtungsausdruck erhitzend, vollendete Lotte in höchster Stimmlage – »einfach Männer! Das ist ja das Schlimmste von allem!«

Die Fenster flogen zu. Der Kriegszustand war zum xtenmale erklärt. –

Auch in den anderen Familien war die Erlaubnis zu einem dramatischen Lesekränzchen nach mehrtägigem Belagerungszustand gegeben worden. Jede Mutter stellte natürlich eine Reihe Bedingungen auf, und jede Tochter gelobte heuchlerisch deren strikte Befolgung. So konnte denn gegen Ende Februar die erste Vereinigung der fünf Freundinnen in der Wohnung des Herrn Doktor Hutten stattfinden. Schon den ganzen Nachmittag war Alice in großer Erregung. Mit vieler Mühe hatte sie ihr gemütliches Zimmerchen hergerichtet. – Auf dem Mitteltische brannte eine Lampe, mit einem Schirm aus rosa Seidenpapier verschleiert. Das Kaffeegeschirr und der silberne Kuchenteller funkelten auf dem blendend weißen Tischtuche. – Die Puppen waren in den Winkel verbannt, denn außer Lotte zeigten sich die anderen Freundinnen diesem reizenden Spiel sehr abgeneigt. Sie fanden es »albern« und sich selbst »denn doch etwas zu erwachsen« dafür. Nur bei Lotte und Alice stieg die Leidenschaft für Puppen noch von Jahr zu Jahr. Sie nähten und kochten für ihre »Kinder« und führten mit ihnen phantastische Reisen und Romane auf.

Punkt vier Uhr klingelte Lotte Bach. Sie war schon seit halb vier ungeduldig auf der Straße hin und hergeeilt, bis die nahe Kirchenuhr die vierte Stunde tönend verkündete. Dieses »Besuchsfieber« trieb sie stets zu der erschreckendsten Pünktlichkeit. – Sie sah heute mit ihrem sauberen Matrosenkleide und den beiden dicken Zöpfen, dem gesundheitsstrahlenden Gesichtchen so anmutig aus wie ein echter deutscher Backfisch. Frau Doktor nahm deshalb ihre tiefe Verbeugung äußerst liebenswürdig entgegen. »Eine Empfehlung von meinen lieben Eltern für Sie, gnädige Frau, und für Ihren Herrn Gemahl. Ich soll für Ihre gütige Erlaubnis bestens danken. Mama freute sich sehr, daß auch Sie gerade den Sonnabend für unser Kränzchen bestimmt haben; dann hätten wir doch den Sonntag Vormittag für die Schularbeiten!« – Wiederum knixte Lotte. Frau Hutten klopfte sie wohlgefällig auf die Schulter: »Danke herzlich für die Grüße, Mäuschen! Deine verehrte Mama und ich hatten uns neulich auf dem Markte schon über den Tag geeinigt! Doch nun geh zu Alice, bis die andern kommen!« –

Kaum betrat Lotte das Gemach der Freundin, so warf sie die Rolle mit den Statuten auf das mit blauem Cretonne bezogene Sofa. Dann beugte sie sich auf den Teppich und schoß zwei gediegene Purzelbäume: »Äx, pfui Deibel, – diese scheußliche Höflichkeit, die man uns Unglücksmenschen einproppt!« – meinte sie verächtlich. – »Dreimal ist mir Mutta nachgelaufen, und dann hat sie es noch auf der Treppe losgebrüllt: ›Vergiß die Empfehlung nicht, sei recht artig und bescheiden!‹ – – – Immer dieselbe Leier: artig is nach meinem Begriff – – im höchsten Grade langweilig und nur gut für Kranke. Und bescheiden ist dumm und gut für Dummköppe! – Möchte wissen, ob sich artige und bescheidene Kinder so gottvoll amüsieren wie ich? Wie sagt Herr Feller doch? ›Lotte‹, ach nein, das wagt er denn doch nicht. Also: ›Fräulein Bach ist die einzige Dame meiner Bekanntschaft, die Schneid hat!‹ War's nicht so? – – – Na, also!« – Plötzlich sprang sie in die Ecke und kniete neben den Puppen nieder: »Nanu, wie sieht denn mein Schwiegersohn ›Atalarich‹ heute aus? Du hast ja eine neue Perrücke für ihn gekriegt! – 'Tag, Atta, deine Frau, meine ›Amalaswintha‹ und ›Iwan‹ und ›Feodora‹ lassen grüßen, lieber Sohn! – 'Tag, Rosamunde, du hast ja eine neue Schärpe um! – – Du, Edith mag ich nicht, wa – haftig nich! Sie sieht gerade so verziert und verschminkt aus wie Fräulein Reich in der Schule, nich wa?«

»Du, Lotte, lesen wir die Statuten gleich vor oder nach dem Kaffee?« – fragte Alice, welche die große Rolle inzwischen ausgewickelt hatte. Die Angeredete sprang auf: »Sobald deine Mama 'rausgegrault ist. Hast du die Bibel schon bereit gelegt?« – – »Ja, in meiner Kommode – – – da sind die andern!« – Sie stürzte hinaus und kam mit den noch fehlenden Freundinnen zurück. – Stürmische Begrüßung! – Alsdann erschien Frau Doktor mit der dampfenden Kaffeekanne, ein Handarbeitskörbchen am Arme. Sie setzte sich zu den jungen Dingern, und schien deren heimliche Seufzer gar nicht zu bemerken. – Die »Fütterung« war schnell erledigt. – Man tauschte Blicke aus und holte, als der Tisch abgeräumt war, die Bücher hervor.

Lotte hatte ihre Freundinnen gut geschult. Jede zierte sich erst lange, ehe sie mit der Lektüre begann. Jede stockte – – – stammelte – – – und legte endlich das Buch ächzend vor sich hin. – »Mama, wir genieren uns alle vor dir! Keine traut sich 'raus! Und dann haben die andern Mütter alle versprochen, uns allein zu lassen. Sonst ist es doch kein Kränzchen, kein Vergnügen; sondern noch doller wie eine Schulstunde!« – knurrte Alice. Die andern stimmten ihr zu. – Etwas enttäuscht erhob sich Frau Doktor: »Nun, beruhigt euch nur! Was alle Mütter thun, werde ich selbstverständlich nicht anders machen! Wie könnt ihr großen Mädel aber so schüchtern sein? – – – Nun, dann amüsiert euch untereinander, und seid vernünftig! – – –« Sie wandte sich in der Thür noch einmal um. »Werdet ihr alle abgeholt?« – – Die Kinder bejahten. »Gut, so klopfe ich um halb acht!« – – Die Doktorin verschwand. Die Siegerinnen jubelten. –

»Daß sone vanünftige Frau nich' so was von alleine merkt!« – tadelte Lotte kopfschüttelnd. »Sie wa doch auch mal jung und hat lieber mit ihren Freundinnen allein geplaudert. Unsere Kriegslist wenden wir so oft an, bis wir 'rum sind. Keine liest vor Ziererei! Und dann sagen wir jeder, daß die andern Mütta uns alleine lassen wollen. Kommen wir damit durch, bon! Wenn nich' – laßt mich nur sorgen!« – – »Alice, verschließ die Thür! Und nun verlest die Statuten, und vereidigt die Rekruten! Schön gereimt, nicht?« – rief Julia. – Die Schillerschen Bände wurden »aufgeschlagen« vorsichtigerweise auf den Tisch gelegt. Alice riegelte zu und holte die Bibel, die sie mitten auf den Tisch placierte. Ihre Halskette mit dem Goldkreuzchen kam darauf. Lotte ergriff aufgeregt die Statuten und erhob sich. Die andern lauschten gespannt und ebenso unruhig zu:

Wie jeder echte Berliner, räusperte sich Lotte erst, sagte: »Also!« und begann:

»Statuten des Sonnabendkränzchens: ›Bund der Seele‹.

§ I. Die fünf Mitglieder des ›Bundes der Seele‹ sind: 1. J. v. M. – 2. A. H. – 3. G. T. – 4. Lene K. – 5. L. B. – Sie geloben einander auf die Bibel: ewige Freundschaft, ewige Liebe und ewige Diskretion (Kinder, schreibt ihr Diskretion mit'm Schluß-s oder ›ß‹? – Schluß-s habe ich, also weiter).

§ II. Die fünf Mitglieder empfangen Blumennamen und haben sich in allen schriftlichen Vereinssachen nur mit ihren neuen Namen zu bezeichnen.

§ III. Wird ein Mitglied verpetzt, so gilt der Grundsatz: Alle für einen – einer für alle!

§ IV. Bei Schularbeiten, Extemporalen etc. haben auf Verlangen alle – einem zu helfen.

§ V. Die Mitglieder borgen sich untereinander willig alle Bücher, besonders verbotene. Wer das durch irgend einen Zufall nicht kann, muß wenigstens den Inhalt im Kränzchen erzählen.

§ VI. Kein Mitglied hat das Recht, eine geschenkte Bonboniere allein aufzuessen, ohne den andern davon abzugeben. (Das gleiche gilt natürlich vom Weihnachtsteller!)

§ VII. Der ›Bund der Seele‹ sammelt durch freiwillige, je mehr je bessere Beiträge eine Summe Geldes und kauft heimlich die von einem Bundesmitgliede im Elternhause zerbrochenen Sachen nach. (Kinder, ich gebe fünf Groschen, die mir gestern mein Onkel Doktor geschenkt hat, weil ich ihm › Les Adieux de Marie Stuart‹ aufgesagt habe!)

§ VIII. Alle verteidigen einen bei Keilereien, Zänkereien oder Angriffe ungerechter Lehrer.

§ IX. Alle unterstützen einander in Liebessachen.

§ X. Alle geloben den Hohenzollern ewige und gehorsame Liebe und versprechen im Notfalle Gut und Blut für das Vaterland zu opfern!

§ XI. Alle suchen, wenn es möglich ist, bei einem Prediger eingesegnet zu werden und eine Tanzstunde zu besuchen. (Ich sage euch aber gleich, daß Papa mich erst nach sechzehn Jahren einsegnen lassen will, damit mich die Schule nicht ablenkt, und ich recht reif für die ernsten Sachen bin!« – »O weh!« – unterbrach sie Gretchen Thronick – »ich fange Ostern schon mit der Konfirmandenstunde an.« »Und ich Oktober, wenn ich in der oberen ersten Klasse bin!« – meinte Alice. Auch Lene stimmte dem bei. – Julia dagegen sollte auch so lange als möglich warten! – »Still,« – befahl Lotte – »wir sagten ja auch nur, wenn möglich!) Also weiter:

§ XII. Das Mitglied, welches sich zuerst verlobt oder verheiratet, ladet die andern zu allen Festlichkeiten ein.

§ XIII. Alle Mitglieder sind Paten bei unsern späteren Kindern.

§ XIV. Alle Mitglieder suchen eine neue Sprache und Schrift zu erfinden, müssen aber, wenn dies nicht geht, mindestens die Räuber- und P-Sprache fertig sprechen können, um sich vor Feinden: Lehrern, Eltern und Dienstboten zu sichern. (Natürlich rechnen dazu auch Geschwister!)

§ XV. Wer obige Gesetze nicht streng und genau befolgt, wird schimpflich ausgestoßen, und der Fluch der Hölle treffe ihn! – – –

Fertig!« – Tiefes Schweigen entstand. Der letzte Paragraph hatte niederdrückend gewirkt. Lotte sah sich stolz und triumphierend um: »Fein – was?! – – – Das mache uns erst einer nach! – – – Hat jemand noch etwas hinzuzufügen? – – – Nein?! – – – Also bon! Alice, vereidige jetzt! Jede legt die Hand auf die Bibel und sagt: ›Ich schwöre Liebe und Gehorsam‹. Dann trinken alle fünf aus einem Glase Wasser – – – Blutsbrüderschaft«. – »Kinder, sollen wir nicht unsere Arme ritzen und wirkliches Blut hineinfließen lassen?« – fragte Julia begeistert. – »Äx – – pfui Deibel! Nein, Wasser thut es auch!« rief Lotte und machte eine Grimasse des Abscheus. – »Aber nach dem Schwur nennt jede ihren Namen und den der erwählten Blume; dann den Namen des Mannes, den sie liebt. Keine darf aber Mumpitz machen und schwindeln. Es ist ein heiliger Eid, gerade wie beim Vehmgericht. – – Nun, Julia, tritt vor und fang du an! Du bist schon fünfzehn!«

Julia erhob sich, legte die Hand auf die Bibel und sagte erblassend: »Ich schwöre Liebe und Gehorsam, Julia von Miller! Ich nenne mich ›Mandelblüte‹ und liebe Doktor Ottomar Lohn!« – »Was, immer noch?« – – »Wa – haftig, nee, so was!« – – »Dämlich!« – erscholl es durcheinander. Man liebt nur einmal und nie wieder!« betonte die Gekränkte, halb beleidigt, halb schmachtend. »Ich schwöre Liebe und Gehorsam, Lene König! Ich nenne mich ›Narcisse‹ und liebe den verstorbenen Achilles!« – – »Nee, ein Toter geht nicht, und noch dazu ein so'n oller Grieche!« – dekretierte Lotte. – »Gleich lieb einen andern; aber einen Lebendigen.« – »Gut!« – rief Lene errötend. – »Nach Achilles liebe ich am meisten Franz Hutten!« – »Was?« – schrie Alice erstaunt. – »Meinen Bruder? Diesen dummen, rüpelhaften Pflegel von sechzehn Jahr, der mich erst gestern gekniffen und verhauen hat. Meine Arme sind heute noch blau davon.« – – »Ja, ihn! – Er hat neulich Fritz Schulze verhauen, der mir vom Balkon auf meine neue Pelzmütze gespuckt hat. So etwas ist heldenhaft; denn Fritz ist viel größer und stärker als er!« – verteidigte ihn Lene.

»Ich schwöre Liebe und Gehorsam, Grete Thronik! Ich nenne mich ›Veilchen‹ und liebe Erich Bieser!« – rasselte Gretchen schnell herunter. Sie fühlte sich unter diesen fremden Mädchen recht unbehaglich und wäre am liebsten fortgerannt. Mit Lotte allein war es viel schöner!

»Ich schwöre Liebe und Gehorsam, Lotte Bach! Ich nenne mich ›Kornblume‹ und liebe Willi Feller und Fritz Haffner!« – »Hört nur, sie liebt zwei!« – »Ja!« – rief Lotte. – »Ich weiß nämlich nicht recht, wem ich den Vorzug geben soll? Denn ich habe beide sehr gern, Willi ist schöner, Fritz ruppiger; aber Heinz von Miller mag ich auch sehr gern!« –

»Ich schwöre Liebe und Gehorsam, Alice Hutten! – Ich nenne mich ›Lichtnelke‹ und liebe – – – Donnerwetter, wen ich so richtig liebe, weiß ich nicht; aber es kann wohl auch Heinz von Miller sein. Er hat schon einen Schnurrbart; aber sogar einen richtigen; und dann hat er doch Uniform und ist Fähnrich. Aber zum Beispiel: meinen Vetter Bob mag ich auch. Er ist doch Corpsstudent und sehr schneidig. Schade, daß er mich immer so neckt und so verächtlich: ›Grünes Gemüse‹ – ›Kruppzeug‹ – oder ›Gänschen‹ nennt. So hasse ich ihn denn doch mehr als ich ihn mag, den ollen Ekel. Er hat zu Papa gesagt, er heiratet mich, sobald er Assessor wird; Geld hätte er doch genug. Er warte sicher auf mich, weil ich so ein niedlicher, widerborstiger Backfisch wäre! Aber ich danke, Herr Franke, irren ist menschlich! – – Kinder, was ist eigentlich das? Bob sagt, ich hätte soviel Temperament; was ist Temperament?«

»Wenn es heiß ist oder kalt!« – entschied Lotte.

»Nee, ist das nicht Temperatur?!« – meinte Julia. »Nein, im Geigenteil! Du verwechselst wieder mal was, Juleken!« – »Ich hab doch recht!« – »Haste nich!« – »Was du, Schaf, auch weißt, sitzt ja unter mir, ätsch!« – »Oller Quatschkopp, weil du zufällig I seek, sought, sought wußtest! Der reine Zufall!« – – »Kinder, zankt ihr euch schon, los?« – unterbrach Alice die beiden Hitzköpfe, – »denkt an die Statuten! Dann müssen wir jetzt auch das Glas kreisen lassen. Also ich fange an: den ersten Schluck, prosit!« Die beiden Streitenden schwiegen beschämt. Aber um alles in der Welt konnte Lotte nicht den weisen Ausspruch: »Der Esel geht immer voran!« unterdrücken. Er wurde klugerweise überhört. Das Glas ging von Mund zu Munde. Die Formalitäten waren erledigt. Der »Bund der Seele« auf »ewige« Zeiten geschlossen. –

Dann kopierten die jungen Dinger noch die Statuten in ihre eigens dazu mitgebrachten Notizbücher, plauderten noch ein wenig, lasen in der That zwei Scenen aus dem Tell, und – – – das erste Kränzchen war gewesen. »Ich schwärme für Schiller! So was giebt's gar nicht mehr!« – meinte Lotte auf dem Heimwege zu Julia, mit der sie ausgesöhnt Arm in Arm dahinschritt. Der »Millersche Bursche« folgte ihnen mit »Bachs Minna« in eifriger Unterhaltung nach. –

»Ich mag Schiller auch riesig!« – entgegnete Julia. – »Aber er dichtet ewig in lauter alten bekannten Citaten, die man dann mit den Monologen auswendig lernen muß, das ist recht langweilig! Und wenn man sie nicht kann, ist man ungebildet!« – »Das ist richtig!« – sagte Lotte. – »Ottilie Wildermut, die Helm und Cron sind entschieden bequemer. Man versteht sie auch besser!« – – »Ja, und mir sind sie interessanter!« – »Nein, Julia, gerade was man nicht versteht, ist am interessantesten!« – stritt die rechthaberische Lotte. – – »Und dann quatschen mir die Helm und Cron immer zu viel von Liebe. Alle Mädel, von sechzehn, verloben und verheiraten sich schon. Und wenn sie es nicht thun, werden sie fromme Gouvernanten. Alles opfert sich in den Büchern auf. So ist es gar nicht im Leben. Das sehe ich doch bei uns zu Hause! Ich aber liebe nur alles, was wirklich im Leben vorkommt, und geschildert muß es werden, wie es richtig is! Und wenn meinshalben zerrissene Hosen und Pickel auf der Nase im Romane vorkommen sollten!« – – »Pfui nein, das mag ich nicht, Lotte! Im Buche muß es immer schöner sein als im Leben! Glaubst du denn, daß es früher alles so war, wie Schiller es in seinen Dramen sein läßt?« – – »Natürlich! Was der schrieb, kommt doch in der Geschichte vor, und Geschichte is immer wahr! Und dann schildert er nur Helden und besondere Menschen, sonst würde er sie sich doch nich' ausbuddeln! Und so 'ne besonderen Leute sind immer anders gewesen als wir gemeines Volk, haben anders gedacht, gesprochen und gehandelt als wir! So denke ich's mir! Redst du dir zum Beispiel ein, daß unser Kaiser und der Kronprinz und Prinz Wilhelm und sein kleiner Sohn so sprechen wie ich? – – – Na also, kleine Nauke mit der Pauke!« – – »Lotte, ich glaube, du wirst auch mal was Besonders« – sagte Julia nachdenklich. – »Du sprichst auch anders als wir und oft sehr klug; wenn du dir auch immer so häßliche Berliner Worte aussuchst!« – »Berliner Worte und häßlich? – Na, du hast wohl 'n kleinen Piep? Mag schon sein, daß ich in einem neuen Krieg die ›Jungfrau von Berlin‹ werde und das Vaterland rette. Du weißt doch: ›Das Schlachtroß steigt und die Trompeten klingen!‹ – Wenn ich dann im hellblauen Kleide über den Schloßplatz reite, auf 'm schwarzen Pferde, lauter weiße Hunde drum 'rum! Und der Küraß und der Helm sind von Brillanten, dann werfe ich dir die Rose von meiner Brust zu. – – – Ach, wenn dann bloß die ganze Schule dabei wäre und Willi Feller und unser ganzes Haus! – – – Die platzten vor Neid! Aber fein wär's, – fein – – was?« Julia staunte von neuem über die üppig wuchernde Phantasie der Freundin. Mit gewissem Respekt blickte sie scheu auf das dicke, rotbäckige Mädel an ihrer Seite, auf die Range! –

Das zweite Kränzchen war bei Lene König und verlief sehr gemütlich. Der »Bund der Seele« hatte diesmal zwar nicht ein gar so feierliches Aussehen. Dafür war er aber um so ausgelassener. Lotte und Alice zeigten sich so übermütig wie nur möglich. Sie verkleideten sich und führten Komödien auf. Die anderen kamen gar nicht aus dem Lachen heraus. Dann erzählte Bachs Jüngste ihre neuen Streiche, sprach in Reimen und kopierte endlich mit überwältigender Komik die Lehrer und Lehrerinnen. – Als die Kinder sich abends trennten, verabschiedeten sie sich höflich und artig von Frau König: »Na, heute ist Wilhelm Tell wohl etwas schlecht weggekommen?« – fragte sie neckend. – »Oder hat Schiller gar ein Lustspiel daraus gemacht, das ich nicht kenne? – Ich habe euch fortwährend lachen hören!« – Verlegen trollte sich der erkannte Besuch. –

Beim dritten Zusammenkommen drohten die »Blumenschwestern des Bundes der Seele« in Thränen auseinander zu fließen. – Unser geliebter greiser Kaiser war aus dem Leben geschieden! – Der Geheimrat Bach saß bei den Kränzchenmitgliedern und erzählte aus den Feldzügen und dem Dasein des teuren Entschlafenen. Er sprach von dem aus dem Süden heimkehrenden, sterbenskranken Thronfolger, dessen sonnige Heldenerscheinung einst der Stolz und die Wonne der Nation gewesen. Und die Mädel lauschten still und traurig, ab und zu in erneutes heißes Schluchzen ausbrechend. –

Zeit heilt, und Jugend überwindet schnell! Die späteren Kränzchen waren bald wieder heiter und vergnügt. Es gab auch so vieles zu besprechen, was wir späterhin näher beleuchten werden. Schulstreiche – heimliche Briefe – Verlobung und manches andere noch hielt die Seelen in beständiger Erregung. – Man liebte die Zusammenkünfte und klammerte sich daran fest, selbst als Gretchen Thronick, abschwenkend, aus dem »Fünfbund« ein »vierblätteriges Kleeblatt« machte. Zum Scheine las man jetzt »Die Jungfrau von Orleans«. In Wahrheit hatte aber Julia ihrer etwas liederlichen Mama aus dem Bücherschrank den streng verbotenen Goetheschen »Faust« entwendet. Und aus diesem Urquell aller Weisheit brachte man jetzt einige Akte zur Verlesung. – Keine wagte, einzugestehen, wie langweilig ihr im Grunde das Werk sei, bis Lottes gesunde Natur sich zu einem entscheidenden Worte aufraffte.

»Hört mal, mit Faust hören wir vorläufig auf; dazu hat man noch später Zeit! Das nächste Mal bringe ich Marlitts: ›Heideprinzeßchen‹ mit, das ist zum Wahnsinnigwerden himmlisch! Davon haben wir auch mehr, als von all den philosophischen Quatschereien! Ich verstehe gar nicht, was man von dem Faust für einen Sums macht? Herrjeh, als ob das keiner 'rauskriegen könnte? Ich, zum Beispiel, habe alles, jedes einzelne Wort verstanden; aber jedes! Es ist auch in dem ganzen Ding absolut nichts, was der Mühe wert wäre, es uns zu verbieten? – – Ist sogar manchmal recht mopsig, pfui, und na so was! – – – Und der Mephisto ist man Blague! Das soll doch 'n Teufel sein und ist doch sehr nett, zuweilen! Und dann weiß ich absolut nich', warum die arme Grete ins Gefängnis gekommen ist und da so 'rumquakt? Is denn das nu' ihr kleiner Bruder, den sie ins Wasser geschmissen? Ich denke, der war schon tot! Und 'ne tolle Idee, daß ihre Mama auf dem Steine sitzt und mit 'm Kopp wackelt. Nich' wa, man könnt sich ordentlich graulen? Ist denn die Alte eigentlich wirklich tot oder thut sie bloß so? Zu dumm, der Goethe! Und so was zu verbieten! Paßt mal auf; jetzt werde ich mal Kopp wackeln!« – Und sie wackelte, und die anderen lachten.


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