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Schloß Pizzighetone

Auf dem Wege zwischen Lodi und Cremona liegt hart an den Ufern der Adda die kleine Stadt Pizzighetone, eine der traurigsten, armseligsten Ortschaften der Lombardei. Sie besteht aus nicht viel mehr als einer Reihe nüchternweiß angetünchter Häuser mit ungeschlachten Eisenbalkonen und noch ungeschlachteren Arkaden von Backsteinen. Die Fenster sind sämtlich mit ölgetränktem Papier verklebt, dessen Fetzen im Winde flattern. Die eine Hälfte der Einwohnerschaft sieht aus, als ob sie auf dem Punkt stehe, vor Hunger zu sterben: die andere Hälfte, als ob aus Langeweile. Es ist schon ein unheimlicher Ort, und kaum gut genug, um durchzufahren. Noch unheimlicher aber ist das auf dem jenseitigen Ufer liegende Kastell, eine altertümliche, rohe Steinmasse mit runden plumpen Türmen, au welche wiederum zwei, drei kleinere, wie säugende Junge an eine Bache hängen. Mich fröstelte beim bloßen Anblick der dicken Mauern, der Fallgatter, der düstren gewölbten Thore, der Eisenstangen an den Fenstern, und der Gedanke an Kerker und Henkersknechte überkam mich unwillkürlich. Kein Laut wird auf dem öden Hofraum gehört, als das Gekrächz der in den Mauerlücken nistenden Dohlen, und der hallende Tritt,der auf- und niederschreitenden ungarischen Schildwacht: und ich dankte meinem Schutzpatron, als der Wagen erst wieder über die dröhnende Zugbrücke rasselte, und ich dem verwünschten Schlosse den Rücken zuwenden durfte.

Aber nicht jedem wird es so gut, mit einer fünf Minuten währenden Festungsstrafe davon zu kommen, und so mancher hat bereits Ursach gehabt, über die unwillkommene Gastfreiheit im Kastell Pizzighetone schmerzliche Klage zu führen. Besonders häufig aber war dies in früheren Zeiten der Fall, wo die Veste von den spanischen Regenten vorzugsweise zum Staatsgefängnis benutzt wurde.

So schritt denn auch an einem Herbstabend des Jahres 1523 ein Ritter, welchen die goldnen Sporen als einen solchen bezeichneten, in ernstes Sinnen versunken, in dem weiten, hallenden Saal auf und nieder. Er war hoch und schlank gewachsen, und stand in der schönsten Periode des männlichen Alters. Die regelmäßigen edlen Gesichtszüge wurden durch ein feuriges, geistvolles Augenpaar belebt, durch einen wallenden, zierlich gepflegten Bart verschönt. Das ganze Wesen des Mannes zeugte von Kraft und Entschlossenheit, jede seiner Bewegungen von Leichtigkeit und ritterlichem Anstand. Er trug das Gepräge eines Edelmannes ohne Furcht und Tadel. Die dem Jahrhundert eigentümliche malerische Tracht war gewählt und kostbar zu nennen. Um seinen Nacken schlang sich eine schwere goldne Kette, an welcher sich das Bildnis des schwertzückenden Erzengels Michael schaukelte. Außer dem Ritter befand sich im Gemach nur noch ein ungestalteter verwachsener Zwerg in buntgestreifter Narrentracht mit Schellenmütze und Kolben, welcher, schweigsam und mürrisch in einen Winkel gekauert, den Bewegungen seines Herrn mit den Augen folgte, und augenscheinlich nur auf die günstige Gelegenheit wartete, um seiner üblen Laune in grollenden Worten Luft zu machen.

Nach einigen raschen Gängen durch das Gemach trat der Ritter an die feinen Spitzbogenfenster und ließ sein Auge über die weiten Ebenen der Lombardei schweifen. Auch in der schönsten Zeit des Jahres bieten sie nur wenig mehr als das einförmige Grün der Reisfelder, der Maulbeerbäume und Ulmen, welche in langen Reihen die Äcker umstellen, und untereinander durch Weinranken verflochten sind. Zu jener Zeit begann das Laub sich schon zu entfärben; die meisten Felder waren unbebaut und wüst. Die Fruchtbäume lagen zum Teil gefällt und halb verkohlt am Boden, während verdorrte Weinreben wild um die Stämme der noch stehenden hingen. Das jetzige Städtchen Pizzighetone lag in einen Schutthaufen verwandelt, und in einigen elenden Schilfhütten am Ufer fristeten die wenigen Einwohner, welche dem Feuer und Schwert entgangen waren, auf den Trümmern ihrer Habe ihr armseliges Dasein. Der Stempel eines verheerendes Krieges war der ganzen Gegend aufgeprägt; das Land glich einer Scheinleiche, in deren Adern nur noch ein mattes, ohnmächtiges Leben zuckt. –

Ohne gerade behaupten zu wollen, daß der Anblick zerstörter Ernten oder eingeäscherter Städte einen Ritter des sechzehnten Jahrhunderts eben besonders zur Wehmut gestimmt habe, so läßt sich annehmen, daß er für ihn just kein erheiternder gewesen sei, und wohl am wenigsten geeignet, den Mißmut eines Gefangenen zu zerstreuen. Doch nur auf Augenblicke ließ sich der feste Mannssinn durch das erlittene Mißgeschick, durch den Gedanken an die schöne ferne Heimat und die trauernden Seinigen niederbeugen. Wie von einem lichthellen Gedanken durchzuckt, richtet er sich stolz auf, zog einen Diamant vom Finger und schrieb mit ihm auf das Fenster die Worte: Alles verloren, nur die Ehre nicht!

Auch ohne jene berühmte Devise wird wohl schon mancher meiner Zuhörer nach dem gegebenen Bilde und durch Vergleichung der Örtlichkeit und Zeit den Namen des gefangenen Ritters erraten haben. Es war Franz der Erste, König von Frankreich, welchem neuerdings auf dem Schlachtfelde von Pavia das Glück den Rücken gewandt hatte, der mit dem Siege zugleich auch die Freiheit einbüßte, und welchen nunmehr Kaiser Karl der Fünfte im Kastell Pizzighetone gefangen hielt.

Es war, als habe der König in dem chevaleresken Denkspruch, welchen er in das Glas schnitt, hinreichende Kraft gefunden, um seinem bösen Schicksal Trotz bieten und den Verlust seiner Freiheit und Macht mit männlicher Standhaftigkeit ertragen zu können. Die letzte Wolke des Unmuts war von seiner Stirn gewichen, und diese wiederum zum Spiegel des unerschütterlichen Gleichmuts und festen Sinns geworden. Er verließ das Fenster, warf sich dem Zwerge gegenüber in den Lehnsessel, maß die unschöne, durch Verdruß nichts weniger als verlieblichte Physiognomie mit spöttischem Lachen, und begann dann heiter scherzend, indem er auf des Narren Kappe und Kolben wies: »Nun fürwahr, Freund Triboulet, wer gleich Dir noch Szepter und Krone aus dem Schiffbruch rettete, hat doch meines Erachtens keine Ursach, mit dem Schicksal zu hadern.«

»Nun fürwahr, Freund König,« sprach der mürrische Narr, »wer gleich Dir im Schiffbruch Szepter und Krone einbüßte, hat meines Erachtens eben keinen besonderen Grund zum Lachen.«

»Wer aber,« fuhr der Monarch fort, »ist von uns Beiden der Weise, derjenige, welcher das unabänderliche mit Standhaftigkeit erträgt, oder der, welcher um fremdes Leid sauertöpfisch die Nägel kaut?«

»Und wer,« antwortete Triboulet mit der Freimütigkeit, zu welcher ihn sein Amt und eine langjährige, unverbrüchliche, treue Anhänglichkeit berechtigte, »wer, frage ich, ist von uns Beiden der Narr, derjenige, welcher Land und Krone, Freiheit, das Leben vielleicht einer unsinnigen Rauflust zu Liebe hinwarf, oder welcher sich das Mißgeschick seines Herrn zu Herzen nimmt?«

»Foi de Gentilhomme,« lachte Franz, »das nenne ich einmal den Mund tüchtig voll nehmen: Land und Krone, Freiheit und Leben! Land und Krone – wie hätte ich sie denn verwirkt? Herrsche ich denn nicht über Frankreich und Navarra vom Kastell Pizzighetone aus so gut, als von meinem königlichen Schlosse zu Fontainebleau? Leben – Pah? Wagst Du's, meinen Bruder Karl, den Beherrscher zweier Welten, einen feigen Banditen zu schelten? Und die Freiheit – wie lange wird er es wagen wollen, mich hier gefangen zu halten? Zwei Wochen, drei höchstens – eine flüchtige Wolke in dem sonnighellen Ritterleben.«

»Der irrende Ritter dürfte irren,« spottete Triboulet, »wenn er seinen Bruder Karl für den großmütigen Narren hielt, der den tollkühnen nur deshalb einfing, um ihn wieder freizugeben und ihn aufs neue gegen sich anrennen zu lassen. Der kaiserliche Vogelsteller weiß besser als Du, daß man die gefangene Schnepfe rupft und brät, und wohl Dir, wenn er nur das erstere thut, und Dich noch mit gestutztem Fittich heimhüpfen läßt.« –

Die Erwiderung des gefangenen Monarchen unterbrach der Eintritt des Kommandanten der Zitadelle, des Feldobersten Don Hernandez de Silveyra, eines hagern, stolzen Kastilianers. Zwei Hellebardiere stellten sich an der Thür auf, und stießen klirrend den Schaft ihrer Waffe auf die Fliesen, während der Spanier mit feierlichen Schritten an den König trat, den Hut mit der roten langwallenden Feder bedächtig vom Schädel zog und sich nach streng zugemessener Verneigung starr und steif wieder aufrichtete. Kein Laut kam über seine Lippen. Vergeblich fragte der König nach seinem Begehren. Statt der Antwort winkte der Oberst nach der Thür, worauf ein junger Page mit silbernem Becken und Gießkanne eintrat, sich vor dem Monarchen auf das Knie niederließ, schweigend ihm Wasser und Tuch darreichte, und dann wieder hinauseilte, um die Vorbereitungen zur Abendtafel zu treffen.

Noch einmal machte Franz den Versuch, seinem schweigsamen Wächter Rede abzugewinnen. Ein ernstes Kopfschütteln und einige spanische an den Edelknaben gerichtete Worte waren der einzige Erfolg der Anrede. »Don Hernandez de Silveyra,« begann leise und schüchtern in wohlklingendem Französisch der Knabe, »trägt mir auf, Ew. Majestät zu sagen, daß der Spanier nie die Zunge des Feindes seines Herrn rede.«

Der König zuckt verächtlich lächelnd die Achseln, und wandte seinen Blick von dem eingedörrten Spanier auf den freundlichen Pagen. Es war ein gar feiner schlanker Knabe von etwa vierzehn, fünfzehn Jahren, dessen zarter Wuchs jedoch hinter seinem Alter zurückgeblieben war. Schwarze wallende Locken fielen ringelnd auf den gezackten Spitzenkragen, und umschlossen ein schönes, bleiches Oval; lange, blöde gesenkte Wimpern verschatteten die Glut der dunklen Augen. Ein wehmütiges, verlegenes Lächeln zuckte um den kleinen, feinen Mund. Mit Wohlgefallen musterte Franz die freundliche Erscheinung. Die Schüchternheit im Benehmen des Pagen deutete er auf die Befangenheit des Unerfahrenen, welcher zum erstenmal dem Hochgestellten gegenübertritt, auf die Neulingsschaft in seinem Amte. Mit zitternden Händen goß der Page den dunklen Wein in den Goldbecher, kostete mit kaum merklicher Berührung der Lippe und überreichte ihn wiederum knieend dem König. »Wie nennt man Dich, mein schmucker Knabe?« fragte dieser freundlich.

»Sanchez de Silveyra,« war die leise Antwort.

»Ein Sohn jenes gestrengen Feldobersten dort?« – Der Page bejahte stumm.

»Wer wollte nun noch,« fuhr der Monarch scherzend fort, »von dem Stamme auf die Frucht schließen, wenn er den Schleedorn Weintrauben treiben sieht. Sei mir nicht gram, mein Kind, wenn ich Dich auf Kosten des Vaters herausstrich. Ich wollte ihn damit nicht schmähen, und den Künstler soll man ja nach seinen Werken richten, nicht nach seinem Aussehen.« Verwirrt senkte der knieende Page das Haupt – die dunklen Locken wallten über dem jugendlichen Antlitz zusammen. Freundlich strich der König mit der flachen Hand über den Scheitel des Jünglings. »Nun steht nur auf, Don Sanchez, sprach er. An unserm Hofe ist es nicht Brauch, den Herrscher gleich einem Gott auf den Knieen zu bedienen, und unsere Edelknaben pflegen das ihrige nur vor schönen Damen zu beugen.«

Liebreich erhob er den widerstrebenden Pagen vom Boden; das sonst so bleiche Gesicht war mit Purpur übergossen. Des Verlegenen schonend, brach der König das Gespräch ab. Der Knabe vollzog sein Geschäft mit Eifer und Gewandtheit, bis er sich nach beendeter Tafel unter Vortritt des Kommandanten wiederum zurückzog.

»Wie bedünkt Dich unser Hüter?« fragte der König seinen Narren, als sie sich wiederum allein befanden.

»Wie ein kaiserliches, allerungnädigstes Handschreiben,« brummte Triboulet, »signiert von Deinem Bruder Karolus, worin er Dir zur Abkühlung Deines allzuhitzigen Blutes eine Haft von zwei, drei Jährchen verordnet.«

»Einen zäheren Löwenwärter,« bemerkte der König, »konnte Karl nicht wählen.«

»Und schwerlich auch ein liebenswürdigeres Hündlein, wie das, welches er als Spielwerk des Löwen in den Käfig ließ.«

»Du denkst von Deiner Hundenatur verzweifelt günstig. Bursch!«

»Fehlgeschossen, Gevatter. Von dem alten treuen Haustier, welches seinen Herrn in der Not nicht verlassen wollte, und von ihm dafür zum Lohne mit Füßen gestoßen wird, ist hier nicht die Rede, wohl aber von dem kleinen, zottigen Bologneserhündlein, welches so niedlich zu apportieren und aufzuwarten weiß, und wedelnd und anbetend vor dem Löwen Franz niederkniete.«

»Wie häßlich wieder der Neid aus Dir spricht. Sage doch, was hat Dir jener liebe, freundliche Knabe angethan? Hat es etwa Deine Eifersucht erregt, daß ich mir seine willigen Dienste gefallen ließ, oder wurmt es Dich vielleicht, mit Deiner Häßlichkeit dem hübschen Jungen als Folie dienen zu müssen? Was lachst Du, Narr?«

»Über Deinen königlichen Scharfblick, welcher in dem Wolfspelz nicht das Schäfchen erkannte.«

»Sprich deutlicher, jener Edelknabe wäre –«

»Ein ganz erträglich hübsches Edelfräulein. Und es nimmt mich nur Wunder, daß mein Herr und Gebieter, den die Leute dort in Frankreich für einen so gewiegten Kenner des weiblichen Geschlechts ausgeben wollen, meines blöden Auges bedurfte, um sich auf die richtige Fährte bringen zu lassen.«

»Wie denn – Sanchez, ein Mädchen?« rief überrascht der König. »Unmöglich! Und wozu diese Mummerei? Du irrst, Triboulet, es kann nicht sein. Und dennoch wär' es wunderlich genug, wenn Du recht gesehen hättest,« setzte er nachsinnend hinzu, indem er sich das Bild des schönen Edelknaben und dessen Befangenheit lebhaft vergegenwärtigt »Und jener steife Spanier, ihr Vater, meinst Du, auch er habe eine Rolle in jenem Fastnachtsspiel übernommen?«

»Die des Herrn Pandaros von Troja.« Pandaros von Troja, der Schutzpatron der Kuppler.

»Pfui über Dich und Deinen Menschenhaß. Wann wirst Du einmal aufhören, die Menschen nach Deinem eigenen boshaften Herzen zu beurteilen und zu lästern?«

»Sobald Du anfangen wirst, Gevatter, Dich nicht länger von ihnen anführen zu lassen.« –

Von der Natur körperlich verwahrlost, als Narr die Zielscheibe des allgemeinen Spotts und Neckerei, hatte in Triboulets Herzen eine tiefe, finstere Bitterkeit, ein Groll gegen die gesamte Menschheit Wurzel geschlagen. Sie hatte sich ihm jederzeit feindselig gezeigt, und so stellte auch er sich ihr feindselig gegenüber; sein junges Leben war ein unablässiger Kampf mit der gesamten Welt. Nur einem von allen hing er mit unerschütterlicher Treue an – seinem König; auf ihn hatte er alle Liebe übertragen, deren sein verbittertes Herz fähig war, und so hatte er sich denn auch danach gedrängt, das Schicksal seines Herrn teilen und ihm in den Kerker folgen zu dürfen. – Er hatte richtig gesehen, der Edelknabe war die Tochter des Kommandanten, nur darin, daß er diesem jene unwürdige Absicht zuschrieb, war er von seiner menschenfeindlichen Stimmung irre geleitet worden.

Als Don Hernandez de Silveyra den Auftrag erhalten hatte die Bewachung des gefangenen Königs zu übernehmen, sah er wohl ein, wie gefährlich es sein würde, zu dessen Bedienung ein zahlreiches fränkisches Gefolge ins Kastell einzunehmen. Ihm selber war die französische Sprache fremd geblieben, ungeachtet sie die Muttersprache seiner verstorbenen Gattin gewesen war. In den Wirren des Krieges einen geeigneten Dolmetscher herbeizuschaffen, war nicht gleich möglich gewesen, und so war denn Don Hernandez auf den Einfall gekommen, seine einzige Tochter Sanchica unter der Maske eines Pagen beim Monarchen einzuführen, und durch diese das doppelte Amt des Edelknaben und Sprachvermittlers versehen zu lassen. Seine stete Gegenwart bei Ausübung ihres Berufs genügte nach seiner Meinung, um jede etwaige Mißdeutung im Keim zu ersticken.

Sanchica war mehr nach der französischen Mutter als dem spanischen Vater geartet. Der finstere Haß des letzteren für alles Fremdländische hatte die Vorliebe für das Vaterland ihrer Mutter nicht unterdrücken können. Vor allem war das ritterliche, offene Wesen des Königs von Frankreich ihrer Einbildungskraft im blendendsten Lichte erschienen, sie hatte sich unter seinem Namen ein Ideal aller männlichen Vorzüge und Tugenden gebildet, und hing an jenem Traumgebilde mit der Leidenschaftlichkeit eines eben erblühten, in der Einsamkeit aufgewachsenen und zur Schwärmerei geneigten Mädchens. Vor Entzücken schauernd, vernahm sie aus ihres Vaters Munde ihre Bestimmung. Ohne es klar ins Auge gefaßt zu haben, welche Wendung ihr Verhältnis zum Könige nehmen könne, hegte sie die Überzeugung, daß sich in dieser unerwarteten Annäherung des Schicksals Stimme offenbare, und daß sie für sich selber wie für den Monarchen von entscheidenden Folgen sein müsse. Jene erste Zusammenkunft hatte die Bezauberung vollendet, seine männliche Schöne die des Traumbildes übertroffen, seine schöne, klangvolle Stimme, sein ganzes einnehmendes Wesen einen unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Was sie früher im dunkel geahnt hatte, war ihr auf einmal klar geworden: sie sah in jener romantischen Neigung ihrer Kinderjahre Vorherbestimmung, und gewann die Überzeugung, daß sie allein zur Befreiung ihres gekrönten Geliebten berufen sei. Mit jener Berührung, als der König leis' über ihre Locken strich, wähnte die Schwärmerin die heilige Weihe erhalten zu haben. Sie betrachtete sich von nun an als unauflöslich an ihn gekettet, als sein geistiges Eigentum, als bestimmt, sich für ihn zu opfern.

Es konnte nicht fehlen, daß die nur allzu wahrscheinliche Vermutung Triboulets auch die Phantasie des Königs auf das lebhafteste erregen mußte. Zu galanten Intriguen geneigt, und mit dem leichten Sinne des Franzosen begabt, würde schon die einfache Erscheinung Sanchicas seine Aufmerksamkeit gefesselt haben, wie viel mehr aber in der Abgeschlossenheit eines Gefängnisses und unter so mysteriösen Verhältnissen. Er konnte den folgenden Mittag und die Erscheinung des lieblichen Pagen kaum erwarten.

Der Schloßkommandant säumte nicht, zur gehörigen Zeit sich mit derselben Umgebung wie am verwichenen Tage einzustellen, jede seiner abgezirkelten Bewegungen zu wiederholen und sich mit dem nämlichen schweigsamen Ernst hinter den Sessel des Königs zu pflanzen. Dieser beachtete kaum die Automaten ähnliche Figur, und heftete sein durchdringendes Auge auf die anmutige Gestalt der dienenden Tochter. Mit der Ungeduld eines Königs beschloß er, das Rätsel in kürzester Zeit zu lösen! Spielend zog er den Diamantring vom Finger und ließ ihn auf die Erde rollen. Sanchica erhob ihn und überreichte ihn dem Eigentümer, dieser aber steckte ihn mit leichter, anmutiger Verneigung an den Finger des Mädchens, indem er ihr zuflüsterte: »Nehmt ihn hin, mein Fräulein, er ist in allzu schöner Hand, um in die meinige zurückkehren zu dürfen.«

Sanchica sah sich entlarvt, aber es überraschte sie nicht. Ihr leidenschaftlich fühlendes Herz hatte schon längst der Stimme ihres Geschlechts gehorcht und der männlichen Verkleidung vergessen. In lieblicher Verwirrung überließ sie dem König ihre bebende Hand, ohne eines Wortes des Dankes mächtig zu sein. Blieb nun auch die Rede des Monarchen dem spanischen Obersten unverständlich, so sprach doch die Handlung um desto klarer. Wenige kalte Worte richtete er an seine Tochter, worauf diese den Goldreif wieder vom Finger zog und ihn dem Könige zurückstellte. »Don Hernandez de Silveyra,« sprach sie mit leiser trauriger Stimme, »trägt mir auf, Ew. Majestät zu sagen, daß der Spanier zu stolz sei, um von dem Feinde seines Herrn eine Gabe anzunehmen.«

Der König errötete vor Unmut über das hochmütige Betragen, welches sein Wächter sich gegen ihn herausnahm, und wandte sich tief verletzt ab. Als er wieder aufblickte, sah er das Auge des Mädchens in Thränen, deren Hervorquellen sie vergebens zu hemmen strebte. Don Hernandez mochte sie in seiner verknöcherten Gravität wohl kaum bemerkt haben, oder sie doch höchstens dem weiblichen Schmerz eines blitzenden Schmuckes beraubt zu sein, zuschreiben. Einen tiefern Blick in das Herz des Mädchens warf der König; er erkannte, daß hier eine mächtige Leidenschaft obwalte, er las in Sanchicas Auge, daß jene Thränen weniger der Gabe, als dem Unwillen des Gebers galten. Anscheinend kalt sich gegen Triboulet wendend, fragte er: »Versteht niemand im Zimmer Frankreichs Sprache, außer uns Dreien?« –

»Niemand«, antwortete Sanchica. –

»Du hast etwas auf dem Herzen, gutes Mädchen,« fuhr in demselben Tone der König fort. »Weißt Du kein Mittel, Dich mir zu vertrauen, ohne von mißgünstigen Ohren belauscht zu werden?« –

»Gesang!« war die leise Erwiderung, als sie die Tafel bedienend sich ihm nähern konnte, Franz nickte stumm zum Zeichen des Einverständnisses.

Noch an demselben Abend ließ sich unter dem Fenster eine weiche Stimme zur Laute vernehmen. Sie sang eine spanische Romanze von den Kämpfen der Abenceragen und kastilianischen Ritter. Die Absicht, die Aufmerksamkeit des Königs auf die Sängerin zu locken, und ihn zur lauten Nachfrage nach derselben zu bewegen, war erreicht. Don Hernandez glaubte am folgenden Tage den ausgesprochenen Wunsch des Königs, jene Stimme in der Nähe zu hören, gewähren zu müssen, und gebot Sanchica, ihre Zither zu bringen. Sie trug zuerst ein unverfängliches spanisches Lied vor, und begann dann auf des Monarchen Frage: ob sie keinen fränkischen Gesang kenne? nach der Melodie eines allgemein bekannten Liedes einen improvisierten Vortrag. Ein Kritiker hätte wohl manche Härte des Reims, manche ungefüge Wendung oder ähnliche Sünden gegen Prolodie und Poetik rügen mögen, und Don Hernandez wahrscheinlich die ganze Chanson unterdrückt, wenn sie ihm in der Übersetzung vorgelegt worden wäre. Zum Glück verstand er keine Silbe französisch, und so passierte denn das Lied unangefochten die Zesur.

Ich kann meinen Helden nicht in Fesseln sehen, lautete der Sinn der Worte, kann nicht dulden, daß Frankreichs reine Lilie in dumpfem Kerker welke. Die Hand der Jungfrau wird die entwürdigenden Fesseln zerbrechen, sie wird den ritterlichen König auf den Thron seiner Väter zurückführen. Vernimm es, König Franz, in drei Tagen wirst Du frei sein. Auf einer Strickleiter wirst Du das Gefängnis verlassen, ein Kahn wird Dich an das jenseitige Ufer der Adda tragen. Dort warten die Rosse Deiner. Laß mich Dir folgen, mein Herr, mein alles. Laß mich mit Dir, Du kühner Adler, den Strahlen der Sonne zufliegen, und sollte ich auch geblendet in den Abgrund stürzen und sterben. Die Hand, welche ich auf das für Dich schlagende Herz legen werde, sei Dir das Zeichen, daß die Stunde der Befreiung geschlagen hat. –

Die Zuhörer werden nach jener wunderlichen Probe eben keine allzu große Idee von den poetischen Talenten der Improvisatrice gefaßt haben, und ich gestehe willig ein, daß auch ich nach jenem fabelhaften Gemisch von Exaltation und Materialismus, von Sonnenflug und Strickleitern nicht dafür gestimmt haben würde, der Verfasserin, wie der berühmten Corinna, den Lorbeerkranz auf dem Kapitol aufzusetzen. Wir dürfen uns aber auch nicht verschweigen, daß diese Verse in französischer gebundener Rede sich wahrscheinlich besser, als wie jetzt in nüchterner Prosa ausgenommen haben werden, und daß sie ferner nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, sondern nur für das Ohr des Königs, welchem sie holdseliger als Sphären-Melodieen vorkamen.

Mühsam nur vermochte es der Gefangene über sich zu gewinnen, die Freude, welche ihm der Inhalt der Dichtung gewährte, unter einer Lobeserhebung des gelungenen Vortrags zu verbergen, und die Sängerin mit freundlich kaltem Dank zu entlassen. Alle Saiten seines Herzens waren wohlthuend berührt worden. Nichts konnte ihm als König schmeichelhafter sein, als jene enthusiastische Verehrung seines Ruhmes, nichts dem Manne als diese zauberschnelle Eroberung eines weiblichen Herzens, nichts konnte seiner chevaleresken Denkungsart mehr zusagen, als die Aussicht auf ein phantastisches Abenteuer, welches die Märchen der Tafelrunde zu verwirklichen verhieß.

»Ich werbe befreit, und schon in wenigen Tagen,« rief er jauchzend dem Zwerge zu, »ich werde es durch die Hand einer reizenden Jungfrau, und königlich soll der König die Rettung des Ritters vergelten.«

»Wenn ich der ganzen Komödie ihren romantischen Lampenschimmer nehme,« fiel Triboulet ein, »so bleibt mir nur eine liebetolle Närrin, die einem Abenteurer zu Liebe ihrem Vater entläuft, ein wankelmütiger Liebhaber, welcher der Retterin in den ersten vier Wochen überdrüssig wird, und ein alter Narr, der sich aus Gefälligkeit bei dem Rettungsversuche den Hals brechen dürfte.«

»Frankreich wird der Heroin Altäre weihen,« rief der leidenschaftlich erregte König, ohne die Zwischenrede des Zwerges zu beachten. »Eine andere Johanna von Orleans, wird die spanische Jungfrau auf ewige Zeiten im Herzen, im Munde eines jeden Franzosen leben. Ich sehe mich wieder an der Spitze meiner Ritterscharen; und dann, Karl, dann gilt es einen zweiten Gang.«

»Und ich,« lautete die Antistrophe, »sehe im glücklichsten Falle der Entweichung in dem Mädchen nur ein neues Opfer Deiner sultanischen Laune, welchem, wenn es ihr wahrer Ernst mit ihrer wahnsinnigen Liebe ist, das Herz brechen wird, und wenn sie wie alle Weiber ist ...«

»Nun dann?«

»Nicht wert ist, daß ich ihrethalben ein Wort verliere.« –

Die bestimmten drei Tage schienen dem König nicht enden zu wollen. Er verbrachte sie in der ungeduldigsten Spannung auf die Lösung des Abenteuers, phantastische Luftschlösser erbauend, und sie von der Hand seines bitteren Narren wieder einreißen sehend. Endlich war der letzte der Abende erschienen. Sanchica verrichtete schweigend ihren Dienst, und selten nur warf sie dem Monarchen einen furchtsamen Blick zu. Scheidend legte sie bei der Verneigung die Hand auf das Herz und erhob dann wie absichtslos zwei Finger. Das erwartete Zeichen war erfolgt, um zwei Uhr in der Nacht sollte die Flucht gewagt werden.

Dichte Regenwolken stoben in eilendem Fluge über den sternlosen Himmel. Der Wind peitschte schwere Tropfen gegen die bleigefaßten Scheiben, wirbelte die knarrenden Wetterfahnen im Kreise und rauschte durch die Zweige der Weiden am Ufer. Früher als sonst schienen die Schildwachen der Außenposten eingezogen worden zu sein, oder Schutz vor dem herannahenden Unwetter in den Gewölben gesucht zu haben. Alles vereinigte sich, um die Flucht zu begünstigen. Unter heimlichen Verwünschungen stand Triboulet mit der Schnur, welche die Strickleiter heraufziehen sollte, am Fenster. Endlich fühlte er, daß ein Gewicht sich an den losen Faden hänge – die Leiter stieg herauf. Gewandt schwang der König sich aus dem Bogenfenster und klomm auf den Seilen hinab – schwerfällig folgte der Zwerg, Sanchica stand unten, deutete schweigend auf einen von den hochschlagenden Wellen geschaukelten Nachen. Geräuschlos wurde er gelöst und vom Lande abgestoßen – sie schwammen dem jenseitigen Ufer zu. Da schlang der König im Rausch der Liebe und wiedergewonnenen Freiheit die Arme um den Nacken der Jungfrau, zog sie an sein Herz und berührte ihre Lippe im glühenden Kuß. Die Welt um sich vergessend, ruhten die Glücklichen Brust an Brust.

Die gewaltige Strömung des angeschwollenen Flusses verlangte jedoch einen geübteren Fährmann als den Zwerg, sie spottete seiner Anstrengungen, die Flut zu durchschneiden, und riß die leichte Barke im wilden Tanze mit sich fort. Mit leiser ängstlicher Stimme rief Triboulet den König zu Hilfe. Lange nicht vernommen, kam der Beistand des Stärkeren zu spät. Der Strom schleuderte das Bot gegen einen aus dem Wasser ragenden Pfahl – es schlug um. In allen körperlichen Übungen vollkommen, teilte der König mit rüstigem Arm die Flut, während er mit dem andern das Mädchen umschlungen hielt. Nach hartem Kampfe erreichte er das jenseitige Ufer. In seinen Armen lag die leblose Sanchica. Verzweifelnd kniete er neben ihr nieder – alle Mittel, sie ins Leben zurückzurufen, blieben fruchtlos – sie war ein Opfer ihrer Liebe geworden. – Triboulet hatte sich an eine herabhängende Weide geklammert und gerettet. Er eilte zu seinem Herrn und beschwor ihn, die günstige Gelegenheit nicht entrinnen zu lassen, die Pferde zu besteigen, zu entfliehen. Seine Stimme drang nicht zu den Ohren des untröstlichen Königs, der sich mit dem Ungestüm des Schmerzes weigerte, von der Leiche der Unglücklichen zu lassen. So geschah es denn, daß die zu seiner Verfolgung ausgesandten Soldaten, nachdem die Entweichung ruchbar geworden, ihn noch an derselben Stelle fanden, wo er die arme Sanchica ans Land getragen hatte. Tief gebeugt folgte er ihnen ohne Weigerung in den Kerker zurück, welchen er zwar wenige Tage darauf wieder verließ, aber nur, um ihn auf Jahre gegen einen spanischen zu vertauschen.


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