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Romald Eskriebens trat eines Tages – es war im April und nicht lange nach der Heimkehr der Vandereys von der Reise – als eine neue Erscheinung in das Haus der Elisabethstraße zu Weimar.

Daniel hatte das wochenlange Fernesein Lilofes und ihres Vaters mit dem Kandidaten Richard Rauch in Verbindung zu bringen gesucht. Aber es gelang ihm nicht, die Fäden zu schlagen. Und doch war jene Nacht nicht einfach auszustreichen, nach der bei dem Sechsuhrschlage der Depeschenbote dem alten Hausmeister mit wüstem Läuten in den Morgenschlummer gefallen war. Es war eine Geschichte voll geschickt bewahrter Geheimnisse. Daniel brachte die Rede darauf, so oft es ihm gelang, mit Luisabeth allein zu sein. Doch das Fräulein schien nicht dafür zu halten, daß die Sorge des alten Freundes sich damit zu befassen habe. Er rührte auch nicht mehr an diese Dinge, seit er zu der Erkenntnis gekommen war, daß der blonde frohäugige Herr Eskriebens um die Gunst Luisabeths warb.

Achilles Vanderey hatte sich durch Lilofe schon während der Reise mit dem Ereignis vertraut machen lassen und hatte bemerkt, daß die Kleine vor ungeduldiger Erwartung brannte – nicht so sehr, weil sie den Auserwählten der Schwester kennen lernen wollte, sondern um Luisabeth zu beobachten, wie ihr Herz in Scheu und Seligkeit sich zu ihm fände.

Dieser Gedanke belustigte sie ungeheuer, und sie verbarg das auch Herrn Vanderey gegenüber nicht – sie konnte sich einfach nicht denken, wie die sachte verhüllte Art der Schwester einem Liebhaber begegnete. So ganz ohne Liebesschule, ohne Siegertum, ohne alle Lockungen der Sinne, die aus der goldenen Lilofe sprühten wie die tanzenden Sternlein aus einer Blitzröhre – es ging über ihre Kraft, sich einen Erfolg für Luisabeth herauszurechnen. Gab sie denn nur schattenhaft, was die Männer von ihr – der Lilofe – verlangt hatten bis zu sündhaftem Überflusse?

Nun war Romald Eskriebens freilich ein Künstler, ein Mann, den die Rätsel der grauseidenen Augen und der geheimnisvollen Dämmerungen dieser scheuen Mädchenseele vielleicht reizten.

Oder war es zuletzt doch nur das liebe ferne stille Wünschen, das die silberne Schwester einwob? Jawohl! Denn wie war es anders möglich, da sie sich noch nicht einmal geküßt hatten?

Eskriebens hatte ihr zwei Briefe geschrieben, als Antwort auf die, welche sie an ihn gerichtet hatte. Zwei Briefe in fünf Wochen!

So war Lilofes Herz gespannt zum Bersten.

Sie wurde reisemüde vor Ungeduld und begriff nicht, daß es nicht Luisabeth war, die heimdrängte.

Und dann brachte ein froher Apriltag Romald Eskriebens! Groß, deutsch, gesammelt in allen Stücken, mit einer Stirn aus rötlichem Alabaster, klar und sicher modelliert, als hätte sie der Meißel in seinen eigenen starken Händen zu dieser Kraftbewußtheit geformt. Darüber lockeres Haar, das der Wind in seine sachten Wellen zu blasen schien wie durchsonntes Meer; aber nicht riesenwüchsig und mähnenhaft. Dieser Mann fühlte sich nicht wohl im Fracke, aber er wich ihm auch nicht aus; denn es war nirgend Lässigkeit an ihm, weder in den gesellschaftlichen Formen noch in seiner Rede. Wenn er unter den Menschen erschien, ward er leicht zum philosophischen Eckensteher; es war dann, als hätte sein blondes deutsches Übermaß nicht Platz in seichtem Wasser ...

Das war Romald Eskriebens, ein Mann, der seine Künstlerträume in Marmor schlug und seine Tage in Einsamkeit. Leute solcher Art finden sich nie ganz fort aus sich selbst und aus ihrem Werke. Sie schaffen in allen Dimensionen, aber sie verlieren sich oder kommen ins Gleiten in einer Gesellschaft, in der sie nur Fläche finden.

Eskriebens war eine Erscheinung, die Lilofe mit dem aufgeregten Spiel ihrer Sinne umflatterte, weil ihr das noch nie begegnet war: ein Mann für sich, ein Mann mit eigenen Wegen. Nicht einer der faden Sieger über die Oberflächlichkeit, die jede Bewegung zur Geste machen. Nicht einer von jenen, die mit ihren Augen alle Frauen absuchen und durch das Helldunkel der Straßen streichen wie lungernde Hunde. Nicht einer, die mit Männern keine Unterhaltung mehr pflegen können, weil sie sich an dem Lachen junger Weiber durchs Leben tändeln – – sondern einer, der ganz von seinem Werk erfüllt war, und der allem, was darüber hinauslag, ohne Berechnung sich gegenüberstellte.

Lilofen schlug dies ungekünstelte Wesen des Künstlers in alle Sinne.

Sie ließ die Freude an seiner offenen Art auch aus allen Fenstern schlagen in der köstlichen Unbefangenheit, die ihr aus dem Bewußtsein kam: ich habe an diesem Manne kein Besitzrecht.

Romald Eskriebens wurde täglicher Gast bei Vandereys. Er wurde der Freund des Hauses. Sie fuhren miteinander aus. Es gab ein abendliches Gartenfest im Frühsommer, da blühten bunte Lampen schön und märchenhaft aus den dunklen Taxusbüschen. Eskriebens war da, und das Haus Vanderey war ohne ihn kaum mehr zu denken. Walter von Harden war auch da.

Aber so wachsam Lilofe war – sie hatte sich die Annäherung des Bildhauers an Luisabeth anders gedacht. Sie fand, daß er leuchtendere Augen vor ihr selbst bekam, als vor Luisabeth.

Am Abende jedes Tages, an dem diese mit ihm zusammengewesen war, drängte sich Lilofe an sie heran, wie sie es vor einem Jahre bei Bellis Inden getan hatte. Die Sanftmut Luisabeths machte die Ungeduld der Kleinen zittern.

»Leidenschaft? Liebe?« fragte sie sich hundertmal ... »wie könnten die so saumselig sein?« Und es war nun schon hoher Sommer geworden. Der Wind geriet außer Atem bei dem Lauf über die weiten abgeernteten Felder.

Natürlich verschwieg Lilofe der Schwester ihre Sorge nicht. Das lag ganz und gar nicht in ihr – ja, sie brach in sie hinein, flammend, gejagt von dem Sturm ihrer Ungeduld, daß die stillblühende Seele Luisabeths erschrak.

»Ich bin wohl nicht geschickt dazu, einen Mann wunschfroh oder gar sehnsüchtig zu machen,« sagte sie endlich eines Tages.

Diese Worte waren schon an den Willen zur Entsagung gestreift, an einen schmerzvollen Verzicht ohne Trost und Ende, und doch blieben ihre Augen immer voll grauer gesammelter Ruhe. Nur um den Mund rankte heimlich die Kümmernis und Mühsal verschwiegener Stunden.

Dann kam eine Woche, in der sahen sie Romald Eskriebens nicht.

Auf einmal stand Lilofe Vanderey vor ihm in seiner Werkstatt im Tempelherrenhaus.

Er hatte gehört, wie sich etwas unter dem Fenster vorüberträllerte. Dann sprang die Tür auf und die Sonne herein.

Eskriebens stand im grauen Kittel mit dem Modellierholz vor einer Gruppe, die er ›Frühling‹ benannt hatte. Es war ein wandgroßes Relief. Das linke Drittel wurde von schweren Wolkenballen überflogen; mittendarin trieb die Greisengestalt des Winters, Raben flatterten darum. Und jauchzende Putten drangen mit Blütenreisern mutwillig auf den enteilenden Wintergraus ein. Von rechts schwebten kleine Engel aus den Türen des Himmels, klingelten sich hernieder aus klaren Höhen, trugen Blütenstengel und warfen jubelnde Lerchen. In ihrem Reigen schwebte die lichte Gestalt des Frühlings – die trug die Züge der Lilofe Vanderey – nein, dieser Frühling war Lilofe Vanderey! Die ganze Gruppe war dieses einen Bildes wegen geschaffen!

Es war ein Klingen schon in diesem unedlen Material. Es war Schwung, es war Geheimnisfreude darin; es war die tiefe Seligkeit der Liebe, die hier den Griffel geführt hatte, und es war ein Wunder daraus geworden.

»Eskriebens!« rief das Mädchen, »Eskriebens, warum haben Sie uns kein Wort gesagt von diesem Werke?«

»Warum fragen Sie danach? Ich pflege wenig über das zu forschen, was ich schaffe. Ich bin abergläubisch,« lachte er, »und meine, wenn ein Werk den Menschen zu früh preisgegeben wird, mißlingt es.«

»Eskriebens!« rief sie, »fühlen Sie denn nicht, daß Sie vor dieser Unwahrheit erröten?«

»Ich fühle es, Lilofe!« bekannte er.

»Sie haben einen Verrat an Ihrer Liebe begangen!« sagte sie. »Ach, man soll nicht in die Werkstätte eines Künstlers gehen – ich wußte das; denn ich bin darüber schon einmal fast irre geworden am Leben ...! Bitte, nehmen Sie die Dinge da von dem Stuhle und lassen Sie mich niedersitzen; mein Herz zerhämmert Ihnen sonst ja Ihr Werk! – Eskriebens!« sagte sie nach einer Zeit des Schweigens, »wie hat das so kommen können?«

Da lehnte er sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust –

»Das will ich Ihnen sagen, Lilofe Vanderey. Es war an einem trübseligen Novembertag in Zürich. Ich hatte Luisabeth zuvor im Theater gesehen und war ihr danach in einem Konzertsaal begegnet. Nun war die Welt eingewoben in Nebel und dahinter lasteten die Berge – es standen sieben Mauern vor der Sonne! Durch diese sieben Mauern fand mein Glück einen Weg und träumte den Traum vom Frühling, wie er sich nun hier zu diesem Werke gestaltet hat. Ich hatte Luisabeth sprechen hören, und es sprangen Quellen in mir; die waren erwacht vor der besonnenen Rede ihres Mundes. Ich ging nicht unter in dem Glück, das mir von ihr kam, aber ich dachte: ich habe nie junge Augen gesehen, die so voll Innigkeit und Rätselkraft waren wie diese! Ich blieb länger in Zürich als ich wollte. Ich hatte mir München als Stätte künftigen Wirkens ausersehen, aber ich ging nach Weimar, weil ich fühlte, Luisabeths Augen gingen dahin mit mir. Ich lief über die erwachende Erde, und der Gedanke an dies Werk, das Sie nun vor mir sehen, ward tiefer, er gestaltete sich fort und fort ... Die große Figur des ›Frühlings‹ nahm in meinem Traume die Züge Luisabeths an, und ich wartete auf die Zeit, in der die Rätsel ihrer Augen und ihrer Seele für mich aufblühen sollten wie in meinen Träumen. Ich begann zu schaffen, der Ton bekam Leben – nein, er schloß sich unter meinen Händen auf wie die Erde, wenn die Klänge der Auferweckung darüber fanfaren! Aber meine Hände betrogen mich dennoch; denn mein Kopf dachte an Luisabeth – aber mein Herz träumte von Lilofen.«

Ein Künstlerherz ist ein wunderlich Ding. Wenn es ins Dichten gerät, wird es zum Gott: es wandelt aus glitzerndem Staub Sterne, es wird allmächtig, und wie es gebeut, so steht es da.

Eskriebens hatte in die Novemberdämmerung zwischen Berg und See rufen wollen: es werde Licht! Aber er verschob es auf die andere Zeit, in der er Luisabeth noch näher wäre. Und als er ihr nahe war, fühlte er: Lilofe ist leuchtender, Lilofe hält die Sonne in den Händen, die den Frühling schafft!

So trat Lilofe in seine Gedanken; und weil er sie nicht als Modell in seine Werkstatt stellen konnte, begann er – fast im Spiel – ihre Züge aus dem Gedächtnis zu modellieren. Darüber fühlte er, wie sie die Genossin seiner schaffenden Einsamkeiten wurde. Er zerknetete den Ton hundertmal und formte ihn von neuem nach dem Lichte, das in ihm war. Er sah Leben und Liebe in dies Licht seiner Seele, die in ihrer Vereinigung die erweckende Allmacht des Frühlings umfingen; und er formte Leben und Liebe in den Ton, bis er blühte ...

Lilofe Vanderey ward aus der heimlichen Genossin seiner Werkstatt zu seinem Traume vom Glück. Der überstrahlte die fromme Stete Luisabeths; der übertönte die schmeichelnde Stimme der Schwester, deren weichem Klange er einst nachgegangen war.

»Und nun, Eskriebens – was nun?« fragte Lilofe.

Da beugte er sich über sie, bog ihr den Kopf über die Lehne des Stuhls und küßte sie. »Nun bist Du immer bei mir. Du liebes allerschönstes Mädchen!«

Er zog sie vom Sitz empor und schloß sie in seine Arme und küßte sie.

Sie war duldsam und ohnmächtig wie eine Blume, über die ein Sommersturm braust. Sie zitterte bis in die Wurzeln und ließ den goldenen Sturm tosen; denn er war von einer wilden herrlichen Macht.

Aber er war auch voller Schrecknisse.

Sie schloß die Lider und sah die Augen Luisabeths – die Sonne ging darin unter, nein: die Augen löschten ganz aus, und Luisabeth stand als eine Blinde und hob ihre Hände tastend in Finsternis ... Und Lilofe sah über Luisabeth hinaus ... da gingen graue Türen auf, wie sie im späten Herbste schlagen, und Richard Rauch zog mit gesenkter Stirne des Weges. Er kam immer näher. Dann hob er seine Augen auf, aber er sah sie kaum an, sondern sein Blick galt dem Manne, in dessen Armen sie nun gelegen hatte, und Rauch sagte zu ihm: »Lilofe Vanderey? Es ist nichts mit ihr! Sie ist hell, aber sie durchwärmt nicht. Sie welkt einem vorzeitig aus dem Herzen – wie konnte sich ein Künstler von ihr blenden lassen? Lilofe Vanderey kann in einem Jahre ihr Herz dreihundertfünfundsechzigmal verschenken; sie ist ein Mädchen für Liebeleien.«

Darüber erschrak sie vor sich selber.

Wie war es möglich, so abwesende Gedanken zu haben, wenn ein Mann voll innerer Anbetung sie umschlang?

Da wollte sie sich zu ihm retten aus ihrer Bangnis und schlug die Augen weit auf und sah ihn an, bis alles gespensterhafte Denken fort war.

Er küßte sie wieder und sagte: »Dies ist der Verlobungskuß, nun bist Du mir verfallen für Zeit und Ewigkeit!«

»Ich glaube es Dir,« sagte sie, »und ich freue mich, daß ich es glauben kann; denn als ich vorhin dort stand, wäre es mir unmöglich gewesen, zu denken, daß ich die Kraft zu diesem Glauben hätte.«

»Was hat Dich heute zu mir getrieben?« fragte er. »Rief Dich Dein Schicksal? Oder war ich es, dessen Stimme Du vernahmst?«

»Es muß wohl beides gewesen sein. Aber ich verstand es nicht; denn ich wollte Dich fragen: Romald Eskriebens, wenn Sie Luisabeth liebhaben, warum erklären Sie sich ihr nicht? Sie leidet um Sie – sehen Sie denn nicht, wie sie leidet?«

»Arme Luisabeth!«

»Ach ja, das ist das richtige Wort: arme Luisabeth! Sie hat kein Talent zum Glücklichsein.«

»Hätte sie es, sie wäre klüger gewesen in der Wahl ihrer Schwester!« sagte Eskriebens. »Aber wird es ihr nun nicht leichter werden, froh und glücklich zu sein?«

»Nun? Wie meinst Du das?«

»Wenn Dein Schatten nicht mehr über sie fällt – wenn ... nun wenn Du verheiratet bist!« jubelte er.

Sie hielt sich beide Augen zu und lugte durch die Finger schalkhaft auf ihn hin: »Denkst Du auch daran?«

»Natürlich! Ich will die schönste Beute meines Lebens in Sicherheit bringen ... weißt Du, es ist eine törichte Meinung der Frauen, in der sie sich einreden, ein Mann wolle ihre Liebe erkämpfen. Unsinn! Der Mann hat zu kämpfen genug, und wenn er Künstler ist, zu kämpfen über alles Maß und Erkennen. Ein Mann wünscht, daß die Liebe und das Weib zu ihm kommen wie ein beglückender Traum – dann glaubt er an beide.«

Sie legte zum ersten Male die Arme um ihn: »Ich bin im Traume zu Dir gekommen – im Traume vom Glück Luisabeths. Und nun soll ich zu ihr gehen und es ihr sagen? Wie soll ich denn das anfangen? Da mußt Du kommen und mir beistehen; denn ich wüßte nichts, das zu tun schwerer wäre.«

 

Nachmittags erschien Eskriebens zum Tee. Er sprach von seinem Werke und daß er der großen Figur des ›Frühlings‹ die Züge Lilofens zu geben gedenke. Er sagte auch, daß er sich getraue, die Ähnlichkeit aus dem Gedächtnisse zu modellieren.

So ging er in allem, was er von dieser Sache sprach, zwischen Wahrheit und Dichtung dahin. Luisabeth fühlte, daß er Lilofen an diesem Tage bevorzugte. Sie dachte: vielleicht ist es wegen seines Werkes, und er will sie bestimmen, zu ihm zu kommen ... Es ist schade, daß er gerade diese Idee gehabt hat oder zuerst an ihre Ausführung gegangen ist. Aber warum hat er sie überhaupt gehabt ...?

Er hatte früher einmal zu Luisabeth gesagt: ich will ein großes Relief schaffen, ein Bildwerk mit wogenden Ähren, mit blühendem Mohn und einer stillen weiblichen Figur: der Dämmerung. Die soll sich vom Raine über die Blumen beugen und sie küssen, daß sie die Augen schließen ...

Damals hatte er sie merken lassen: diese ›Dämmerung‹ müßte ihr ähnlich sein.

Als er das gesagt hatte, war sie ganz andächtig geworden. Und sie bewahrte jenen Gedanken in ihrem Herzen. So oft ein ruhevoller reicher Traum von Romald Eskriebens über sie kam, spann sie ihn weiter: wenn sich Romald einst ganz zu ihr bekennen würde, wollte sie ihm die Bilder ihrer Einsamkeiten verraten, sie wollte ihm helfen, künstlerische Gedanken haben – vielleicht sagte er dann einmal von einem: dieser ist schön und ruft nach Gestaltung ...!

Es war bei Vandereys wieder stiller geworden, schon seit Wochen. Es lag keine Entfremdung zwischen den Schwestern, weil schon die natürlichen Fernen nicht immer zu überbrücken und zu überschauen gewesen waren. Und als Luisabeth von der Ahnung befallen wurde, Romald Eskriebens würde sich nie bis zu ihr finden, weil er nicht eifrig genug war, ihre scheuen Tiefen zu enträtseln – seit dieser Zeit stand sie im Lichte Lilofes wie geblendet. Es war genau wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren. Es wuchsen weder Neid noch Haß in ihr. Aber sie fühlte das gleiche Gefühl der Ohnmacht, das sie überkommen war schon als kleines Mädchen, so oft sie vor der noch Kleineren zurücktreten mußte.

Heute waren die Menschen freilich höflicher zu ihr; sie übersahen sie nicht einfach, aber sie dachte: es ist doch kaum mehr als das Gebot der Pflicht, das sie dazu bewegt.

Und das Leben lief sich in jene Geleise wie zu der Zeit, da Bellis Inden auf ›Rettung‹ für Luisabeth sann – mit dem einzigen Unterschiede, daß nun im Monat ein- oder zweimal junge frohe Menschen im Hause zusammentrafen.

Eines Abends aber schlugen sich die Türen angelweit auf, durch die das Gespenst hereintrat, das Luisabeth um die Säume ihrer einsamen Stunden hatte wandeln sehen. Es sah gar nicht furchtbar aus; es sah genau aus wie Lilofe Vanderey, es war Lilofe Vanderey. Die tat den Mund auf und sprach:

»Ich kann es Dir nicht länger verhehlen, Luisabeth – ich kann nicht! Ich mag seicht sein wie das helle Brünnlein, das nach einem Sonnenregen in dem schön gefalteten Blatte des Frauenmantels liegt, der an den Wegrändern wächst – aber ich bin auch so durchsichtig wie dieses Brünnlein! Eskriebens hat mir gesagt, daß er nie ein Wort zu Dir gesprochen habe, das Du als eine Verbindlichkeit ansehen könntest ...«

»Nie,« sagte sie. »Wie kommst Du darauf?«

Das Herz wurde Lilofen nun doch schwer, als sie die Bangigkeit dieser Augen sah. Die waren randvoll schlimmer Ahnungen, aber sie zitterten auch jetzt nicht vor dem Sturme, der sich auf den Weg machte. Es schien, als wäre Luisabeths Dämmerung stärker als das Licht der hellen Sonne Lilofes, in das jeder Schatten stach, wie eine Lanze.

»Eskriebens hat sich mir erklärt. Bist Du mir böse, Luisabeth?«

Da legte die das Zeichen in das Buch, in dem sie bei der kleinen blauen Schirmlampe gelesen hatte, und schlug es leise zu. Sie lehnte den Kopf gegen das Kissen im Polsterstuhl und sah abwesend in die Dunkelheit, die über ihr war und die nun langsam und tief in sie sank.

»Ich habe es schon seit drei Wochen geahnt, daß es so kommen würde,« sagte sie dann.

»Und Du hast gar nicht versucht, es zu verhüten?«

»Nein!«

»Dann hast Du ihn schon längst nicht mehr lieb gehabt!«

»O Lilofe – wenn Liebe allein hinreichte, ein Herz zu zwingen – er hätte nicht an mir vorbeigehen können! Aber es ist mir nicht gegeben, an allen Giebeln Flaggen herauszustecken und zu verraten, daß mein Herz Feste feiert.«

Sie legte beide Hände vor das Gesicht und weinte, daß die Tränen zwischen ihren Fingern hindurchrannen.

Lilofe beugte sich über sie und küßte die Tränen fort. »Es ist alles, was ich tun kann,« sagte sie – »und es ist weiß Gott auch alles, was ich dazu getan habe! Hast Du aus einer einzigen Stunde unseres Beisammenseins das Gefühl hinausgetragen, daß ich ihn Dir rauben wollte? Dann will ich fortgehen – – es ist wunderlich: ich habe immer den Einfall, in eine ganz ferne fremde Welt zu fliehen, wenn mich einer lieb hat und sich zur Eroberung rüstet. Aber wenn Du eine Schuld an mir siehst, dann will ich diesmal wirklich fortgehen, und er mag mich vergessen, weil er nicht weiß, wo er mich suchen soll.«

Es zuckte bei dieser Rede ein Lächeln um die Lippen Luisabeths, aber es war herb und voller Schmerzen – »O nein,« sagte sie, »ich konnte wohl nichts anderes erwarten.« Sie dachte wieder daran, daß ihr das Licht um Lilofen von Kind auf verwehrt gewesen war, und nun sprach sie es zum ersten Male aus: »Ich bin so geworden, weil ich über der Freude, die die Menschen an Dir hatten, zur Seite gedrängt wurde. Ich hatte mich schon damit abgefunden. Ich weiß, es ist nicht Deine Schuld, es ist auch nicht der Glanz, der von Dir kommt – sondern es ist die Art Bellis Indens gewesen, die mich so verwaist hat. Sie konnte mich nicht lieb haben wie Dich – nun blühst Du ins Leben, und ich kümmere. In Bellis Inden und in der verkehrten Erziehung liegt unser beider Schicksal beschlossen. – Es wundert mich, daß ich über allem noch weinen kann; denn wenn man sechzehn Jahre an einem Leide gelitten hat, dann müßte man sich die Tränen doch abgewöhnt haben.«

Das sprach sie aus ihrem klaren gesammelten Herzen heraus, und es durchklang Lilofen wie eine ernste tiefe Glocke. Diesen Klang konnte Lilofe nie vergessen, und in viel späterer Zeit machte sie sich auf und ging ihm nach; denn sie wußte, es mußte ihr von ihm die Erlösung kommen.

Ganz voll davon schritt sie hinaus, traf Herrn Vanderey im Rauchzimmer und sagte: »Gottes Wunder! Das versteh ich nicht! Nein, ich verstehe es nicht! Wenn ich an ihrer Stelle wäre, ich würde dieser Lilofe Vanderey das Herz ausreißen und schreien: fort mit ihm; denn es ist ein gefräßiges Ungeheuer! Mir selber würd' ich das Herz ausreißen: fort mit dir; denn du bist ein unnützes Ding! Sie aber legt die Hände ineinander und starrt in die Finsternis, die um sie hängt, als müßte sie einen Stern darin entdecken – das ist alles! Hab' ich Dir nicht hundertmal gesagt, sie hat kein Talent zum Glücklichsein? Und doch ist mir, als müßt' ich sie beneiden – denn sie hat auch keins zum Unglücklichsein.«

»Wir werden daran denken müssen, sie zu zerstreuen,« sagte Vanderey.

»Ach Papa! Sie wird sich mit Händen und Füßen dagegen wehren! Denkst Du, ich wäre nicht bei ihr geblieben die ganze Nacht, zehn Nächte, wenn ich einen Weg zu ihr sähe? Es ist keiner. Sie allein weiß, wohin sie sich findet.«

 

An einem anderen Tage geschah es, daß Luisabeth zu ihnen in den Garten trat, während Lilofe und Eskriebens mit Achilles Vanderey darüber redeten, wann sie die Verlobung bekannt geben wollten.

Sie kam daher wie eine stille Siegerin. Sie reichte Romald Eskriebens die Hand und beglückwünschte ihn – nicht so, wie Lilofes lichte Freude über ihn gestürzt wäre, wenn er die stille Schwester geworben; sie blieb auch nicht lange – aber sie war da und besiegte sich und die anderen, daß sie stumm wurden, als sie sich verabschiedet hatte.

Eskriebens fand sich zuerst wieder und sagte: »Es ist nicht wahr, daß sie kein Talent habe fürs Glück! Ich bin ganz feierlich geworden an ihr – wer weiß, ob wir uns nicht alle einmal bei ihr Rat holen müssen, wie wir wieder glücklich werden können! Denn wissen Sie,« sagte er zu Vanderey, »wer das vermag, was wir in dieser Stunde gesehen haben, der kann alles Leid der Welt unter seine Füße treten.«

Lilofe preßte sich darüber fester an ihn; denn er redete, als hätt' er ein Gesicht gehabt. Aber sie verstand an jenem Tage noch nicht ganz, was er sagte.

Auch Herrn Vanderey gab diese Rede ein Rätsel auf; denn seine Tochter Luisabeth sah ganz anders aus als das, was er sich unter Menschenglück dachte.

Da ging er allein auf dem Wege zwischen den Taxusbüschen, und seine Gedanken wanderten zurück durch neunzehn Jahre, bis an das letzte Lager der stillen schönen Frau Maria, und er dachte: sie war Dämmerung für alle, die an ihr vorübergingen, aber sie hatte ein Herz, in dem es nie Nacht werden konnte.

Dann trat er wieder zu den beiden und sagte: »Mir ist nicht bang um Luisabeth. Sie stemmt sich mit beiden Händen gegen alle spitze Helligkeit von außen. Ich glaube, ihr Herz ist heller als die Welt um sie herum. Es ist so mit ihr ...«

Und er erzählte von Maria Vanderey und ihrer Sommerheiterkeit, und daß sich nicht viele Menschen in solcher Art zurechtfänden.

Aber es war doch anders mit Luisabeth.

Sie litt. Sie litt unsagbar. Sie las ernste und reiche Bücher; sie suchte Halt bei Schopenhauer, der nun schon ein Jahr der Freund ihrer Mädchenstube war. Aber wenn sie die lauten frohen Stimmen des Hauses hörte, fühlte sie Hämmer fallen auf alles, was in ihr lebte.

Oftmals mitten in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf, und ein Weinen brach aus ihr, heiß und ungeheuer, das sie mit den Kissen ersticken mußte. Sie rang mit ihrem Schmerz als mit einer Schlange, die über ihr hing und das Gift in ihre vielen Wunden träufelte.

Bald fühlte sie kochenden Haß in ihrem Herzen, Haß gegen Lilofen, Haß gegen Bellis Inden, Haß gegen Gott und ihr Schicksal, Haß gegen sich selbst. Bald war sie von einer zerfließenden Schwäche, die ihr Betäubung durch alle Nerven goß. Dann lauschte sie, ob es das Sterben wäre, das ihr mit so sanftem Streicheln die Glieder lähmte.

Und wieder: – sie wollte leben, sie wollte jung sein und glücklich; denn sie träumte Wege, auf denen ihr Herz dahinziehen könnte wie ein Bach voll Frühling und Sonne und gespiegelten Blumen des Daseins.

So zerriß sie sich im Kampfe mit den Mächten ihrer Einsamkeit.

Und wieder: – wenn sie zu den Mahlzeiten ging, wenn Freundinnen zu ihr kamen, wenn sie mit Eskriebens und Lilofen zusammen war – da trieb sie den Willen zum Ganzsein und Aufrechtstehen neben die Risse und Wunden ihrer Seele wie Nadeln, die das Stückwerk flicken mußten.

Oft fuhr sie allein aus, ganz allein.

Wenn dann die sommerlichen Wälder des Ettersberges ihre Sonnennetze über sie hingen, befahl sie dem Kutscher, die Pferde im Schritt gehen zu lassen. Aber durch die Straßen der Stadt glitt der Wagen wie ein gehetzter Schatten. Man kannte zu dieser Zeit das Gefährt in Weimar und erzählte sich die Geschichte Luisabeth Vandereys, die an der Schönheit ihrer Schwester unterging.

 

In diesen Tagen – es waren bis zur Hochzeit noch reichlich vier Wochen – wurde beschlossen, daß Eskriebens und Lilofe Weimar am Abende des Hochzeitstages verlassen wollten, um in das freundliche Landhaus zu übersiedeln, das sie in Schwabing in der Nähe des Englischen Gartens gemietet hatten. Es war dort noch mancherlei zu ordnen; deshalb reiste das Brautpaar am Tage nach jenem Entschlusse mit Achilles Vanderey nach München in das neue Heim, und Vanderey und Lilofe kehrten nach kurzem Aufenthalt ohne Eskriebens nach Weimar zurück. Eskriebens hatte gemeint, er wolle nun schon mit allem allein zustande kommen, und wenn dies geschehen wäre, wollte er in seiner Werkstatt gleich ein neues Werk in Angriff nehmen. In Wahrheit hatte er eine Scheu vor Weimar in diesen Tagen; denn er sah sich dort bedrängt von den finsteren Mächten, die Luisabeth zerbrachen. Die störten in sein Gewissen; die zerwühlten seine Seele wie der Kampf des Winters die Heiterkeit des Märzhimmels.

Und eines Tages, drei Wochen vor der Hochzeit, stand er in dem Atelier in Schwabing und modellierte an der Gruppe der ›Dämmerung‹. Nicht wie sie ihm zuerst vorgeschwebt hatte: als Gegenstück zu dem großen Relief des ›Frühlings‹, sondern als freistehendes monumentales Werk, in dem die Figur der Dämmerung, weit über Lebensgröße, den Abendstern als Kronenschmuck tragen sollte – die späte Dämmerung, wie sie sich sacht einhüllte in den Mantel der Nacht und die hohen Blumen schlummermüde sich um ihre Knie schmiegten.

Romald Eskriebens wußte: dies war nicht der Weg zur Befreiung seiner Seele; denn Luisabeth Vandereys Bild mit den Augen voll himmelhohem Leid mußte nun immer neben ihm sein ... aber es war ja auch noch nicht das Werk selbst, das er schuf, sondern es waren Gedanken, die er in dieser Zeit der Ungeduld und des erzwungenen Alleinseins sich vom Herzen dichtete. Es war ihm, als trüge er damit vor der Schwelle des neuen Lebens, das nun auf ihn wartete, eine alte Schuld ab.

Er arbeitete stürmisch und bis zur Selbstvergessenheit.

Dann kam er nicht weiter und war tagelang darauf aus, sich ein Modell zu suchen.

Vordem war nie Mangel gewesen an Berufsmodellen zu guten weiblichen Akten. Das Angebot war auch jetzt reichlich, aber er fand nicht, was er schaffensfroh ersehnte.

Da zerschlug er den Ton, er zerschlug seine Gedanken und floh vor ihnen an die bayrischen Seen.

Dort lagen Himmel und Erde an allen Ufern in berückender Umarmung; alle Säume flossen blau in blau zusammen zu klingender Herbstseligkeit. Über alle Hügel und Hänge lief das bunte Sterben, als wäre der Tod Jauchzen. Und die Seen waren voll Klarheit bis in die Tiefen, die keine Sonne des Sommers vergoldet.

Er schlug seine Seele auf, wie die Tore der Welt aufgeschlagen waren, und ließ alle hochbewimpelten Boote seiner Sehnsucht ausfahren. Aber an welchem Stege sie anlegten – es war immer der Hafen der leisgrauen Dämmerungen dabei, in dem er dereinst mit sachtem Singen hatte Heimkehr feiern wollen.

Darüber war seiner Sehnsucht kein Ende, und sein Herz ward ruheloser als in der Stille des Hauses zu Schwabing, das in wenigen Tagen all sein Glück umfassen sollte.

Er schrieb davon an Lilofen nach Weimar, wie seine Seele sehne und suche: »Du liebes großes leuchtendes Glück mit den Frühlingsaugen und den zwei Goldschnecklein aus Sonne gewoben, warum wohnst Du nun über den Bergen? Warum wohnst Du für mich noch immer hinter dem blauen Glanze des Himmels, der sich hinter diese Berge stürzt? Mein Warten ist endlos wie dieser Himmel! Ich steige auf die Hügel, auf denen die königlichen Wälder sind – dort tauchen die blauen Mauern nieder zur Erde; und ich schreite an ihnen dahin mit flackernden Augen und suche die Lücke – wo ist sie, durch die ich hinüberschauen kann in die fernen Gärten, in denen mein Sommer blüht ...«

So belog er sein Herz, daß es nur auf die frohen Gesänge der Liebe höre und gar keine Zeit habe, ihn zu fragen: »Romald Eskriebens, wohnt über den Bergen – nicht – auch ...«

Er floh vor dieser Frage unter lichttrunkene Menschen, die dem zweiten Lenz dieses Jahres zujubelten, und half ihnen selig sein.

Aber einer, der sich sein Leben nach seinem Willen geformt hat, einer, der, wie er, in den Ton seiner Werkstatt die Träume der Einsamkeit und Freude hineinlebt, der kann nicht zerflattern zu der durchsichtigen Gedankenlosigkeit der vielen, unter denen er diese Gedankenlosigkeit nun für sich selber sucht wie ein verlorengegangenes Kleinod ...

Wenn der Tag leise wurde, gab es keine Flucht mehr vor den lauten Stimmen seines Herzens ... Dann legte Romald Eskriebens ein feierliches Gelöbnis ab, daß er die stillen Dämmerungen »der anderen« feiern wollte in großen und herrlichen Werken. Er wußte: Lilofe würde sein Weib sein, die Freude seiner Sinne und seiner Erde; aber Luisabeth Vanderey würde bei ihm leben, ungesehen und segnend, die Muse des Künstlers und der Segen seiner Schöpferträume ...

Nun ja, das war eine Entdeckung, wie sie die ringende Sehnsucht findet, an der die Seele wundgeworden ist. Und damit trieben seine Gedanken in die blauen sternenvollen Herbstnächte, die vor seinem Hochzeitstage lagen.

»Es ist gut so,« sagte er, »aber es ist nicht nur gut, es ist auch richtig; denn wo wäre das Weib eines Künstlers zugleich seine Muse gewesen! Das ist ja eine ganz undenkbare Vereinigung! Das ist eine Einheit, gegen die sich alle Rechnung des Verstandes auflehnt – es ist ein verrückter Traum! Nichts weiter! Zwischen einer himmlischen und einer irdischen Liebe muß das Herz des Künstlers schlagen wie der Pendel einer Uhr, der das Bild der Sonne trägt – muß hin- und wiedertreiben in ewiger Unrast; denn in den Lockungen der Liebe aus Himmel und Erde, in dem ewigen Wechsel der Sehnsucht ruht das Geheimnis der Schöpferkraft: sie versiegt, wenn eine der beiden Stimmen verstummt ...«

So gingen die hellen Oktobertage vorüber. Sie waren voll reifendem Wein und voll von dem Feuer der Wälder und Felder, sie waren voll von hohen beschwingten Vögeln und heimlichem Heimrufen – aber er peinigte sich doch über all ihre Helligkeit und Wanderfreude in einen Zustand, von dem er nicht wußte, welchen Namen er ihm geben sollte.

Endlich fuhr er nach Weimar.

Er sah beide, Lilofen und Luisabeth, und taumelte sich in die Idee von der himmlischen und irdischen Liebe hinein bis zur Befreiung. Er küßte Luisabeth am Abende vor der Hochzeit; denn das Haus war hell, daß kein Schatten aus den anderen Tagen darin Raum hatte. Er küßte sie und nannte sie von Stund an ›Du‹, wie sein junges leuchtendes Mädchen – ach, er hatte sie schon heimlich mit dem schwesterlichen Du gerufen, so oft er vor Monaten ihr klares reines Bild in seiner Seele tragen wollte!

Dann hatte er das traute Wort verloren.

Erst zwischen den Blättern der goldenen Tage des Herbstes hatte er es wiedergefunden, eine vergilbte Blume. Aber als die Sonne sie streichelte, begann sie von neuem zu leben.

Es war weder ihm noch Luisabeth bange vor jenem Kusse; denn Lilofe stand dabei und umschlang beide mit ihren Armen und jauchzte ihre Freude über den Steg, der sich zwischen ihnen schlug. In diesem Jauchzen ging unter, daß die Herzen schrien, als sie sich unter dem roten Brücklein trafen.

Es war keine Zeit zum Wortemachen, es war ein Augenblick des Handelns, der Überwindung, der Hoffnung. Aber daß es fromm, reuig und feierlich in seiner Seele aussah, mußte Luisabeth fühlen. Erkannte er nicht auch, daß sie ihn ohne Groll über die Schwelle schreiten ließ, um die ihre Träume geblüht hatten wie die Rosen um die Tore des Sommers?

Gegen elf Uhr, am Vorabend des Festes, als sich die jüngeren Hochzeitsgäste zusammenfanden und den Tanz ersehnten, lehnte Luisabeth vor Walter von Harden in der Tür zum Musikzimmer. Der Referendar redete innig auf sie ein, daß sie noch bleiben solle. Aber sie weigerte es ihm.

Er sah sie in dieser Nacht nicht wieder.

Sie hatte noch den anderen Tag zu überstehen, den Hochzeitstag. Walter von Harden, der ihr an diesem Tag immer zur Seite war und mit dem sie hinter dem Brautpaar zu den Stufen des Altars schritt, schien der einzige unter den vielen festlich geschmückten Menschen, der die Tränen fühlte, die sie über ihr Herz weinte. Ach, dieser Tag hatte ja tausend Sonnenflügel und war gebunden aus Blumen, Lachen, Wünschen, Musik und Tanz!

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