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Durch die offene Haustüre des Gutshofs stürmte ein halbwüchsiger, blonder Junge in den Flur.

Mitten in dem großen, hochgewölbten Raume gingen ihm plötzlich die Kraft und der Atem aus, dass er einer Ohnmacht nahe war. Er hielt soweit aus, dass er einer Ohnmacht nahe war. Er hielt sich an einer Ecke des langen Eichentisches fest. Dabei kam er schnell wieder völlig zu sich. Dann reckte er sich mit aller Macht förmlich wie ein krähender Hahn und schrie, als ob ihm ringsum mit Feuerbränden zugesetzt worden wäre: »Herr! Herr! Herr Selmsprenger!« Es gellt durch alle Mauern des weitläufigen Hofes.

Lukas Selmsprenger, der Gutsherr, saß oben in seiner Stube und schrieb an einem bisher wohlgeratenen Geschäftsbriefe.

Dem starken Manne, der sonst wahrhaftig nicht allzu leicht erschrak, gab es einen Riss, als der Knabe im Flur der ersten Schrei tat. Er ließ die tintenschwere Feder auf das beschriebene Blatt fallen, und ohne dass er dann sie und ihre Kleckse beachtet hätte, lief er nach dem Flure. Der Junge hörte ihn kommen und eilte ihm bis zur Stiege entgegen. Er fiel vor Selmsprenger auf die Knie nieder, hob bittend die kleinen, braunen, zitternden Hände empor und flehte: »Schnell! Schnell! In die Potkolnica! Nehmen Sie Ihr großes Ross, den weißen Hengsten! Lassen Sie mich bei Ihnen auf ihm sitzen! Ich bin gering. Mich wird er nicht spüren.«

Selmsprenger schien nun bereits alle Gründe zu ahnen, aus welchen der Junge hierhergekommen war. Aus seinen Mienen war der Ausdruck des Schreckens verschwunden, und es malte sich ein sorgenvolles Erbarmen in ihnen. Er wollte den Knienden aufheben und griff ihm flink unter die Arme.

Der Knabe ließ es auf keine weitere Arbeit des Mannes ankommen, er schnellte empor und bat dann wieder hastig: »Schnell, schnell das Ross!«

Selmsprenger nickte beruhigend und ging gegen den hofseitigen Ausgang des Flures hin. Er blieb aber nach etlichen Schritten wieder stehen und kehrte sich nach einer alten, kleinen Frau um, welche keuchend und schreiend zu einer anderen Türe, die dem Treppenhause gegenüber war, hereingetrippelt kam.

»Wer zetert denn so grauslich?« rief die Greisin. »Ich hätt' bald die Milch auf dem heißen Herd vergessen! Brennt wo ein Heustadl? Oder ein Strohschober? Das haben wir alles in der Schadensversicherung. Aber die Milch nicht.«

Sie trippelte auf den Burschen zu, fasste ihn mit ihren seltsam starken Händen an den Schultern und sah ihm mit ihren großen, hellgrauen Augen scharf forschend in das Gesicht. Selmsprenger gab ihr unterdessen laut und freundlich Auskunft: »Ein Schwabenbub' von der Russengrenz', Mutter. Die liebe Gesellschaft da unten rauft schon wieder. Was könnt's denn sonst sein? Und ich soll wieder die Händel schlichten. Na, so reit' ich halt.«

Die alte Frau zuckte die Achseln und schien dann ungefähr sagen zu wollen: »Du wirst wohl wissen, was du tust.«

Selmsprenger wartete nun nicht auf ihre weiteren Worte. Er rannte nach dem Stalle. Der Knabe wollte ihm folgen. Aber die Alte hielt ihn fest. »Tu nicht so zappelig«, sagte sie. »Er kann dich im Stall nicht brauchen. Wart' da auf ihn. Ihr kommt so bald auf den Schimmel, als es möglich ist. Brauchst nicht zu fürchten, dass er dich da vergisst.«

Sie drückte ihn auf einen der schweren buchenen Lehnstühle nieder, die den Eichentisch umstanden.

»Annibas!« schrie sie dann. »Deine Krapfen! Und einen Süßen!«

Darauf klang aus dem tieferen Inneren des Hauses eine Stimme her: »Gleich!«

Die alte Frau setzte sich zu dem Jungen auf einen Stuhl und fragte: »Wo und weshalb tobt der Streit? Raufen die russischen Chalupner um eine gestohlene schwabendörfler Henn'? Oder die Dnjesterleut' um ein umgestandenes Schaf, das ihnen der Kaspar Borwonin, ihr edler Herr, vorgeworfen hat?«

Der Bursche schüttelte den Kopf und sah dabei sehnsüchtig in den Hof hinaus.

»Die Potkolnaken haben den Kozor gefangen«, sagte er mit beklommener Stimme.

»Den Kozor«, wiederholte sie und fügte dann wie über sich selbst befremdet hinzu: »Von dem hab' ich ausnahmsweise noch nichts gehört.«

»Der stammt ja auch nicht aus der Näh'«, sagte der Bursche. »Im Russischen drinnen ist er zuhaus. Beinahe fünf Stunden weit von hier. Einem notigen Bauern gehört er an. Von acht Geschwistern ist er das ältest'. Zwanzig Jahr ist er alt. Und so ein starker, schöner Bub'. Brav ist er auch, wenn ihm niemand etwas tut. Daheim haben er und die Seinen niemals genug zu essen. Bei der Schüssel sind sie ihrer zu viele, aber bei der Arbeit auf ihren Äckern nicht. ihre Felder sind schlecht und sumpfig, geben große Plag' und kleine Ernten. Der alte Kozor möchte' jetzt schon manchmal die ganze Wirtschaft liegen und stehen lassen und mit der ganzen Familie nach Amerika auswandern. Aber dann ist ihnen allen doch immer wieder die Heimat zu lieb, so traurig sie auch ist. So gehen halt jetzt die größeren Kinder auf Nebenverdienst aus. Der Älteste geht im Winter mit den Bärenjägern, die geben ihm zu essen, so viel er mag. Im Sommer stellt er den Mardern nach. Für ein schönes Marderfell zahlt ihm der Jud zwanzig Kopeken. Seit Halladrew, der Gutsherr, die Fischerei im Schebtawabach freigegeben hat, fängt hier der Kozor Forellen. Aber unsere Leut' sind auf den armen Burschen alle so neidisch. Sie wollen ihn hier gar nicht einkommen lassen. Sowie ihn jemand am Bach sieht, hebt ein Streit an. Schon oft wollten sie ihn mit Gewalt vertreiben. Er hat meistens seine Angreifer vertrieben. Gegen dreie und viere hat er manchmal den Platz behauptet. Er ist ja stark wie ein Büffel und flink wie eine Katz. Aber alle, die er geschlagen hat, sind seine Feind' geblieben. Und heut' haben viele Leut' aus der Potkolnica gegen ihn zusammengeholfen. Aber selbstverständlich niemand von dem Meinigen, die ja heut' im Hinterwald arbeiten. Sie haben den Kozor geworfen und gebunden und geschlagen. Wie toll sind sie alle geworden. Mir scheint, sie wollen ihn langsam umbringen. Nicht einmal die Männer, die ich früher für gut gehalten hab', legen ein gutes Wort für ihn ein. Ich hab' für ihn gebeten. Da haben sie mich verjagt. Ich steh' ihm ja nicht vielleicht als Freund nah'. Aber ich seh' doch, dass ihm unrecht geschieht und dass schad' ist um ihn. Andere könnten das auch sehen. Wenn sie ihm nur nicht den Garaus machen, eh' ich mit dem Herrn hinunter komm'. Der Herr Selmsprenger kann sie zur Vernunft bringen. Das weiß ich. Deshalb bin ich hergerannt.«

Er hatte während seiner Rede öfter nach der Hoftüre als nach seiner Zuhörerin gesehen. Einem hochgewachsenen, hübschen Mädchen, das unterdessen im Flure gewesen war, hatte er in seiner Erregung fast gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Auch das schöne Backwerk und das volle Weinglas, welches das Mädchen vor ihn hingestellt hatte, schienen keinen Eindruck auf ihn zu machen.

»Jetzt greif' einmal da zu«, forderte ihn die Greisin freundlich auf. Er schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich könnt' jetzt keinen Bissen und keinen Schluck nehmen.« »So wird's die späte schmecken«, sagte sie. Und während sie seine Taschen mit den schönsten Stücken des Backwerks vollstopfte, sprach sie weiter. »Bet' fleißig auf dem Ritt, dann wird's Gott fügen, dass ihr den Kozor noch in einem heilbaren Zustand antrefft. Vor dem Selmsprenger wird den Potkolnaken das Tolle gleich vergehen. Dass du von allen Potkolnaken der einzige bist, der den Kozor nicht schinden lassen will, das ist mir ein schönes Zeichen von deinem deutschen Wesen. Gelt, du gehörst dem Zwihenner Michel, der sich in der Potkolnica angesiedelt hat, und euer Haus ist da unten das einzige deutsche?« Er nickte bejahend.

»Ich erkenn' dich nach der Art«, sagte sie. »Ich hab' ja einmal beinah' alle deutschen Bauern gekannt, die da an der Buchenländer Russengrenz' ansässig waren.«

Der Bursche erhob sich jetzt rasch. Er sah, dass der Selmsprenger den Schimmel aus dem Stalle führte.

Flüchtig fasste er die Hand der alten Frau und drückte seine Lippen darauf, dann eilte er hinaus. Gleich darauf saß er vor dem Selmsprenger auf dem Schimmel. Durch das hintere Hoftor ritten sie auf einem mit Flusskieseln beschotterten Feldweg hinaus, der zwischen zwei großen, sommergelben Weizenfeldern talwärts zog.

Hier vom Weganfange war fast die ganze große Lichtung zu übersehen, auf welcher der Gutshof und seine drei kleinen, hölzernen Arbeiterhäuser standen. Das bis in seine schattenseitigen Ecken hin wohlgeordnete, fruchtbare Bodenstück dachte sich in einem Halbkreise steiniger, jungbeforsteter Hügel sanftlehnig gegen eine Ebene ab, die von einem alten Laubwalde bestanden war.

In der Lichtung zeigte sich jetzt an dem sonnigen Juninachmittag die waldige Ebene als ein vorne goldig–grünes und weiterhin mit dem lichten Himmel in eines verschwimmendes Meer. Nahe im Vordergrunde des goldigen Grüns zeigte es ein riesiger Schattenstreifen an, dass dort eine lange Bresche durch den Wald zog. Das war der waldfreie Talgraben der Schebtawa. Der Bach selbst und seine gerodeten Ufer waren von der Lichtung des Selmsprengerhofes nicht zu sehen.

Eine büchsenschusslange Strecke hin bildete da unten das Wasser zur Gegenwart die Grenze zwischen dem österreichischen Buchenlande und dem russischen Podolien. Die Heimstatt des jungen Burschen, ein kleines, hölzernes, nett gezimmertes Bauernhaus, war an dem diesseitigen Bachufer inmitten eines gut gepflegten Wiesenstreifens.

Drüben auf dem russischen Ufer standen in einer schütteren, von kleinen Erdäpfeläckern und Erbsenfeldern zerteilten Reihe die elf armseligen, strohgedeckten Lehmhütten des Ruthenendörfchens Potkolnica. Am oberen Dorfende lag von der ersten Hütte durch einen verwahrlosten, großen Obstgarten getrennt eine weitläufige, niedrige, altersgraue Bauschaft, die von einem runden, spitzhäubigen und doch insgesamt kaum zehn Meter hohen Turme überragt war.

Das war das Schloss der Halladrews, einer russischen Adelsfamilie, welcher seit Jahrhunderten das Dorf Potkolnica sowie ein großer Teil der Waldebene zugehörte.

Nahe bei dem Schlosse hörte die Rodung vor einem hohen Staudengewirre auf. Bei den Stauden waren jetzt etwa zwanzig Menschen, junge und ältere beiderlei Geschlechtes, um einen Jüngling versammelt, der mit Stricken förmlich zu einem Knäuel zusammengeschnürt auf dem Boden lag. Am diesseitigen Bachufer, gegenüber dem Schlosse, ließ der Selmsprenger seinen Mitreiter absitzen. Der Junge wollte es die Potkolnaken nicht wissen lassen, dass er den Gutsherrn wider sie aufgerufen hatte. Er lief am Waldrande talabwärts seiner Heimstatt zu. Der Selmsprenger ritt durch den hier seichten Bach und dann quer über einige Erdäpfeläcker auf die Leute los.

Sie sahen ihn erst, als er schon bei ihnen war. Eben zuvor waren sie sehr laut gewesen. Bei seinem Anblicke wurden sie stille. Die meisten waren erst merklich erschrocken. Etliche schienen sich in einer peinlichen Verlegenheit zu befinden. Die übrigen ließen den Selmsprenger ihre Gesichter nicht sehen. Sie schlichen in den Wald hinein.

Der Selmsprenger sah den Weggehenden scharf spähend nach. Die Dastehenden betrachtete er mit einer kummervollen, traurigen Miene. Dann stieg er von seinem Schimmel, nahm ein Messer aus dem Hosensacke und begann die Wagenseile zu zerschneiden, welche den Kozor fesselten.

Der junge Mensch, der wie im höchsten Fieber zuckte und zitterte, sah seiner Befreiung mit staunendem Blicke zu. Sooft der Selmsprenger ein Stück der Seile abgeschnitten hatte, nahm er es und warf es, ohne dass er dabei jemals lange gewählt hätte, irgendeinem der Zuschauer an den Kopf.

Ein jeder der Getroffenen ließ sich die kleine Misshandlung stille gefallen und schien sie dabei doch als eine kränkende Ungerechtigkeit zu empfinden.

In leise klagenden, jammernden, sanft murrenden Tönen begann sich allmählich die ganze Runde zu melden. Ihre Sprache war ein ruthenisch–lippowanisches Gemisch. Da sah der Selmsprenger plötzlich von seinem Werke empor und fragte sie alle: »Tu' ich nicht das Rechte? Habt ihr da vielleicht das Rechte getan?«

In einer fast durchaus demütig unterwürfigen, aber doch entschiedenen Weise antwortete ihm einer der älteren Männer: »Ja, Herr. So ist es. Wir haben diesmal recht getan. Wir sind arme, dumme Urwäldler. Und du bist ein reicher, großer, deutscher Bauer und bist so gelehrt, dass wir gegen dich auch in unserem Alter an Verstand Kinder bleiben müssten. Und du meinst es mit uns besser als unsere Väter, denn du belehrst uns besser, als es unsere Väter könnten. Immer hattest du auch recht, wenn du mit uns unzufrieden warst oder wenn du uns einen Verweis gegeben hast. Immer. Nur diesmal nicht.«

Die anwesenden Potkolnaken bezeugten es nun dem Selmsprenger allzugleich mit Worten und Gebärden, dass sie mit ihrem Sprecher eines Sinnes waren.

Sie redeten alle durcheinander auf den Selmsprenger ein.

»Helf' nicht dem Kozor«, hörte er sie sagen. »Helf' lieber einem menschenfressenden Wolf. Mich hätt' er einmal fast ersäuft! Mich hat er todkrank geschlagen! Meinem Bruder ein Bein gebrochen! Niemand ist in der Potkolnica, den er nicht geschlagen oder beschimpft hätte! Seit Monaten beraubt, plagt und ärgert er uns. Er hätte hier niemals etwas zu suchen gehabt! Er ist der einzige, der sich jemals aus einem fremden Dorfe zu unserer Schebtawa wagte, um hier zu angeln. Wir brauchen selber so nötig ein jedes Schwänzchen, das in unserem Bache schwimmt. Wir sind so arm. Wir können ihn den Bach nicht leerfischen lassen! Es kann nicht länger geduldet werden, dass er einen jeden, der ihn verjagen will, wie ein wildes Tier anfällt. Endlich mussten wir doch gegen ihn zusammenhelfen. Wir müssen ihm die Lust zum Wiederkommen ausbläuen. Und müssen ihn ein wenig für das viele strafen, was er an uns verbrach. Es straft ihn niemand für uns, wenn wir's nicht selber tun. Drinnen in der Russenstadt beim Gorodowoi Polizeimann finden wir die Gerechtigkeit nicht, die wir suchen. Bei unserem Herrn, dem Halladrew, haben wir uns hundertmal vergeblich über den Kozor beklagt. Es bleibt uns sonst nichts übrig, als dass wir uns selber helfen. Du tust unrecht, Herr Selmsprenger, weil du den Kozor gegen uns in Schutz nimmst.«

Auf Selmsprenger schien dieses ganze Gerede kaum irgendwie einzuwirken. Er hatte den Kozor mittlerweile der Fesseln entledigt, und jetzt half er ihm kräftig und doch behutsam auf die Beine.

Es war zu sehen, dass der junge Mensch seinen versteiften, mit Beulen und Striemen bedeckten schlanken Leib mit vieler Gewalt zu einigen Bewegungen zwang. Er war aber doch imstande, sich von selbst aufrecht zu erhalten, nachdem er ein Weilchen an dem Selmsprenger gelehnt hatte.

»Ihr seid immer ganz außer Sinnen, wenn ihr eines Sinnes seid«, sagte nun der Gutsbesitzer zu den Leuten. »Jetzt muss ich diesen Menschen auch wieder mit mir nehmen, wie schon so manchen, den ihr sonst umgebracht hättet.« Dann fragte er: »Weshalb habt ihr ihn den nicht bei mir verklagt, als euer Krieg mit ihm anfing?«

Da wussten sie ihm nichts zu antworten. Er sah, dass sie alle durch seine Frage in Verlegenheit gebracht waren, und rief: »Weil ihr's gewusst habt, dass ich alle weiteren Treffen zwischen ihm und euch verhütet hätte! Ihr wolltet kein gütliches Ende des Handels. Dergleichen wollt ihr niemals. Ich kenne euch. Ihr seid arm und selten satt. Aber ihr verzichtet lieber auf ein noch so nötiges Stück Brot, als auf einen unnötigen, närrischen Raufhandel. Ihr rauft und schlagt viel zu gerne. Ihr kommt nicht leicht bei etwas anderem in so feurige Leidenschaft, als bei gemeinen, rohen, grausamen Gewalttätigkeiten. Ich will mich nicht selber loben und will nicht des Weiteren von dem Unterschiede reden, der zwischen mir, dem Deutschen, und euch besteht. Aber so viel sag' ich wahrheitsgemäß, dass mir in tiefster Seele vor Roheiten ekelt, die euch eine heiße Lust machen. Wenn ich mir jemals in jüngeren Jahren im Zorne doch eine Roheit zuschulden kommen ließ, so bereute ich sie nachher doch wenigstens.

Ihr aber fühlt nach so einem Verbrechen anstatt der richtigen Reue meistens eine anhaltende Genugtuung, die ich nicht begreife. Bei meinen Erfahrungen muss ich nun schon daran glauben, dass ihr von eurer Art aus einen Gemütsfehler habt, bei welchem ihr immer nur bis zu einem allzu niedrigen Grade Menschen werden könntet. Ich sehe nur im Christenglauben die Mittel, durch welche ihr euch aus dieser erbärmlichen Niedrigkeit zu erheben vermöchtet. Ihr seid nur dem Namen nach Christen. Ein Verständnis für das Christentum müsst' euch erst gelehrt werden. Euer Pope kann es euch nicht lehren. Er lehrt's denen nicht, die in seiner Nähe leben. Und von hier aus ist's fast eine Tagereise zu ihm. ich erkenne es, dass euch der Priester, der Glaubenslehrer fehlt; euch zu unterreichten, dazu bin ich nicht befähigt. Ich bin ein einfacher, deutscher Landwirt, der auf seinem ererbten Gute nach dem Rechten sieht, und will nichts weiter sein. Aber ich vermag als euer Nachbar gegen euch nicht gleichgültig zu sein, weil ich euer Unglück und Elend sehe. Ihr seid wie eure Väter und Großväter hier auf dem Boden eurer Gutsherren, der Halladrew geboren. Eure Vorfahren waren der Gutsherrschaft leibeigen, ich seid das nach den neuen Gesetzen nicht mehr und seid es eigentlich doch. Die Hütten, die ihr bewohnt, und die Äcker, die ihr bebaut, gehören dem Halladrew. Er kann euch von dieser Scholle, die ihr als eure Heimat liebt, verjagen, sobald es ihm gefällt. Er lässt euch hier, weil ihr ihm um den euch teuren Unterstand und um einen kleinen Lohn in seinen Wäldern Holzknechte abgebt. Er würde nicht leicht billigere Arbeiter kriegen. Eure Heimatliebe macht euch jetzt zu seinen Leibeigenen. Man kann es euch nicht verargen, dass ihr euch von hier schwer losreißt und lieber daheim um ein Weniges dienet als irgendwo anders um ein Mehreres. Seit Jahren lässt euch aber der Halladrew schlechter auskommen als jemals zuvor. Das liegt daran, weil er selbst nicht mehr sein Auskommen findet, seit er durch das Prasserleben, das er manchmal in Kiew führt, tief in Schulden geraten ist. Ich vermag euch als euer christlicher Nachbar nicht in der Lage zu lassen, in welche er euch gebracht hat. Ihr kostet mich seit Langem gar nicht wenig. Man soll von seinen eigenen Wohltaten nicht reden, aber so viel muss ich euch diesmal doch sagen, dass ihr mir für alles, was ich euch helfe, doch auch etwas zu liebe tun könntet. Ihr wisst, dass ich euch nichts so sehr verüble als solche Grausamkeiten wie eure heutige. Ihr braucht mein Erbarmen, wenn ich aber immer wieder sehen muss, dass ihr selbst für andere gar keines habt, so werde ich schließlich auch für euch keines mehr haben.«

Die meisten hatten dieser Rede so recht wie einer Strafpredigt mit teils demütigen, teils verlegenen Mienen zugehört. Etliche andere sahen den Selmsprenger auch dumm verdutzt und verständnislos an, weil sie nicht fähig waren, alle seine Worte zu begreifen. Fünf junge Männer standen mit regungslosen, finsteren Gesichtern da. Und drei der anwesenden Weiber hatten wohl mehr aus Berechnung, als in echtem Schamgefühle zu weinen angefangen.

Der Selmsprenger sah jetzt prüfend den Kozor an und fragte ihn. »Was soll ich nun mit dir anfangen?«

»Nehmen Sie mich mit in Ihr Haus«, bat der junge Mensch. »Heim kann ich nicht gehen. Es ist so weit. Und mir tut alles weh.«

»Du könntest wohl auch nicht leicht bei mir auf dem Ross sitzen«, sagte Selmsprenger. Dann befahl er den Leuten: »Geht mir da hinüber zum Schlossschaffner um ein Pferdegeschirr und einen Wagen!«

Da lief mehr als eine Hälfte der Versammelten nach dem Schlosse.

Kozor setzte sich nun mit Zeichen der Erschöpfung auf die Erde. Und Selmsprenger schritt auf einen schönen, vollblühenden Jüngling zu, welchen er schon während der langen Rede immerzu angesehen hatte. »Was tust du denn da?« fragte er in einem sehr scharfen Tone und mit strenge verweisenden Blicken. Der junge Mann sah düster und trotzig zu Boden und antwortete nicht.

»Ich sehe dir's an, dass du auch an der Peinigung dieses armen Menschen beteiligt warst«, sagte der Selmsprenger.

»Das ist kein armer Mensch«, entgegnete der Jüngling ingrimmig und sah mit einem bösen, leidenschaftsvollen Blicke nach dem Kozor. »Das ist ein teuflisches Ungeheuer. Ich hasse schon lange nichts so viel wie ihn.«

»Davon hast du mir niemals etwas erzählt«, sagte Selmsprenger. »Und du tatest immer so, als ob du vor mir gar kein Geheimnis hättest.«

»Es tut mir leid genug, dass ich vor dir Geheimnisse haben muss«, erwiderte der Jüngling. »Vom Kozor sagte ich dir nichts, weil ich wusste, dass du ihn verteidigen würdest. Und es ist nicht recht, dass du ihn verteidigst.«

Selmsprenger sah den jungen Burschen traurig an und seufzte. »Du hast dieselben Rechtsbegriffe wie die anderen Potkolnaken«, sagte er. »Aber vor mir hast du getan, als ob du bessere hättest. Ich hab' jetzt wieder einmal einen Beweis dafür, dass du gegen mich falsch bist, Wlado.«

Den Jüngling machten nun die Vorwürfe Selmsprengers wild verzagt. Er ballte die Fäuste, stampfte mit den Füßen und bekam dabei die schönen, schwarzen Augen voller Wasser.

»Das lass' ich mir nicht gefallen!« rief er. »Ich bin nicht falsch. Ich möchte dir immer die Wahrheit sagen. Gerade nur dir. Aber du bist zu streng gegen mich. Du willst einen Heiligen aus mir machen. Und ich kann keiner werden. es ist nur deine Schuld, wenn ich nicht immer ganz aufrichtig gegen dich sein kann!« Er schien es erst jetzt zu merken, dass ihm Tränen über die Wangen rollten. Und er schien sich des Weinens zu schämen und über sich selbst in Zorn zu geraten.

Mit einem verzweiflungsvollen Blick sah er den Selmsprenger noch an. Hernach wollte er davon laufen. Selmsprenger hielt ihn kräftig zurück und sagte: »Du wirst bleiben. Du fährst mit mir nach dem Hofe hinauf.«

Ein Weilchen sträubte sich der junge Mensch, dann drückte er plötzlich das Gesicht an die Brust des Mannes und schluchzte wild.

Der Selmsprenger sah nun sorgenvoll, aber doch sehr milde auf den braunen Lockenkopf des Burschen nieder und murmelte: »Wenn ich doch nur dich menschlicher machen könnte! Nur dich!«

Aus einer Scheune des Schlosses zogen nun die Leute einen kleinen Leiterwagen her.

Ein junger Mann lief ihnen voraus: »Der Schaffner ist zum Herrn gegangen!« rief er. »Da wird die Neugier den Herrn gleich heraustreiben.«

»Wenn sie ihn heraustreibt, so lang' ich noch da steh', so treib ich ihn wieder hinein«, sagte Selmsprenger ruhig.

Jetzt wurde der Schimmel angespannt.

Selmsprenger nahm den Kozor auf die Arme und legte ihn auf den Wagen.

»Aufsitzen, Wlado!« befahl er dann dem schönen, weinenden Burschen.

»Wenn ich schon mit muss, so geh' ich neben dem Wagen her«, sagte Wlado. »Zu dem Kozor setz' ich mich nicht auf.«

Selmsprenger erwiderte darauf nichts, sondern stellte sich dicht vor den Burschen hin uns sah ihm mit einem langen, fragenden, mahnenden Blicke in die Augen.

Ein Weilchen hielt Wlado mit finsteren Mienen stand, dann senkte er die Augen und stieg, indem er sich mitunter wie bei einem tiefinnerlichen Grausen schüttelte, auf die Wagenleiter.

Kozor zog seine schmerzenden Beine auch so weit als möglich an sich, um nur mit diesem Fahrtgenossen in keine Berührung zu kommen.

Selmsprenger setzte sich auf die linke Wagenleiter und trief den Schimmel an. Er lenkte das Gefährt nach einer aus zwei Baumstämmen und etlichen Läden bestehenden Brücke, die vor dem Schlosse über den Bach führte.

Die Potkolnaken gingen hinter dem Schlosse ihren Hütten zu.

Im Schlossgarten, nahe dem Wege, stand jetzt Halladrew, der Gutsbesitzer. Er war ein großer, weichgliedriger, plumpgedunsener Mensch.

Als das Gefährte mit den drei Männern in seine Nähe kam, rief er in unmännlich hohen und sehr spöttischen Tönen: »Nun, lieber Herr Nachbar, was für einen Vogel fahren denn Sie da wieder?«

Der Selmsprenger hielt den Schimmel an und schrie grob, aber ohne sich dabei merklich aufzuregen zurück: »Einen, der fliegen könnt', wenn der Kuckuck Sie schon geholt hätte.«

Halladrew lachte. »Das hab' ich nun wieder für meine höfliche Annäherung. Ich kann's doch mit dem besten Willen zwischen uns zu keinen freundnachbarlichen Beziehungen bringen.«

»Nein, gewiss nicht«, sagte Selmsprenger. »Sie sind eben als ein rechter Halladrew nicht dazu befähigt, einem rechtlich denkenden Manne ein ehrbarer Nachbar zu werden.«

Halladrew lachte wieder. Dann bat er in dem Tone eines belustigten, neugierigen Kindes: »Bitte, lieber Herr Selmsprenger, lassen Sie mich's doch in Ihrer prachtvollen Offenherzigkeit wissen, inwiefern ich denn auch der Urheber dieser heutigen kleinen Volksunterhaltung bin, mit deren blauen Folgen Ihre, ich möchte sagen –– übermenschliche Menschenliebe diesen jetzigen Aufzug veranstaltete.«

»Ja«, sagte Selmsprenger, »das sollen Sie von mir erfahren. Passen Sie auf: Sie haben sich vor zwei Jahren mit dem Bumba, ihrem hochgeborenen Gutsnachbarn verfeindet. Zuvor haben Sie mit ihm zusammen in schöner Freundschaft auf alle erdenkliche Weise das Leben genossen. Dann hat er Sie, wie das so unter russischen Kavalieren öfters vorkommt, halbtot geprügelt. Sie können ihm das nicht verzeihen und tun ihm seither alles Mögliche zu trotz. Weil Sie wissen, dass er ein leidenschaftlicher Fischer ist, haben Sie hier, auf Ihrem Grunde das Fischerrecht freigegeben. Er fängt da unten in seinem Stücke der Schebtawa nichts mehr, seit Sie alles morden lassen, was hier, im oberen Bachlaufe schwimmt. Aus lediger Bosheit und Rachsucht lassen Sie den Bach ausplündern. Ob dabei Ihren armen Arbeitern oder anderen Leuten mehr zufällt, das ist Ihnen ganz gleich. Das Schicksal Ihrer Arbeiter geht Ihnen überhaupt niemals zu Herzen. Sie kennen Ihren Untergebenen gegenüber keine Pflicht und verlumpen in sorglosem Leichtsinne alles, was Ihnen Ihr Gut trägt. Wenn durch Ihre Schuld arme, hungrige Leute einander um ein Fischlein totschlagen, so lachen Sie dazu wie jetzt. Ich weiß es sogar, dass Sie bei dem Zusehen so einer im Grunde von Ihnen verschuldeten rohen Ausschreitung ein grausam wollüstiges Vergnügen haben. Wollen Sie vielleicht von dem, was ich Ihnen da sage, etwas ableugnen?«

»Nein, nicht das Mindeste«, antwortete Halladrew, noch immer lachend. »Es ist alles, so wie Sie sagen. Und ich fühle deswegen wirklich gar keine Gewissensbisse. Machen Sie sich nur keine Hoffnungen, dass Sie irgendwie bessernd auf mich einwirken könnten. Für meine Arbeiter mögen Sie nach wie vor der Sittenlehrer bleiben. Und auch ihr Wohltäter. Da habe ich wirklich gar nichts dagegen. Nur eines möchte' ich Sie bitten: Den Wlado, den hübschen Jungen, der vor Ihnen auf dem Wagen sitzt, lassen Sie mir unbelehrt –– um den wäre mir wirklich leid –– wenn er etwas von Ihrer deutschen Schule annähme.«

Der Selmsprenger hatte während der Rede Halladrews wie in bitterer Wehmut gelächelt, und jetzt sagte er: »Weil Sie heute schon so aufrichtig sind, so beantworten Sie mir auch offen eine Frage, die ich Ihnen schon längst gerne gestellt hätte.«

»O ja«, entgegnete Halladrew, »wenn die Frage nur nichts betrifft, was ich aus Standesgesetzen mit Ihnen nicht besprechen könnte –– dann gerne.«

»Nein, nein«, sagte Selmsprenger. »Sie haben sich, was diese Frage betrifft, schon längst über die richtigen Standesgesetze gestellt. Also hören Sie: Wäre es Ihnen denn wahrhaftige so gleichgültig, wenn ich plötzlich aufhören würde, der Wohltäter Ihrer arme Untergebenen zu sein?«

»Ja, ja, wahrhaftig«, antwortete Halladrew und lächelte dabei, als ob er über die Bedeutungslosigkeit der Frage gestaunt hätte. Selmsprenger schüttelte den Kopf und sagte: »Wenn Sie diese Sache nur halbwegs vernünftig betrachten würden, so müsste sich doch eine Scham und ein Ehrgefühl in Ihnen rühren. Bedenken Sie doch nur: Sie sind für das Schicksal der vierzig oder fünfzig Menschen, die hier auf Ihrer Besitzung leben, in einem besonderen Maße verantwortlich. Diese Armen sind ja auf so besondere Weise an Sie gebunden. Mit ihrem Empfinden hängen sie fast alle schier unlösbar an ihrer angestammten Heimat, an dieser Scholle, die zur Gegenwart nur Ihnen gehört, Herr Halladrew. Wenn der Potkolnak hier auch noch so schlecht sein Auskommen findet –– er dient Ihnen lieber, als er heimatlos wird. Und Sie sündigen auf die heilige Heimatliebe und die begreifliche Weltscheu dieser Urwaldkinder hier auf eine abscheuliche Weise. Ihre Ahnen sind teilweise grausamer gegen ihre Untergebenen gewesen als Sie, sorgten aber doch im Allgemeinen mit einigem Pflichtbewusstsein für deren Auskommen. Unter Ihrer Herrschaft sind die Pokolnaken in eine unerhörte Not gekommen. Ehemals konnte hier ein jeder erwachsene Mensch als Holzarbeiter einen Tagelohn verdienen. Seit Sie in Ihrer Liederlichkeit hier im Forst auch betrügerische Händler wirtschaften lassen, die manchen Waldbestand mit ihren eigenen Knechten abholzen, sind Ihre eigenen Leute oft der Arbeit und des Taglohnes beraubt. Sie haben mit Ihrer Misswirtschaft Ihre Arbeiter zu Bettlern gemacht. Manche sind –– auch durch Ihre Schuld –– zu etwas ärgerem geworden. Ich sehe seit Jahr und Tag das Elend dieser Unglücklichen. Und ich müsst kein Mensch und kein Christ sein, wenn ich da nicht so weit ich kann, helfen tät. Ich glaube, mir müsst' beim Ansehen dessen, was Sie verbrochen haben, das Herz zerspringen, wenn ich ärmer wär' und für Ihre unglücklichen Opfer nichts tun könnte. Ich verschenk' wahrhaftig nicht leicht etwas Unnötiges und setz' mich auch nicht allzu gerne ohne Not für irgendjemanden ein. Meine eigenen Arbeiter halt' ich nicht besser, als es der gewöhnlichen Ordnung entspricht. Sie ärgern sich auch nicht wenig darüber, dass mir die Ihrigen immerfort am Sacke hängen. Wenn ich irgendwo in meiner deutschen Väterheimat als Grundbesitzer säße, da würde mich bei meiner Wesensart weder der Nachbar zur rechten noch der zur linken jemals einen unnötigen Pfennig kosten. Es geht einem überhaupt hier als Deutschen gar zu viel des fremden Elends und Jammers an. Das sagt mancher, der hier an der Russengrenze angesiedelt ist. Aus blindem Beglückungseifer bin ich niemals in Ihr Dorf gelaufen, sondern nur immer, wenn mich ein Unglück an ein bestimmtes Ziel rief. Aber als einen furchtbar schwere Last hab' ich Ihre Nachbarschaft immer empfunden. An das Herz sind mir diese Leute hier freilich schon deswegen gewachsen, weil ich so viel für sie sorgen muss. Jetzt wird mir all' das. Ws Sie mir mit Ihrer Wirtschaft auferlegen, wirklich schon zu viel. Seit längerer Zeit laben Ihre Arbeiter fast schon mehr von dem, was sie bei mir erbetteln, als von dem, was sie bei Ihnen verdienen. Ich kann es nicht glauben, dass Sie diese von Ihnen herbeigeführten Zustände nicht durchschauen. Und ich halte es auch nicht für möglich, dass Sie dabei gleichgültig bleiben können. Sie müssen es doch mit Scham oder mit Ärger empfinden, dass Sie im Grunde allein derjenige sind, der mich ausnützt und anbettelt –– indem Sie Ihre Leute bei mir betteln lassen. Und einiges Erbarmen müssen Sie doch auch haben. Es kann Ihnen auch deshalb nicht gleichgültig sein, wenn ich diese Unglücklichen dem Schicksal überließe, das Sie ihnen bereitet haben. Irgendetwas Menschliches muss doch in Ihnen sein?«

Halladrew schüttelte lachend den Kopf. »Nein«, sagte er. »Von dem, was Sie für so menschlich halten, ist nichts in mir. Erlassen Sie mir es, mit Ihnen von einer Menschlichkeit zu sprechen, die ja Ihrem deutsch bürgerlichen Einsehen immerhin unbegreiflich bleiben müsste. Begnügen Sie sich mit der wahrheitsgemäßen Versicherung, dass Sie mir mit all' dem, was Sie da gesagt haben, den Appetit auf die in meinem Bache gefangenen Forellen, welche jetzt auf meine Mittagstafel kommen, durchaus nicht verkleinert haben. Bezüglich dessen, wie Sie sich weiterhin gegen diese Leute hier verhalten sollen, habe ich wahrhaftig gar keine Wünsche, mich berühren ja Verhältnisse –– zwischen Ihresgleichen so wenig. Von allen denen, die sich von Ihnen helfen lassen, tut mir, wie schon gesagt, nur dieser Bursche, der Wlado leid. Lassen Sie ihn hier.«

»Nein«, sagte Selmsprenger. »Gerade Wlado möchte' ich am allerwenigsten unter Ihrer Herrschaft verderben lassen, und da er ja heute so wie so bei Ihnen wieder keinen Taglohn verdienen kann, nehm ich ihn mit.«

»Steig' ab, Wlado«, befahl nun Halladrew in einem ruhigen, milden Tone dem Burschen. »Und komm zu mir!«

»Bleib' sitzen«, forderte Selmsprenger.

Wlado sah wie ein verzagtes Kind von dem einen zu dem anderen und wusste nicht, welchem er gehorchen sollte. Selmsprenger half ihm teilweise aus der Verlegenheit, indem er ihn beim Rockkragen packte und gleichzeitig den Schimmel antrieb. Halladrew machte hinter den rasch davon fahrenden eine drohende Handbewegung, dann ging er nach seinem Schlosse zurück. Als sie über die Brücke fuhren, tat Selmsprenger die Hand von dem Burschen weg, der sich mit keiner Bewegung gesträubt hatte. Erst jenseits des Baches fingen sie miteinander zu reden an.

»Er ist freilich dein Herr«, sagte Selmsprenger. »Aber er wollte mich strafen, als er dir das Absitzen befahl. Soll ich mich von ihm maßregeln lassen? Nein. Jetzt wird er freilich dich irgendwie strafen. Na, prügeln lassen kann er dich gottlob bei den neuen Gesetzen nicht. Und hungern lässt er dich und die Deinen so wie so.«

Wlado sah jetzt wieder trotzig vor sich hin und antwortete erst nach einem Weilchen: »Seinetwegen hättest du mich nicht halten müssen. Ich wär' auch ohnedem sitzen geblieben. Er soll's nur wissen, dass du mir mehr bist als er. Dass ich ihm nicht gehorche, das könnt' mir niemals so viel Pein bringen, als du mir antust, indem du mich zwingst bei –– dem da zu sitzen.«

Er deutete mit dem Kopfe ein wenig nach dem Kozor hin.

Selmsprenger sah Wlado mit sorgenvollen Blicken an und sagte: »Ich seh' es schon, du hast von deiner Mutter her einen ganzen Anteil von der grausamen Rachsucht des hiesigen Volkes in dir, obgleich du nur ein halber Potkolnak bist. Jetzt schaut dir auch dieselbe furchtbare Leidenschaft aus den Augen, die mir immer wieder so ein Grausen vor den hiesigen Leuten macht. Was hat dir den der Kozor getan? Gewiss nichts, was für so einen Hass stünd'!«

Wlado machte Gebärden, mit welchen er auf unbeschreibliche Untaten hinweisen wollte.

Kozor hatte sich nun zum Sitzen gebracht.

Er sah dem Selmsprenger mit wildfunkelnden Blicken in das Gesicht und rief, indem er zwischenhin mit seinen kleinen, seltsam spitzigen, wunderbar weißen Zähnen knarrte: »Elfmal hab' ich ihn besiegt, guter Herr! Elfmal! Sooft er mich anging, hab' ich ihn gestürzt! Oft war er ganz in meiner Gewalt! Dreimal hab' ich mich an seiner Wut geweidet, bis sie ihn ohnmächtig gemacht hat! Dann ließ ich ihn liegen! Ich hab' mich nur deshalb nicht die Gurgel durchgebissen und hab' mich nur deshalb nicht an seinem Blute satt getrunken, weil ich ein gläubiger Christ bin! Das Gericht hab' ich niemals gefürchtet! Ich wusste ja, dass er sich schämen würde, mich zu verklagen! Wenn Sie sein Vater sind und wenn Sie sich nun rächen wollen, so tun Sie es! Von Ihnen lasse ich mich erschlagen! Sie liebe ich jetzt. Aber ihn werde ich hassen bis zu meinem letzen Atemzuge! Ich hasse viele andere. Aber ihn am meisten!«

Er machte mit seinen beiden Händen gegen Wlado hin Krallen. Dann wurde er plötzlich derart von Schwäche übermannt, dass er sich wieder hinlegen musste.

Während Kozor gesprochen hatte, schien Wlado einmal nahe daran gewesen zu sein, sich auf ihn zu stürzen. Auf einen mahnenden Blick Selmsprengers hin hatte er sich doch sichtlich beherrscht.

Jetzt, nachdem er den Erschöpfungsanzeichen de anderen zugesehen hatte, war ein hämisches Lächeln auf seinem Gesichte.

Selmsprenger hatte ihn zuletzt fast immerzu scharf beobachtet, und jetzt sagte er. »Dieser Hass muss aus dir heraus, Wlado, den duld' ich nicht in dir.«

»Der wird in mir leben, solange ich lebe«, antwortete Wlado.

Selmsprenger sagte darauf nichts. Er hielt es für zwecklos, den Burschen in dieser Stunde weiter zu schelten. Und zu gleichgültigen Gesprächen war er so wenig wie Wlado aufgelegt. Es war niemals jemand in einem solchen Maße sein Sorgenkind gewesen wie dieser junge Mensch.

Wlado war ein geborener Potkolnak und stand als Holzarbeiter in Halladrews Diensten. Sein Vater war ein Deutscher gewesen, ein Abkömmling einer verarmten schwäbischen Bauernfamilie, welche durch ein Jahrhundert hier an der russischen Grenze des Buchenlandes zwischen Ruthenen, Rumänen und Lippowanern Ein stockrussischer Volksstamm angesiedelt war.

In seiner Jugend hatte Wlados Vater auf dem Selmsprengerhofe als Knecht gedient. Dann hatte er eine Potkolnakin geheiratet und war auf ihren Wunsch ein Holzknecht geworden.

In der Ehe der beiden war mancher Wesensunterschied hervorgetreten, der zwischen ihnen auf Grund ihrer Abstammung bestanden hatte.

Sie waren deshalb trotz ihrer gegenseitigen starken Sinnenliebe nicht glücklich miteinander gewesen.

Bei allem Unglücke hatte es doch auch das Ende eines bösen Unfriedens bedeutet, als der Mann von einem fallenden Baume erschlagen worden war.

Die Witwe hatte sich dann mit ihren fünf Kindern, von denen Wlado das älteste war, furchtbar schwer durchgebracht. Durch mehrere Jahre hatte sie mit den Ihrigen hauptsächlich von Gnadengaben Selmsprengers gelebt.

Er unterstützte sie und ihre Kinder um deren deutscher Abstammung willen immerhin lieber als alle anderen Potkolnaken. Die fünf Kinder verehrten ihn dafür auch recht richtig als ihren Erhalter. Mit einer besonderen Liebe hatte sich ihm Wlado angeschlossen. In seinen Knabenjahren war der schöne, lebensfrische Junge mehr auf dem Selmsprengerhofe als daheim bei den Seinigen gewesen.

Dann war er, sobald es ihm seine Kraft ermöglicht hatte, Halladrew'scher Holzarbeiter geworden. Seither war er auch zum Teile der Ernährer seiner Familie. In einem großen Maße blieb er aber doch auf die Güte Selmsprengers angewiesen.

Selmsprenger hätte den jungen Menschen gerne vollständig an Kindesstelle angenommen.

Damit hätte er aber bei den meisten seiner deutschen und rumänischen Arbeiter, die ihm seit Langem dienten und sich völlig als zu ihm gehörig betrachteten, vieles gehässige Fühlen erregt und deshalb weder sich selbst noch Wlado glücklicher gemacht. Selmsprengers Mutter war auch dagegen, dass er den Wlado vollständig annahm. Die alte, zielbewusste Frau hatte sich aus ihrer Väterheimat, dem Schwabenlande, ein verwaistes, junges Mädchen kommen lassen, mit welchem sie in einem fünfgradigen Verwandtschaftsverhältnis stand. Dieses sanfte, fügsame Kind, welches sie das Annibäsle hieß, hatte sie ihrem besten Gutdünken gemäß erzogen.

Während einer Zeit war es ihr Plan gewesen, ihren mannbaren Sohn und das kindliche Annibäsle zu einem Paare zu machen. Mit ziemlicher Mühe hatte er es ihr begreiflich gemacht, dass er sich mit einer unwandelbaren Festigkeit zum Hagestolz geeignet fühlte und niemals heiraten würde.

Seither wollte sie, dass ihre Pflegetochter dereinst seine Erbin würde. Selmsprenger war gewillt, sich hierin nach dem Willen seiner Mutter zu halten.

Vor etlichen Monaten hatte er nun die ihm unverhoffte Entdeckung gemacht, dass zwischen Wlado und der Annibas eine innige Herzensneigung bestand. Er hatte sich über diese Entdeckung gefreut. Ihm schienen die beiden jungen Leute für einander zu passen.

Seiner Meinung nach hatte Wlado ein vorwiegend deutsches Empfinden. Und deshalb war ihm der Bursche auch ganz besonders lieb. heute sah er es mit Schrecken und Betrübnis zum ersten Male, dass Wlado von der halbwilden, slawischen Mutter her, doch zwei entsetzliche Eigenschaften im Blute hatte: die Fähigkeit zu einem ganz wahnsinnigen Hassen und eine unstillbare Lust zur Grausamkeit.

Selmsprenger war jetzt des Willens, kein Mittel unversucht zu lassen, durch welches Wlado jene Eigenschaften beherrschen lernen konnte.

Die beiden blieben jetzt schweigsam, bis sie zu ihrem Fahrtziele kamen.

Kozor lag währenddessen halb ohnmächtig auf den Wagenläden. Bei dem vorderen Einfahrtstore des Selmsprengerhofes kam ihnen die blonde Annibas entgegen. Das Mädchen hatte es von einem Fenster aus bemerkt, dass sie einen mitführten, der des Sitzens nicht fähig war, und es befand sich deswegen in ziemlicher Aufregung.

»Er ist abscheulich zermartert, aber lang nicht tot!« rief ihr der Selmsprenger zu. »Mach' uns das grüne Fremdenzimmer auf und heiz' die Badstube! Dann geh' auf's Feld und schick' einen Knecht um den Borowaner Arzt!«

Während er noch redete, hob er den Kozor vom Wagen und trug ihn hinter dem vorauseilenden Mädchen in ein morgenseitiges, schönes Zimmer des Stockwerkes. Nach Wlado sah er sich dabei absichtlich nicht um.

Ein Weilchen stand der junge Mensch unschlüssig im Flure, dann ging er den anderen langsam nach. Er trat nach ihnen in das Zimmer und blieb an der Türe stehen.

Das Mädchen machte ein prachtvolles Federbett auf. Selmsprenger hatte den Kozor vorläufig auf eine Polsterbank gelegt und begann ihn dort auszukleiden.

»Was stehst den dort wie ein Buchenklotz?« fragte er plötzlich den Wlado. »Geh' her! Heb' mir den Armen recht behutsam ein wenig, damit ich das Leibchen leichter von ihm herab krieg'!«

Wlado blieb regungslos stehen und sagte leise, aber doch entschieden: »Nein.«

Dem Mädchen gab es bei dem einen Worte des Burschen einen förmlichen Riss. Es fuhr herum und sah Wlado mit Mienen einer mächtigen Verblüffung an.

Selmsprenger nickte seiner Base wehmütig lächelnd zu und fragte: »Gelt, da staunst du? so ist jetzt auf einmal unser Liebling. Bisher hat er uns seine russische Seite verborgen, dass wir gemeint haben, er hat gar keine solche. Jetzt kannst du sie auf einmal sehen. Aber lass' jetzt wegen dem Schrecken die nötige Hilf' nicht ruhen. Heiz die Badstube.«

»Ja, ja«, sagte das Mädchen, indem es mit entsetzensvollen Blicken von dem einen zu dem anderen sah, dann drängte es: »Sagt doch deutlich, was da los ist…«

»Der Hass«, sagte der Selmsprenger, »derselbe, den du bei den Potkolnaken schon oft gesehen hast. Der slawische Hass. Wlado hat bei der Peinigung dieses Menschen mitgeholfen. Und er möchte' ihn noch weiter peinigen. Er ließe leichter seine Liebe zu uns –– als diesen Hass.«

Das Mädchen trat Wlado einige Schritte näher und sah ihn angstvoll forschend an.

Er hatte nun den Gesichtsausdruck eines kranken, schmerzgequälten Kindes.

Seine Augen blickten klagend und bittend in die Ihrigen. »Ich kann mir nicht helfen, Anna«, sagte er. »Es ist so, wie er sagt. Aber verdamme mich deswegen nicht. Ich kann ja nichts dafür, dass ich so bin.«

Eine Weile war sie über ihn entsetzt gewesen. Jetzt war sie aber auch schon nicht wenig gerührt. »Wirst halt anders werden müssen«, sagte sie mehr milde als entschieden. Dann lief sie hinaus. Wlado sah ihr traurig nach. Selmsprenger lächelte bitter und sagte: »Sie stellt sich das Anderswerden leichter vor, als es ist. Das ist der Leichtsinn der Liebe. Jetzt sei du doch wenigstens so ehrlich und verspreche ihr das Anderswerden nicht eher, als bis du es auch wirklich im Sinne hast. Belüge sie nicht weiter über dein Wesen.«

»Das will ich auch nicht«, sagte Wlado.

Selmsprenger hatte nun den mit Wunden kleinfältig bedeckten Leib Kozors bis auf das blutgetränkte Hemd entblößt und befahl dem Wlado:

»Nehm' das Leintuch aus dem Bett und reich' mir's her.«

»Nein«, sagte Wlado, »für dich tät' ich alles, was ich könnt. Und in Stücke ließ ich mich zerschneiden für dich. Aber für ihn tu ich nichts Gutes. Das kann ich nicht.« Dann lehnte er sich an den Türpfosten und begann wie ein von unsäglichen Schmerzen Gequälte zu wimmern.

»Eine furchtbar böse Krankheit dieser Hass«, murmelte der Selmsprenger. Dann trug er den Kozor in das Bett und hüllte ihn in Leintuch und in eine Decke.

»Bring' dem Schlossschaffner den Wagen zurück«, befahl er dann dem Wlado. »Und dann bring' mir den Schimmel wieder.«

Wlado nickte und ging, um diesen Befehl zu vollziehen.

*

Fünf Wochen pflegte Selmsprenger den Kozor.

Dann hätte der junge Mensch, ohne einen Stock zu gebrauchen, nach seiner Heimat gehen können. Aber er wollte nun auf dem Selmsprengerhofe als Knecht bleiben. Damit war Selmsprenger nicht gleich einverstanden gewesen. Bald hatte er es jedoch gesehen, dass sich Kozor nicht anders als mit Gewalt vom Hofe vertreiben lassen würde. Mit grober Entschiedenheit vermochte er um desto weniger gegen den Burschen aufzutreten, weil er ihn mittlerweile lieb gewonnen hatte. Zweimal während der fünf Wochen war Kozors Mutter, eine durch Kummer und Plage jämmerlich herabgekommene kleine Bauersfrau, auf dem Hofe gewesen. Vor ihrem letzten Weggehen hatte sie sich vor dem Selmsprenger auf die Knie geworfen und ihn heiß angefleht, dass er ihren Sohn bei sich behalten solle. Selmsprenger wäre es nicht im Stande gewesen, auf diese Bitte abschlägig zu antworten.

Das arme Weib hatte ihm den Kozor förmlich mit Leib und Seele zum Geschenke gemacht.

Selmsprengers Mutter uns seine übrigen Hausgenossen waren einhellig der Meinung, dass er die Aufnahme des jungen Russen hätte unterlassen sollen.

Mit irgendeiner Liebe kam niemand von ihnen dem Kozor entgegen.

Und er schien vorläufig hier sonst niemanden sehen zu wollen als den Selmsprenger, welchem er nun, wo es nur recht sein konnte, wie ein treuer Hund nachging.

Am weitaus ärgsten traf es Wlado, den jungen Potkolnaken, dass sein väterlicher Freund den Kozor auf dem Hofe behalten wollte. Früher war Wlado selbst an seinen härtesten Arbeitstagen an den Abenden wenigstens auf ein Weilchen in den Selmsprengerhof gekommen.

Seitdem er wusste, dass sich Kozor schon außerhalb des Zimmers erging, hatte er die gewohnten Besuche eingestellt. Er hätte es niemals zuvor für möglich gehalten, dass er jemals dessen fähig sein könnte, dem Selmsprenger so zu trotzen, wie er es jetzt tat.

Und Selmsprenger war noch niemals so anhaltend und schmerzlich über etwas erregt gewesen wie jetzt über Wlado. Bei ihrem letzten Auseinandergehen waren sie beide leidenschaftlich ergrimmt gewesen. Wlado hatte es ungestüm verlangt, dass Selmsprenger den Kozor aus dem Hause jagen sollte.

Und Selmsprenger hatte von dem jungen Menschen die Beherrschung des mächtigen Gefühles, das diesen jetzt beseelte, des Hasses, gefordert.

Wlado war weinend davon gelaufen und fest entschlossen gewesen, nicht früher auf den Hof zu kommen, ehe nicht Kozor von hier abgezogen war.

Selmsprenger hatte voller Erbitterung den Vorsatz gefasst, den jungen Menschen sich selbst zu überlassen.

Seine Liebe für den armen Burschen erwies sich dann aber als so stark, dass er nur mit schwerer Mühe an diesem Vorsatze festzuhalten vermochte.

Und heut' kam es dahin, dass er wirklich zu Wlado eilen musste.

Am Mittag war ein alter Holzhauer aus der Potkolnica im Hofe gewesen, um Mehl und Schmalz zu erbitten.

Selmsprenger, dessen Mutter und die Annibas hatten gerade wie täglich nach dem Mittagessen im Flure miteinander Kaffee getrunken.

Frau Selmsprenger füllte dem alten Holzknechte das Tragsäcklein, welches er mitgebracht hatte, dann lud sie ihn zu einer Schale Kaffee ein. Sie war es nicht gewohnt, die bettelnden Potkolnaken so ohne weiteres an der Tür abzufertigen.

Der Alte benahm sich auch mehr wie ein guter Bekannter als wie ein Bettler. Er begann gleich von dem zu erzählen, was sich in den letzten Tagen in der Potkolnica zugetragen hatte.

Nachdem er von verschiedenem neuen Unfuge berichtet hatte, sah er die drei etwas scheu an und sagte: »Von dem Unglücke, das Wlado und die Seinigen betroffen hat, brauch' ich euch wohl nicht zu erzählen.«

Selmsprenger und die Annibas sahen fast eines wie das andere den Potkolnaken erschrocken an, und die alt Frau antwortete ihm kopfschüttelnd: »Nichts wissen wir seit vierzehn Tagen von dem närrischen Buben, gar nichts. Erzähl' nur.«

Der Potkolnak kam nur vorläufig bloß zu einigen Worten. Er sagte: »Der Halladrew hat ihn hinausgeschmissen.«

Da sprang Selmsprenger empor. Er sah den Alten entsetzt an. Sein Gesicht wurde plötzlich blass und gleich darauf zornrot.

Der Annibas schienen die Pulse zu stocken. Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und drückte eine Hand an das Herz.

»Red' nur weiter«, sagte der Selmsprenger hastig. Dann sank er mehr auf die Bank, als er sich darauf hinsetzte.

Seine Mutter sah ihn besorgt und dabei auch etwas erzürnt an.

»Es ist gar dumm, dass du dich da so arg aufregst«, sagte sie. »Aber, ich trag' ja die Schuld daran, wenn ihn Halladrew hinausgeworfen hat!« rief Selmsprenger. Dann drängte er den Potkolnaken: »Red' nur weiter! Sag' alles! Alles!«

Der Potkolnak erzählte weiter: »Beinah' schon vor vierzehn Tagen hat er ihn hinausgeworfen. Und mit ihm selbstverständlich die alte, kranke Mutter und ihre übrigen schwachen Kinder. Es war ein regnerischer Abend, wie sie ausziehen mussten. Die kleinen Kinder haben geschrien. Und das Weib hat sich auf dem Boden gewälzt und sich die Haare gerauft. Darüber darf man sich nicht wundern. Das Weib ist in der Hütte geboren wie sein Vater und sein Großvater auch. Und es hat die Hütte als sein liebes Eigen angesehen und nicht im schlimmsten Traume daran gedacht, dass es würde auf seine alten Tage hinaus müssen. Vor dem Halladrew ist sie auf den Knien gerutscht, aber er hatte kein Erbarmen. Er sagte nur immer, er wüsste jetzt für die Hütte einen besseren Holzknecht, einen echten Russen, der ihm lieber wäre als Wlado, das Mischblut. Ja, und damit ich nur alles sage, was ich sicher weiß. Sie möchte doch mit ihren Kindern zu dir, Herr Selmsprenger, ziehen, hat er gesagt. Zu dir passten sie und ihre Brut besser als zu ihm. da ist die Alte toll geworden und hat ihn verflucht, so schwer man einen Menschen verfluchen kann. Alles Schlechte, was sie je über ihn hörte, warf sie ihm vor. Sie sagte im Zorne auch noch mehr, als sie über ihn wusste. Einen Stein hat sie ihm an den Bauch geworfen. Und mit unaufhörlicher Rache hat sie ihm gedroht. Da hat er in das Städtchen um den Gorodowoi geschickt. Der ist gekommen und hat sie, so viel auch sie und ihre Kinder schrien, mitgeschleppt. Jetzt ist sie im Städtchen im Arrest. Der armen Kinder dar sich niemand in der Potkolnica annehmen, der sich's nicht auch bei dem Herrn verscherzen will. Wlado hat um der Geschwister willen in der ganzen Potkolnica um Unterstand angehalten. Jetzt ist er mit ihnen bei dem Deutschen, dem Zwihenner, der ja von dem Halladrew nicht abhängt, in dem leeren Schafstall, der auf der Bachweid steht. und sie haben dort nichts zu nagen. Der Deutsche möchte' ihnen ja etwas schenken, aber sein geiziges Weib lässt das nicht zu. Wlado ist dreimal im Schwabendorf und zweimal unten am Prutz um einen Dienst gewesen. Man hätte ihn überall gerne aufgenommen. Aber wenn er sagte, dass er viel kleinere Geschwister mitbringen will, dann verzichtete man auf ihn. er hat sich auf den weiten Wegen, bei dem vielen Hungern krank gelaufen. Jetzt liegt er bei den vier Kleinen in dem Stalle. Man darf ihn nicht einmal heimlich besuchen. Die Zwihennerin ist mit dem Halladrew zu gut bekannt. Sie sagt ihm alles, was sie weiß. Ja, es ist bei uns in der kleinen Potkolnica mehr Unheil, als in einem großen Schwabendorfe möglich wäre.«

Er seufzte. Dann trank er seine Schale leer.

Selmsprenger reichte ihm die Hand und sagte: »Es ist gut, dass du gekommen bist.«

Der Alte machte sich auf seinen Weg.

Selmsprenger und die zwei Frauen blieben noch einige Minuten im Flure beisammen.

»Du bist so alt und gescheit, dass du von mir keinen Rat brauchst«, sagte nun Frau Selmsprenger zu ihrem Sohne. »Aber eines will ich dir jetzt doch raten: Schaff' gleich den Kozor aus dem Hause, damit du den Wlado und seine Geschwister herbringen kannst. Du hast dich seit Jahren des armen Jungen so weit angenommen, dass er nicht nur dir selbst, sondern auch mir und der Annibas so nah' steht wie nur wenige Menschen. Wenn du ihn jetzt im Stiche ließest, so wäre dadurch alles, was du bisher für ihn getan hast, zu einem grausamen Spiel geworden, du hättest ihn dann gewissermaßen nur sanft aufgehoben, um ihn hernach um desto gröber fallen zu lassen. Des wilden Kozors wegen könnte man nimmer mit Vernunft den lieben, feinen Wlado verstoßen.«

Der Selmsprenger schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe es gesehen, dass er so wild wie der Kozor ist. Und er sollte es vermögen, menschlichter zu sein. Weil er's nicht vermag, bin ich mit Vernunft auf ihn böse.«

Die alte Frau lächelte und sagte: »Glaubst du, dass er jetzt beim Zwihenner im Schafstalle in seiner Not und Verzweiflung menschlicher wird? Und glaubst du, dass ein Christenmensch einen anderen mit Recht verhungern lassen kann?«

»Nein«, sagte Selmsprenger, indem er sich erhob. »Das glaub' ich nicht. Und jetzt will ich ja auch zu ihm gehen.«

»Wenn du nicht gingest, so ginge ich«, sagte jetzt die Annibas. Errötend fügte sie dann hinzu: »Ich gestehe es, dass ich in der letzten Zeit deinetwegen davon Abstand nahm, nach Wlado zu sehen. Ich ahnte es, dass es ihm und den Seinigen schlecht geht. Darüber, dass es für mich, als für ein Mädchen nicht schicklich ist, ihm nachzugehen, hätte ich mich hinweggesetzt, wo es sich ja doch mehr um einen Gang aus Christenpflicht, als um eine aus Liebe gehandelt hätte. Ich wollte mich aber zu dir in keinen Gegensatz stellen, indem ich zu ihm ging. Nun bereu' ich es, dass ich mich von dir so weit beeinflussen ließ.«

Selmsprenger seufzte. »Ja, ja«, sagte er. »Du liebst ihn eben anders als ich. Du siehst ihn mit den Augen des liebenden Weibes und verzeihst ihm deshalb zu gerne den großen Fehler, von dem ich ihn mit meiner einsichtsvolleren Liebe heilen möchte.«

Die Annibas lächelte bitter und sagte: »Vorläufig sind er und seine Leute durch deinen Heilungsversuch dem Verkommen nahe.« Dann fügte sie bittend und mahnend hinzu: »Eil' doch schon zu ihm.«

Selmsprenger ging in den Hofraum, ließ zwei Pferde vor einen Jagdwagen spannen und fuhr dann, von einem Knechte begleitet, nach der Potkolnica.

Als er durch das hintere Hoftor hinausfuhr, sah er den Kozor, der im Garten unter einem Baume lag.

Der junge Mensch stand schnell auf und wollte den Selmsprenger fragen, wohin die Fahrt gehe. Aber die zwei Pferde liefen so schnell, dass er nicht zu der Frage kam.

In den Mienen Selmsprengers hatte er eine Erregung bemerkt, welche ihn beunruhigte und erst recht neugierig machte. Er frug eine alte rumänische Magd, wohin der Herr gefahren sei.

»Ich weiß es nicht«, sagte das Weib. »Und wenn's notwendig wär', dass du es weißt, so hätt' er dir's wahrscheinlich gesagt, wohin er fährt.«

Kozor ging weiter, um jemand anderen zu fragen. Er guckte durch die halboffen stehende Flurtüre hinein. Im Flure waren noch die beiden Frauen beieinander.

Frau Selmsprenger stand nahe an der Türe, sie sah den Burschen gleich und fragte ihn: »Willst du etwas?«

Er sah sie demutsvoll flehend an, faltete die Hände und bat: »Sag' mir es, gute Frau, wohin mein Herr fährt! Er sah erschreckt aus, deshalb bin ich auch voller Schrecken und Angst. Du weißt es ja schon, dass ich gar nichts so lieb habe wie ihn.«

Frau Selmsprenger sah den Kozor forschen an und antwortete ihm: »Er ist eigentlich deinetwegen so furchtbar ratlos und aufgeregt.«

Die Annibas war nun auch zu der Türe gekommen. Und sie nickte zur Bekräftigung dessen, was die alte Frau sagte, den Kozor lebhaft an.

Der junge Mensch war nun wirklich zu tiefst erschreckt. »Sagt mir, was es ist«, bat er. »Habt Erbarmen mit mir. Ich will nicht leben, wenn ich etwas verschuldete, was ihn traurig macht.«

Die alte Frau sah es nun dem Kozor an, dass er für ihren Sohn ein mächtiges Empfinden hatte, und sie war deshalb ein wenig gerührt.

»Ich glaub' es, dass du ihn lieb hast«, sagte sie. »Du erschwerst ihm aber das Leben, weil du dich so an ihn hängst. Dein letzter Streithandel hat schreckliche Folgen. Wlado und seine Angehörigen sind von Halladrew ins Verderben gestürzt. Und mein Sohn liebt den Wlado wie sein eigenes Kind. Aber Wlado wird lieber sterben als von meinem Sohne Hilfe annehmen, solange du hier bist. Mein Sohn wird nicht wissen, was er da anfangen soll, und wird schweren Kummer tragen. Wenn du ihn liebst, so mach' dem Leid, das in ihm ist, ein Ende, indem du gehst.«

Kozor lehnte blass mit schmerzverzerrtem Gesichte an dem Türpfosten und gab keine Antwort.

»Gehe«, bat nun die Annibas. »Du nimmst auch mir mein Glück mit deinem Bleiben. Gehe.«

Kozor sah die Frauen mit finstern Blicken an und sagte nichts.

»Ich weiß, du fürchtest die Armut, die bei euch daheim ist«, sagte nun Frau Selmsprenger. »Dagegen könnt' ich dir helfen. Ich geb' dir den größten von meinen heimlichen Geldstrümpfen, wenn du gehst.«

Kozor reckte jetzt plötzlich vor den Frauen seine prachtvolle Gestalt wie ein Kämpfer, sah sie sehr feindselig an und schrie, dass sie beide erschraken: »Ich bleib' bei ihm!« Dann lief er wieder in den Garten hinaus.

Dort setzte er sich auf den Rasen und presste das Gesicht an die Knie.

»Der ist wie ein wildes Vieh«, sagte drinnen die alte Frau zur Annibas. »Wenn wir ihn einmal derart stellen, fällt er uns an. Aber meinen Sohn hat er gern. Unheimlich gern.«

*

Der Selmsprenger war unterdessen in die Potkolnica gekommen. Den Knecht und das Gespann ließ er nahe an der Schebtawa im Waldschatten zurück. Über einen mageren Weidegrund ging er zu einem kleinen, hölzernen Viehstalle, der weitab von allen Bauschaften der Potkolnica vor einer dichten Erlengruppe stand.

Der dunkle, muffige Innenraum des Stalles war von dem armseligen Hausrate erfüllt, den man kürzlich aus dem Holzhauerhäuschen hierher gebracht hatte.

Wlado lag bleich und abgemagert in einem Winkel des Stalles auf einem Bette.

An dem Fußende des Bettes saß ein achtjähriger, zarter Junge. Vor den beiden kauerte ein fünfjähriges, schwächliches Mädchen auf dem Boden und spielte mit Weidenzweigen. Die zwei anderen der Geschwister, halbwüchsige Jungen, waren nicht anwesend. Sie waren nach dem Russendorfe gegangen, um die verhaftete Mutter zu sehen und um für sie zu bitten.

Die zwei Kleinen sahen dem Selmsprenger staunend entgegen.

Wlado kehrte sich im Bette der Stallwand zu und verbarg das Gesicht in die Kissen.

Ein Weilchen blieb der Selmsprenger stille bei dem Bette stehen. Er wartete darauf, dass sich Wlado umwenden würde. Der junge Mensch verharrte in seiner Lage, und seinen Leib begann ein Schluchzen zu erschüttern.

»Ich habe erst heute von eurem Unglücke erfahren«, sagte dann Selmsprenger. »Dass du mit den Deinen lieber zu Grunde gingest, als du mich riefest, das hätt ich niemals für möglich gehalten. Aber ich will dir jetzt keine Vorwürfe machen. Jetzt ist es das Wichtigste, dass ihr sogleich von hier weg in eine menschenwürdig Wohnung kommt. Ich hab' einen Wagen da. und wichtig vor allem ist es, dass du nicht weinst und dir unnütze Aufregung ersparst. So flehentlich ich bitten kann, bitte ich dich, mach' dich nicht ärger krank, als du's schon bist, indem du dich jetzt unnötig aufregst. Hab' Erbarmen mit mir und mit dir selber und sei diesmal fügsam gegen mich. Ich kann es dir nicht schildern, wie unglücklich ich deswegen bin, weil ich euch nicht gleich zu Hilf kommen konnte. als der Halladrew seine Rache nahm. Sträub' dich nicht, wenn ich dir jetzt mit aller meiner Macht helf'. Vermehre nicht so grausam mein Unglück.«

Wlado wandte jetzt sein tränenüberströmtes, fieberrotes Gesicht dem Selmsprenger zu und fragte: »Wo ist Kozor?«

»Denke jetzt nicht an ihn«, sagte Selmsprenger. »Ich sehe, dass du schwerkrank bist, und werde dich mit deinem Bette auf den Wagen legen.« Dann befahl er dem kleinen Jungen: »Lipperl, ruf' mir den Knecht. Er steht draußen hinter den Stauden.«

»Bleib', Lipperl!« sagte Wlado. »Der Selmsprenger muss mir zuerst sagen, wo Kozor ist.«

»In meinem Hause ist er«, sagte Selmsprenger. »Aber du wirst ihn nicht sehen, so lang' du krank bist. Er wird dein Zimmer nicht betreten.«

Wlado, der sich zuletzt ein wenig erhoben hatte, sank ächzend in die Kissen zurück, und dann stieß er heftig die Worte hervor: »Du musst mir sagen, dass du dich für immer von ihm trennen willst, sonst bleibe ich hier.«

»Wlado«, bat Selmsprenger, »zermartere dich jetzt nicht so.«

»Wenn du ihn bei dir zu behalten gedenkst, dann bist du nur gekommen, um mich zu quälen!« reif Wlado. »Wenn du mich aber liebst oder es auch nur gut mit mir meinst, so wirst du jetzt sagen: Ich jag ihn fort.«

»Das darf ich nicht sagen«, entgegnete Selmsprenger. »Ich hab' es ihm versprochen, dass er bleiben darf.«

»Wirst du mich lieber hier sterben lassen, als dass du ihm das Wort brichst?« rief Wlado.

»Nein«, sagte Selmsprenger. »Ich mache es so, wie man es eben, wenn sonst nichts mehr hilft, mit trotzigen Kindern oder mit Narren, die gegen sich selbst wüten, machen muss. Ich nehme dich gegen deinen Willen mit. Später wirst du es daraus schon erkennen, dass ich dich doch liebte und es gut mit dir meinte. Ich ruf' den Knecht!«

Er ging zur Türe. Aber dann kehrte er mächtig erschrocken wieder um.

Der Kranke war aus dem Bette gesprungen und hatte wild zu schreien angefangen.

»Ich will auch Gewalt anwenden für meinen Willen! Ich auch! Bis mir die Adern zerspringen, wehr' ich mich, dass ich nicht in das Haus muss, in welchem Kozor ist! Bis mir die Sinne vergehen, werde ich nur den Hass spüren, der in mir brennt! Wenn sie mir nun schon auf immer vergingen! Und wenn dann nur mein Hass nicht heißer wär' als die Hölle, in die er mich ja bringt! Wenn ich dich auch liebe, so will ich doch bis aufs Blut mit dir raufen, ehe ich mich von dir zu Kozor bringen lass! Und wenn du mich gebunden auf den Wagen legst, so will ich mir den Kopf an dem Wagenladen zerschmettern. Und wenn du mich in deinem Haus mit deinen Armen ans Bett drückst, so will ich den Atem anhalten und ersticken, um nicht in Kozors Nähe atmen zu müssen! Ich bin hier in diesem Stalle so unglücklich, wie es nur ein Mensch sein kann! Ich bin krank, sehe die Geschwister leiden, weiß, dass meiner Mutter im Arreste das Herz zerreißt, und doch ertrag ich hier alles, und in deinem Hause ertrüg' ich nichts. Geh', wenn du dem Kozor das Wort halten musst! Geh' und komm nicht mehr, um mich so zu zwingen! Geh' nur und merke dir, dass alles, was du mir im Leben Gutes getan hast, nichts war gegen die Schmerzen, die du mir deines Kozors wegen zu leiden gabst!«

Er hatte sich während seines Schreiens vor dem Selmsprenger über das Gerümpel geflüchtet, welches in dem Stalle war.

Selmsprenger war ihm über Kisten, Betten und Truhen nachgestiegen. Die zwei Kinder hatten währenddessen auch laut zu schreien und zu weinen angefangen.

Jetzt stand Wlado in einer Ecke des Stalles auf einem Futterbarren und streckte abwehrend die Hände gegen seinen Freund aus.

Selmsprenger sah mit Trauer und Entsetzen, dass er dem jungen Menschen völlig nachgeben müssen würde, um ihn auf eine ungefährliche Weise von hier fort bringen zu können.

Bei aller Angst, die er um Wlado ausstand, war es ihm unmöglich, dessen Wunsch zu erfüllen. Er hielt diesen Wunsch für allzu unrecht. Bei ihm stand es fest, dass er sich bei der Bekämpfung und Verurteilung des Hasses, der den anderen erfüllte, unter keiner Bedingung jemals willensschwach zeigen würde. Er sah in dem Hasse Wlados noch immerzu dessen größere Krankheit. Und er hatte noch immer auch eine seelische Heilung des Lieblings im Sinne. Die Anwendung einer scheinbaren Nachgiebigkeit widerstrebte ihm. Deshalb redete er offen heraus:

»Gegen dein Fieber wär's jetzt vielleicht gut, wenn ich sagen tät, dass ich den Kozor verjagen will. Aber gegen deinen Hass wär' so eine Lüge nicht das rechte Mittel. Ich will dich nicht zu etwas zwingen, was dich noch mehr aufregen könnt'. Du bist jetzt auch am wenigsten zu einem vernünftigen Ausspruch fähig. Deshalb will ich dir Ruh' lassen und dir, damit du nicht zu Grunde gehst, jemanden anderen schicken, von dem du dir lieber helfen lässt als von mir. Du darfst mir jetzt schon deshalb nicht sterben, weil ich dich nicht in die Höll' fahren lassen will. Du musst noch gesund werden an Leib und Seele. Ich geh'. Aber ich geb' dich nicht auf.«

Er ging zur Türe hinaus.

Durch eine Klunse der Holzwand spähte er ein Weilchen in den Stall. Er sah, dass sich Wlado auf das Bett hinwarf.

Dann ging er zu seinem Gespanne und fuhr nach Hause.

Als er durch den Garten nach dem Hofe fuhr, sah er den Kozor vom Rasen aufspringen. Der junge Bursche lief dem Gefährte nach. Während Selmsprenger abstieg, sagte er zu dem Knechte: »Spann' nicht aus. Du musst wahrscheinlich sogleich die Frauen in die Pokolnica fahren.«

Zu Kozor, welcher ihn heiß erwartungsvoll ansah, sagte er: »Wart' du hier. Ich rufe dich nachher.«

Er ging in die Küche, wo er seine Mutter und die Annibas beisammen fand. »Fahret ihr zu ihm«, sagte er zu den beiden. »Aber gleich. Er ist sehr krank. Gegen euch wird er nicht toben wie gegen mich.«

»Er hätte nicht getobt, wenn du das einzig richtige Mittel angewendet hättest«, sagte die alte Frau.

»Seinem Hasse folgen, das ist nicht das richtige Mittel«, entgegnete Selmsprenger.

»Jetzt dienst du dem Hasse des anderen«, sagte die alte Frau lächelnd. »Oder meinst du vielleicht, dass Kozor jetzt nicht über den anderen triumphiert?«

»Nein, das meine ich nicht«, antwortete Selmsprenger. »Und eben weil ich Wlado liebe, würde ich ihn weniger leicht derart triumphieren sehen.«

»Du lässt ihn also aus Liebe verderben!« rief die Annabas bitter lachend. Dann lief sie in das Stockwerk, um sich zu der Fahrt fertig zu machen.

Frau Selmsprenger ging ihr nach und sagte noch über die Achsel hin zu ihrem Sohne: »Kein Weiser könnt' aus einem Potkolnaken so einen Hass heraus kriegen. Und du willst's vollbringen!«

»Wlados Vater war ein Deutscher!« rief Selmsprenger. »Wlado ist nur ein halber Potkolnak!«

»Hat aber den ganzen Hass!« rief die alte Frau zurück. »Und ich verzeih' ihm's!«

Selmsprenger schüttelte den Kopf und ging durch zwei Kammern und über eine schmale Stiege in einen saalgroßen Schüttkasten.

In dem weiten Raume fand er einen kornschaufelnden alten Rumänen. Er gab dem Alten etliche Silbermünzen und sagte: »Nimm meinen Schimmel, Lelescu, und reit zu dem Nemorower Arzt. Er soll zu Wlado reiten, der n der Potkolnica im Zwihenner'schen Weidstall liegt. Du wirst's machen, dass er so schnell als möglich bei dem Jungen ist, das weiß ich. Auf dich kann ich mich verlassen. Der Rumäne nickte und lief, so schnell er konnte, in den Stall.

Selmsprenger ging in den Flur. Dort kamen ihm die zwei Frauen entgegen. Sie trugen eine wie die andere über dem Küchenanzuge ein großes, schwarzes Tuch.

»Lelescu reitet nach Nemorow«, sagte Selmsprenger. »Wartet bei Wlado auf den Arzt.«

In einem Weilchen fuhren die zwei Frauen davon, und Selmsprenger reif durch die Flurtüre hinaus: »Kozor!«

Der junge Russe kam ihm wieselflink zugelaufen.

»Setz dich hierher«, sagte Selmsprenger und zeigte auf einen Stuhl.

Dann setzten sie sich einander gegenüber.

»Ich war bei Wlado«, sagte Selmsprenger. »Er ist im tiefsten Unglück. Halladrew hat ihn mitsamt der Mutter und den Kindern aus der Hütte geworfen. Die alte Frau liegt im Gefängnis, weil sie in ihrer Verzweiflung den Halladrew beleidigte. Die Kinder hungern. Wlado ist durch Not und Jammer schwerkrank. Wenn du dir's vorstellen könntest, wie mir da zu Mute ist, würde dir leid um mich geschehen.«

»Ich kann mir's vorstellen«, sagte Kozor. »Und ich bin vor Traurigkeit krank, weil du traurig bist.«

Selmsprenger schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, sagte er. »Du kannst dir keinen Begriff davon machen, wie mir das Schicksal des Jungen zu Herzen geht. Du hassest ihn. Wie solltest du da die Liebe verstehen können, die ich für ihn hab'?«

Kozor senkte vor dem voll auf ihm ruhenden Blicke Selmsprengers die Augen und entgegnete: »Ich denke mir, dass du ihn wie dein eigenes Kind liebst.«

»Ich lieb' ihn auch noch anders«, sagte Selmsprenger. »Er ist seit Jahren mein einziger Kamerad. Und ich hab' manches Gute in seine Seele gepflanzt und es in ihm zum Blühen gebracht, das ich nun als mein bestes Werk liebe und nicht um den Preis meines eigenen Lebens vernichtet sehen möchte. Und sein Blut ist mir als Blut von meinem Volke ganz besonders wert, weil ich nicht will, dass es da in der wilden Fremde sich selber fremd werde. Ja, Wlado ist mir der liebste, teuerste Mensch und wird es immer bleiben.«

Er schwieg ein Weilchen und drückte wie bei schweren Wehgefühlen die Hand an das Herz.

In dem Gesichte Kozors war der Ausdruck einer heißen Qual. Der junge Mensch fühlte allzugleich eine Eifersucht, in welcher er Wlado hätte morden mögen, und ein Mitleid, aus welchem er gerne sein Leben für den Selmsprenger geopfert hätte.

Selmsprenger sprach weiter: »Unsern ersten großen Verdruss haben nun ich und der Bub' deinetwegen miteinander, Kozor. Ich will den Hass nicht leiden, den er als einziges Unkraut in seinem sonst reinen Gemüte pflegt. Und er will über diesen Hass auch alles andere, was er in sich hat, vergessen. Dadurch ist es dahin gekommen, dass wir einander seit Tagen nicht gesehen haben. Und mittlerweile ist über ihn und die Seinigen all das Unglück hereingebrochen. Für die verlorene Heimat hätt ich meinen Schützlingen gleich eine andere geben können, wenn mich mit Wlado nicht dieser euer Hass entzweit hätte. Aber nun sind die Folgen eures Hasses da, denen ich nicht zu begegnen weiß. Die unglückliche Frau ist als halb Wahnsinnige in den Kerker gebracht worden. Ich glaube nicht, dass an ihr gut zu machen sein wird, was ich versäumte, indem ich, weil mich euer Hass daran hinderte, nicht zur rechten Zeit beisprang. Und ob mein Junge von seiner schweren Krankheit genesen wird, die ja ausgeblieben wäre, wenn er es nicht deinetwegen verschmäht hätte, wie sonst in seiner Not zu mir zu kommen? Er will sich nicht eher von mir helfen lassen, als ich dich aus meinem Hause gewiesen habe. Unter tausend Martern will er lieber sterben als sich hierher bringen lassen, solange du hier bist. Wenn ich ihn nicht vollends rasen machen, seine Krankheit nicht auf das Äußerste verschlimmern will, so darf ich ihm nicht anders vor die Augen kommen, als mit der Versicherung, dass ich dich fortgeschickt habe. Ich will ihm aber helfen mit allen möglichen Mitteln und um einen jeden Preis. Alles in der Welt will ich lieber entbehren als ihn, und lieber zum Bettler oder Krüppel will ich in dieser Stunde werden, als ihn noch einen Augenblick vernachlässigen. Wenn du es gut mit mir meinst, so denk' nach, was ich nun soll.«

Selmsprenger sah nun den Kozor scharf forschend an. Er hatte es für unbedingt notwendig gehalten, ihm soweit die Wahrheit zu sagen und hernach von ihm einen ehrlichen Ausdruck der Willensmeinung zu fordern.

Nicht wenig war er darauf neugierig, ob sich nun Kozor nicht ihm zu liebe zu einem freiwilligen Abzug entschließen würde.

Dabei war er aber doch keineswegs gewillt, ihn nachher auch wirklich ziehen zu lassen. Er wollte ihn jetzt nur aushören und näher kennen lernen. Wie in all der Zeit, seit welcher er den Hass der zwei jungen Männer kannte, war es auch jetzt noch sein Wunsch, sie von dieser schrecklichen Leidenschaft befreien zu können.

Und er meinte noch immer zu ihrer Versöhnung die besten Mittel und Wege finden zu können, wenn er sie beide hier in seinem Hause beisammen haben würde.

Kozor antwortete auf die Rede des Gutsbesitzers nicht gleich. Er überlegte. Dabei war er zunächst über nichts so sehr mit sich selbst einig als darüber, dass er auf keinen Fall freiwillig von hier abziehen werde.

Er sah in dem Heimgehenmüssen sein allergrößtes Unglück. Daheim war es ihm fast immer nur schlecht gegangen. Er hatte in seiner Heimat nichts und niemand geliebt. Die Heimatscholle verabscheute er, weil er sich auf ihr um zu weniges und zu schlechtes Brot fürchterlich hatte plagen müssen. Seinen Angehörigen und den übrigen Leuten seines Heimatdörfchens war er abgeneigt, weil er sich mit ihnen allen im Brotstreite befunden hatte. Hier im Selmsprengerhofe kam er sich dagegen förmlich wie im Paradiese vor.

Er wünschte sich kaum ein größeres Glück, als sich immerzu derart satt essen und ausruhen zu können, wie er es hier tat.

Und hier liebte er zum ersten Male einen Menschen. Aus der Dankbarkeit, die er für den Selmsprenger hatte, war eine Anhänglichkeit gewachsen, die er nun auch mit allem Rechte als den besten Teil seines Empfindens pflegte.

Jetzt bangte ihm wahrhaftig um all sein Glück. Er glaubte es zu sehen, dass ihn nun Selmsprenger Wlados wegen auf einen jeden Fall los haben wollte. Und er wollte alles Mögliche tun, um bleiben zu können.

Ein gewaltsames, trotziges Widerstreben nützt da nichts, sagte er sich. ‚Wenn er will, dass ich gehen soll, so muss ich auch gehen. Da muss ich also etwas tun, was ihm mein Bleiben lieb macht.' Er dachte sehr angestrengt nach.

Er will mich wegen meines großen Hasses wegschicken, sagte er sich dann. So muss ich tun, als ob ich gesonnen wär', ihm zu liebe diesen Hass zu bezwingen. Ja, ich muss lügen. Ich muss sagen, lieber reiße ich meinen Hass gegen Wlado aus meinem Herzen, ehe ich von dir gehe. Ja, damit werde ich sein Herz für mich gewinnen. Wenn ich so zu ihm sage, werde ich mich ihm so lieb machen, wie ich's mit gar nichts anderem könnte. Diese Lüge wird die größte sein, die in meinem Munde überhaupt möglich wäre, denn mein Hass ist mein stärkstes Gefühl. Aber die Sünde wird mir doch zu verzeihen sein. Ich werde ja lügen, um mir das Glück zu erretten, das ich hier genieße und welches das erste meines Lebens ist. Und ich werde ja lügen, um mich dem einzigen Menschen, der mir wert ist, wert zu machen.

Kozor zwang nun seine verstörten Mienen zu einem sanften Ausdrucke, und er sagte. »Du sollst um meinetwillen auf Wlado nicht verzichten. Bring' ihn nur her!«

Selmsprenger sah den jungen Russen neugierig an. »Willst du gehen?« fragte er.

»Nein«, sagte Kozor. »Ich will lieber mein Herz an deine Türschwelle nageln lassen, als von dir fortgehen. Und ich lebe auch lieber bei Wlado, als ich von hier fortgehe. Bring' ihn her! Es ist wahr, ich hasse ihn. Aber ich sehe es erst jetzt, wie du ihn liebst. Und deshalb erkenne ich es nun erst, dass ich ihn nicht so hassen sollte. Siehe: du bist der einzige Mensch, mit dem ich in allem eins werden will, denn du bist der einzige, den ich liebe. Und dir ist Wlado das Teuerste in der Welt. Ich darf ihn nicht hassen, wenn ich mit dir eins werden will. Und ich will ihn deshalb auch nicht mehr hassen. Dann sehe ich auch, wie weh dir sein Unglück tut. Vorher habe ich ihm nur lauter Unglück gewünscht. Jetzt aber sage ich mir, dass mich nichts freuen darf, was dir weh tut, dass ich all dein Leid als das Meine empfinden muss. Wenn ich ihn nun anstatt hassen bemitleiden will, do werde ich's auch können. Ich kann um deinetwillen alles. Nur verlassen kann ich dich nicht.«

Selmsprenger war nun gewaltig überrascht. Er glaubte dem Burschen ein jedes Wort.

Bei einer mächtigen Freude empfand er nun auch eine große Scham. Er sagte sich: Da hast du dich einmal gründlich an einem Menschen geirrt. In der Dankbarkeit, die dieser Bursch' für dich empfindet, ist er so innig zur Bekämpfung seiner Fehler bereit, wie nur jemals ein gutes, weiches, hingebungsvolles Gemüt. Einen fein empfänglichen hast du da für einen durchaus rohen betrachtet. Eine Flamme des Hasses, welche von einem Hauche wirklicher Güte auszulöschen ist, hast du da für unauslöschlich gehalten. Schäm' die deiner Menschenkenntnis und freu' dich, dass sie eine schlechte war! Du hast hier immer einen ganzen Volksstamm seiner glühenden Hassenslust wegen für nimmer genug bildungsfähig gehalten. Der Kozor ist nun gewiss ein echter, ganzer Russe. Und er hat bei seiner wilden Leidenschaft doch ein Gemüt, mit dem er ein ganz wahrhafter, feiner Mensch werden kann. So wie über diesen Kozor, hast du gewiss auch über sein ganzes Volk zu vorschnell geurteilt. Wenn nur Wlado, dein halbdeutscher Liebling, aus so gut, empfänglich und so zur Besserung fähig wäre wie dieser Russe!

Selmsprenger sah nun Kozor mit Mienen an, in welchen sich eine innige Freundlichkeit und eine große Bewunderung ausdrückten, und er sagte: »Deine Worte machen mir eine große Freude. Ich hab' dir nun viel zu danken und dich groß um Verzeihung zu bitten. Du bist viel weicher, besser als ich meinte. Ich werde es dir mit Liebe vergelten, wenn du den Wlado nicht mehr hassen wirst. Weil ich dich jetzt besser kenne, will ich es erst recht, dass du bei mir bleibst. Ihr beiden sollt hier bei mir Frieden machen und Freunde werden. Ich glaube, er wird sich schämen, wenn sich's zeigt, dass du zum Friedenmachen williger bist als er. Aber du sollst dich nicht freuen, wenn er sich schämt. Verstehst du mich?«

»Ja«, antwortete Kozor. »Ich werde ihm das Friedenschließen so leicht und lieb als möglich machen. Du sollst sehen, was ich um deinetwillen vermag. Ich erkenne, wie du mit dem Rechten glücklich zu machen bist. Und ich will dich glücklich machen.«

»Ja, du willst es und wirst es«, sagte Selmsprenger. »Um meinetwillen allein, solltest du freilich nicht das Rechte wollen. Aber es ist ein Glück, das du auf diesem Wege bist. Er führt dich dahin, dass du das Rechte zunächst immer um Gottes willen und um des Rechten selbst willen tun wirst.«

Selmsprenger erhob sich jetzt. Ihm war das Herz so voll, dass er das Stillsitzen nicht länger aushielt.

Er ging mit Kozor in den Garten und von dort durch die Felder, bergwärts in den Wald.

Kozor war auch voller Freuden.

Er frohlockte darüber, dass er sich mit seinen Lügen das Bleiben gesichert und die Freundschaft Selmsprengers erworben hatte.

Und er log draußen zum Glücke des gläubigen Mannes ohne Bedenken, so schön er konnte, weiter.

Nach einem mehrstündigen Gange kehrten sie in den Hof zurück. In einer Stube des Stockwerkes traf hernach Selmsprenger die beiden Frauen.

»Wir haben in dem Stalle den Arzt abgewartet«, sagte ihm seine Mutter. »Wlado ist vom Hunger krank. Der Arzt glaubt ihm helfen zu können. was sich sonst vorläufig in dem Stalle für Wlado und die Kleinen tun lässt, haben wir getan. Ich habe ihm auch eine Wärterin gedungen, die alte Rumänin, die unterhalb der Pokolnica das einschichtige Häusel hat.

Wir haben alles versucht, um ihn zum Mitfahren zu bewegen. Es wär' so notwendig, dass er in einen anderen Raum käm'. Und ich wüsst' nicht, wohin man ihn sonst bringen könnt' als hierher. Er gehört jetzt von Rechts wegen sonst nirgends hin als in unser Haus. Aber man vermöcht' ihn nicht lebendig hierher zu schaffen, solange der Kozor hier ist. Also der Kozor muss fort.«

»Nein«, sagte Selmsprenger, »der Kozor bleibt jetzt erst recht da. Nehm' mir's nicht übel, dass ich dir diesmal so entschieden widerspreche, Mutter. Aber es ist notwendig, dass ich da so widerspreche, weil ihr ja über den Kozor einer ganz neuen Meinung werden müsst. Er ist ganz anders, als ihr meint. Wenn ich es euch sage, was er jetzt will, so werdet ihr es einsehen müssen, dass ihr euch über seinen Wert und seine Bedeutung in einem großen Irrtume befunden habt. Höret: Er will, dass ich Wlado hierher bringe. Er vermag dem Hasse zu entsagen. Um einen jeden Preis will er sich mit Wlado versöhnen, sein Freund werden. Ja, dieser junge Stockrusse findet durch sein Gemüt die Kraft zur Beherrschung seiner größten Leidenschaft! Ich achte und bewundere ihn jetzt.

Gott soll geben, dass ich unseren Buben, den Wlado, künftig nicht für einen minderen Menschen als diesen Kozor halten muss.«

Selmsprengers Mutter und die Annibas lächelten jetzt eine fast wie die andere bitter spöttisch.

»Ich merk's, der Kozor hat dich belogen!« rief die alte Frau. »Er sieht, dass er in Gefahr ist weichen zu müssen, und da greift er zum Betruge. Und du glaubst seit jeher von dem Schlechtesten das Schönste so gerne. Du bist so leicht zu betrügen. Ja, ja, ich sehe schon das Ganze durch und durch. Er lügt und ist bereit auf alle Art zu heucheln, um nur bleiben zu können. So ist es.«

»Ja, ganz gewiss, so ist es!« rief die Annibas.

Auf dem Gesichte des Mannes war der Ausdruck einer großen, ruhigen Überlegenheit.

»Ich glaub' das Schöne zu gern«, sagte er. »Das ist wahr. Aber ihr glaubt diesmal jedenfalls das Schlechte zu gerne. Wisst ihr übrigens nicht, dass man das Schöne und das Schlechte überall wirklich vermehrt, wo man es glaubt. Wenn es der Schlechteste sieht, dass man mit rechter Beständigkeit an sein Gemüt glaubt, so wird er dahin gebracht, seinem Gemüte nachzuspüren, und mancher hat dadurch eines gefunden, der sonst keines gehabt hätte. Der Glaube kann immer wahrhaftig das schöne Wunder herbeiführen. Es ist kein dummes Gefasel, wenn man sagt, dass der Glaube aus toten Steinen lebendige Blumen hervorbringen kann. Kozors Herz ist aber beileibe keinem Steine zu vergleichen. Ihr könnt sein Gemüt sehen, wenn ihr nur wollt. Betrachtet nur zunächst seine Dankbarkeit und Anhänglichkeit gegen mich.«

Die alte Frau hatte ein Weilchen sinnend zu Boden gesehen, und jetzt sagte sie etwas brummig, aber doch in einem teilweise beistimmenden Tone: »Das eine ist freilich wahr: er hat dich gern. Ich glaube nicht, dass er noch etwas so gerne hat wie dich.«

Selmsprenger lächelte sieghaft und sagte: »Wenn du so viel erkennst, wirst du es wohl auch glauben können, dass er niemanden so viel beglücken möchte als mich. Er weiß es nun, dass er mich am meisten erfreuen kann, wenn er den Wlado nicht mehr hasst. Und so ist es sein ehrlicher Wille, sich mit Wlado zu versöhnen. Er ist nicht schwer zu begreifen, dass es seine innige Absicht ist, alles zu lieben, was ich liebe. Begreift es nur recht.«

Die alte Frau zuckte die Achseln und entgegnete: »Wenn er wirklich für dich so viel im Stande wäre, möchte' ich ihn gerne um Verzeihung bitten. Vorläufig glaub' ich's noch nicht, dass er seinen Hass so völlig zu bezwingen vermag und dass er hinter dem, was er dir da verspricht, kein Falsch hat.«

»Ich glaub' es auch nicht«, sagte die Annibas. »Aber so gering ich nun auch noch von ihm denke, wenn er Wlado liebt, will ich ihn dafür als einen vollkommenen Menschen verehren.«

Selmsprenger erwiderte den Frauen: »Es freut mich, dass ihr nun doch mit mir zusehen wollt, wie sich Kozor zeigen wird. Gott mag euch bei diesem Zusehen recht helle Augen machen.«

»Dir auch«, sagte die alte Frau.

Dann ging sie mit der Annibas die Treppe hinauf.

*

Während eines Monats fuhren die zwei Frauen tätlich zu Wlado. Er wurde während dieser Zeit gesund. Aus seinem Stalle hatte er sich nicht fortbringen lassen. Seine Mutter war nun auch wieder bei ihm. Sie war als eine halb Irre aus dem Arreste heimgeschickt worden. Jetzt lag sie siech in dem Stalle, und Wlado pflegte sie, seitdem er wieder außer Bette sein konnte.

Selmsprenger war herzlich damit einverstanden, dass seine Mutter ihr Möglichstes für diese Armen tat, aber er selbst war während dieses letzten Monates nicht zu ihnen gegangen.

Er wusste, dass er sich dem Burschen während dessen Krankheit nicht zeigen gekonnt hätte, ohne ihn gefährlich aufzuregen.

Heute ging er mit Kozor zu Wlado. Er machte sich mit großen Hoffnungen auf diesen Gang. Es schien ihm als fast sicher, dass sich die beiden jungen Männer heute miteinander versöhnen würden.

Kozor wollte den Feind um Vergebung und um Freundschaft anflehen.

Dass Wlado von all dem, was ihm Kozor sagen wollte, nicht richtig bewegt werden würde, das hielt Selmsprenger für kaum glaublich.

Sie sahen Wlado nicht gleich, als sie auf ihr Wegziel kamen. In dem Stalle sahen sie nur die Mutter des Burschen. Sie lag unruhig schlafend auf ihrem Bette. Aus sie ein Weilchen wartend vor der Stalltüre gestanden hatten, drang vom Walde her Kindergeschrei an ihre Ohren. Ziemlich weit drinnen unter den Fichtendomen, spielten Wlados Geschwister so laut mitsammen.

Die zwei Männer gingen um den Stall herum.

Hinter der armseligen Bauschaft, unter einem Weidenbaume saß Wlado auf einem Schemel und flocht aus langen, dünnen Holzspänen einen großen, runden Futterkorb.

Er zuckte heftig zusammen, als er die beiden plötzlich vor sich sah.

Flüchtighin schien er zum Aufstehen gewillt. Aber dann blieb er doch auf seinem Platz, sah einen wie den anderen heiß feindselig an und sagte: »Da seid ihr ja. Dem Reden der Frauen hab ich's schon entnommen, dass ihr miteinander zu mir kommen werdet. Sie haben mich's auch ahnen lassen, was ihr von mir wollen werdet, obgleich sie mir, damit ich mich nicht aufrege, euer Kommen nicht ankündigten. Und sie haben mich doch aufgeregt, indem sie mir's merken ließen, was ihr von mir wollen werdet und was sie mit euch wollen.«

Er hatte während seiner Rede mit einem scharfen Schnitzmesser gespielt. Jetzt nahm er es an der Spitze und schleuderte es von sich, dass es jenseits des Baches tief im Rasen stecken blieb.

Selmsprenger setzte sich vor ihm auf den Rasen hin. Dann sah er ihn ernst und ruhig an und erwiderte ihm: »Wenn du es heute nicht einsehen würdest, dass wir zwei miteinander zu dir kommen müssten, so würde ich allein kaum noch einmal zu dir kommen, Wlado, so lieb ich dich auch hab'. Ich glaube nicht, dass du es wahrhaftig ahnst, weshalb wir zu dir kommen. Du würdest uns nicht so zornig empfangen, wenn du wüsstest, was wir dir bringen.«

»Du bringst mir deinen alten Eigensinn!« rief Wlado. »Und dein Kozor bringt mir seinen alten Hass. Und von mir verlangt ihr eine neue Seele. Ich weiß alles, alles!«

»Nein, nein, Wlado«, sagte Selmsprenger. »Wir bringen dir den Frieden, ohne den du niemals ein rechter Mensch werden, niemals glücklich werden kannst. Wir bringen dir das Glück, das dich so reich machen soll. Das du uns leicht und gerne das unsere wirst. Ja, dir müsste das menschliche Fühlen mangeln, und du könntest es auch nimmer kriegen und wärest deshalb auch keiner Achtung und Liebe wert, wenn das, was wir dir jetzt bringen, deinen Hass nicht verlöschen würde, der dich jetzt noch gegen alles andere blind und empfindungslos macht, wenn es dich nicht rein glücklich machen würde. Kozor, sage, was du ihm bringst!«

Kozor war bis jetzt stille mit gesenkten Blicken hinter Selmsprenger gestanden und hatte in sein Gesicht den Schein einer Demut gebracht, von welcher er freilich im Innern nichts verspürte. Jetzt war er sich mit ausgebreiteten Armen vor Wlado auf die Erde und sagte wie in herzinnigster, sehnsuchtsvollster Bewegung: »Meine Liebe bringe ich dir, Wlado. Ich hab' dich lange gehasst, und dieser Hass war eine Krankheit, an der ich gestorben wäre. Selmsprenger hat mich geheilt. Seine Menschenliebe war sein Mittel. Ich hab' sie genossen, und sie ist in mir aufgegangen und gewachsen wie etwas, neben dem alles Unkraut zuschanden werden muss. Es ist nichts mehr von meinem alten Übel, dem Hasse, in mir, und ich sehe jetzt, wie schrecklich es war, wie elend ich war, als ich es trug. Jetzt, wo ich es überstanden hab' und es erkenne, graut mir davor mehr als vor der Pest. Und du trägst es noch!? Du darfst es nicht mehr tragen! Du musst davon so völlig geheilt werden, wie ich davon geheilt bin! Ich kann nicht glücklich sein, solange du noch an diesem Hasse leidest! Wenn du von ihm befreit bist, dann werde ich dich lieben können, wie ich dich lieben will. Und dann werde ich glücklich sein. Und dann wird auch er glücklich sein, mit dem ich so viel um dich trauere. Sehe meine Demut und meinen guten Willen und meine Liebesbereitschaft und hasse mich nicht mehr! Und sehe, wie ich alles bereue, was ich dir jemals antat! Verzeihe mir! Und wenn dir bei meinem Flehen die Rachsucht nicht ganz vergeht, so stille sie dir! Schlage, peinige mich! Aber hasse mich dann nicht mehr!«

Wlado war aufgestanden und hatte mit wildleidenschaftlich funkelnden Blicken auf den Bittenden niedergesehen.

Jetzt antwortete er in sichtlich gesteigerter Erregung: »Du könntest mir tausend Stunden lang alles Liebe und Gute sagen, was zu sagen ist, mich tät es nicht zum Guten bewegen. Mich reizt alles, was aus deinem Munde kommt, zur Wut. Alles! Wenn ein Engel in dir sänge und das Lied von deinen Lippen käm', so könnt' es doch nimmer etwas anderes als den Teufel in mir lebendig machen. Und je mehr du mir mit allem, womit Liebe zu beweisen ist, die deine beweisen tätest, um desto mehr würd' ich sie dir mit Hass vergelten wollen. Sooft ich dich seh', fährt's so wild und heiß in mich, wie's sonst nimmer möglich wäre, und je länger ich dich sehen muss, desto mehr wächst in mir dieser Brand. Und du könntest diesen Brand mit allem, was du gegen ihn tätest, nur schüren! In deiner Hand würde jeder Tropfen Wasser für mich zu Feuer werden. Mir ist es ganz einerlei, ob du dich innerlich verändert hast oder nicht. Ich hasse dich auf alle Fälle wie immer, und mit jeder Stunde ärger wie immer. Es ist möglich, dass es dir mit allem ernst ist, was du mir jetzt sagtest. Aber mich könntest du nicht milder gegen dich machen, wenn du auch noch so gut geworden wärest. Für mich bleibst du derselbe, sooft ich dich sehe. Diese deine Hände, die du jetzt bittend zu mir erhebst, sind dieselben, unter denen ich das litt, was ich von allen meinen Leiden am wenigsten vergessen kann. Ich werde sie dir immer fingerweise verbrennen wollen, sooft ich sie sehe. Immer!

Und an diesen Augen, die jetzt so sanft an mir hängen, werde ich doch niemals andere sehen können als dieselben, die das schlimmste von allem in mich brachten, was jemals in mir war und in mir sein wird. Sie werden mich immer rasend machen. Immer! Es gibt außer dem Tode nichts in der Welt, was meinem Hass beendigen könnte. Nichts! Mir wird auch nichts Überirdisches gegen ihn helfen, weil ich ihn auch durch meinen Glauben nicht zu bekämpfen vermag. Ich bin auf Erden durch ihn unglücklich und werde im Jenseits durch ihn verloren sein. So sicher bin ich durch meinen Hass verloren, dass mich ein jeder mit Recht verdammen kann, der mich verdammen will. Ich sehe es, Selmsprenger, dass du mich verdammen willst. Und ich sehe es, dass du ihn, weil er sich gebessert hat, so viel achtest, als du mich verdammst. Ich kann dir nicht unrecht geben. Verdamme, verstoße mich vollends! Liebe ihn an meiner Statt. Ich kann nichts dagegen machen. Du bist mir mehr als ein jeder andere Mensch. Ich wird' dich schwer entbehren. Aber mein Hass ist auch stärker als diese meine Lieb'. All meine Lieb' kann ich lassen, aber meinen Hass nicht.«

Er schwieg und sah nach der Stallwand. Dort standen jetzt die Mutter Selmsprengers und die Annibas. Die beiden Frauen waren gekommen, weil sie begierig darauf waren, wie sich Wlado jetzt zu Selmsprenger und Kozor stellen würden.

Sie hatte die Reden der Männer belauscht und waren über Wlado entsetzt.

Selmsprenger war es noch mehr.

Er stand so traurig da, als ob ihm nun das Liebste gestorben wäre.

Wlado rief nun die Frauen an: »Auch ihr dürft mich verdammen. Auch ihr! Ich begreife es, wenn ihr mich nicht mehr leiben könnt, wenn ihr mich verabscheuen müsst.«

»Ja, das müssen wir auch«, sagte Frau Selmsprenger in ernstem Zorne. »Wenn sich ein Mensch so ehrlich bekehrt hat und so vollständig demütigt und so innig bittet wie Kozor, da dürfte ihm niemand so widerstehen wie du jetzt. Niemand, der ein Mensch sein will! Aber du willst kein Mensch sein. Das sehen wir jetzt! Du bist ein Scheusal trotz deiner schönen Gestalt. Ein wahrhaftiges Ungeheuer bist du! Mir tut nun um alles leid, was wir für dich getan haben. Hätten wir's gewusst, dass du so bös und herzlos wirst, wir hätten dich als Kind verhungern lassen. Einem jeden Verbrecher, der nur noch einen Funken Gefühligkeit in sich hat, will ich künftig lieber die Hand reichen als dir! Einen leibhaftigen Teufel will ich künftig lieber sehen als dich, denn das ist ein Teufel und kann nichts anderes sein, aber du könntest ein Mensch sein und willst nicht! Deine Härte und Böswilligkeit sind das Ärgste und Schlechteste, was mir in meinem Leben untergekommen ist. Komm, Annibas! Wir gehen! Den darfst du nimmer lieb haben, wenn du ein bisschen das Rechte willst, den nimmer!«

Die entsetzte Annibas schüttelte den Kopf.

»Ich hab' ihn nicht mehr lieb«, sagte sie. »Da müsst ich schon recht schlecht sein, wenn mir vor dem nicht grauen tät. Ich hab' einmal ein Herz in ihm gesehen. Ich hab' mich geirrt. Er hat keines.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Komm' auch du mit«, sagte Frau Selmsprenger zu ihrem Sohne. »Es ist schad' um einen jeden Augenblick, den du da verweilst. Komm' auch du, Kozor, du armer Bub! Dir ist viel Unrecht geschehen, aber weil du da so vergeblich um ein Gefühl gebeten hast, so wird dich Gott wo anders ein rechtes finden lassen. Geh' mit uns.«

Kozor war bis jetzt auf dem Boden gekniet und hatte das Gesicht mit den Händen verborgen. Er hatte das Weinen versucht, und es war ihm auch mit einiger Mühe gelungen. Während er jetzt aufstand und zu der alten Frau hinging, waren seine gesenkten Augenlider stark gerötet und seine Wangen von Tränen nass. Dem Selmsprenger und den beiden Frauen schnitt es bei dem Anblicke dieses Burschen, der in seinem Inneren triumphierte, förmlich in die Herzen.

»Weine nicht«, sagte Selmsprenger milde zu ihm. »Er ist's nicht wert. Die Mutter hat recht. Er ist kein Mensch und kann mit seinem harten, bösen Herzen keiner werden. So gewaltig wie an ihm hab' ich mich noch an nichts anderem geirrt. Gott soll mich keinen solchen Irrtum mehr erleben lassen. Kommt, wir müssen diesen Unglücklichen verlassen. Wir wollen nicht mehr zu ihm gehen und seine Rettung nicht mehr versuchen, denn daraus käm' uns nur noch mehr Entsetzten und Ärgernis. Für uns gibt es nichts mehr bei ihm zu tun. Aber Gott möge ihm gnädig sein.«

Sie kehrten sich nun alle von Wlado ab und gingen von ihm fort.

Selmsprenger ging wahrhaftig wie einer dahin, der mit seinem Teuersten auch seine liebste Hoffnung begraben hat.

Der Annibas war ähnlich zu Mute.

Selmsprengers Mutter war über den unversöhnlichen Burschen so stark empört, wie noch selten über etwas anderes.

Und Kozor freute sich hämisch darüber, dass er sie alle zu seinem Nutzen und seinem Ansehen so stark zu betrügen vermocht hatte.

Bei seinem Jubel stellt er sich auf dem ganzen Heimweg todtraurig.

Wlado lehnte eine Weile blass und vor Erregung fast ohnmächtig an der Stallwand. Dann wankte er nach der Türe und sah mit Blicken, in denen sich unsägliche Schmerzen malten, auf seine schlafende Mutter hinein.

Er hätte ihr es klagen mögen, dass er den Selmsprenger verloren hatte.

Aber er wusste, dass sie ihn nicht verstanden hätte, wenn sie auch wach gewesen wäre.

Du könntest mich verstehen, wenn dich das Unglück nicht um den Verstand gebracht hätte, dachte er. Du würdest mit mir klagen und weinen, wenn du noch wie einst fühlen könntest und Tränen hättest, und würdest meinen Hass verstehen und mich dabei nicht für so schlecht halten wie sie alle.

Und du würdest es mit mir sagen, dass er mich niemals hätte verlassen dürfen. Niemals! Er lehnte sich an den alten, morschen Türpfosten und weinte.

*

Bei Wlado und den Seinen kehrte die furchtbarste Armut ein.

Er fand keine Arbeit, die ihm etwas Genügendes eingetragen hätte. Wochenlang ging er wieder auf der Arbeitssuche herum. Dann gab er sie auf.

Er wäre dann nicht mehr im Stande gewesen, als Tagelöhner oder Knecht etwas zu verdienen.

Seine kranke Mutter bedurfte dann auch seiner Aufsicht und Pflege zu sehr, als dass er sie einen Tag oder auch nur eine Stunde hätte verlassen dürfen. Und ihn selbst hatte die Not auch so müde gemacht, dass er sich zu schwerer Arbeit zu schwach fühlte. Auf eine wahrhaft armselige Weise wurden seine kleineren Geschwister die Familienerhalter.

Sie schufen Vorräte von Schwämmen und Beeren in den Stall und erbettelten in den Dörfern der Gegend Brot und Mehl.

In der Potkolnica bettelten sie nicht. Sie hätten hier nichts bekommen.

Und dem Selmsprengerhofe wichen sie auf weiten Umwegen aus, weil es Wlado so wollte.

Von Zeit zu Zeit flocht der unglückliche junge Mensch einen Futterkorb fertig. Den mussten sie dann immer viele Tage lang in fernen Dörfern herumschleppen, ehe sie irgendwo einen halben Rubel dafür bekamen.

Sie hungerten und litten wie kaum eine andere Familie in der Gegend.

Selmsprenger gab sich unterdessen viel Mühe, Wlado zu vergessen. Es gelang ihm nicht, wie er wollte.

Er brachte ein tiefes Leid um den einstigen Liebling nicht aus dem Herzen.

Aber er blieb überzeugt, dass Wlado dieses Leid nicht verdiente und dass es kein gotterlaubtes war.

Kozor tat vieles, damit Selmsprenger auch den verlorenen Liebling vergaß. Er brachte sich nicht mit Heuchel und Schmeichel in die Gunst des Mannes, teilweise war es ihm auch wirklich von Herzen um sie zu tun.

Bei all seinem Falsch blieb er seinem Wohltäter doch innig dankbar und zugeneigt.

Selmsprenger musste aber gerade bei Kozor immer an Wlado denken und zwischen ihnen immer aufs Neue unterscheiden, so endgültig er da auch schon unterschieden hatte.

Er verehrte Kozor als einen guten, gefühlvollen Menschen, aber lieb haben hätte er ihn nun und nimmer gekonnt wie vormals den Waldo.

Als einen tüchtigen Arbeiter achtete er den Burschen auch bald genug. Kozor ließ es sich auf dem Hofe so gut als möglich gehen, aber er leistete dafür auch etwas Entsprechendes. Nach etlichen Monaten fühlt er sich hier ganz vollständig daheim und wurde auch von allen Bewohnern des Hofes als hierher gehörig betrachtet.

Aber dann musste er doch wider sein Wollen und Erwarten ganz plötzlich in seine Heimat zurück.

Die Mächtigen seines Vaterlandes waren in eine furchtbare Geisteswirrnis und Verblendung gekommen, und sie wollten den Krieg haben.

Da musst Kozor Soldat werden. Er hätte seine russische Heimat, die er ja nicht liebte und welcher er sich zu nichts verpflichtet fühlte, lieber in ein Meer versinken sehen, als dass er sich in ihre Dienste stellte. Er fügte sich aber doch der Gewalt seiner Obrigkeit und nahm mit wildem Weh von seiner neuen Heimat Abschied.

Was ihm bei diesem Abschiede aber doch einigermaßen tröstete, war die dick gefüllte Geldbörse, welch ihm Selmsprenger mitgegeben hatte.

Selmsprenger war es um Kozor mächtig leid. Und er hielt es für ein grausames Geschick, dass der Bursche, in welchem nun hier schon wirklich manches richtige, liebende Verständnis für deutsches Wesen erweckt worden war, gegen Deutsche kämpfen sollte.

Aber Kozor wurde dennoch bald ein tüchtiger Soldat.

Er kam zunächst in eine kleinrussische Stadt zu einem Regimente, dem fast lauter sehr weltunkundige kindlich einfältige Wogulen angehörten. Mit seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften unterschied er sich dort so vorteilhaft von den anderen jungen Leuten, dass er außergewöhnlich bald Unteroffizier wurde.

Nach einer Schlacht, in welcher er sich durch seine List und durch Glücksumstände auffallen hervortat, wurde er Offizier.

Es war kein Jahr seit der Zeit verflossen, in welcher er den Selmsprenger verlassen hatte, als er an der Spitze einer kleinen Reiterabteilung in die Pokolnica kam.

Er hatte geflissentlich durchgesetzt, dass er mit der Besetzung des Schebtawatales betraut worden war.

Hauptsächlich hatte er sich den Posten deshalb ausgesucht, weil er den Selmsprenger wiedersehen und um einen Geldunterstützung angehen wollte.

Als er von dem Rande des großen Waldes zu der armseligen Holzhaueransiedlung ritt, hatte er gemischte Gefühle.

Er gedachte dessen, was er hier an der Schebtawa gelitten und anderen zu leiden gegeben hatte.

Und es erfüllte ihn mit großer Genugtuung, sich denen, die ihn hier geschmäht und gepeinigt hatten, so recht als ein ihnen mächtig überlegener Herr zeigen zu können.

Eine heiße Lust, sich an ihnen allen grausam zu rächen, fühlte er auch.

Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich zu der Befriedigung dieser Lust reichliche Gelegenheit zu verschaffen.

Aber es lag ihm noch immer viel daran, von seinem liebsten Menschen, dem Selmsprenger, für gut und gefühlvoll gehalten zu werden.

Um des Selmsprengers willen wollte er auf die Rache verzichten. Weil er am unteren Ende der Rodung aus dem Walde ritt, war die erste Bauschaft, zu welcher er nun kam, der Zwihenner'sche Weidstall.

Da verlangte es ihn gewaltig danach, sich in seiner jetzigen Macht und Herrlichkeit zunächst Wlado, dem Todfeinde zu zeigen.

Vor dem Stalle gebot er seiner Abteilung Halt.

Wlados Geschwister, die zuvor auf der Wiese gespielt hatten, waren vor den herannahenden Reitern furchtsam in den Stall geflüchtet. Sie verriegelten die Türe und spähten durch die Holzrisse angstvoll hinaus.

Wlado ängstigte sich mit ihnen.

Nach allem, was er in der letzten Zeit von russischen Reitern gehört und gesehen hatte, war seine Furcht begründet genug. Freilich fürchtete er nur für seine Lieben und wollte sein Leben nur um ihretwillen erhalten.

Von seinem eigenen Elend hätte er sich längst auf eine jede Art erlösen lassen mögen, wenn nicht die anderen dadurch betroffen worden wären.

Seine Mutter zitterte in ihrem Bette mit ihm. Ihr Lebenslicht war seit Tagen dem Verlöschen nahe, und es flackerte jetzt zu seinem Ende nicht mehr so wild wie früher.

Sie war in ihren letzten Stunden bei einem klareren Bewusstsein als zuvor, obgleich sie mit ihren erhellten Sinnen eine größere Not als jemals sah und empfand.

Wlado sah durch eine Wandklunse und erkannte Kozor.

Er taumelte zurück und lehnte sich, als ob er von einer Kugel getroffen worden wäre, an einen Kasten. »Gott, erbarme dich unser«, stammelte er. »Der Kozor.«

Die Mutter nahm einen Rosenkranz, der neben ihr an der Wand hing, und begann mit bebenden Lippen und klappernden Zähnen zu beten.

Auch die Kinder fielen auf die Knie.

Kozor trat ruhig, stolz aufgerichtet ein.

Die Türe schloss er hinter sich zu.

Die Kinder und die kranke Frau begannen laut weinend und schreiend darum zu bitten, dass er ihnen und dem Wlado nichts antun möge.

Kozor stand ein Weilchen ganz stille da.

Die Flehenden beachtete der kaum.

Er sah nur Wlado an.

Seine Blicke verschlangen den armen Menschen förmlich. Es war mehr Grausamkeit in ihnen als in denen eines Tigers, der sich eben auf sein Opfer werfen will.

Aber er widerstand vorläufig den wilden, wollüstigen Begierden und Antrieben seines Hasses. Ich könnt' jetzt alles, wonach es mich gelüstet, mit die tun, dachte er. Aber dann könnt' ich doch nicht mehr zu Selmsprenger gehen. Und ich will doch zu ihm. Und ich müsst' mir doch klugheitshalber und schandenhalber seine gute Meinung erhalten, wenn ich's nicht aus Liebe zu ihm tät. Selmsprenger ist mir aber der liebst Mensch, wenn ich ihn über mein Wesen auch noch so viel belügen muss, damit er mich wiederliebt. Ja, ich muss mich ihm weiter als ein sanftes Lamm zeigen, obgleich ich etwas anderes bin. Mit Wlado so ganz nach meinen alten, bösen Gefühlen verfahren zu können, darin läg freilich mein größter Lebensgenuss. Aber der Genuss wär' zu teuer, er könnt' mich außer dem einzigen, wirklichen Freund, den ich hab', auch noch wirkliches, schönes Gut und Geld kosten, denn es wär ja möglich, dass mich Selmsprenger bei seiner wachsenden Zuneigung auch zu seinem Erben machen könnt'. Ich muss mir Gewalt antun. Und muss den Selmsprenger weiter belügen. Wenn ich mich jetzt hier besonders großmütig zeig', wird er eine mächtige, neue Freude an mir haben. Und die soll er auch haben.

Mit seinem Schweigen wollte er jetzt den armen Burschen doch ein Weilchen in einer peinvollen Ungewissheit lassen.

Er legte förmlich die hochmütige, staunende Frage in seine Mienen: »Du kniest noch nicht vor mir?«

Wlado verstand diesen Gesichtsausdruck des anderen und hielt ihn für ein furchtbares Vorzeichen.

Er sah Kozor unverwandt an, und in seinen großen, schönen Augen malte sich mit einem unsäglichen Jammer auch jetzt wieder eine heiße Feindseligkeit.

»Ich werde dich nicht für mich bitten, nur für diese Armen hier bitte ich dich«, sagte er in abgerissenen Tönen, zwischen denen seiner schwer keuchenden Brust wirklich der Atem ausging.

Kozor lächelte und fragte: »Du scheinst auch das vergessen zu haben, was ich zuletzt von dir wollte.«

Wlado sah ihn scheu forschend an und erwiderte nichts.

»Nun?« fragte Kozor. »Als ich zum letzten Male vor dir auf dem Boden lag, was wollte ich da von dir?«

Wlado wurde in jähem Wechsel rot und blass. »Meine Freundschaft?« brachte er rau hervor.

»Ja, richtig«, sagte Kozor. Dann fragte er weiter. »Weshalb glaubst du, dass ich je etwas anderes von dir wollen könnte? Weil ich ein mächtiger Mann geworden bin? Glaubst du, dass alle Guten schlecht werden müssen, wenn sie zu Macht und Gewalt kommen? Oder glaubst du, dass ich damals geheuchelt habe?«

»Nein«, antwortete Wlado. »Ich glaub' es, dass du damals schon zu den Guten gehörtest. Und ich möchte es jetzt um der Meinigen willen gerne glauben, dass du auch jetzt noch zu den Guten gehörst.«

»Und fürchtest dennoch, dass ich jetzt mit meinem alten Hasse zu dir komme?« sagte Kozor n einem weichen, vorwurfsvollen Tone.

Wlado fühlte nun schon eine mächtige Erleichterung. Und die Seinigen weinten nicht mehr.

Sie sahen den herrlich schönen Mann staunend und ehrfürchtige an.

»Ich will es gerne einsehen, dass mein großer Schrecken unbegründet war«, sagte Wlado. Er zwang sich dabei mit Mühe zu einem demütigen Tone.

Kozor sah es, wie schwer dem anderen die wenige, begütigenden Worte wurden.

Er lächelte wie in barmherziger Nachsicht. Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Du willst nur um der Deinigen willen meine Güte. Im Übrigen ärgert sie dich. Du weißt, dass ich mir durch sie das Herz des Selmsprengers erobert habe. Weil du mir das neidest und weil du mich auch in deiner großen Feindschaft sonst lieber für durch und durch schlecht als für brav ansehen würdest –– willst du es wirklich nur um der Deinigen willen, dass ich jetzt gütig sein soll. Ich weiß es wohl, du würdest dich jetzt zu keinerlei Demut zwingen, wenn die Furcht um die Deinigen nicht in dir wäre. Hättest du deine Lieben nicht, so würdest du zu mir sagen: Ich will deine Güte nicht. Ich lass' mich von dir lieber auf eine jede Art totschinden, als ich deine Güte will und annehme. Ist da nicht so?«

Wlado antwortete nicht. Er hätte gerne mit einem festen, trotzigen ‚Ja' geantwortet. Aber er wagte es nicht, weil er über das Wesen Kozors noch immer etwas im Zweifel war.

Kozor sah ihn wieder ein Weilchen stille an, hernach sagte er: »Du erkennst es noch nicht klar, was ich von dir will. Hör' mich denn an: Ich bin gekommen, es dir zu beweisen, dass ich noch immer deine Freundschaft will. Du bis ganz in meiner Gewalt. Ich kann vollständig so mir dir verfahren, wie es mir beliebt. Und ich will trotz meiner Macht auch jetzt vor dir niederfallen und dich bitten, dass du mich nicht mehr hassen sollst. Ich denke mir, das müsste dich doch erweichen, wenn dich überhaupt etwas zu erweichen vermag.«

Er sah ihn so innig flehend an, als ob er nun wirklich kein Falsch in sich gehabt hätte. Und er streckte die Hände gegen den anderen.

Wlado rang gewaltig mit sich selbst. Er hielt es aus Gründen der Klugheit, Rechtlichkeit und Vernunft für geboten, sich in Kozors Arme zu legen.

Aber sein Hass ließ ihn trotzdem keinen Schritt und keine Bitte vollbringen.

Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und stöhnte: »Ich kann es nicht. Ich kann es nicht.« Jetzt schrie die kranke Frau im Bette auf: »Knie vor ihm! Knie! Sonst spring' ich in meiner letzten Stunde aus dem Bette und reiß dich nieder. Er ist gut, er ist menschlich durch und durch! Und du bist schlecht. Du bist ein Narr, wenn dich seine Gnade nicht rührt und bekehrt, ein Narr!«

Dann bat sie mit gefalteten Händen den Kozor: »Erbarme dich seiner! Der Schrecken hat ihn wahnsinnig gemacht!«

»Erbarme dich seiner!« bettelten auch die Kinder.

Kozor antwortete ihnen in gütigen Tönen: »Eure Bitten sind überflüssig. Ich weiß, was ich tun soll.« Dann fügte er die Frage hinzu: »Ihr lebt in großen Elend, nicht wahr?«

Die Frau und die Kinder schilderten ihm nun, so eifrig sie es vermochten, ihre Not.

Sie überboten immer eines das andere in beredtem Vertrauen.

Er hörte ihnen scheinbar teilnahmsvoll zu. Dann ging er plötzlich zu der Türe und rief einige seiner Soldaten zu sich.

»Da oben ist das Schloss des Gutsherrn, des Halladrew«, sagte er zu ihnen. »Ihr werdet dort in den Speisekammern viele gute Esswaren finden. Bringt sogleich das Beste von jenen Vorräten hierher. Sie sind ehrliche, arme, hungrige Menschen, und dort niederträchtige, übersatte Prasser. Nehmt ihnen das Beste. Aber tut ihnen nichts zu leide. Ich will hier nur Gerechtigkeit üben.«

Die Soldaten eilten davon. Kozor setzte sich auf einen Stuhl zu dem Bette der alten Frau.

Die Kinder stellten sich mit Gesichtern, aus denen eine große Verehrung sprach, vor ihn hin.

Er hatte die Herzen dieser Leichtgläubigen, Zutraulichen bereits erobert.

Innerlich nahm er diese Eroberung mit einem hohnvollen Spotte auf.

Ich möchte' eure lebendigen Leiber braten, anstatt für euch um Braten zu schicken, dachte er. Aber ich will euch füttern, um dem Selmsprenger eine Freude zu machen. Je edler und großmütiger ich mich hier zeige, desto glücklicher wird er sein. Er soll bei unserem Wiedersehen ein ganzes Glück genießen. Er wird mich dafür hübsch bezahlen.

Nach Wlado sah er sich jetzt gar nicht um. Der arme, junge Mensch lehnte jetzt in einer Ecke des Stalles und verbarg mit den Händen sein Gesicht.

Seine Mutter sah bekümmert nach ihm hin.

Aber die Kinder schienen nur den schönen, gütigen Soldaten sehen zu wollen.

Sie erzählten ihm von ihrem schweren Leben.

Und er stellte ihnen mit schönen Worten seine Hilfe in Aussicht.

Die Soldaten brachten etliche Körbe und Säcke voll der besten Lebensmittel.

Sie hatten von wohlgenießbaren Sachen nicht gar viel im Schlosse zurückgelassen.

Dem Halladrew drohte deswegen freilich keine Hungersnot. Er lebte seit Wochen wohlverpflegt in einer großen russischen Stadt.

Kozor befahl den Kindern zu essen.

Und sie aßen wie noch niemals in ihrem bisherigen Leben.

Der alten Frau reichte er ein Glas des feinsten Weines.

Und die Arme trank auf sein Glück.

Wlado glaubte es zunächst nicht dulden zu können, dass die Seinigen etwas von Kozor annahmen.

Aber als er die Kinder in ihrem furchtbaren Hunger über die Esswaren herfallen sah, hätte er ihnen das unmöglich auch nur mit einem Worte zu verbieten vermocht.

Sein Mitleid für diese Armen war stärker als sein grimmiger Trotz. Und als er sie dann, nach vielen entsetzlichen Hungertagen, bei den köstlichen Sachen im Genusse schwelgen sah, da empfang er ihr Glück mit ihnen.

Er wollte sich dieses Glücksgefühles mit seinem Hasse erwehren.

Aber das gelang ihm nun zu seiner eigenen Verwunderung nicht. Als sie gehörig satt waren, sprachen sie miteinander ein Dankgebet.

Sie fühlten den Dank gar mächtig.

Und Wlado fühlte mit ihnen.

Er wollte sich es einreden, dass er ihn nur gegen Gott fühlte, zu dem sie in ihrem Gebete sprachen. Aber dann musste er es sich eingestehen, dass er nun auch für den Kozor trotz allen Hasses ein Dankbarkeitsgefühl hatte.

Da wundere er sich nun noch weit mächtiger als zuvor über sich selbst.

Und er war plötzlich so eigenartig über sich selbst erfreut wie noch niemals zuvor in seinem Leben.

Nach dem Gebete der Kinder machten sie alle miteinander das Kreuzeszeichen.

Er und Kozor machten es zu ganz gleicher Zeit.

Wlado sah dabei die rechte Hand des Kozor an.

Er hatte sonst vor Kozors Leibe einen unsäglichen Abscheu empfunden.

Aber während sich Kozor bekreuzigte, vermochte Wlado dessen Hand nicht wie sonst mit Verachtung zu betrachten.

Es gäbe denn doch etwas, wodurch er auch für mich ein anderer werden könnte, dachte Wlado. Gott hat mehr Mittel, als ich glaubte. Er könnte selbst meinen Hass in etwas Besseres verwandeln. Ich fühle es jetzt.

Es taumelte ihm förmlich bei seinem übergewaltigen Empfingen.

In seinem Gesichte malten sich seine Verwirrung und ein Schein seines neuen Empfindens.

Kozor las in dem Gesichte seines Feindes.

Und da befiel ihn ein Schrecken.

Er hasst mich nicht mehr wie immer, dachte er. Er fühlt plötzlich auch etwas anderes für mich. Ich hab' seine Dankbarkeit erweckt. Und das wollt' ich ja gar nicht brauchen! Ich will ja dem Selmsprenger nicht den versöhnten Feind bringen! Ich will ihm sagen können, dass mich Wlado trotz vielem, was ich nun für ihn tat, weiter hasst! Ich darf es nicht darauf ankommen lassen, dass mich Wlado beim Wort nimmt, indem er mir ein gutes Wort sagt! Ich muss mich schleunig von hier davon machen, um den Selmsprenger nur von nur von mir selbst Gutes sagen zu können.

Er stand rasch auf und sagte: »Ich muss nun eilig fort. Meines Dienstes wegen. Auf Wiedersehen!«

Er lief davon, ohne dass ihm noch eines mit einem Wörtchen hätte danken können.

Seine Soldaten ließ er in der Potkolnica. Er selbst ritt nach dem Selmsprengerhofe.

Als er aus dem Walde auf die Gutsfelder kam, ward er plötzlich in große Aufregung versetzt.

Er sah, dass die schönen Saatengefilde schändlich zugerichtet waren.

Ein großes Kleefeld war schlechter zerwühlt, als wenn es ein Jahr lang tausend Schweinen zum Aufenthalt gedient hätte.

Und durch den schönen Wiesenboden klaffte eine hässliche Wunde, ein langer, unordentlich aufgeworfener Schacht.

Und dann sah Kozor, dass der Selmsprengerhof abgebrannt und von Mensch und Tier verlassen war.

Es standen nur die von der Glut rissigen Mauern des kürzlich noch so schönen Hauses da.

Auch die drei hölzernen Arbeiterhäuser fand Kozor zerstört.

Von einem war ein wirrer Holzhaufen übrig.

Es sah wie vom Wirbelwinde zerfetzt aus. Zwischen den Trümmern kroch suchend ein alter, weißköpfiger Arbeiter herum.

»Kozor! Kozor!« schrie der Alte. »Hilf mir! Unter dem Holze liegt mein Enkelkind begraben.«

»Wo ist Selmsprenger?« fragte Kozor.

»Fort, fort«, sagte der Alte. »Geflüchtet, wer weiß, wohin. Oder erschlagen. Ich weiß nichts von ihm. Wir mussten so schnell davon, als die Kosaken kamen! Wir konnten nicht mehr eines nach dem anderen sehen. Such' ihn nicht. Du wirst ihn schwerlich mehr finden. Hilf mir mein Kind suchen.«

Kozor sah eine Weile mit starren Augen durch die Fensterhöhlen des Hauses in das Himmelsblau.

Dann zuckte er plötzlich mit den Achseln, tat einen leisen, seltsam leichtfertigen Pfiff, riss das Pferd herum und sprengte wieder der Potkolnica zu.

Nach dem armen Alten sah er sich nicht mehr um.

Es geschah ihm sehr leid um den Selmsprenger und um den schönen Besitz.

Aber er dachte sich über dieses Leid hinwegzusetzen.

Ich wird' ihn nicht mehr finden, murmelte er wehmütig. Schad' um ihn. und schad' um die Erbschaft! Aber dann pfiff er zu seinem Troste ein Lied.

Weil ich nur nicht mehr arm und hilflos bin wie einst, dachte er. Ich werde auch ohne ihn leben und es ohne die Erbschaft zu etwas bringen.

Er wusste sich gegen sein Weh zu helfen.

Als er die Pokolnica wieder sah, dachte er: Jetzt freuet euch, ich da unten! Der Selmsprenger ist nicht mehr da! Um seinetwillen hätt' ich euch verschont. Soll ich euch verschonen, weil ich noch eine geringe Hoffnung haben darf, ihn wiederzusehen? Nein! Wenn es sich herausstellt, dass ich ihn nicht mehr sehen werde, so würde ich es bereuen, mich nicht an euch gerächt zu haben. Nein! Ich will jetzt auf die Rache nicht verzichte, die ich mir so lange als meinen höchsten Genuss erträumt habe.

Er hielt seine wilde Lust nicht mehr zurück.

Er ließ sie in sich empor lohen.

Seine Augen funkelten in furchtbarer Gier, und seine Wangen brannten förmlich.

»Ich hab' oben im Walde feindliche Vorposten gesehen«, belog er seine Soldaten. »Deshalb passt es mir nicht, dass diese Hütten hier stehen bleiben. Sie könnte leicht dem Feinde eine willkommene Deckung bieten.« Und dann befahl er ihnen: »Zündet diese Hütten an! Eilig! Und jagt all die Leute von hier fort! Es muss sein! Wir müssen sie unbarmherzig mit Schlägen antreiben, wenn sie nicht gehen wollen! Wir dürfen ihnen keine Zeit zu irgendeinem Packen ihrer Sachen lasen! Zündet auch den Stall da unten an, in welchem die armen Leute wohnen! Und bringt mir den schönen, jungen Menschen, der dort bei der alten Frau und den Kindern wohnt. Ich habe jetzt Grund, ihn für einen Spion zu halten. Gebt wohl acht, dass ihr ihn mir ganz unversehrt bringt!«

Sie vollzogen seine Befehle.

Die Holzhauerhütten wurden verbrannt und die Potkolnaken verjagt.

Die nicht sogleich freiwillig ihr Hab und Gut verlassen wollten, wurden mit Gewalt fortgetrieben. Kozor hieb auf die Unglücklichen ein, dass ihr Blut spritzte.

Den Wlado brachten sie ihm, ehe noch alle Hütten brannten.

Der arme Mensch war von seiner sterbenden Mutter weggerissen worden.

Sie hatte es nicht mehr sehen müssen, wie sie ihn aus dem Stalle schleppten.

Sie war in dem guten Glauben gestorben, dass nun Wlado seinen Hass überwinden würde.

Wlados Geschwister hatte man mit den übrigen Potkolnaken fortgetrieben.

Kozor sprach nichts, als sie ihm den Feind brachten.

Er sah ihm mit gierigen Blicken in das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht.

Dann schnürte er ihm mit einem Stricke die Hände zusammen.

Das länger Strickende befestigte er an seiner Leibgurte.

So musste Wlado mit Kozor gehen, während dieser auf die Potkolnaken losschlug.

Als die armen Leute fort waren, machten sich es die Soldaten in den Räumen des Schlosses bequem.

Kozor führte Wlado in das vornehm eingerichtete Schlafgemach Halladrews.

Er warf den Gefesselten auf einen großen Polsterstuhl hin.

Dann sah er in dem Zimmer herum und sagte. »Ein feines Gemach. Es soll nun mein Lustgemach sein.«

Während er sich dann gemächlich seines Rockes und seiner Reiterstiefel entledigte, sprach er weiter: »Ich kann es dir nicht sagen, wie mir zu Mute ist. So lustvoll ist es kaum einem im Brautgemach. Und kaum einer Katze, die eine Maus gefangen hat. Deshalb möcht' ich nun fast meinen Hass eine Liebe nennen. Aber dir brauch' ich ihn nicht zu schildern, du kennst ihn ja und hast nun gewiss auch den deinen wieder, den du vorhin schon ablegen wolltest. Es täte mir leid, wenn du ihn nicht mehr ganz empfinden könntest. So wie ein Liebender Gegenliebe will, so will ich deinen Hass, um mich deines Besitzes richtig freuen zu können. Ich weiß es, du verstehst mich.«

Wlado antwortet nicht.

Er befahl leise sein Leben, an dem ihm nun nichts mehr lag, dem Himmel.

Seine Augen richteten sich nach einem großen Erlöserbilde, das über dem seidenen Bette an der Wand hing.

Kozor sah auch nach dem Bilde.

Dabei nahmen seine Mienen einen Ausdruck der Scheu an.

Er schüttelte den Kopf.

Dann sprang er auf das Bett und wollte das Bild von der Wand nehmen.

Es war aber so fest angemacht, dass er es ohne Werkzeug und ohne Gewalt nicht sobald hätte losbringen können.

Und er scheute sich hier Gewalt anzuwenden.

Ein Weilchen sann er nach.

Dann verhüllte er das Bild mit einem samtnen Teppich.

»So«, sagte er. »Vor diesem da, hätt' ich mich dessen, was ich tun muss, doch etwas geschämt. Ich bin ja trotz allem noch ein Christ. Vor diesem da hab' ich noch Achtung.«

Er entkleidete und wusch sich.

Dann legte er Wlado auf das Bett und band ihn dort mit Schnüren fest.

Und dann begann er ihn zu peinigen.

Er peinigte ihn zwei Tage und zwei Nächte lang, und seine Rachsucht nahm dabei eher zu als ab. Manchmal war er nahe daran, seinem Opfer den Garaus zu machen.

Aber was ihn immer wieder daran hinderte, war das Erlöserbild.

»Das Äußerste bin ich wegen dieses da oben doch nicht im Stande«, sagte er einmal auf das verhüllte Bild deutend. »Wenn es nicht hier hinge, hätt' ich dir schon mit meinen Zähnen das Herz herausgerissen.«

Er war sich nicht im Klaren darüber, wie lange er sein Rachewerk fortsetzen und wie es endigen würde.

Er genoss es mit nimmer müder, gedankenloser Lust und nahm nur um dessentwillen, der über dem Bette hing, von einem gar zu gewaltsamen Zugreifen Abstand.

Tagsüber ging er zu seinen Soldaten und ritt auch mit ihnen aus.

Dann kehrte er immer wieder zu dem auf dem Bette festgeschnürten Wlado zurück.

Am dritten Tage wurde ihm aber das Zurückkehren nicht möglich.

Eine Schar österreichischer und deutscher Soldaten hatten ihn und seine Schwadron in die Flucht geschlagen.

Es kamen Deutsche und Österreicher in die Pokolnica.

Sie fanden Wlado auf dem seidenen Bette Halladrews unter dem verhüllten Erlöserbilde.

Es gelang ihnen, den armen Jungen am Leben zu erhalten.

In etlichen Tagen kräftigte er sich wieder so weit, dass er in dem Schlosse herum gehen und sich seinen Rettern mit allerhand kleinen Dienstleistungen nützlich machen konnte.

Innerlich vermochte er ihnen aber für seine Rettung nicht recht dankbar zu sein. Er sah sich nur zu großen Leiden und zu allzu kleines Lebenszwecken gerettet.

Am schwersten trug er an dem Kummer um seine kleinen Geschwister.

Er war überzeugt, dass sie irgendwo im Russland jämmerlich zu Grunde gehen müssten.

Es war ihm unmöglich, sich stille darein zu finden, dass er nicht durch die kämpfenden Schwarmlinien hindurch zu ihnen konnte. Er ging fast niemals anders als mit verweinten Augen unter den Deutschen im Schlosse um, und wenn ihn die Mitleidigsten von ihnen zu trösten versuchten, so konnten sie ihn damit nur bestenfalls zu einem neuen Weinen bringen.

Wlado hatte jetzt auch einen Selbstekel, der ihm alles Hoffen auf neue Lebenslust unmöglich machte.

Er fühlte sich, seitdem er seinem Todfeinde preisgegeben gewesen war, so furchtbar schmählich erniedrigt, dass er niemals mehr eine rechte Freude an sich selbst haben zu können glaubte.

Während er auf seinem Marterbette sein Leben für verloren gehalten hatte, war schon mehr stumpfe Ergebenheit als Hass in ihm gewesen, aber je mehr er jetzt bei seinem neuen Leben alles das betrachten musste, was ihm Kozor angetan hatte, desto stärker erneuten sich wieder sein Hass und seine Rachlust.

Er musste sich es bald eingestehen, dass ihn sein Hass wieder mehr als alles Übrige bewegte.

Zwei Wochen blieb er bei den Soldaten im Schlosse, und dann verließ er es auf eine unvorhergesehene Weise.

Ein Teil der Truppe war eines Morgens mit Siegesjubel in das Schloss zurückgekehrt.

»Wir haben die Reiterschwadron, die wir unlängst von hier verjagten, vollends niedergeschossen«, sagte der Führer der Truppe zu Wlado. »Sie liegt hinter dem kleinen Waldteiche. Derjenige, der dich so viel gepeinigt hat, wird wohl auch dabei liegen.«

Wlado geriet in eine unbeschreibliche Aufregung.

»Ich muss es wissen, ob er auch dabei liegt!« rief er. »Gleich jetzt muss ich mich davon überzeugen. Gleich jetzt!«

»Das ist unmöglich«, sagte ihm der Truppenführer. Du kannst nicht durch den Teich. Von drüben her schießen russische Jäger aus dem Holze. Und ihr Wall ist die gefallene Schwadron.«

Wlado ließ sich nicht mehr zurückhalten.

Er lief dem Teiche zu.

Es verlangte ihn mit wildem Ungestüme nach Gewissheit.

Er sagte sich: Wenn ich ihn als Toten finde, dann wird mir viel besser werden. Wenn ich weiß, dass er sich nicht mehr der Rache freut, die er an mir genommen hat, dass wird mich auch das Feuer meiner Scham und Wut nicht mehr brennen wie jetzt. Mir wird leichter werden, wenn ich ihn als Toten sehe!

Bei dem Teiche kam er zu einer wohlgedeckten deutschen Schwarmlinie.

In einem Graben, zwischen zwei Soldaten, die er kannte, riss er sich die Kleider vom Leibe und dann sprang er über die Deckung.

Sie wollten ihn zurückhalten.

Es gelang ihnen nicht. Er hüpfte in den Teich und durchschwamm ihn.

Von drüben krachten Schüsse, die ihn nicht trafen.

An dem Menschenwalle stand er dann plötzlich hoch aufgerichtet den russischen Jägern gegenüber und schrie sie in ihrer Sprache an: »Seht, was ich hier will! Und dann schießt auf mich, wenn ihr euch nicht schämt!«

Es zielte nun keiner mehr nach ihm.

Man war hüben und drüben auf ihn neugierig.

Er suchte Kozor.

Und er vergaß bei dieser Suche derer, die ihm zusahen.

Bei der macht seiner Gefühle kam er gar nicht zum Bewusstsein dessen, dass er mehr als jemals zuvor seine leiblichen Kräfte anstrengt, indem er an dem fürchterlichen Walle schichtete und hob. Und neben seinem heißen Verlangen, Kozor als Toten zu sehen, empfand er auch kein Grausen vor all den Toten, unter welchen er ihn suchte.

Nach vielen starren, kalten Leibern, hob er auch einen weichen, warmen.

Da durch strömte ihn, so sehr die Aufregung auch seine Sinne betäubt hatte, ein seltsam wohliges Gefühl.

Es war ihm wohliger wie einem, der nach stinkenden Eismassen einen lind durchwärmten, duftenden Ofen umfasst.

Wlado hatte einen jungen, schönen Menschen in den Armen, der nun während der Berührung nach einer Ohnmacht zu sich kam.

Der Verwundete schien zunächst in Wlado ein liebes Traumbild zu sehen.

Er blickte ihn mit lichten, blauen Augen so freudig und fromm und bittend an wie einer, der sich von einem Engel aus grauenhafter Qual und Finsternis emporgehoben fühlt.

Hernach kam immer mehr heißes Flehen in seine Blicke.

Er hing sich mit beiden Armen an Wlados Hals und wie zwischen höchstem Glücke und entsetzensvollster Angst:

»Bleib' bei mir! Und hilf mir!«

»Ja«, sagte Wlado. »Ja. Sei nur ganz getrost.«

Es wäre ihm unmöglich gewesen, etwas weniger Bestimmtes und Gutes zu sagen. er hatte nun plötzlich stärkere Gefühle als seinen Hass.

Er war voller Glück darüber, dass er unter den Toten den Lebendigen gefunden hatte, und voller Liebe und Mitleid für den Gefundenen.

Nebenbei dachte er freilich auch jetzt fast immerzu an Kozor.

Aber es kam nun deswegen doch in seinem Inneren zu keinem Streite.

Er wollte zunächst den Verwundeten retten und dann weiter nach Kozor suchen.

Ein Weilchen wusste er nicht, wohin er sich mit dem jungen Menschen wenden sollte.

Dann entschloss er sich, ihn schwimmend durch den Teich zu tragen und in das Schloss zu bringen.

Aber als er sich mit seiner Last dem Wasser zukehrte, schrien ihn die russischen Jäger an: »Halt! Keinen Schritt gegen die Deinigen hin, sonst schießen wir!«

Er sah sich gezwungen, den Verwundeten hinter die russische Front zu tragen. Über tote Menschen und Pferde stieg er mit ihm zu den Russen hinüber.

Es schoss einer von den Deutschen her. Die Kugel pfiff nahe über Wlados Kopf dahin.

Er warf sich nieder und schleppte den Verwundeten kriechend über den Wall.

Drüben schrien ihn die Jäger an: »Trag' ihn hinter die Front! Nach dem Heuschuppen, der dort hinten auf der kleinen Lichtung steht!«

Er gehorchte ihnen um des Verwundeten willen.

Einer der Jäger, der eben zuvor durch die Schulter geschossen worden war, half ihm ein Stückchen weit tragen. Dann fiel dieser Helfer ohnmächtig hin. Wlado trug seine liebe Last allein weiter.

Sein Ziel, der Heuschuppen, stand mitten auf einer kleinen Waldwiese neben einem hellen Quellenbächlein.

Wlado stieß mit dem Fuße die halbangelehnte Türe des alten, strohgedeckten Bretterviereckes auf und sah, dass drinnen auf der ellenhohen Heuschütte zwei verwundete, bewusstlose Männer lagen.

Hinter ihnen kauert ein dritter, der nun mit einem zerfetzten Hemde und kurzen Reiterhosen bekleidet war.

Wlado gab es einen Riss, als er diesen Dritten sah.

Es war Kozor.

Einen Augenblick erlahmten Wlados Arme, und es fehlte nicht viel, dass er seinen Verwundeten jählings hätte fallen lassen.

Aber es gelang ihm doch, so viel Kraft zusammen zu raffen, dass er den armen, jungen Menschen sanft genug auf das Heu zu betten vermochte.

Hernach sank er freilich auch selber neben dem Liegenden hin.

Ein Weilchen war er vor Erschöpfung und Schrecken einer Ohnmacht nahe. Dann brachte er sich aber doch langsam vom Lieben zum Sitzen.

Sein Verwundeter hatte indessen eine furchtbare Angst um ihn bekommen.

Er hatte sich mit aller Gewalt emporrichten wollen und war stöhnend zurück gesunken.

»Du hast doch für mich vernichtet!« jammerte er. »Wenn du stirbst, dass werd' ich erst recht mit Leiden zu Grunde gehen müssen!«

»Fürchte dich nicht«, sagte jetzt Wlado und streichelte das Blondhaar des armen Jungen. »Ich sterbe dir nicht.«

Dann sah er wieder nach seinem Todfeinde, der noch immer zu Häupten der zwei Bewusstlosen hockte.

Kozor schien schwer verwundet und zutiefst erschöpft zu sein.

An ihm schienen nur noch die großen, braunen Augen zu leben.

Sie starrten Wlado voll Staunen und Schrecken an.

In den Händen hielt Kozor einen blutigen Lappen. Er hatte eben dem einen der Männer den blutenden Kopf gewischt, als Wlado mit dem jungen Menschen gekommen war.

Wlado sah die jetzige Hilflosigkeit des Feindes.

Er war von böser Freude und Genugtuung erfüllt.

In sein Gesicht kam ein unsäglich grausam frohlockendes Lächeln.

Jetzt hab' ich dich, dachte er. Jetzt bist du ganz in meiner Gewalt. Und ich will sie ausnützen nach meinem ganzen Hasse, nach meiner ganzen Lust. Ich wollte dich als Toten finden. Aber als Lebendiger bist du mir doch noch viel lieber.

Wlado gedachte sich im vollsten Ausgießen seiner grausamen Lüste gemächlich über sein Opfer herzumachen.

Er stand langsam auf. Dann reckte und spreizte er wie im Erproben seiner Kräfte die schlanke Gestalt. Dabei sah er den Feind immerfort lächelnd an.

Kozor fletschte jetzt in wütender Verzweiflung die Zähne und fauchte fast wie eine gestellte Wildkatze.

Ein Versuch sich empor zu ränkeln, misslang ihm recht kläglich.

Mit schmerzendem Wimmern und wildem Schluchzen fiel er zurück.

Wlado tat nun langsam einen Schritt auf ihn zu.

Dann zuckte er plötzlich in gelindem Schrecken und hielt den zum zweiten Schritte vorschleichenden Fuß an.

Wlados junger Verwundeter hatte sich plötzlich mit sanfter Stimme gemeldet.

»Ich will die etwas bitten«, hatte er gesagt.

Wlado hatte den jungen Menschen wahrhaft ein Weilchen vergessen.

Deshalb erschrak er nun bei all der Leidenschaft, die ihn erfüllte, ein wenig über sich selbst.

Er zwang sich dazu, dass sein grausames Lächeln zu einem gütigen wurde, während er auf seinen Verwundeten niedersah.

Die Augen des jungen Menschen waren mild forschend und innig bittend nach ihm emporgerichtet.

Da schämte sich Wlado plötzlich auch ein wenig seiner selbst.

In sein weißes Gesicht kam eine leichte Röte.

»Was willst du?« fragte er den vor ihm Liegenden.

»Trinken«, war die Antwort.

»Ja, ja, das sollst du auch«, sagt Wlado. »Das muss jetzt das Erste ein. Verzeihe, dass ich hier nicht vor allem daran dachte, dich trinken zu lassen.«

Er sah es ein, dass er hier in seiner Leidenschaft einer wichtigen Pflicht vergessen hatte, und seine Scham vermehrte sich noch. Kozor kommt mir ja nicht aus, dachte er. Erst muss ich meinen Jungen laben. Die Lust an Kozor will ich mir später stillen. Hier vor dem Jungen könnte ich das so wie so nicht. Dieser Gute soll nicht wissen, wie böse ich sein kann. Ich werde mir Kozor für später aufheben. Er läuft mir von hier nicht mehr davon. Bis ich einen Vorwand finde, oder bis der liebe Junge schläft, dann trag' ich Kozor hinaus in das Dickicht und dort –– ja dort –– will ich dann ganz ich selber sein.

»Wir haben aber kein Trinkgeschirr«, sagte der Verwundete.

»Ich will aus den großen Blättern eines machen, die da draußen wachsen«, sagte Wlado. »Ich kann das. Gedulde dich nur noch ein wenig.«

Er bückte sich und strich dem Jungen vorerst noch einmal die verschwitzten Haare aus dem Gesichte.

Dann eilte er hinaus. Mit flinken Fingern machte er draußen einen Blattbecher. Hernach ging er wohl zehnmal von dem Quellenbächlein zu seinem Pfleglinge.

Unterdessen war einer von den zwei verwundeten Männern zu sich gekommen. »Gib mir auch zu trinken«, bat er.

»Ja, gerne«, sagte Wlado und lief um frisches Wasser.

Dann wäre er es aber allein nicht gleich geschickt genug im Stande gewesen, den Durstigen zu tränken.

Der Kopf des armen Mannes lag nicht hoch genug gebettet, und der Blattbecher war zu flach.

Da kroch Kozor herzu und hob mit beiden Händen sanft und vorsichtig den Kopf des Mannes.

Dabei blickte er finster auf Wlado und sagte: »Ich helfe dir da nur um seinetwillen. Er ist mein bester Kamerad. Glaube nur ja nicht, dass ich dir zu Gefallen oder um dich gegen mich milder zu stimmen, irgendetwas mit dir zusammen tun würde.«

Es war, wie er sagte. Er half wirklich nur um seines Kameraden willen dazu, dass dieser trinken konnte.

Wlado glaubte dem Feinde diesmal auch.

Und er sagte ebenfalls ganz wahrheitsgemäß: »Ich würde auch nichts anderes als etwas solches, was für einen anderen geschieht, mit dir zusammen arbeiten. Das kannst du mir glauben.« Kozor glaubte ihm.

Sie halfen bei der Labung des Todwunden so geschickt als möglich zusammen.

Dem Wlado blieb zuletzt ein voller Becher übrig.

Er hielt ihn Kozor nahe vor das Gesicht und fragte leise unter höhnischem Lächeln: »Gelt du möchtest auch trinken?«

»Ja«, antwortete Kozor. »Mich dürste unbeschreiblich. Ich habe lange nicht getrunken. Wollte mich schon zu dem Bächlein hinausschleppen, habe es aber nicht erreicht. Ich bin so müde. Hab' so viel Blut verloren durch die Wunde, die ich da an der Seite hab'. Ja, mein Durst brennt wie Höllenfeuer. Aber ich leide tausendmal lieber, als ich von dir zu trinken nehmen würde. Ja, lieber alles, als von dir nur jemals die kleinste Wohltat annehmen.«

Wlado nickte.

»Das weiß ich«, sagte er. »Und du wirst es wissen, dass ich lieber ewig so dürsten täte wie jetzt du, ehe ich dir einen Tropfen Wasser gäbe.«

»Ich weiß es«, sagte Kozor.

Wlado schüttete den Inhalt des Bechers aus. Dann ging er zu seinem Verwundeten zurück und setzte sich neben ihn nieder.

Der junge Mensch sah ihn angstvoll und staunend an.

»Hat mir geträumt?« fragte er. »Oder hab' ich recht gesehen und gehört? Der Bursch' dort ist durstig? Und er nähme von dir keinen Trank? Und du gäbest ihm auch keinen? Du hast das Wasser vor ihm in das Heu geschüttet?«

»Ja«, sagte Wlado. »Wir hassen einander.«

»So viel?« fragte der Junge. »Ist denn solcher Hass möglich?«

»Du siehst es«, sagte Wlado. Dabei bemerkte er es mit vielem Leide, wie sich der junge Mensch über ihn entsetzte.

»Du darfst mich deswegen nicht für ganz schlecht und lieblos halten«, sagte er dann in einem bittenden Tone. »Gegen dich bin ich gut. Und dich liebe ich wie einen gefundenen großen Schatz, seit ich dich unter den Toten hervorzog.«

Er nahm ihn sanft in die Arme und küsste ihn.

Dabei fühlte er es, dass nun dem Jungen vor ihm graute.

Er spürte mit Schrecken ganz deutlich ein Erschauern des schlanken Körpers.

»Du zittert jetzt vor mir«, sagte er. »Das sollst du nicht.«

»Ich kann nichts dafür«, sagte der junge Mensch. »Vielleicht ist es auch ein Wundfieber.«

Da erschrak Wlado neuerdings und rief: »Nach deinen Wunden hab' ich noch gar nicht gesehen! Ich will dich draußen am Bächlein reinigen und verbinden.«

»Später«, sagte der Bursche. »Erst gib dem armen Menschen zu trinken. Ja, du darfst mich nicht anrühren, ehe du ihm nicht zu trinken gegeben hast.«

Wlado fühlte eine leidvolle Verlegenheit. Er schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Nein. Das kann ich selbst um deinetwillen nicht.«

Dann fügte er hinzu: »Jetzt will ich dich draußen waschen, ob es dir recht ist oder nicht.«

Er trug ihn an das Bächlein.

Draußen sah er, dass die Wunden des armen Jungen gefährlicher waren.

Von einer garstigen Brustwunde hatte er beim Herabziehen des Hemdes trotz vieler Vorsicht ein dünnes Krüstchen abgerissen.

Sie blutete nun stark.

Wlado vermochte die Blutung nicht zu stillen.

Er wurde furchtbar verzagt.

»Jetzt hab' ich dir mehr geschadet als genützt!« rief er. »Beim besten Willen dich zu retten, hab' ich dich jetzt vielleicht umgebracht!«

Als ihm noch weitere Stillungsversuche nicht glückten, brachte er unter lautem Weinen die furchtbarsten Selbstanklagen und Verwünschungen des Schicksals hervor.

Der junge Mensch versuchte ihn trotz seiner nicht zu geringen Todesangst und Aufregung zu beruhigen.

Aber Wlado weinte und klagte unvermindert weiter, als sie schon wieder drinnen auf dem Heu beieinander waren.

Da ließ sich auf einmal die Stimme Kozors vernehmen.

»Spinnweben«, hatte er gesagt.

»Da in dem Schuppen sind doch so viele Spinnweben. Nehm' doch die unverstaubtesten. Blas' sie so rein als möglich ab. Sie stillen das Blut. Es ist ein altes Mittel. Meine Mutter hat's gesagt. Und ich sag's jetzt nur um des lieben Jungen willen. Aber nicht vielleicht auch um deinetwillen.«

Wlado erinnerte sich jetzt, dass seine eigene Mutter auch von jenem Mittel gesprochen hatte.

Er spürte nun für Kozor ganz deutlich ein Dankbarkeitsgefühl.

Mit Eifer und Vorsicht wendete er das Mittel an.

Es wirkte alsbald einigermaßen.

Wlado war ein Weilchen glücklich. Und sein neues Gefühl für Kozor verstärkte sich, obgleich er es unterdrücken zu müssen glaubte.

»Gib ihm zu trinken«, sagte nun der junge Verwundete wieder.

Ein Weilchen kämpfte Wlado mit sich. Dann nahm er den Blattbecher, füllte ihn draußen mit Wasser und ging damit langsam über das Heu zu Kozor hin.

»Weil du es willst«, sagte er, während er an dem jungen Menschen vorüberging.

Dabei sah er es freilich, dass ihn auch sein neues Dankbarkeitsgefühl für Kozor zu dieser Tat bewog.

»Trink!« sagte er ruhig und fast ein wenig milde.

Kozor schüttelte leise den Kopf und antwortete: »Nein. Von dir mag ich das Mittel nicht bezahlt haben.«

»Trink', weil ich es will!« rief der junge Verwundete. »Mich regt es so fürchterlich auf, dass du dürstest. Ich glaube, mir macht diese Aufregung mehr als meine Wunden. Wenn du Mitleid für mich hast, so wirst du trinken!«

Kozor sah nun finster zu Wlado empor und sagte rau und leidenschaftlich: »Gib' her! Um seinetwillen werde ich trinken! Nur um seinetwillen!«

In Wlado sträubte sich vieles, als er sich zu Kozor neigte und ihm den Becher an die Lippen führte. Aber er brachte es doch, hauptsächlich kraft dessen, was er für den anderen empfand, zu Stande.

Kozor trank den Becher gierig leer, dann blickte er starr und düster zu Boden.

Sein Durst wurde nun erst recht wach. Er lechzte nach einem zweiten Becher und wollte es doch nicht sagen.

Aber Wlado lief nun unaufgefordert wieder zu dem Bächlein.

Er lief elfmal dahin und zu dem Feinde zurück. Und sooft er dabei an seinem jungen Freunde vorüber kam, dankte und bat ihn dieser mit Worten und Blicken.

»Jetzt graut mir nicht mehr vor dir«, sagte er unter anderem. »Und jetzt weiß ich es auch, dass ich bis an mein Ende eine reine Freude an dir haben werde.«

Wlado fühlte sich von dem lieben Wesen des Jungen auch teilweise für den schweren Zwang entschädigt, den er sich bei dem anderen antat.

Dann erstarkte er bei dem Üben seiner Selbstüberwindung darin so schnell, dass ihm die letzten Gänge viel leichter als die ersten wurden.

Nachdem Kozor den Becher zum elften Male geleert hatte, sah er langsam zu Wlado empor.

Es war ihm anzumerken, dass nun neben seinem alten Hasse auch ein Dankbarkeitsgefühl für Wlado in ihm war. Aber er wehrte sich zusehends gegen die gute Regung und sagte in einem bitteren Tone: »Ich hab's wirklich um seinetwillen getan. Und nun sehe ich es erst, dass mich Gott gestraft hat, indem er mich von dir die Labung nehmen ließ. Hätt' ich je gedacht, dass ich mich von dir tränken lassen würde?! Und jetzt hab' ich's doch getan! Ich werde diese Labung als eine große Demütigung empfinden.« Seine Augen senkten sich nun scharf forschend in diejenigen Wlados.

»Und du?« fragte er. »Du bist jetzt voll stolzer Genugtuung, gelt? Dich freut meine Demütigung so recht wie einen triumphierenden Feind, nicht wahr?«

Wlado sagte nicht gleich etwas. Dann fragte er: »Weshalb möchtest du es wissen?«

»Um dich für deinen Triumph entsprechend weiter hassen zu können«, antwortete Kozor. Dann fügte er das Geständnis hinzu: »Ich bin durch die Labung an meinem Hasse ein wenig irre geworden und möcht' ihn doch wieder so ganz haben.« Dann forschte er wieder: »Und du? Sei nur ganz offen! Wir waren es ja immer in unserer Feindschaft –– und sie gedieh daran.«

»Es geht mir teilweise wie dir«, gestand nun auch Wlado. »Durch die Wohltat, die du mir mit deinem Rate erwiesen hast, wurde ich auch ein wenig an meinem Hasse irre und« –– er blickte, anstatt weiter zu reden, ängstlich nach seinem jungen Freunde um.

»Und?« forschte der Todfeind beharrlich weiter. »Gelt, du möchtest ihn auch so ganz wieder haben, keinen alten Hass, gelt?«

Wlado antwortete nicht.

Er vermochte wegen des Freundes nicht ja und wegen des Feindes nicht nein zu sagen.

In seiner Verlegenheit wandte er sich von Kozor ab und setzte sich wieder zu seinem Verwundeten.

Der junge Mensch richtete erwartungsvoll die Augen auf ihn und sagte: »Du hast ihm die letzte Frage nicht beantwortet. Tue es doch! Ich weiß es, dass deine aufrichtige Antwort auch eine schöne sein wird!«

Wlado erwiderte ausweichend: »Ob nun meine Antwort so oder so wäre, das bliebe sich schließlich doch für Kozor gleich.«

Der junge Mensch war von diesen Worten sehr unbefriedigt, und das drückte sich auch deutlich genug in seinem Gesichte aus.

Wlado wollte ihn nun aber auf keinen Fall mehr unglücklicher sehen. Und deshalb entschloss er sich zu einer schönen Lüge. Er beugte sich zu dem Jungen nieder und flüsterte ihm leise in das Ohr: »Nein, nein. Ich mag meinen alten Hass nicht mehr, und bis ich seh', dass ihn Kozor auch nicht mehr mag, dann will ich's offen heraussagen. Früher nicht.«

Der Verwundetet war damit zufrieden. Das merkte ihm Kozor an.

Kozor schob sich auf dem Heu den beiden etwas näher und betrachtete mit einer leidenschaftsvollen Neugier bald den einen, bald den anderen. »Er hat dich angelogen!« hätte er dann dem jungen Verwundeten zurufen mögen. »Nur damit du ruhig, glücklich sein sollst, hat er die größte Lüge gesagt, die aus seinem Munde gehen könnte!«

Aber Kozor bezwang sich und schrie diese Worte nicht heraus. Der arme Junge tat ihm selbst auch sehr leid. Und deshalb verschonte er ihn. Aber er sah dann noch immerfort forschen auf Wlado.

»Er scheint über den Erfolg seiner Lüge eine reine Freude zu haben, dachte er. Und dann musste er sich plötzlich die Frage stellen: »Oder rechtfertigt er diese Lüge noch anders vor sich, als ich jetzt glaubte? Hat er ein neues Gefühl für mich, neben dem sein Hass schwinden muss? Wäre es möglich, das mir dieser Mensch noch einmal gut werden könnte?«

Dann ging Kozor auch in sich. »Wie wäre mir, wenn er mir nun die Arme öffnete, anstatt wie so oft nach mir zu stoßen? Wenn er mich küsste, anstatt wie sonst nach mir zu spucken, und wenn er mir liebe Worte anstatt schlechten sagte? Wie wäre mir?«

Es war zum ersten Male, dass er sich diese letzteren Fragen stellte. Ihre klare Beantwortung konnte er nun in sich nicht finden.

Aber er glaubte nun daran, dass es zwischen ihnen beiden weit anders hätte werden können, wenn sie nicht schon bei ihrer ersten Begegnung, ohne einander ein wenig näher zu kennen, gleich um eines Fischleins wegen mörderisch gerauft hätten.

Manchmal zwang er sich nun, von Wlado weg zu sehen. Und dann zwang es ihn doch immer wieder dazu, in dem Gesichte des Feindes weiter zu forschen.

Wlado vermochte seine Blicke aus denjenigen des anderen ebenso selten weg zu bringen.

»Was er in mir suchen mag?« fragte er sich etliche Male. Und dann schrie es förmlich in ihm auf: »Er sucht nun etwas ganz anderes in mir als meinen Hass! Etwas ganz anderes! Das Gegenteil vom Hasse sucht er in mir!«

Es geschah ihm bei ihrem Einanderanstarren ein Weilchen fast so wie dem anderen. Aber er wusste sich dann plötzlich deutlicher als Kozor übe sich selbst Aufschluss zu geben.

Mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühle, das ihn zuerst wie der gewaltigste Schrecken erschütterte, sah er es ein, dass er dem Kozor noch immer gut werden könnte –– wenn dieser nur wollte.

Als Wlado mit seinem Empfingen eben so weit gekommen war, rührte sich Kozors verwundeter Kamerad.

Sie sahen alle nach dem Manne hin.

Und dann sahen sie ihn sterben.

Kozor wurde von einem jähen, wilden Schmerze erfasst.

Er hatte den nun plötzlich so glücklichen Leidensgenossen ehrlich lieb gehabt.

Vor den Füßen des Leichnams legt sich Kozor bäuchlings hin und weinte und schluchzte. Wlados junger Freund redete ihm ohne eine sichtliche Wirkung lange tröstlich zu.

Wlado bemühte sich um den Toten, so christlich er konnte. Er drückte ihm die Augen zu, wusch ihn und legte ihm ein mit Binsen zusammengebundenes Holzkreuzlein zwischen die Hände.

Dann grub er ihm draußen in dem weichen Wiesengrunde mittelst einer scharfen Steinplatte ein Grab. Hernach brach er Weidenzweige und pflückte Wiesenblumen.

Aus den Zweigen flocht er drinnen in dem Schuppen kunstgerecht ein haltbares Kreuz und aus den Blumen einen Kranz.

Kozor gab sich noch immerzu seinem Schmerze hin, während Wlado das Kreuz verfertigte.

»Ob wohl sein Dankbarkeitsgefühl für mich um das Gebührliche größer werden wird, wenn er sieht, was ich tue?« dachte Wlado. »Es ist wahr, ich tue das alles für den Toten aus Christenpflicht. Aber ich tue es auch, um das gute Gefühl Kozors für mich zu vergrößern. Ja, ganz sicher tue ich es auch deshalb. Es nützt gar nichts, wenn ich mir das selber ableugnen will.«

Ehe er den Kranz zu binden begann, machte er, damit es dann schneller gehe, aus den Blumen kleine Sträußchen.

Kozor dachte nun: »Dabei muss ich ihm doch helfen. Ich tue es für den Toten. Und dann –– Wlado darf es jetzt merken, dass ich es nicht mehr genau weiß, was in mir vorgeht, was in mir werden will!«

Er setzte sich auf, machte aus rotem Weisenklee und blauen Glockenblumen ein Büschchen und reichte es Wlado.

»Du kannst binden und ich will dir die Blumen reichen«, sagte er mit gesenkten Blicken.

»Es ist mir recht«, antwortete Wlado.

Dann arbeiteten sie miteinander.

Oft berührten dabei ihre Hände einander. Zuerst hatten sie beide gezuckt. Aber hernach kam in ihre Berührungen etwa ähnlich Suchendes wie vorher in ihre Blicke. Sie sahen einander während der langen Arbeit nicht an.

Als der Kranz schon lange genug war und Wlado von Koor das letzte Sträußchen annahm, sahen sie einander doch in die Augen.

Es war nun auf einmal gar kein Hass in ihren Blicken.

Da staunten sie beide ganz unbeschreiblich übereinander und über sich selbst.

»Der Krank ist schön«, sagte Kozor. »Und du bist sehr geschickt.«

»Du auch«, sagte Wlado.

Dann erhob er sich rasch.

Er machte Anstalt, den Toten zu begraben.

»Du möchtest auch draußen bei dem Begräbnisse deines Kameraden zugegen sein, nicht wahr?« fragte er den anderen.

Da blickt Kozor heiß bittend empor und nickte.

Wlado hob ihn auf, trug ihn hinaus und setzte ihn vor dem Grabe auf die Wiese.

Als er hernach die Erde über den Toten gescharrt hatte, setzte er sich zu Kozor.

Dann beteten sie laut miteinander.

Kozor weinte leise dabei.

Als sie zugleich sagten: »Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, sahen sie einander wie zwei an, die es mit ihrem Gebete ganz besonders ernst und innig meinen.

Nach dem Gebete sagte Wlado: »Jetzt hör' zu weinen auf. Du hast schon ganz rote Augen. Ich muss sie dir kühlen. Und dann muss ich dich überhaupt, so gut es geht, reinigen und deine Wunden verbinden. Verkommen kann ich dich doch hier nicht lassen. Das wäre ja schließlich doch ein Mord.«

»Ja«, sagt Kozor. »Es wäre mir schon recht, wenn du mir so hälfest, aber« –– Er stockte, und sein Gesicht brannte vor schamhafter Erregung.

»Nun?« fragte Wlado lächelnd.

»Was willst du sagen?«

»Ich weiß es nicht«, stammelte Kozor. »Oder ich finde keine Worte dafür.«

»Aber ich wohl!« rief Wlado.

»Du willst sagen, dass du dir jetzt gerne von mir helfen ließest –– wenn du wüsstest –– dass ich dir ganz ohne Hass hälfe. Du willst jetzt auf einmal meinen Hass nicht mehr. Du sieht, dass es am schönsten wäre, wenn ich dich lieben würde.«

Er hatte nun Kozor schon in den Armen und sah im mit leuchtenden Augen aus nächster Nähe in das Gesicht.

»Ja, wenn du das könntest«, sagte Kozor.

»Es wäre mir gar nicht so lieb –– gar nichts in der Welt ––.«

»Siehe, wie ich kann!« jubelte Wlado. »Sieh' nur!«

Er küsste den anderen.

Dann lagen sie in einer langen Umarmung neben dem Grabe und küssten einander immer wieder.

Aus ihrem großen Hasse war eine große Liebe geworden.

*

Sie blieben etliche Tage in dem Schuppen. Es gesellten sich von der Schützenlinie her noch mehrere Verwundete zu ihnen.

Einige hatten Brot und Fleisch mitgebracht. Davon lebte sie alle.

Kozor erholte sich in diesen Tagen recht bedeutend. Den anderen Pflegling Wlados hatte eine Soldatentruppe, welche die am schwersten Verwundeten sammelte, mitgenommen.

Sie hatten Wlado versichert, dass der junge Mensch noch einmal genesen würde.

Außerdem hatten sie es Wlado geraten, dass er sich von hier flüchten sollte, wenn er nicht von der nächsten Soldatentruppe als Gefangener weit nach Russland hinein verschleppt werden wollte.

Er wollte kein Gefangener der Russen werden.

Und ihm schien die Flucht ein Leichtes.

»Es ist mir hier nur um eines«, sagte er zu Kozor. »Um dich ––.«

»Und mir um dich«, sagte Kozor. »Ich flüchte mit dir. Du kannst drüben bei den Deinen sagen, dass du mich gefangen hast. Vielleicht wird man uns auch drüben nicht beisammen lassen. Aber wir werden uns dort immerhin einander näher bleiben, als wir es hier könnten.«

Wlado war herzlich einverstanden.

Die Flucht wurde ihnen nicht zu schwer.

Sie kannten ja beide den großen Wald so gut. In einem tiefen Flusse schwammen sie wie Fische tauchend zwischen den Kämpferreihen hindurch.

Und in einem stillen Forste stiegen sie an das Land.

Dann suchten sie etliche Tage lang miteinander den Selmsprenger.

Sie fanden ihn jenseits der Karpaten in einem ungarischen Dorfe.

Arm in Arm traten sie ihm entgegen.

Und er drückte beide zugleich an sich.

Dann konnten die drei Glücklichen freilich nicht beieinander bleiben, wie sie es gewollt hätten. Kozor musste in ein nahes Gefangenenlager.

Aber die zwei anderen besuchen ihn dort täglich.

Es wird der Tag seiner Freiheit kommen. Aber er wird dann nicht mit den anderen Gefangenen in seine alte Heimat gehen. Er wird in seiner ihm teuren neuen Heimat bleiben.

Hier wird er mit Wlado und dem Selmsprenger ein schönes Werk beginnen.

Sie werden das Schwabenhaus im Buchenland neu aufbauen.


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